Heilsame Wortgefechte: Reformen europäischer Hospitäler vom 14. bis 16. Jahrhundert 9783847103172, 9783737003179, 3847103172

Was geschieht, wenn über die Reform komplexer Institutionen gestritten wird? Wie argumentieren die Befürworter und die G

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German Pages 402 [403] Year 2014

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Heilsame Wortgefechte: Reformen europäischer Hospitäler vom 14. bis 16. Jahrhundert
 9783847103172, 9783737003179, 3847103172

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Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung

Band 18

Herausgegeben vom Vorstand des Interdisziplinären Zentrums Mittelalter – Renaissance – Frühe Neuzeit mit der Redaktion des Interdisziplinären Zentrums Mittelalter – Renaissance – Frühe Neuzeit, Berlin

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Thomas Frank

Heilsame Wortgefechte Reformen europäischer Hospitäler vom 14. bis 16. Jahrhundert

Mit 6 Abbildungen

V& R unipress

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-6223 ISBN 978-3-8471-0317-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.  2014, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Dieses Werk ist als Open-Access-Publikation im Sinne der Creative-Commons-Lizenz CC-BY-NC-ND International 4.0 (»Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen«) unter dem DOI 10.14220/9783737003179 abzurufen. Um eine Kopie dieser Lizenz zu sehen, besuchen Sie http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/. Jede Verwertung in anderen als den durch diese Lizenz zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Ausschnitt aus dem Frontispiz der lateinischen Ausgabe von Gilinus, Fundationis hospitalis magni Mediolani, 1508 (s. Quellenverzeichnis). Exemplar der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz (SBPK), Abteilung Historische Drucke, Signatur Ib 15250. Gezeigt wird eine idealisierte Ansicht des Mailänder Ospedale Maggiore. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der SBPK.

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Inhalt

Vorwort und Technische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung: Reform und Hospitalreformen vom Spätmittelalter zum 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hospitalia semper reformanda . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vormoderne Reformkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Theoretische Aspekte des vormodernen Reformdenkens . . 4. Untersuchungsschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler . . . . . 1. Hospitäler und Rechtsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Grundlagen des mittelalterlichen Hospitalrechts . . . . . . 3. Die Avignoneser Hospitäler und die päpstliche Hospitalreform des 14. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Tractatus hospitalitatis von Lapus de Castellionio . . . . . Differenzen zwischen Norm und realer Leistungsfähigkeit von Hospitälern (a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kontrolle über die Hospitäler (b) . . . . . . . . . . . . . . . Die Veränderbarkeit der Zustände in der Zeit (c) . . . . . . . . 5. Frühe Kommentare zu Quia contingit . . . . . . . . . . . . . . 6. Kommentare zu Quia contingit um 1400 . . . . . . . . . . . . Bonifacius Ammannati . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franciscus Zabarella . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Die Mailänder Hospitalreform und das Ospedale Maggiore 1. Ein Paradefall und seine Quellen . . . . . . . . . . . . . . 2. Erste Reformschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische und kirchliche Rahmenbedingungen . . . . . .

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Inhalt

Mailänder Hospitäler und andere karitative Institutionen bis um 1440 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Anläufe in der Mailänder Hospitalreform (1445 – 1447) . . . Erzbischof Enrico Rampini greift ein (1448) . . . . . . . . . . . . . 3. Francesco Sforza, Bianca Maria Visconti und die Gründung des Ospedale Maggiore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tauziehen um die Gründung (1450 – 1455) . . . . . . . . . . . . . Baubeginn und Verhandlungen mit Papst Calixt III. (1456 – 1457) . Die Bestätigung durch Papst Pius II. (1458 – 1459) . . . . . . . . . Das Bauwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei regionale Vergleichsfälle: Cremona und Lodi . . . . . . . . . 4. Nach der Reform ist vor der Reform: Bewährung in der Praxis und Konstruktion von Reformtraditionen . . . . . . . . . . . . . . Deputati und Ospedale Maggiore bei der Arbeit . . . . . . . . . . . Reformtraditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Das Hútel-Dieu von Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Hútel-Dieu und andere Pariser Hospitäler im 15. Jahrhundert Paris und seine Hospitäler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Organisation und Verwaltung des Hútel-Dieu . . . . . . . . . . . . Positive Stimmen zum Hútel-Dieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konflikte und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Reformdebatten (I): Domkapitel vs. Religiosen, Domkapitel vs. Kommune . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Prozess vor dem Parlement (1498) . . . . . . . . . . . . . . . . Reform der Hospitalkommunität (1505) . . . . . . . . . . . . . . . Übergabe der Temporalia an die Kommune Paris (1505) . . . . . . 4. Reformdebatten (II): Das Hútel-Dieu und Saint-Victor . . . . . . Neue Spannungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Diskussionen um eine Beteiligung von St-Victor . . . . . . . Die Reformstatuten von 1535 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . St-Victor im Hútel-Dieu: eine Episode . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg . . . 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Straßburg und seine Hospitäler im 15. Jahrhundert Stadtverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Institutionen der Armen- und Krankenfürsorge . . . . . . . . . . . 3. Reformdebatten um 1500: Der Münsterprediger Johannes Geiler von Kaysersberg und seine Kritik an der Wohlfahrtspolitik des Rates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Geiler von Kaysersberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik am Großen Spital in den 21 Artikeln . . . . . . . . . . . . . Die Metapher ›Barmherzigkeit‹ in Johannes Geilers Werk . . . . . Zeugnisse aus dem Großen Spital . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Reformdebatten 1520 – 1530: Armenfürsorge und Großes Spital in der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der neue Glauben in Straßburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Fürsorge bei Martin Bucer . . Neuorganisation der Armenfürsorge in der Reformationszeit . . . 5. Reformdebatten 1530 – 1544: Almosen und Großes Spital . . . . . Verteidigung des Gemeinen Almosens . . . . . . . . . . . . . . . . Almosen vs. Großes Spital (1543 – 1544) . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die »Union der Hospitäler und frommen Stiftungen« von Modena 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Modena im 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale, politische und religiöse Verhältnisse . . . . . . . . . . . Hospitäler und Bruderschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Auf dem Weg zur Hospitalunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Schritte und offizielle Instituierung (1533 – 1541) . . . . . . Die umstrittenen Anfänge der Unione (1541 – 1542) . . . . . . . Wer waren die Befürworter und die Gegner der Hospitalreform? 4. Das normative Gerüst der Unione . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Argumentation der Gegner und der Befürworter der Reform Inhaltliche Argumente der Gegner . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltliche Argumente der Initiatoren der Unione . . . . . . . . Die Argumentationsweise der Chronik . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Resümee: Hospitalreformen als Wegweiser zu einer vormodernen Reform-Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stadtpläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort und Technische Hinweise

Vorwort Dieses Buch ist die Arbeit eines Mediävisten, der sich in das 16. Jahrhundert vorwagt, weil die Quellen und die Notwendigkeit, Reformdebatten über einen längeren Zeitraum zu verfolgen, es so verlangen. Es handelt von spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Hospitälern, doch im Mittelpunkt steht nicht die Hospitalgeschichte per se, sondern die Frage, wie zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert über Reform diskutiert wurde. Sein Entstehen verdankt es der DFG-Forschergruppe Topik und Tradition, die in den Jahren 2005 – 2011 an der Freien Universität Berlin aktiv war. In diesem Rahmen habe ich ein Teilprojekt über Hospitalreformen bearbeitet, wurde phasenweise allerdings wegen einer Lehrstuhlvertretung unterbrochen und 2009 von Carla Botzenhardt M.A. und später von Remigius Stachowiak M.A. abgelöst. Dem Sprecher und spiritus rector der Forschergruppe, Prof. Dr. Wilhelm Schmidt-Biggemann, und den anderen Berliner Kolleginnen und Kollegen, insbesondere Dr. Anja Hallacker und Dr. Norbert Winkler, sei für alle Anregungen in diesen Jahren ebenso herzlich gedankt wie meinem Projektleiter, Prof. Dr. Matthias Thumser, der mich stets unterstützt und mir großen Freiraum gewährt hat. Besonderen – und nun wiederholten – Dank schulde ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Finanzierung des Teilprojekts und der Drucklegung. Dass ich ab 2009 einen neuen Beobachtungsposten beziehen konnte und damit zugleich mehr Zeit für die Fertigstellung des Buches bekam, verdanke ich dem Programm »Incentivazione alla mobilit— di studiosi stranieri e italiani residenti all’estero« (»Förderung der Mobilität ausländischer und italienischer Wissenschaftler mit Wohnsitz im Ausland«) des italienischen Forschungsministeriums, mit dessen Hilfe ich vier Jahre an der Universität Pavia lehren und forschen konnte. Dass dies möglich wurde, ist in erster Linie das Verdienst von Prof. Dr. Daniela Rando (Pavia), der an dieser Stelle ausdrücklich zu danken mir ein Anliegen und eine besondere Freude ist. Beigetragen haben dazu mit ihren Gutachten auch Prof. Dr. Michael Matheus (Mainz) und Prof. Dr. Andreas Meyer

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Vorwort und Technische Hinweise

(Marburg), denen ebenfalls gedankt sei. Durch die Jahre in Pavia ist das Buch ein wenig ›italienischer‹ geworden als ursprünglich geplant. Genannt seien außerdem die Archive und Bibliotheken in Berlin, Mailand, Modena, Paris, Pavia und im Vatikan – darunter insbesondere die Bibliothek der Universit— Cattolica del Sacro Cuore in Mailand und die im internationalen Vergleich erfrischend unkomplizierte Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz –, deren Bestände und Vermittlungsleistungen dieses Buch ermöglicht haben. Viele weitere Kolleginnen und Kollegen haben mich während der Jahre, in denen ich mit den Hospitalreformen beschäftigt war, auf verschiedenste Weise unterstützt. Neben den Mitgliedern der Paveser Facolt— di Lettere (jetzt Dipartimento di Studi Umanistici), die mich offen in ihren Kreis aufgenommen haben, sind das vor allem die Professor/inn/en Maria Pia Alberzoni (Mailand), Pierpaolo Bonacini (Ravenna), Markus Cerman (Wien), Thomas Ertl (Wien), Stefan Esders (Berlin), Anna Esposito (Rom) und Marina Gazzini (Parma): Ihnen allen sei herzlich gedankt. Außerdem möchte ich dem Interdisziplinären Zentrum Mittelalter – Renaissance – Frühe Neuzeit der Freien Universität Berlin, namentlich seinen letzten Koordinatorinnen Katharina Richter und Hannah Wälzholz, für vielfältige organisatorische Hilfen sowie dem oder der unbekannten ersten Leser/in des Manuskripts für wertvolle Einwände danken. In allen Phasen (und manchmal mit höherem Einsatz, als uns lieb war) hat Nadja Kadel den Werdegang des Buches von der Konzeption an begleitet. Zwar schuldet es ihr nicht alles, aber ich ihr weit mehr als Heilsame Wortgefechte.

Technische Hinweise Historische Münzsorten und Umtauschwerte werden nur ausnahmsweise näher kommentiert. Zur Erläuterung kann Spufford, Handbook of Medieval Exchange, herangezogen werden (s. Literaturverzeichnis). – Statt auf Seitenzahlen wird grundsätzlich (und häufig) auf vorausgehende oder nachfolgende Anmerkungen verwiesen. Die zu diesem Zweck angegebenen Anmerkungsnummern können sich auch auf die entsprechenden Passagen im Haupttext beziehen. Die Kapitelnummer wird zusätzlich nur dann genannt, wenn der Verweis eine Anmerkung in einem anderen als dem jeweils laufenden Kapitel meint. – Die Übersetzungen von Quellenpassagen stammen, wo nicht anders angegeben, vom Verfasser.

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Einleitung: Reform und Hospitalreformen vom Spätmittelalter zum 16. Jahrhundert Prius tamen est nosse quam facere. (Alkuin, Epistola de litteris colendis, ca. 790)1

1.

Hospitalia semper reformanda

Im Unterschied zu modernen Krankenhäusern waren mittelalterliche Hospitäler im christlichen lateinischen Europa multifunktionale Institutionen. Ihre Pforten und Ressourcen standen allen Menschen offen, die mit existenzbedrohender Not zu kämpfen hatten oder zumindest unter einer Situation litten, in der ihre Lebensqualität stark beeinträchtigt war. Somit boten sie nicht nur Kranken, sondern auch vielen anderen Bedürftigen körperliche und geistliche Hilfe, versorgten Arme, mittellose Reisende, Alte, schwangere Frauen, elternlose Kinder, kurz: Personen jeden Geschlechts und Alters, krank oder nicht, die auf vorübergehende oder auch längerfristige Unterstützung angewiesen waren.2 Gegen diese idealisierende Beschreibung lassen sich sofort gravierende Einwände erheben. Viele Hospitäler gewährten keineswegs allen Bedürftigen, sondern nur ausgewählten Klienten Zugang: weil sie auf bestimmte Gruppen spezialisiert waren (zum Beispiel Leproserien, Waisenhäuser, Altenasyle), weil sie bestimmte Krankheiten grundsätzlich mieden (als ansteckend geltende Krankheiten, neben der Lepra seit dem 14. Jahrhundert vor allem die Pest), weil sie schlicht zu klein oder zu arm waren, um mehr zu tun, als eine Handvoll Pilger vorübergehend mit Nahrung und Bett zu versorgen, weil sie es sich nicht leisten 1 Urkundenbuch Fulda, Nr. 166 S. 251 f. Die ergiebigsten Kommentare zu dieser Stelle, zu der es keine antike Quelle zu geben scheint, bei Wallach, Alcuin, S. 202 – 207, u. Buck, Admonitio und Praedicatio, S. 320 f. Vgl. unten, Text nach Anm. 31. 2 Die folgenden Literaturhinweise beschränken sich auf einige neuere Werke allgemeinen Zuschnitts: Konziser und problembewusster Überblick aus frühneuzeitlicher Sicht bei Lindemann, Medicine and Society, Kap. 5 S. 157 – 192. Neuere Tagungsbände: Montaubin, Húpitaux et maladreries (2004); Matheus, Funktions- und Strukturwandel (2005); Bulst/Spiess, Sozialgeschichte mittelalterlicher Hospitäler (2006); Drossbach, Hospitäler in Mittelalter und Früher Neuzeit (2007). Forschungsstand: Europäische Spitäler ; Scheutz u. a., Europäisches Spitalwesen, mit der Zusammenfassung des Forschungsstands von Vanja, Offene Fragen; Scheutz u. a., Quellen zur europäischen Spitalgeschichte. Zu England Rubin, Development and Change. Zur italienischen Forschung s. die in Kap. II.1 genannte Literatur.

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Einleitung

konnten, auf zahlende, also wohlhabende Gäste (›Pfründner‹) zu verzichten, weil sie den Großteil ihrer Einnahmen für den Unterhalt des religiös oder semireligiös lebenden Hospitalpersonals (fratres und sorores) einsetzten oder weil sie der Klientel mächtiger Stifter oder Verwalter den Vorzug geben mussten. Mit der Multifunktionalität und sozialen Inklusivität der mittelalterlichen hospitalitas, deren Nutznießer nach der theologischen oder kanonistischen Theorie eigentlich pauperes jeglicher Couleur hätten sein sollen, ist es in Wirklichkeit weniger weit her, als es idealerweise sein müsste. Da Hospitäler in Europa spätestens seit dem 13. Jahrhundert massenhaft präsent waren,3 lassen sich Beispiele für alle Varianten finden, sowohl für Häuser, die der Idealbeschreibung nahekommen, als auch für solche, die für eine eher klägliche performance stehen. Es geht hier jedoch nicht darum, die einen durch die anderen Beispiele zu falsifizieren, sondern um einen heuristischen Fingerzeig, den die optimistische, idealisierende und inkludierende Version immerhin gibt: Eine Geschichte mittelalterlicher Hospitäler hat es immer auch mit dem Problem der Armut oder Bedürftigkeit in den jeweils untersuchten Gesellschaften zu tun.4 Und man könnte noch weiter gehen und folgern, dass gerade die Tatsache, dass viele Hospitäler dem Idealbild nicht gehorchten, die Triftigkeit des Armutsproblems bestätigt; dann wären die Abweichungen vom Ideal nämlich ein Indiz dafür, dass das Problem nicht gelöst werden konnte. In der Tat, bis weit in die Neuzeit hinein blieb es eine Herausforderung für die Hospitäler, mit der unaufhebbaren Spannung zwischen der Knappheit ihrer Ressourcen und der wachsenden Nachfrage nach ihren Leistungen zu Rande zu kommen. Wenn die Hospitalgeschichte auf ein derart breites sozialgeschichtliches Feld führt, so erlaubt das zwei Folgerungen: Zum einen kann sich die historische Untersuchung von Hospitälern nicht auf jene Aspekte beschränken, die für die Medizingeschichte im Zentrum stehen, etwa auf Fragen wie mittelalterliche Krankheitskonzepte, Epidemien, ärztliches Wissen oder krankenpflegerische Arbeit.5 Zum anderen wird deutlich, dass die Hospitäler notwendig einem 3 S. nur für den Raum zwischen Rhein, Maas und Mosel die Zählung (und Karten) bei Pauly, Peregrinorum. 4 Neben einem Klassiker wie Mollat, Les pauvres, der selbstverständlich Kapitel über Hospitäler bietet (S. 178 – 187, 338 – 346), sei verwiesen auf neue Ansätze wie Dinges, Neues in der Forschung, und die Arbeiten des ehemaligen Trierer Sonderforschungsbereichs 600, u. a.: Schmidt/Apelmeier, Norm und Praxis; Raphael/Uerlings, Zwischen Ausschluss und Solidarität. Auf neuer Quellengrundlage Härter, Recht und Armut. Zusammenfassend zu England: Dyer, Poverty and Its Relief. 5 Über medizingeschichtliche Zugänge informieren Zeitschriften wie: Historia Hospitalium (1966 ff.), Bulletin de la Soci¦t¦ FranÅaise d’Histoire des Húpitaux (1959 ff.), Social History of Medicine (Oxford, 1988 ff.). Zur Rolle der Ärzte in der Wissensgeschichte des späteren Mittelalters sind weiterführend die Arbeiten von M. Nicoud, aber bezeichnenderweise ohne

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Hospitalia semper reformanda

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Prozess mehr oder weniger kontinuierlichen Wandels unterworfen waren, weil auf sie gesellschaftliche Kräfte einwirkten, die den Horizont der einzelnen wohltätigen Institution weit überschritten. Auf diese Kräfte reagierten die in die Hospitalgeschichte involvierten Akteure oder sie trugen, wenn sie vorausschauend und selbstbewusst agierten, selbst dazu bei, Veränderungen anzustoßen. Beide Verhaltensweisen (Reaktion auf Probleme, eigene Initiativen) sind schwer voneinander zu trennen. Beide setzen voraus, dass man sich der Mängel, der zu geringen Leistungsfähigkeit, der Ineffizienz, der Nichterfüllung der Erwartungen, kurz: der Defekte, mit denen Hospitäler zu kämpfen hatten, bewusst wurde. Dies war der Boden, auf dem die zahlreichen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Versuche gedeihten, Hospitäler zu reformieren. Hospitalreformen standen im Kontext umfassender sozialer, politischer, religiöser und generell wissensgeschichtlicher Veränderungen des späteren Mittelalters und schafften zugleich institutionelle Fakten, die ihrerseits auf den historischen Wandel einwirkten. Ein Hospital schlecht zu führen und seine Reform zu behindern, konnte böse Folgen haben. So soll am Abend des 21. November 1467 ein Bürger der Stadt Perugia, der den merkwürdigen Namen »Stamegnone« trug, von einer gespenstischen Erscheinung bedroht worden sein. Der Mann war in dem von ihm gepachteten Hospital Sant’Alý (Eligius) mit Geldzählen beschäftigt, als er sah, wie ein Schwarm von Armen mit Kerzen in der Hand auf ihn zukam und um ihn tanzte; darunter war ein alter Mann, der ihm sagte: »Kennst Du mich? Ich bin der heilige Alý; und ich sage Dir, damit Du es weitersagst, dass jeder, der Ursache gewesen ist, dass mein Haus geschädigt wird, und der es sich unter den Nagel reißen will, nie mehr etwas Gutes erreichen wird, weder was seine Kinder noch was sein Eigentum betrifft.«6

Der über solchen Besuch aus dem Jenseits zu Tode erschrockene Hospitalverwalter hatte gerade noch Zeit, sein Erlebnis weiterzuerzählen: Er starb vor Angst in derselben Nacht. Doch sei zugegeben: So häufig die Klagen über schlecht und eigennützig wirtschaftende Hospitalrektoren im spätmittelalterlichen Europa auch sein mochten, so weit wie an jenem düsteren Novemberabend 1467 in Perugia kam es selten. Der Eintrag dieser Begebenheit in eine Stadtchronik zeigt immerhin, dass man im 15. Jahrhundert in Mittelitalien der Auffassung war, ein hospitalgeschichtlichen Fokus: z. B. Nicoud, Les m¦decins; Nicoud, Salute; Jacquart/Nicoud, L’office du m¦decin. 6 Auszug aus der zeitgenössichen Cronaca perugina des Antonio di Andrea di ser Angiolo dei Veghi, teilweise abgedruckt als Ergänzung zu: Fabretti, Cronaca Graziani, S. 640: »vidde venire una sturma di poverelli con le candele in mano, e ballavano; et infra di loro vi era un uomo grande, e li disse: – Mi conosci tu? Io sono S. Alý; e ti dico che tu dichi, che qualunque persona À stata causa che si guasta la casa mia e la voglia pigliare, non aver— mai bene di figlioli n¦ di cosa che abbia –.« Von Stamegnone wird vorher erzählt, dass er das Hospital »a pigione« (in Pacht) besessen habe.

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Einleitung

den Normen massiv widersprechender Umgang selbst mit einem kleinen Hospital sei nicht mehr hinnehmbar ; und dass man glaubte, der Himmel greife in Sachen Hospitäler zu drastischen Strafmaßnahmen und sei nicht bereit, in derartigen Fällen mit sich diskutieren zu lassen. Anders auf Erden. Hier konnten Diskussionen über Hospitäler im 15. Jahrhundert bereits auf eine längere Tradition zurückblicken. Ein Schlüsselzeugnis des frühen 13. Jahrhunderts sind die Bemerkungen des weitgereisten Kreuzfahrer-Bischofs Jakob von Vitry über die in ganz Westeuropa sich ausbreitenden Leproserien, Hospitäler und die dort wohnenden religiösen Kommunitäten.7 Manche dieser Gemeinschaften lobt er wegen ihrer vorbildlichen Lebensweise und Armenfürsorge, bei anderen konstatiert er Habgier, Veruntreuungen, Heuchelei, Betrug, Austreibung der Armen und viele weitere moralische Verfehlungen. Aus der Gegenüberstellung dieser beiden Entwicklungen, der schlechten und der guten, ergibt sich fast von selbst ein Ruf nach Reform. Zwar fordert Jakob eine solche nicht ausdrücklich, doch sollten seine Beobachtungen fester Bestandteil im Arsenal späterer Hospitalreformer werden. Ohne schon hier nach den Motivationen und näheren Umständen dieser Kritik an den Hospitälern oder besser den Hospitalreligiosen zu fragen, nehmen wir zur Kenntnis, dass schon an Hospitäler des 13. Jahrhunderts Reformforderungen herangetragen wurden. Die sozial- und medizingeschichtliche Forschung hat das Phänomen der Hospitalreformen, für die Jakob von Vitry (und kurz vor ihm, 1215, bereits das IV. Laterankonzil) als einer der Diskursbegründer gelten darf, schon lange im Blick. Das gilt für die im 13. Jahrhundert zu verzeichnenden Versuche der Päpste und der lokalen Kirchen, die Kontrolle über die Hospitäler durch Fixierung von Statuten zu verbessern,8 nicht weniger als für die Reformen, welche das Konzil von Vienne (1311 – 1312) einläutete und die Päpste sich rasch zu Eigen machten.9 Und es gilt noch mehr für die Hospitalreformen des 15. Jahrhunderts, als vornehmlich die südeuropäischen Hospitäler einen innovativen Funktionswandel durchliefen.10 7 Jakob von Vitry, Historia, Kap. XXIX S. 146 – 151 u. Anm. des Hg. S. 276 – 284. Die Passage wird in der Literatur häufig zitiert. Sie besteht aus drei Teilen: einem grundsätzlichen Lob der Hospitalgemeinschaften, einer Beschreibung der Missbräuche und einer namentlichen Aufzählung der gut funktionierenden Häuser, als erstes S. Spirito in Sassia in Rom, aber auch Paris (wohl das Hútel-Dieu). 8 Eine Reihe von Beispielen in Le Grand, Statuts d’Hútels-Dieu; Le Blévec, La part du pauvre 2, S. 659 f. 9 Dazu unten, Kap. I.3. 10 Überblick bei Bianchi/Słon, Le riforme ospedaliere. Knefelkamp, Über den Funktionswandel, beschreibt – wenn auch oberflächlich – Veränderungen in ausgewählten europäischen Hospitälern zwischen 15. und 16. Jh. Aus einer ähnlichen Perspektive argumentieren auch einige Fallstudien in: Matheus, Funktions- und Strukturwandel. Weitere Literatur in Kap. I.3 u. II.1.

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Hospitalia semper reformanda

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Besonderes Forschungsinteresse zogen die Hospitalreformen der Reformation auf sich, das heißt der Umbau der gesamten Armen- und Krankenfürsorge, wie er im 16. Jahrhundert von protestantischen, aber auch vielen katholischen Obrigkeiten betrieben wurde.11 Parallel dazu engagierten sich seit dem 13. Jahrhundert die weltlichen, zunächst städtischen, später auch fürstlichen Obrigkeiten mehr und mehr für Hospitäler, eine Entwicklung, die in der Forschung zwar unter dem Etikett ›Kommunalisierung‹ verhandelt wird, aber nicht selten mit Reformen einherging.12 ›Kommunalisierung‹ figuriert vielfach als institutioneller Hintergrund für die im Spätmittelalter beobachtete ›Medikalisierung‹ nicht nur der Hospitäler, sondern sogar der ganzen Gesellschaft13 – und wo seit dem 15. Jahrhundert, wie oft in Italien, eine Zentralisierung und Spezialisierung städtischer Hospitalsysteme durchgesetzt werden konnte, wurde auch die Tendenz zur Medikalisierung der Hospitäler gestärkt. Die in solchen Entwicklungsbegriffen, zu denen sich schließlich auch ›Laisierung‹ und ›Säkularisierung‹ gesellten, kondensierten historischen Prozesse interagierten mit den Hospitalreformen: Teils wurden sie durch die Reformen vorangetrieben, teils bildeten sie den sozial- und wissensgeschichtlichen Kontext, aus dem heraus eine Hospitalreform notwendig wurde. All dies wird in den Fallstudien im weiteren Verlauf dieses Buches noch im Einzelnen verifiziert werden. Doch welche reale Berechtigung die genannten – inzwischen häufig kritisierten – Forschungsbegriffe wie ›Medikalisierung‹ oder ›Laisierung‹ für das Spätmittelalter auch immer haben: Sicher ist, dass im 17., 18. und 19. Jahrhundert die reformerische Arbeit an den Hospitälern neue Peripetien erfuhr.14 Als Teil der modernen Gesundheitssysteme ist das – nun wirklich ›medikalisierte‹ und als ›Klinik‹ oder ›Krankenhaus‹ konzipierte – Hospital bis heute in viele Reformen der Wohlfahrt und ihrer Finanzierung involviert und wird nach wie vor sowohl in der Öffentlichkeit als auch von der Forschung als Reformobjekt wahrgenommen. 11 Zu diesem viel diskutierten Problem der Reformations- wie auch der Armutsforschung vgl. neben Mollat, Les pauvres, S. 353 – 359, oder Jütte, Obrigkeitliche Armenfürsorge, neuere Bemühungen, die Veränderungen der Wohlfahrtspolitik in evangelischen und katholischen Territorien des 16. Jh.s in lokalen Fallstudien empirisch zu verifizieren, z. B.: Grell/Cunningham, Health Care; Safley, The Reformation of Charity. S auch die Fallstudie zu Straßburg unten, Kap. IV. 12 Für die systematische Aufarbeitung der Kommunalisierung der Hospitäler im Reich steht nach wie vor die Arbeit von Reicke, Das deutsche Spital. S. dazu unten, Kap. I, Anm. 18, und zur Hospitalpolitik der italienischen Kommunen Kap. II.1. 13 Jacquart/Nicoud, L’office du m¦decin, S. 195. Zur Medikalisierung der Hospitäler am Beispiel Florenz: Henderson, Medizin für den Körper. Kritisch zum Begriff ›Medikalisierung‹, auch im Blick auf die frühe Neuzeit, Dross, Normale Praxis. 14 Einige Titel zur französischen Hospitalreform des 17. Jh.s mögen hier genügen: Dissard, La r¦forme; Dinet-Lecomte, Les sœurs hospitaliÀres; McHugh, Establishing Medical Men; vgl. auch unten, Kap. III.

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Einleitung

Es ist nicht das Anliegen dieses Buches, die Reformen spätmittelalterlicher Hospitäler in ihrer Ereignishaftigkeit zu rekonstruieren und die meist schon gut erforschten historischen Abläufe zu rekapitulieren. Vielmehr steht eine andere Frage im Zentrum, die sich fürs Erste wie folgt formulieren lässt: Wie wurde, im Zuge der Streitereien und manchmal auch gravierenden Konflikte, von denen Hospitalreformen im 14.–16. Jahrhundert regelmäßig begleitet waren, über die Anliegen der Reformer und ihrer Gegner diskutiert? Welche Argumente pro oder contra Reform wurden gefunden? Nicht die Sozialgeschichte der Hospitäler als solche ist Hauptziel der Untersuchung, sondern die Erforschung des vormodernen Reformdiskurses. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Hospitalreformen dazu einen Beitrag leisten können, nicht zuletzt weil sie, wie sich zeigen wird, mit anderen Reformkonstellationen eng verbunden waren. Zwar ist ein systematischer Vergleich zwischen den großen spätmittelalterlichen Reformbaustellen und den Hospitälern hier nicht intendiert. Doch bieten Letztere den Vorteil eines überschaubaren Beobachtungsfelds, welches in einer begrenzten (wenn auch nicht gerade dünnen) Monografie realistisch bearbeitet werden kann. Denn es handelt sich um Institutionen mittlerer Größe, die komplex und für die umgebenden Stadtgesellschaften interessant genug waren, um Reformen notwendig und Streit unumgehbar zu machen (jedenfalls sofern von großen Hospitälern und nicht von einem Kleinbetrieb wie Sant’Alý in Perugia die Rede ist); aber doch wieder nicht so groß, dass die Quellen nur in punktueller Auswahl bewältigt werden könnten, wie es zum Beispiel der Fall wäre, wenn man sich auf Reformen der spätmittelalterlichen Kirche oder des Reiches verlegen würde.

2.

Vormoderne Reformkonzepte

Reformatio und das Verb reformare sind die im Mittelalter üblichen Wörter für das, was später, seit dem 17. Jahrhundert zuerst in Frankreich, auch mit der Kurzform r¦forme bezeichnet wurde, die dann ins Deutsche und in andere europäische Sprachen übernommen wurde.15 Die mittelalterlichen Quellen kennen daneben auch andere lateinische oder volkssprachliche Wörter, die – der Sache nach – Reformvorgänge unterschiedlicher Reichweite benennen und allein oder 15 Der folgende Abschnitt greift bereits Publiziertes auf: Frank, Spätmittelalterliche Hospitalreformen, Abs. 1, Frank/Winkler, Einleitung, S. 9 f., u. Frank, Tradition and Reform. – Zur Begriffsgeschichte s. Lumpe, Zur Bedeutung; Wolgast, Reform, Reformation. Dort wurde übersehen, dass die Kurzform riforma und der Plural riforme bereits im 15. Jh. in Italien vorkommen, allerdings nur als Terminus technicus für Statutenänderungen in den Kommunen, synonym für riformagioni oder lateinisch reformationes; Belege in Battaglia, Grande Dizionario 16, S. 279, 281. S. ferner Machilek, Einführung, S. 6 – 13.

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Vormoderne Reformkonzepte

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im Verbund mit reformatio verwendet wurden: correctio, emendatio, »Missbrauch abtun«, »die Ordnung wiederherstellen«, »bessern« und andere mehr.16 Schon dies zeigt, dass es mit einer traditionellen Begriffsgeschichte, die sich auf das Vorkommen von Angehörigen der Wortfamilie reformatio in politischen, philosophischen oder kirchlichen Texten quer durch die Jahrhunderte beschränkt, nicht getan ist. Dass die Wörter reformatio und reformare zu verschiedenen Zeiten mehr oder weniger häufig gebraucht und auf verschiedene Milieus bezogen wurde, dass das Substantiv sogar (freilich erst im Nachhinein) zur Benennung von Epochen verwendet werden konnte, ist eine Sache. Auf einer anderen Ebene liegt die Frage, wann, wo und wie sich die Vorstellung ausbreitete, historischer Wandel sei machbar, wie diese Möglichkeit zur Veränderung jeweils konzipiert wurde, was dies für das Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Institutionen bedeutete, wie darüber in verschiedenen historischen Kontexten verhandelt und mit welchen sprachlichen Mitteln die so verstandenen Reformdebatten geführt wurden. Diese Frage leitet die hier unternommene Untersuchung von Hospitalreformen; sie zielt auf etwas, das man mit einer Metapher aus der Computerwelt als ›Betriebssystem‹ der Reform bezeichnen könnte. In den Vorstellungen, die verschiedene Epochen und Milieus sich von der Möglichkeit zur Veränderung bestimmter Institutionen machen, kreuzen sich synchrone Reformerfahrungen mit langfristig sedimentierten Reformkonzepten, die in Texten aus unterschiedlichen Wissensgebieten (Historiografie, Theologie, Philosophie, Recht …) überliefert sind. Was die synchronen Reformerfahrungen der Menschen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit betrifft, so können vor allem das 15. und das 16. Jahrhundert als Zeitalter intensiver Reformen auf vielen institutionellen Ebenen bezeichnet werden. Von der namengebenden Zäsur der lutherschen ›Reformation‹ und ›katholischen Reform‹ einmal abgesehen, war die Erneuerung des Heiligen Römischen Reiches, anderer Reiche und vor allem der Kirche17 seit den Jahren des Großen Schismas (1378 – 1417) in aller Munde, mit welcher Vokabel auch immer die für notwendig erachteten Reformmaßnahmen belegt wurden. Trotz der theoretischen Höhen, welche die Reformdiskussionen durch die Konzilien von Konstanz und Basel erreichten,18 gelang es nicht, Veränderungen zu realisieren, mit denen 16 Zum Wortfeld ›Reform‹ und den zu ihm gehörenden Termini in der spätmittelalterlichen Kommunalpolitik und -gesetzgebung in Deutschland s. Rogge, Reformieren und regulieren, in der Debatte um Kirche und Orden s. Mertens, Klosterreform als Kommunikationsereignis, S. 397 – 410. 17 Einige exemplarische Titel: Angermeier, Die Reichsreform 1410 – 1555; Struve, Kontinuität und Wandel. Frankreich: Contamine, Le vocabulaire politique. Kirche: Helmrath, Reform als Thema der Konzilien; Machilek, Einführung; Izbicki/Bellitto, Reform and Renewal; Basse, Von den Reformkonzilien; Bellitto/Flanagin, Reassessing Reform. 18 Stump, The Reforms of the Council of Constance; Patschovsky, Der Reformbegriff. Zur

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Einleitung

die Mehrheit der Laien und des lateinischen Klerus sich auf Dauer zufrieden gegeben hätte. Dies gilt zumindest für die oberen Ebenen der Papstkirche. Die auf anderen Ebenen, insbesondere in den religiösen Orden, geführten Debatten hingegen erzielten durchaus praktische Ergebnisse, wie die mediävistische und frühneuzeitliche Forschung seit einiger Zeit auf beeindruckende Weise herausarbeitet.19 Freilich wird nicht zuletzt an den Ordensreformen deutlich, dass die Hoffnung, durch Reformen eine verloren geglaubte ursprüngliche Einheit restituieren zu können, kaum in Erfüllung ging. Sie zerbrach regelmäßig an den durch die Reformen hervorgerufenen oder zumindest verschärften Konflikten: Erinnert sei nur an die oftmals gegensätzlichen Positionen zwischen Orden auf der einen und Konzilsvätern aus dem Weltklerus auf der anderen Seite, an die Spannungen innerhalb der Orden oder in den Städten, in denen die reformierten Klöster lagen.20 Umso schwerer fiel es der lateinischen Gesamtkirche, gangbare Wege zur Restitution von Einheit zu finden (mit der Ostkirche beim Konzil von Ferrara und Florenz 1438 – 1439) oder wenigstens in West- und Mitteleuropa die Einheit zu wahren (Hussiten, Basler Schisma, Reformation). Auch ohne die Frage nach dem Wie und Warum des Erfolgs oder Misserfolgs all dieser Initiativen zu vertiefen, lässt sich feststellen: An Schauplätzen, auf denen um Reformen kirchlicher oder weltlicher Institutionen gekämpft wurde, war im 15. und frühen 16. Jahrhundert kein Mangel, so dass auch diejenigen, die sich auf ein etwas weniger hochfliegendes Projekt, nämlich die Verbesserung eines Hospitals, zu konzentrieren gedachten, synchrone Reformerfahrungen zu Rate ziehen und sich aus deren Argumentefundus bedienen konnten. Zahlreich sind auch die Wortführer, die für (oder gegen) Reformen argumentierten, selbst wenn wir hier wieder von den protestantischen Reformatoren (bzw. ihren Gegnern) absehen. Einige Reformer des 15. Jahrhunderts, zum Beispiel Nikolaus von Kues oder Girolamo Savonarola, gehören zu den bekanntesten Philosophen und Theologen des Spätmittelalters; die große Mehrheit ist allerdings nur den Spezialisten der Konzils-, Reichstags-, Kurien-, Ordens- oder Stadtgeschichte ein Begriff, und wieder andere treten uns nur als anonyme Verfasser von Reformtraktaten entgegen.21 kurialen Reformdiskussion in den Jahren zwischen Konstanz und Basel s. Studt, Papst Martin V., besonders S. 16, 417 – 477. 19 Elm, Reformbemühungen; Mertens, Klosterreform als Kommunikationereignis; Weigel, Reform als Paradigma; Le Gall, Les moines; Klueting, Monasteria semper reformanda. 20 Weigel, Reform als Paradigma. Mierau, Synoden als Ort kirchenrechtlicher Debatten, und neuerdings Woelki, Kirchenrecht als Mittel der Reform, zu den Auseinandersetzungen zwischen den Bettelorden und dem Reformlegaten Nikolaus von Kues, bei dem sich der Begriff unitas zumindest in seinen frühen Werken mit reformatio und renovatio verband (Senger, Renovatio und unitas). Ein anschauliches Straßburger Beispiel für die von der Reform eines Frauenklosters aufgeworfenen Konflikte bei Hirbodian, Dominikanerinnenreform. 21 Zu Nikolaus von Kues sei hier nur auf den Band Frank/Winkler, Renovatio et unitas,

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Vormoderne Reformkonzepte

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Weniger leicht zu greifen sind die im diachronen Durchlauf, zum Teil seit vielen Jahrhunderten entwickelten Reformkonzepte, die nicht nur die Art und Weise beeinflussten, wie auf den großen Reformbaustellen über Ziele und Methoden verhandelt wurde, sondern auch – jedenfalls ist dies zu vermuten – das Nachdenken über Hospitalreformen steuerten. Für das christliche Mittelalter und die frühe Neuzeit entscheidend war die »christliche Reformidee«, deren Merkmale Gerhart Ladner in seinem Buch The Idea of Reform22 vor über 50 Jahren aus dem Neuen Testament und den Schriften der griechischen und lateinischen Kirchenväter rekonstruiert hat. Zwar griff das frühchristliche Erneuerungskonzept Elemente und Wörter auf, die ältere griechische und römische Texte vorgegeben hatten, prägte diese jedoch so stark um, dass reformatio und seine Verwandten in eine zentrale Stelle in der Heilsökonomie einrücken konnten. Ladner legt für die Spätantike und das frühe Mittelalter dar, dass die christliche Reformidee sich aus paulinischen und patristischen Konzepten zunächst individueller conversio zu Christus entwickelt hat. Anfangs bedeutete Reform – wenn auch mit vielfältigen Nuancen und Unterschieden zwischen der griechischen und der lateinischen Welt – persönliche Annäherung an das Ideal der von Christus vermittelten Gottesebenbildlichkeit. Erst in einem zweiten Schritt, und zwar vornehmlich in der lateinischen Kirche, für die das ordo-Denken des Augustinus grundlegend wurde, sei diese Vorstellung auf Kollektive übertragen worden, auf die monastischen Institutionen und die Kirche, später auch auf andere Institutionen und die Gesellschaft als ganze. Die Tatsache, dass das erste Objekt einer so gefassten Reform das Individuum war, erlaubt es Ladner, die christliche Konzeption mit Hilfe von vier Merkmalen von anderen Vorstellungen von Erneuerung abzuheben: Die Reform geht (1) aus der freien Entscheidung des ›Reformers‹ (also zunächst des einzelnen Christen) hervor und wird (2) bewusst und absichtlich in Gang gesetzt; sie rechnet (3) mit der Unvollkommenheit irdischen Agierens und ist (4) grundsätzlich wiederholbar.23 verwiesen, der die Bemühungen des Cusanus um die Reform konkreter Institutionen mit Elementen seiner Philosophie in Beziehung zu setzen versucht. Zu Savonarola s. Fubini, Savonarola riformatore. Einige wichtige Reformschriften des 15. Jh.s und ihre Verfasser werden vorgestellt von Struve, Kontinuität und Wandel, u. Märtl, Der Reformgedanke (beide u. a. zur anonymen Reformatio Sigismundi). Zu Kardinal Niccolý Albergati († 1443), einem Beispiel für einen mehr im Stillen an der Verbesserung der Verhältnisse arbeitenden Diener der Papstkirche, s. Paolini, Riforma e pace. 22 Ladner, The Idea of Reform (1959). Zur Bedeutung dieses Werks s. die Beiträge der LadnerSchüler Stump, The Influence, Stump, The Continuing Relevance, u. Van Engen, Images and Ideas, S. 101 – 105. – Das Folgende übernimmt Passagen aus Frank/Winkler, Einleitung, S. 10 f. Für die Darlegung der Ergebnisse Ladners behalte ich seinen Begriff ›Reformidee‹ bei. 23 Ladner, The Idea of Reform, besonders S. 16 (freie Entscheidung), 26 (Bewusstheit), 31 f. (relative Perfektibilität, Wiederholbarkeit), 35 (zusammenfassende Definition der Reform-

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Einleitung

Damit ist eine Reihe von Faktoren identifiziert, die später auch die institutionellen Reformaktionen im christlichen Europa prägten: Grundlegend ist die Erkenntnis, dass die christlich konzipierte Reform in einem Modus operiert, der über mimetische oder Abbildungs-Beziehungen definiert ist. Ausgangs- und Zielpunkt ist ein Urbild, ein Idealbild oder eine höchste Norm, denen das Reformobjekt via Reform möglichst nahekommen soll.24 Dies ist ein erster Baustein zum Verständnis des ›Betriebssystems‹ mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Reformen; als konstitutive Elemente seien außerdem die vier Merkmale Freiheit, Intentionalität, Perfektibilität und Wiederholbarkeit festgehalten. Weitere Bausteine lassen sich gewinnen, wenn man Ladners Beschreibung der Unschärfen oder Ambivalenzen der christlichen Reformidee folgt. Eine erste, bereits beim Apostel Paulus angelegte25 und dann von Augustinus ausgebaute Ambivalenz ist in dem bereits angedeuteten Faktum zu erkennen, dass Reformen bis in die frühe Neuzeit hinein zwischen dem Ziel der moralischen Besserung des Individuums und dem kollektiven Horizont institutioneller oder gesellschaftlicher Veränderungen oszillieren. Zwar hatte sich in der Praxis der Akzent längst von der individuellen auf die institutionelle Seite verschoben, aber vor allem bei kirchlichen Reformen blieb der individuelle Aspekt auch im 15. Jahrhundert und noch in der Reformation präsent; dies belegt zum Beispiel eine in der Forschung breit rezipierte Äußerung des Basler Konzilsvaters Johannes von Segovia, der beide Aspekte als mögliches Ziel von reformationes herausstellte.26 Ladner hat eine weitere für das vormoderne Reformdenken prägende Ambivalenz herausgearbeitet: Der neutestamentliche und patristische Gebrauch des Verbs reformare lasse erkennen, dass gerade in diesem Wort (das schon in vorchristlicher Zeit auch in der Verbindung reformare in melius vorkommt) der Bezug auf eine präexistente Gegebenheit mit der Tendenz zur Neugestaltung verflochten sei.27 Das heißt: Die christliche Reformidee ist sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft ausgerichtet. Darauf hat, im Anschluss an

24

25 26 27

idee), 54, 62 (Reform und Gottesebenbildlichkeit bei Paulus); zum Verhältnis von individueller und kollektiver Reform bei Augustinus s. S. 166 f. und insbesondere 277 – 283 (im Kap. über De civitate Dei). Der mimetische Operationsmodus lässt sich auch noch im 15. Jh. nachweisen, in einer Reformschrift wie De concordantia catholica (1433) von Nikolaus von Kues: Frank, Cusanus, S. 174 – 176. Zum Zusammenhang zwischen Abbild-Urbild-Beziehung und Perfektibilität sowie zwischen Ideal (forma, Urbild) und Reform in der Reformatio generalis (1459) des Cusanus s. Staubach, Einleitung, S. 8 f., 14 f. Ladner, The Idea of Reform, S. 61 f. Für den Nachweis der Stelle aus der Konzilsgeschichte des Johannes von Segovia sei z. B. auf Helmrath, Reform als Thema der Konzilien, S. 91 f., verwiesen. Ladner, The Idea of Reform, S. 48: Das Präfix re in reformare deute auf »the previous existence of the constitutive components of a substance or event«, formare auf das »being organized and consolidated toward new shape and ›firmness‹« dieser Komponenten.

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Theoretische Aspekte des vormodernen Reformdenkens

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Ladner, anhand von Reformschriften des Konstanzer Konzils besonders Phillip Stump hingewiesen, der diesen Befund auf die treffende Formel von der »JanusKöpfigkeit« der Reform gebracht hat: Reform sei ein Typus des historischen Wandels, der, wie Janus, zugleich nach hinten und nach vorne blicke.28 Damit wird die in der Forschungsliteratur häufig zu lesende Behauptung – der zufolge mittelalterliche und frühneuzeitliche Reformen vergangenheitsbezogene, auf die guten Anfänge oder reinen Ursprünge fixierte, konservative, rückwärtsgewandte, bloß restaurative und vor Innovationen zurückschreckende Unternehmungen seien29 – problematisiert oder zumindest differenziert. Vielmehr waren auch in den mittelalterlichen Reformen Alt und Neu gleichermaßen präsent; nur waren sie es auf intrikatere Weise als in modernen Reformkonzepten, welche – so zumindest die gängige Vorstellung – zwischen Alt und Neu säuberlich trennen, um einer nun zu überwindenden Vergangenheit den künftigen Fortschritt entgegenzusetzen.

3.

Theoretische Aspekte des vormodernen Reformdenkens

Das Ideal der Wiederherstellung der Gottesebenbildlichkeit, die Freiheit, Intentionalität, Perfektibilität und Wiederholbarkeit, die Ambivalenz zwischen individueller und institutioneller (kollektiver) Reichweite und zwischen Vergangenheit und Zukunft – das sind die Komponenten der »christlichen Reformidee«. Was Ladner aus neutestamentlichen und patristischen Texten entwickelt hat, bietet Ansatzpunkte für eine regelrechte Reformtheorie. In fast allen soeben genannten Elementen verbirgt sich ein narratives Substrat, eine Erzählung, die je nach Bedarf von den Teilnehmern einer Reformdebatte entfaltet werden kann: Der Begriff ›Gottesebenbildlichkeit‹ ist zwar Produkt theologischer Reflexion, transportiert aber zugleich einen reichen Schatz von Narrativen wie der Genesis oder Geschichten über Heroen der Christus-Imitation. Die Begriffe ›Perfektibilität‹ und ›Wiederholbarkeit‹ laden zur Sammlung von Reformexempla ein (um die Möglichkeit relativer Vervollkommnung und den Nutzen erneuter Reformversuche zu begründen, muss von Vorbildern erzählt 28 Stump, The Reforms of the Council of Constance, S. 206 – 231, z. B. 206 (»Janus […] looking forward and backward at once«). Zusammenfassend Stump, Reform and Tradition. 29 Mehr oder weniger pronociert in diesem Sinn z. B. Iserloh, Reform der Kirche, S. 8; Angermeier, Die Reichsreform, S. 15, 22; Basse, Von den Reformkonzilien, S. 72. So auch Wolgast, Reform, S. 317, 321 – 323, 325, der aber zumindest im säkularen Kontext für das 15. Jh. eine Verschiebung zu zukunftsgerichteter Innovation erkennt; ähnlich sieht Strauss, Idea of reformatio, eine Entwicklung von einem rückwärtsgewandten mittelalterlichen Reformbegriff zu einem auf Neuerung angelegten Begriff in den Händen der frühneuzeitlichen Fürsten. Hingegen sind für Reinhardt, Goldenes Zeitalter, S. 51, noch die Reformen des 16. Jh.s auf »Wiederherstellung verlorengegangener Vorbildhaftigkeit« fixiert.

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Einleitung

werden). Die Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunftsperspektive erzwingt geradezu eine Unterfütterung mit historischen Berichten über die guten Anfänge oder, je nach Umständen, auch mit dem spiegelbildlichen Verfahren der Prophezeiung einer düsteren Zukunft. Am Beispiel der von den Konstanzer Reformern vorgetragenen Argumente hat Phillip Stump den Ansatz Ladners weiterentwickelt und vorgeführt, mit welchen Mikronarrativen und Metaphern bestimmte Reformstrategien begründet (oder unterlaufen) werden konnten. All dies lässt darauf schließen, dass Reformieren immer auch ein rhetorisches Unternehmen ist, weshalb es angemessen scheint, den Begriff »Reformidee« durch einen Begriff abzulösen, der diese rhetorische Qualität einfängt. Wenn Metaphern und Narrative der Stoff sind, der die »Reformidee« konstituiert – wenn somit Handlungen, Zeitverhältnisse, Kausalitäten und Verfahren der Perspektivierung ins Spiel kommen – dann ist es konsequent, statt von ›Idee‹ von ›Plot‹ zu sprechen. Der Begriff ›Reform-Plot‹30 lenkt das Augenmerk auf die narrative und damit auch auf die metaphorische und generell die rhetorische Verfasstheit von Reformen; er zielt auf die Funktionsweise von Reformdebatten und ersetzt damit zugleich die oben behelfsweise eingeführte Metapher ›Betriebssystem‹. Im Folgenden wird versucht, diese Funktionsweise zu systematisieren, um sie dann – und das ist ja das Ziel des Ganzen – am eigentlichen Gegenstand, den Debatten um Hospitalreformen, erproben zu können. Die Systematisierung erfolgt in vier Schritten. Als erstes (a) werden einige für die Rede über Reform signifikante Metaphern vorgestellt. Als zweites (b) interessieren die Zeitstrukturen im Reform-Plot, also die Art und Weise, wie Reformnarrative Zeitdynamiken verarbeiten. Drittens (c) soll das normative Element im Reform-Plot und viertens (d) die argumentative Struktur der Reformdebatten betrachtet werden. (a) Den Verdacht, dass eine bestimmte Auswahl von Metaphern in einem Text die Deutungsarbeit der Leser (oder Hörer) in die eine oder andere Richtung lenkt, bestätigen neuerdings auch die Psychologen.31 Doch schon Alkuin, der wahrscheinliche Verfasser der eingangs als Motto zitierten Epistola de litteris colendis Karls des Großen, muss so etwas geahnt haben: Seine Feststellung, dem Handeln gehe das Wissen voraus, lässt sich dahingehend verallgemeinern, dass, wer in einer komplexen Angelegenheit handlungsfähig sein will, zunächst einmal Texte (im weitesten Sinn) rezipiert haben muss, die sich dann in Skripte (Handlungsanweisungen) verwandeln. In diesem Rezeptions- und Verwandlungsvorgang spielt die Trope der Metapher eine wichtige Rolle. 30 Der Begriff stammt aus der Narratologie. Eine vergleichbare Anwendung zur Analyse der ›Krise‹ (»Krisen-Plot«) neuerdings bei Nünning, Krise als Erzählung und Metapher, S. 126 u. passim. 31 Vgl. den Bericht über die Resultate eines solchen Experiments in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. 7. 2011 (Manuela Lenzen, Lieber Viren und Ungeheuer als Statistik).

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Theoretische Aspekte des vormodernen Reformdenkens

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Dem Historiker sei nachgesehen, wenn er – um im weiten Feld der Metapherntheorien die Orientierung zu bewahren – den Praxisbezug im Auge behält und daher ein Verständnis von Metapher zu Grunde legt, das sich an die klassische Rhetorik anlehnt.32 Demnach werden bestimmte Wörter, die unzweifelhaft von einem bild- oder bedeutungsspendenden in einen empfangenden Bereich übertragen werden, als Metaphern identifiziert und könnten damit in ein Corpus der Reformmetaphern (um beim Thema zu bleiben) aufgenommen werden. Um die rhetorische Funktion von Metaphern zu präzisieren, kann man ihre Leistung auch als »Perspektivierung«33 beschreiben: Zum Beispiel privilegiert die Wahl der Sonnenmetapher für den Kaiser eine ganz bestimmte Perspektive auf den Herrscher (glanzvoll, lebensspendend, mächtig …). Damit ist keine Entwertung anderer, angesichts der Komplexität der Materie sicherlich adäquaterer Ansätze intendiert, die einer solchen Corpusbildung kritisch gegenüberstehen und stattdessen die Kontextgebundenheit metaphorischer Effekte oder die semiotischen Implikationen der Übertragungsfunktion ins Zentrum rücken.34 Doch ist deren praktische Anwendbarkeit auf historische Gebrauchstexte, die das Gros der hier herangezogenen Quellen ausmachen, noch nicht gesichert. Ein Beispiel für eine metaphorologische (und narratologische) Untersuchung eines der Reform in mancher Hinsicht ähnlichen historischen Phänomens, der Krise, hat kürzlich Ansgar Nünning gegeben. Er zeigt, wie das semantische Potenzial des Wortes ›Krise‹ – selbst eine Metapher, da es ursprünglich in der antiken Medizin den kritischen Wendepunkt im Krankheitsverlauf bezeichnete und von dort aus in andere Wissensgebiete einzog – durch die Übertragung den Rezipienten zu bestimmten Deutungen der Situation drängt und gleich auch eine begrenzte Zahl von Akteuren auf den Plan ruft: Wo Bilder wie ›Krankheit‹, ›Angst vor dem Tod‹, ›Diagnose‹ und ›Therapie‹ aufgerufen werden, da wenden sich die ›Patienten‹ an ›Ärzte‹, in nicht-medizinischen Krisenlagen also an Experten.35 Nun ließe sich zwar die Frage aufwerfen, ob der historisch weit zurückliegende medizinische Ausgangspunkt des Wortes ›Krise‹ in späteren Epochen tatsächlich noch so präsent ist, dass seine metaphorische Logik in der beschriebenen Weise wirken kann; damit dies geschieht, müssen wahrscheinlich erst die oben aufgezählten sekundären Metaphern (Krankheit usw.) auf den Plan treten. Im Fall des Wortfelds ›Reform‹, dessen Hauptvertreter (reformatio, correctio usw.) selbst nur eine schwache metaphorische Kraft haben, greifen die Sprecher und Textautoren in der Tat gerne auf sekundäre Metaphern zurück. 32 33 34 35

Also an Lausberg, Handbuch, §§ 558 – 564 u. a. Dies nach Burke, Four Master Tropes. So etwa Gehring, Metapherntheoretischer Visualismus, oder Müller, »Übertragungen«. Nünning, Krise als Erzählung und Metapher, S. 131 – 140.

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Einleitung

Diese sind, ähnlich wie bei ›Krise‹, häufig der Welt des Medizinischen und des Organologischen entnommen. Zum einen müssen die Missstände, die nach Ansicht der Reformer eine Reform wünschenswert machen, ›geheilt‹ werden; zum anderen werden die Institutionen, deren Verfassung durch die Reform wiederhergestellt und verbessert werden soll, häufig mit Körpermetaphern adressiert. Beides lässt sich sehr gut zusammenfügen und führt zudem wieder zu den Quellen der »christlichen Reformidee« zurück, wenn zum Beispiel die Kirche, das paulinische corpus Christi, an »Haupt und Gliedern« reformiert oder kranke Stellen aus dem Körper des Reiches geschnitten werden sollen.36 Begnügen wir uns mit diesem einen Beispiel der Körpermetaphern, denn es handelt sich hier ja nur darum, der Lektüre der Quellen zu den Hospitalreformen eine Suchrichtung zu geben, die es ermöglicht, Reformmetaphern aufzufinden. (b) Zu Recht hat Nünning die metaphorologischen Eigenschaften des Wortes ›Krise‹ mit der Frage nach der Narratologie verbunden. Denn viele Metaphern sind Mikronarrative, verbergen komprimierte Erzählungen, die unexpliziert mitgeführt oder im weiteren Verlauf eines Textes aktiviert werden.37 Man kann diese Bewegung als ständig fließenden Grenzverkehr zwischen Metapher und Allegorie bezeichnen. An der Körpermetaphorik lässt sie sich gut exemplifizieren: Ist von einer Institution, etwa einem Großhospital, als Haupt eines Körpers (bestehend aus anderen, kleineren Hospitälern) die Rede, dann wird jeder Hörer oder Leser an eine komplexe, hierarchische, aber arbeitsteilig organisierte Ordnung denken, wird sich Funktionen wie die Verteilung von Ressourcen und Menschen als quasi natürlich geregelt vorstellen, weil in einem zentral dirigierten Körper die Kompetenzen der Teile klar fixiert sind. So formt sich aus Mikronarrativen das Bild von einem Hospital-›System‹. Gebildeten Hörern oder Lesern werden zusätzlich Referenzgeschichten aus der Bibel, historischen Werken oder der Fabel- und Exempelliteratur in den Sinn kommen. Kurz: Manche (viele?) Metaphern sind selbst kondensierte Narrative und/oder sind mit Narrativen verknüpft, für die sie (vergleichbar einem Plakat oder Trailer zu einem Film) als Wegweiser fungieren. 36 Stump, The Reforms, S. 221 – 226, 232 – 245, hat die medizinische Bilderwelt und die Metapher »Haupt und Glieder« am Material des Konstanzer Konzils eingehend untersucht. Zu Letzterer s. außerdem Frech, Reform an Haupt und Gliedern. Zur medizinischen und Körpermetaphorik in der Reichsreform bei Cusanus, Jean Juv¦nal des Ursins und Ulrich von Hutten s. Naegle, »Mortalis morbus«, S. 195 – 201. Zur Körpermetaphorik in der Staatstheorie (römische Antike bis 19. Jh.) s. Koschorke u. a., Der fiktive Staat. – Es sei ferner darauf hingewiesen, dass das Wort reformare im Sinn von ›Gesundheit wiederherstellen‹ auch direkt in der medizinischen Sprache verwurzelt war (Lumpe, Zur Bedeutung). 37 Nünning, Krise als Erzählung und Metapher, S. 131. Im Rahmen einer allgemeinen Erzähltheorie entwickelt Koschorke, Wahrheit und Erfindung, S. 267 – 270, das Konzept des »Kondensats« von Erzählungen, das sich auf Begriffe (bzw. Metaphern) wie Säkularisierung, Aufklärung u. a. anwenden lässt (vorgeführt am Narrativ der Aufklärung ebd., S. 270 – 277).

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Theoretische Aspekte des vormodernen Reformdenkens

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Damit führt die Metapher zurück zum Problem der Erzählungen, von dem wir, angeregt durch Ladners Reformtheorie, ausgegangen waren. Narrative sind nicht nur Schauseite, akzidentelle Begründung oder schmückendes Beiwerk, sondern geradezu der Motor der Reform; was Reformen antreibt, ist ein strukturiertes Narrativ : ihr ›Plot‹. Für institutionelle Reformen lässt sich eine einfache Basisstruktur von Reform-Plots beschreiben: Auf einen mehr oder weniger weit zurückliegenden Ausgangszustand (I), der als ideal, vorbildlich, glücklich, jedenfalls als gut definiert wird und mit der Gründungsphase der Institution identisch sein kann, aber nicht muss, folgt eine Phase des Niedergangs (II), die bis zur Gegenwart reicht. Sind diese Mängel diagnostiziert und ins Bewusstsein getreten, kann eine Reform geplant und – sofort oder in gegenwartsnaher Zukunft – umgesetzt werden (III), die in eine bessere ferne Zukunft führen wird (IV).38 Zweierlei Varianten in der Gewichtung dieser auch kausal verketteten Zeitphasen sind möglich: Zum einen kann in der »janusköpfigen« Kopräsenz von Vergangenheitsbezug und Zukunftserwartung entweder die eine oder die andere Blickrichtung stärker ausgebaut sein. Zum anderen gibt es auch prophetische Reform-Plots, die den Handlungsbedarf weniger aus der Diskrepanz zwischen Gegenwart und idealen Anfängen (und einer entsprechenden Verfallserzählung) herleiten als aus dem drohenden bösen Ende (und einer entsprechenden Zukunftsvorhersage).39 Charakteristisch für diese Basisstruktur ist ihr weit ausgreifender Zeithorizont. Alle drei Zeitschichten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sind gleichermaßen konstitutiv für den Reform-Plot. Das stärkt, jedenfalls in der Theorie, die Überzeugungskraft eines solchen Narrativs. In der konkreten Anwendung freilich tun sich Probleme auf. Zunächst verlangt der große Raum, der der Darstellung der historischen Vergangenheit reserviert ist (Phase I und II), nach Füllung durch historische Erzählungen, die wiederum Einfallstor für 38 Vgl. die im Prinzip dreiteilige Struktur der Krisenerzählung nach Nünning, Krise als Erzählung und Metapher, S. 121 – 130 (Ausgangslage, Krisenphase, Lösung zum Guten oder Schlechten), sowie das Drei-Phasen-Modell des Aufklärungs-Narrativs bei Koschorke, Wahrheit und Erfindung, S. 273 f.; ebd., S. 213 f., zur Struktur und gesellschaftlichen Funktion kollektiver Erzählungen über Ursprung, Trennung und Rückgewinnung des Ursprungzustands. Nicht auf der Höhe literaturwissenschaftlicher Erzählforschung bewegt sich der an kollektiver Psychologie interessierte Versuch von Selbin, Revolution, Revolutions-Geschichten (»stories«) zu systematisieren. 39 Viele vormoderne Reformen tun beides: Sie verbinden den Rekurs auf die guten Anfänge mit einer prophetischen Warnung. Im Übrigen kann die apokalyptische Perspektive generell als Reformantrieb bezeichnet werden. Quelle dieses Plots ist das Alte Testament, später s. etwa die Rolle von Prophetien in den Reformprojekten nach dem Ende des Königreichs Jerusalem, im Franziskanerorden des 14. Jh.s und noch in der Reformation. Ein weniger bekanntes Beispiel sind die Reformaufrufe des Avignoneser Kurialen Nicolas de Clamanges nach 1400 (dazu Bellitto, The Rhetoric of Reform).

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Einleitung

kontroverse Auslegungen der Fakten sind. Denn es gibt diverse Möglichkeiten, über Verfall zu berichten,40 selbst wenn über eine positive Wertung der Ursprünge noch Einigkeit besteht. Außerdem ist es höchst schwierig, Konsens über die historische Grenze zwischen dem Ende der guten Ausgangslage und dem Beginn des Niedergangs zu finden. So ist nicht nur die Frage, ob und welche späteren Veränderungen als Verschlechterungen zu beurteilen sind, Anlass zu Kontroversen, sondern auch die Frage der Datierung: Wann genau hörte die gute alte Zeit auf und wann setzten die schlechten Neuerungen ein?41 Schon wegen dieser umstrittenen Voraussetzungen steht die Legitimität von Phase III auf tönernen Füßen. Aber auch weil sie als Scharnier zwischen Vergangenheit und Zukunft steht, ist die Reform eine ›heiße‹, prinzipiell umkämpfte Phase.42 Denn eine Erzählung, die eine Prognose über die Zukunft (IV) einschließt, ist grundsätzlich angreifbar, lässt sich doch der künftige Gang der Dinge nun einmal schlecht garantieren. Auch dies erklärt, warum Reformer (wie auch AntiReformer) anfällig für die ›prophetische Versuchung‹ sind, doch damit riskieren sie, sich im Jonas-Paradox zu verheddern (Jon. 3 und 4): Wenn die Prophezeiung recht behielte (so der Anspruch des Propheten Jonas), wäre die Reform gescheitert, deren Zweck aber gerade ist, das Eintreten des prophezeiten bösen Endes zu verhindern. Auch hier handelt es sich um einen Suchhorizont, um ein Modell, von dem sich erst erweisen muss, was es für die in konkreten historischen Kontexten produzierten Reformtexte leistet. Näherhin sind die Quellen für die Hospitalreformen daraufhin zu befragen, inwiefern die dort in praxi zu beobachtenden Reform- oder Antireform-Erzählungen der soeben beschriebenen Vier-PhasenStruktur folgen, wie ihr Zeitregime beschaffen ist und wie die Phasen kausal verknüpft sind. Ferner kann die Untersuchung realer, und das heißt oft: wiederholter Reformdebatten Auskunft darüber geben, ob und wie eine (gelungene oder misslungene) Reform in Meta-Erzählungen eingeht, indem sie selbst wieder Gegenstand späterer Reformerzählungen wird und damit zur Bildung einer Reformtradition beiträgt. (c) Ein Marker für die in einer Reformdebatte von den Parteien geltend gemachten Zeitregimes kann auch der Umgang mit einem Rechtsbegriff wie consuetudo sein. Werden später eingeführte consuetudines von einem vorgängigen, ›alten‹ und ›guten‹ Recht unterschieden? Oder stehen gerade die Gewohnheiten für das alte Recht, das durch Reformen bedroht wird? Wie werden die consuetudines datiert, ab wann breiten sie sich aus? Reformer tendieren 40 Für die Gesamtkirche, allerdings nur bis etwa 1300, untersucht das Schäufele, »Defecit Ecclesia«. 41 Ein Beispiel bei Helmrath, Reform als Thema der Konzilien, S. 95 – 98. 42 Vgl. dazu, wenn auch mit Schwerpunkt auf Zukunftserzählungen der Moderne, Koschorke, Wahrheit und Erfindung, S. 204 f., 231 f.

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dazu, Gewohnheiten als negative Abweichungen zu verurteilen,43 während die Reformgegner ein entspannteres Verhältnis zu nachträglich eingetretenen Änderungen pflegen. Für Nikolaus von Kues war die Grundlage seiner Reformen im Bistum Brixen, das »alte Recht« des Hochstifts – das hieß hier : kaiserliche Privilegien des 11.–13. Jahrhunderts – in allen Einzelheiten zu studieren, um dieses Recht gegen spätere Entfremdungen durch den Adel wieder zur Geltung zu bringen.44 Daran lässt sich die Frage nach den Beziehungen zwischen Reform und Recht knüpfen. Da Reformen – genauer : jener Teil der Reformunternehmung, der Einfluss auf die Zukunft nehmen will, also die eigentlichen Reformmaßnahmen, die Neuordnung der reformierten Institution – im Modus des Sollens operieren, ist eine enge Affinität zwischen Reform und Recht geradezu selbstverständlich; in der Vormoderne war sie gewiss noch enger als die zwischen Recht und Politik heute. Man könnte beinahe sagen, dass Reform eine spezielle Anwendung des Rechts ist, eine Anwendung, die näher beim Feld der Rechtssetzung (also des Gesetzesrechts) liegt als beim Feld des gewachsenen Rechts (zum Beispiel der Rechtsgewohnheiten). Die Indizien für diese Affinität brauchen hier nicht erneut erörtert zu werden.45 Es sei überdies daran erinnert, dass auch das narrative Gerüst der Reform, der Reform-Plot, Affinitäten zu Rechtstexten aufweist, da auch das Recht narrative Elemente integriert und erzählte Begründungen benötigt. Dies hat die unter dem Signet Law and Literature firmierende Forschungsrichtung seit Längerem demonstriert, wenn auch weit häufiger am modernen als am vormodernen Recht, und in der deutschsprachigen rechtsgeschichtlichen Forschung wurde dieser Ansatz inzwischen aufgegriffen und weiterentwickelt.46 Es sollte sich daher lohnen, die rhetorische Beschaffenheit von Reformtexten nicht nur mit jener von normsetzenden oder normfixierenden Texten (Gesetzen, Statuten, Weistümern) zu vergleichen, sondern auch mit Texten, in denen die Grundlagen des Rechts auf (in der Regel) hohem Reflexionsniveau weiterentwickelt wurden: mit Kommentaren und consilia gelehrter Juristen. Dies lässt 43 Zum Beispiel sammelt Guillelmus, Tractatus, pars II, praefatio, p. 48 – 50, vor dem Konzil von Vienne (1311 – 1312) patristische Belege für eine Abwertung der Gewohnheit gegenüber der Wahrheit. Den Konstitutionen Papst Benedikts XII. zur Reform einiger religiöser Orden entnimmt Ballweg, Konziliare oder päpstliche Reform, S. 260 – 264, kontroverse Zeitkonzeptionen, die um den Begriff consuetudo kreisen. 44 Hallauer, Nikolaus von Kues als Rechtshistoriker (Zitat S. 45); Meuthen, Der Kanonist und die Kirchenreform. 45 Außer auf Arbeiten wie die in der vorigen Anm. genannten darf ich auf zwei eigene Beiträge verweisen: Frank, Spätmittelalterliche Hospitalreformen; Frank, Cusanus. 46 Arnauld, Was war, was ist, mit Hinweisen auf die US-amerikanische Law and LiteratureForschung. In spätmittelalterlichen Weistümern und verwandten Quellen entdeckt S. Teuscher »erzähltes Recht« (v. a. S. 175 – 200).

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Einleitung

sich für das Thema der Hospitalreformen zielgenau realisieren, weil die Juristen auch die von Hospitälern handelnden römischen Gesetze und vor allem die einschlägigen Canones kommentiert haben. (d) Ein in der Reform französischer Frauenklöster des 15. Jahrhunderts erfahrener Pariser Kanoniker, Jean Henry, nahm sich als Reformexperten ausgerechnet Odysseus zum Vorbild: dies deshalb, weil der Grieche »voll heilsamer Beredsamkeit seine Gefährten reformiert und zu ihrer alten und wahren Form zurückgeführt hat«.47 Selbst wenn wir noch nichts über die Bauweise von Reform-Plots wüssten, so würde allein diese von einem reformgestählten Zeitzeugen in einem Reformtraktat vorgenommene Identifizierung des Reformers mit einem Helden der Beredsamkeit den vorhin schon gezogenen Schluss nahelegen: Reformen sind zuallererst rhetorische Unternehmungen. Dies gilt umso mehr in der Vormoderne, als den Obrigkeiten nur begrenzte Mittel der Erzwingung zu Gebote standen und es effizienter war, die Gegner (oder die Gerichte) mit Worten zu überzeugen. Doch sind Reformen auch diesseits der Frage nach ihrer Durchsetzung ein Produkt der Rhetorik, weil nicht erst ihre öffentliche Darstellung, sondern bereits ihre Konzipierung aus rhetorischen Elementen schöpft. Reformkonzepte sind aus Redefiguren und Narrativen konstruiert und reflektieren die Rhetorik des Rechts. Es bleibt zu fragen, wie diese Elemente in den Reformendebatten argumentativ eingesetzt werden. Denn hier, auf dem ureigenen Terrain der Rhetorik als Kunst, andere zu überzeugen und zum Handeln zu bewegen, werden die Bedingungen für den Erfolg oder Misserfolg von Reformen geschaffen. Wer Argumente sucht, benötigt eine Topik: einen Fundus von abstrakten Begriffen, Kategorien und Schlussfolgerungsverfahren, von konkreten Sprachbildern, Figuren, Sprüchen und kurzen Erzählungen, von Ordnungskriterien und Querverweisen, ein Reich der sprachlichen (aber auch bildlichen) Muster oder Topoi, welche die Argumente und die Mittel der sprachlichen Darstellung für prinzipiell jedes denkbare Problem liefern können. Einzelne Wissenschaften – historisch zuerst die Jurisprudenz und die Theologie – haben ihre eigenen Spezialtopiken ausgebildet, die den Experten halfen, Argumente für zahllose Fälle zusammenzustellen. Voraussetzung dafür war aber eine vorwissenschaftliche, allgemein verständliche Topik, deren für jede Gesellschaft unverzichtbare Funktion darin liegt, einen Grundbestand an geteilten Überzeugungen bereit zu halten sowie die Diskussion, Weiterentwicklung oder das Fallenlassen dieser Überzeugungen zu ermöglichen. Diese nicht zu formallogisch gewonnenen si47 Zitiert von Le Gall, Les moines, S. 495: »plein d’¦loquence salutaire a r¦form¦ et r¦duit en leur ancienne et vraye forme ses compagnons«. Was genau der Autor mit Odysseus’ Reform meinte und ob ein selbstironischer Zug in dem Satz steckt, ist nicht leicht zu entscheiden, hier aber sekundär. Zu Jean Henry s. unten, Kap. III, Anm. 51 ff.

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cheren Schlüssen, sondern zu wahrscheinlichen Plausibilitätsgründen führende allgemeine Topik ist das Terrain, auf dem politische und gesellschaftliche Auseinandersetzungen geführt werden. Gerade für Debatten um Veränderungen, also auch Reformdebatten, in denen kaum etwas logisch einwandfrei bewiesen werden kann und alles darauf ankommt, die anderen von der Plausibilität der eigenen Position zu überzeugen, ist das Denken und Reden in Topoi die angemessene Technik: Denn Topoi sind »Umschlagplatz zwischen Kollektiv und Individuum […], Tradition und Innovation, Erinnerung und Imagination«. So eröffnen sie die Chance, kollektive Probleme zu bewältigen und Konsens zu finden.48 Die Frage, die sich nun stellt, lautet: Gab es eine Topik der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reform? Oder genauer : Lassen sich Topoi – das heißt Einzelbegriffe, Sätze und Typen von Argumenten – angeben, die als charakteristisch für diese Reformdebatten gelten könnten? Um die große Menge der in Frage kommenden Muster vorab zu ordnen, wird die aristotelische Unterscheidung von formalen und materialen Topoi übernommen, die Peter von Moos auf den Policraticus des Johannes von Salisbury angewandt hat. Formale Topoi sind zum Beispiel die zehn Kategorien, die Grade der Ähnlichkeit beim Vergleich, die vier Schriftsinne oder – speziell in der juristischen Fachtopik und der Bibelexegese – der »locus circa interpretationem«, der zur Harmonisierung widersprüchlicher Stellen herangezogen wurde, kurz: alles was als »Ordnungsprinzipien, Suchraster, quasi-steckbriefliche Frageregeln«49 dienen kann. Materiale Topoi hingegen sind die »anerkennbaren Meinungen und Urteile«, die als Zitate, geflügelte Worte, Sprichwörter, Vergleiche, Erfahrungsbeispiele, historische Beispiele und vieles mehr auftreten können.50 Die Zahl der materialen Topoi ist nicht begrenzbar. Ihre Funktion besteht nach von Moos ausdrücklich nicht darin, Texte mit sattsam bekannten Klischees auszuschmücken, sondern darin, durch Aufrufen breit geteilter Gesichtspunkte Konsens zu erzeugen. Sie sind »auf den Problemzusammenhang

48 Dieses Resümee stützt sich auf Bornscheuer, Topik, S. 91 – 108 (Zitat S. 105), der die TopikKonzeptionen des Aristoteles und des Cicero zusammenführt. Vgl. auch den an Aristoteles anknüpfenden, spezifischeren Topikbegriff bei von Moos, Geschichte als Topik, S. IX (u. unten, Anm. 49 ff.). Einen erweiterten Begriff einer Topik, die die Wissensordnungen und den Wissenswandel steuert, entwerfen Schmidt-Biggemann/Hallacker, Topik. Zur frühneuzeitlichen juristischen Fachtopik s. Schröder, Topik und Jurisprudenz. Humanistische Topoisammlungen zur Auffindung von Argumenten erläutert Wels, Sebastian Brants Narrenschiff. Eine umsichtige Zusammenfassung neuerer Topikkonzepte am Beispiel des Topos der Lebensalter geben Elm u. a., Einleitung. 49 Moos, Geschichte als Topik, S. 424 f. 50 Moos, Geschichte als Topik, S. 425.

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Einleitung

gerichtete, funktionale Orientierungspunkte, Fix- und Ausgangspunkte«,51 also Elemente der Argumentation. Das Argument, das von Moos besonders interessiert, ist das historische Exemplum. Dieses kann sowohl als formaler Topos gebraucht werden (wenn der methodische Aspekt des Vergleichens oder der Induktion im Zentrum steht: »locus e similitudine« oder »locus ab exemplo«) wie auch als materialer Topos; im zweiten Fall kann das Exemplum entweder einen allgemeinen Satz (einen übergeordneten Topos) bloß illustrieren oder aber der Topos geht im Exemplum auf, so dass es ein Fallbeispiel wird, das induktiv einen Problemhorizont öffnet.52 Da der Reform-Plot sich unter anderem aus historischen Erzählungen speist, wird die exemplarische Argumentation bei der Analyse von Debatten um Hospitalreformen besonders im Auge zu behalten sein. Sie ist eine zentrale rhetorische Technik des Reform- bzw. Antireformdiskurses, für den der Appell an Vorbilder ja konstitutiv ist. Der Gebrauch von Exempla muss sich nicht auf weit zurückliegende oder fiktive Geschichten beschränken (wie es in von Moos’ Material der Fall ist), sondern kann die nahe Vergangenheit einschließen. Auch inszenieren Reformer (zum Beispiel die in religiöse Kommunitäten entsandten Vertreter eines reformierten Ordens) sich häufig selbst als lebende Vorbilder. Als weitere Möglichkeit greifen Hospitalreformer (und ihre Gegner) – außer auf historisch-narrative oder lebende Exempla – gerne auf das Beispiel anderer Orte zurück, nämlich auf vergleichbare Institutionen oder Bauwerke anderswo. Ferner ist, in Anbetracht der Affinität von Reform und Recht, speziell auf Argumente aus der juristischen Topik zu achten, natürlich auf das Zitieren positiver Normen, aber auch auf die Rolle, die den über dem positiven Recht stehenden Rechtsquellen beigemessen wird. Darüber hinaus ließe sich eine ganze Reihe von für das Mittelalter typischen Topoi der Reformargumentation benennen. Für die kirchlichen Reformbewegungen des 12. Jahrhunderts wurde eine solche Liste schon aufgestellt; dabei handelt es sich nicht um vollständige argumentative Topoi (wie zum Beispiel Exempla), sondern um kleinere Einheiten: um Maximen wie ›Erkenne dich selbst‹, Schlüsselbegriffe wie ›freiwillige Armut‹, Metaphern wie ›Wüste‹ (die für das abgeschiedene Leben der Mönche steht), immer wieder Bibelzitate (besonders beliebt die Gegenüberstellung von Maria und Martha, Lk 10,38 – 42, und die Schilderung der Urkirche in der Apostelgeschichte, Act 2,42 – 47) und auch um literarische Genres (also formale Topoi) wie den Dialog oder das Streitgespräch.53 Vergleichbares findet sich auch in den Texten, die die Debatten um spät51 Moos, Geschichte als Topik, S. 426. 52 Moos, Geschichte als Topik, S. 427 (Zitat), 429, 431. Zur flexiblen Einsetzbarkeit von Exempla s. auch von Moos, Das argumentative Exemplum, wo eine im 12. Jh. verfasste Einführung in die Rhetorik kirchlicher Gerichtsverfahren vorgestellt wird. 53 Constable, The Reformation, S. 125 – 167 Kap. 4 (»The Rhetoric of Reform«).

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Theoretische Aspekte des vormodernen Reformdenkens

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mittelalterliche Hospitalreformen hervorgebracht haben. Von den Bibelstellen ist eine der prominentesten Jesu Verkündung der frommen Werke (Mt 25,34 – 46). Hier wird zu prüfen sein, ob und wie sich der Einsatz der Bibelzitate im Lauf des Untersuchungszeitraums und je nach historischem Kontext veränderte. Als topische Schlüsselbegriffe fungierten für die Hospitalreformer und ihre Gegner zum Beispiel caritas (mit seinem Wortfeld: misericordia, pietas und den volkssprachlichen Übersetzungen ›Barmherzigkeit‹ usw.) oder das Wortfeld um pauper; dort, wo es sich um die Professionalisierung der Hospitalführung handelte, spielt der Begriff administratio, der eine lange und wechselhafte Geschichte hat,54 eine wichtige Rolle. Und natürlich muss der Gebrauch des Signalworts reformatio und seiner Substitute, aber auch seines feindlichen Doppels, difformatio, im Zusammenhang mit den Hospitalreformen im Auge behalten werden. Um die Wertigkeiten der zuletzt genannten topischen Schlüsselbegriffe in den hier untersuchten Diskussionen auszuschöpfen, empfiehlt es sich, über ihre rhetorischen Funktionen im engeren Sinn (metaphorische Beschaffenheit, narratives und argumentatives Potenzial) hinauszugehen. Es geht freilich nicht darum, für diese Topoi Teilstücke einer Begriffsgeschichte auszuarbeiten. Die Beobachtungsperspektive richtet sich vielmehr auf das Aufeinandertreffen verschiedener Wissensfelder55 und Machtinteressen in diesen und anderen Topoi. Über caritas geboten zwar die Theologen, aber als sich mit der Reformation zwei und mehr Theologien etablierten, entbrannte zwischen ihnen der Streit um die Deutungshoheit über diese christliche Zentraltugend. Das Wort pauper mit seinem Begleiter infirmus war schon vorher Schauplatz von Verteilungskämpfen zwischen Theologie, Jurisprudenz, praktischer Politik und zunehmend auch Medizin. Was Professionalisierung der administratio bedeutete, war im Fall der Hospitäler zwischen kirchlicher und weltlicher Macht umstritten. Dass solche Prozesse der »semantischen Umordnung«56 ihre Zeit brauchten, ist ein Beleg für die Beharrungskraft der Topoi, die den Umbau steuerten, und für die Kontinuitäten, die das Spätmittelalter mit der frühen Neuzeit verbinden.

54 Busch, Vom Amtswalten. Verselbständigung der Verwaltung von der Politik seit dem 13. Jh.: Gilli, Regimen, administratio, dignitas. Agamben, Il regno e la gloria, S. 176, weist darauf hin, dass die Vorstellung, ›Verwaltung‹ sei nicht nur eine Tätigkeit, sondern eine zu eigenem Handeln befähigte, quasi personifizierte Institution, schon in der Angelologie des Hieronymus angelegt ist. 55 Damit ist auch, aber nicht nur, der Streit zwischen wissenschaftlichen Disziplinen um die Deutungshoheit gemeint, etwa zwischen Theologen und Kanonisten um theologisch relevante Begriffe (dazu Scott, William of Ockham, am Beispiel des Häresiebegriffs). – Zur Ausbildung von Expertenwissen seit dem Hochmittelalter und seiner Abgrenzung vom Alltagswissen s. Rexroth, Systemvertrauen und Expertenkrise. 56 Jussen/Koslofsky, Kulturelle Reformation, S. 25.

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4.

Einleitung

Untersuchungsschritte

Um auf dem Weg zu einer Rhetorik der vormodernen Reform weiterzukommen, werden die herangezogenen Quellentexte sowohl auf ihre argumentative Topik hin befragt als auch auf einzelne Topoi im Sinn der soeben genannten Beispiele: Rechtssätze und Maximen, Bibelzitate, reformrelevante Metaphern, Schlüsselbegriffe oder Leit-Topoi wie caritas, in denen der Kampf um die Neuordnung der Wissensfelder ausgetragen wurde. Es sollte aus dem bisher Gesagten klar geworden sein, dass der Begriff ›Rhetorik‹ und seine Verbindung mit ›Reform‹ hier im starken Sinn intendiert sind. Dies bedeutet, dass Reformdebatten nicht als »bloßes rhetorisches Wortgetöse« zu verstehen sind, und zwar nicht nur deshalb nicht, weil manche Reformdebatten wenn schon keine unmittelbar messbaren, dann doch immerhin versteckte Wirkungen hatten,57 sondern weil das historische Phänomen Reform prinzipiell auf Rhetorik angewiesen ist. Die oben in den Absätzen (a) bis (d) entwickelten Suchrichtungen konkretisieren sich in Fallstudien zu großen (und daher in der Forschung gut bekannten) europäischen Hospitälern oder Hospitalverbünden sowie in einem Kapitel über die Spuren, die das Problem der Hospitalreform in den juristischen Diskussionen über das Hospitalrecht hinterlassen hat. Dieses rechtsgeschichtliche Kapitel (I) geht voran, zum einen, weil es zeitlich überwiegend ins 14. Jahrhundert führt und daher Einblick in die rechtlichen Voraussetzungen der im 15. Jahrhundert einsetzenden großen Hospitalreformen gibt, zum anderen, weil es wegen der Affinität von Reform und Recht das Verständnis der Funktionsweise des Reform-Plots verfeinern hilft. Die Fallstudien über Mailand, Paris, Straßburg und Modena sind in etwa chronologisch geordnet. Ihre Auswahl erfolgte in erster Linie nach dem Kriterium der Verfügbarkeit von Quellen, die für die hier untersuchte Fragestellung aussagekräftig sind und überwiegend in gedruckten oder digitalen Editionen vorliegen; Archiv- und Handschriftenstudien konnten nur ergänzend vorgenommen werden (die Quellen werden zu Beginn jedes Kapitels gesondert erläutert). In zweiter Linie sollten die Fallbeispiele ein möglichst breites Panorama von Textsorten und damit auch von Perspektiven auf die Hospitalreformen repräsentieren. Es ist daher keine stricto sensu vergleichende Studie entstanden, das heißt keine Studie, die durch die Methode der Gegenüberstellung von vergleichbaren Fallbeispielen zu Schlussfolgerungen über wirksame oder weniger wirksame Faktoren in einem historischen Prozess gelangt; vielmehr eröffnen die vier ausgewählten Hospitäler zusammen ein Panorama von Reformtexten, 57 Das Zitat und seine mit dem Verweis auf versteckte Wirkungen begründete Verneinung bei Patschovsky, Der Reformbegriff, S. 27, zum Konstanzer Konzil; ähnlich argumentiert Studt, Papst Martin V., S. 36 – 38, 721.

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Untersuchungsschritte

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dessen Breite (hoffentlich) ausreicht, um einen Beitrag zur Rhetorik der vormodernen Reform leisten zu können. Der Zugewinn, den dieser multiperspektivische Ansatz erbringt, liegt zum Beispiel darin, dass die Quellen zu zweien der vier Fälle – Straßburg (IV) und Modena (V) – Einblick in die Kommunikationsweise der städtischen Öffentlichkeit geben. In diesen beiden Fällen ist es möglich, über den Binnenraum der (meist von Beginn an schriftlich konzipierten) Reformtexte hinauszugehen und die Rhetorik der Hospitalreformen auch von ihrer pragmatischen Seite zu betrachten: als Aspekt der Kommunikation in einer städtischen Disputgemeinschaft. Außerdem spielte bei der Entscheidung für die vier genannten Hospitallandschaften die Erwägung eine Rolle, dass neben einer gewissen geografischen Streuung auch eine zeitliche Anordnung wünschenswert ist, die nicht mit der frühneuzeitlichen Reform par excellence, der evangelischen Reformation, den Schlusspunkt setzt, sondern diese einschließt. In den Kapiteln zu Mailand (II) und Paris (III) fällt dieser Gesichtspunkt zwar nicht ins Gewicht (weil Ersteres etwa 1508 endet und im Pariser Hútel-Dieu, jedenfalls bis gegen 1540, reformatorische Ideen keine sichtbaren Effekte zeitigten). Dafür aber ist er für Straßburg (IV) umso bedeutender, und auch für Modena (V) ist zumindest zu bedenken, ob ein Zusammenhang zwischen der Hospitalreform und dem dort umgehenden ›Gespenst der Reformation‹ bestand. Zu der oben schon angerissenen, viel diskutierten Frage, ob sich durch die Reformation die Kranken- und Armenfürsorge stärker und schneller verändert hat als in nicht reformierten Gebieten, kann aus sozial- oder wirtschaftgeschichtlicher Sicht nichts Neues beigesteuert werden. Aber einige Hinweise darauf, ob und wie der auf Hospitäler und andere wohltätige Institutionen bezogene Reformdiskurs sich im Kontext der Reformation veränderte, sind den Straßburger Quellen immerhin zu entnehmen. Der Obertitel des Buches, »Heilsame Wortgefechte«, spielt zum einen auf die medizinische Konnotation an, die im mittelalterlichen Gebrauch des Wortes reformatio mitschwang und in Formeln wie »salubriter reformare« auch explizit zum Ausdruck gebracht wurde. Dass es dabei trotzdem nicht immer »heilsam« zuging, liegt am agonistischen Element in der Verbindung »Wortgefechte«. Damit soll nicht allein auf das Faktum verwiesen werden, dass Reformen grundsätzlich konflikthaltig waren und sind; wichtig ist mir, die Augen für die Parteilichkeit der Reformdebatten offen zu halten und nicht der Versuchung zu erliegen, stillschweigend die Sicht der Reformer zu übernehmen. Es wird sich zeigen, dass Reforminitiativen stets von ihrem Doppel, der Antireform, beschattet werden, die in den Quellen allerdings oft nicht gut zur Geltung kommt. Den Versuch zu klären, ob neben dem Reform-Plot die Merkmale eines eigenen Antireform-Plots bestimmt werden können, ist es immerhin wert: Die besten Bedingungen dafür bietet der Fall Modena.

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Einleitung

Vor allem aber ist dies ein Buch über Wortgefechte. Natürlich geht es um Hospitäler und deren Reform, aber weniger um die ereignisgeschichtlichen Abläufe und sozial- oder institutionsgeschichtlichen Faktoren als vielmehr um die diesen Abläufen und Faktoren vorausliegenden Worte, Texte und in Texten gesammelten Wissensbestände. Ob ich Alkuins eingangs zitierten Satz, nach dem vor dem Tun das Wissen liegt, richtig interpretiere, wage ich nicht zu beurteilen. Er inspiriert mich jedenfalls zu einem Plädoyer dafür, mit historischer Forschung schon dort anzusetzen, wo in den Köpfen der – später dann handelnden – Menschen über die Möglichkeitsbedingungen bewusst gesteuerten historischen Wandels entschieden wurde. Um dies zu bewerkstelligen, scheint mir eine methodisch fundierte Auseinandersetzung mit Texten der beste Weg. Hilfestellung aus jenen Nachbarwissenschaften, deren Hauptgegenstand Texte sind (Literaturwissenschaft, Rechts-, Theologie- und Philosophiegeschichte), bringt hierfür mehr ein als das Bemühen um einen Platz am Katzentisch der gegenwärtigen scientia scientiarum, der Neurowissenschaften oder Hirnforschung. Schließlich besteht das Gros der von Historikern verarbeiteten Quellen nach wie vor aus Texten.

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I.

Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

1.

Hospitäler und Rechtsliteratur

Dies ist nicht der erste Versuch einer rechtsgeschichtlichen Annäherung an die mittelalterlichen Hospitäler.1 Es geht hier freilich nicht um eine herkömmliche Geschichte des Hospitalrechts und auch nicht um den (sicherlich diskutablen) Genuss, den die Lektüre juristischer Kommentare zu diesem Thema bereitet, sondern um den Zusammenhang zwischen juristischer Diskussion und Hospitalreform; dieser Zusammenhang wurde in der Forschung noch nicht ausreichend gewürdigt. Was Hospitäler im christlichen Europa zu leisten hatten, wie sie sich zu den Obrigkeiten und anderen Institutionen vermögensrechtlich stellten und wie sie verwaltet werden sollten, war schon im Codex Iustiniani2 und seit dem 12. Jahrhundert auch kirchenrechtlich3 geregelt worden: am ausführlichsten durch das 1311 von Papst Clemens V. einberufene Konzil von Vienne, dessen Erlasse – darunter die Hospitaldekretale Quia contingit – in die 1317 publizierte Sammlung der Clementinen eingingen.4 Diese Gesetze und Dekretalen erfassten freilich nur Teilprobleme, so dass eine detaillierte Durchdringung der Materie

1 Reicke, Das deutsche Spital, bietet eher eine Geschichte der Hospitalorganisation in Deutschland als eine Auseinandersetzung mit dem gelehrten Recht. Anders Imbert, Les húpitaux en droit canonique; Nasalli Rocca, Il diritto ospedaliero; Sydow, Kanonistische Fragen; Drossbach, Das Hospital – eine kirchenrechtliche Institution?; Begon, De iure hospitalium. – Kapitel I ist eine teils gekürzte, teils erweiterte Neufassung des Aufsatzes Frank, Spätmittelalterliche Hospitalreformen und Kanonistik (2010). 2 S. unten, Anm. 8. 3 Decretum Gratiani und Dekretisten: Tierney, Medieval Poor Law (zu Hospitälern aber nur S. 85 – 89); Caron, L’evoluzione dalla quarta pauperum alla pia fundatio. – Liber Extra Papst Gregors IX.: Buch III, Titulus 36 (De religiosis domibus), cap. 3 (De xenodochiis) u. 4 (Ad haec), beide sehr kurz (künftig abgekürzt: X 3.36.3 u. 4): Friedberg, Corpus 2, col. 603. S. unten, Anm. 16 u. 17. 4 Clementinen, Buch III, Titulus 11 (De religiosis domibus), cap. 2 (Quia contingit): Friedberg, Corpus 2, col. 1170 f.

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Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

den lokalen Statuten oder Gewohnheiten5 sowie der Entscheidung durch die Gerichte überlassen blieb. Die Juristen, die an solchen Gerichtsentscheidungen mitwirkten, begnügten sich aber (wie ihre Consilia zeigen) nicht mit der Prüfung partikularer Statuten, sondern bezogen die Regelungen des Gemeinrechts ein; so lückenhaft diese Regelungen auch sein mochten, boten sie dennoch Gelegenheit, die Grundprinzipien des Hospitalrechts zu diskutieren. Dies geschah in erster Linie im kanonistischen Bereich. Zwar kommentierten auch die Legisten die einschlägigen Gesetze des Codex Iustiniani, brachten für das Thema jedoch, wie wir sehen werden, weniger Geduld auf als ihre Kollegen vom Kirchenrecht; offensichtlich bestand Einigkeit darüber, dass der eigentliche ›Sitz der Materie‹ die Kanonistik war, und dort näherhin die genannten Dekretalen De xenodochiis und Ad haec im Liber Extra, vor allem aber die Clementine Quia contingit. Diese Einigkeit über die disziplinäre Zuordnung des Hospitalrechts zur Kanonistik bedeutet freilich nicht, dass damit schon ein definitives Urteil über die Zugehörigkeit aller mittelalterlichen Hospitäler zur kirchlichen Rechtssphäre gesprochen wäre. Betont sei das auch deshalb, weil in der modernen Hospitalforschung die ›Kirchlichkeit‹ der mittelalterlichen Hospitäler spätestens seit Siegfried Reicke (1932) ein Topos geworden ist,6 der gegen die im 19. Jahrhundert beliebte These von der ›Säkularisierung‹ der Hospitäler durch die Stadtkommunen in Anschlag gebracht wird. Wir kommen auf dieses Problem, das auch die spätmittelalterlichen Hospitalreformen tangiert, noch ausführlich zurück. Die historischen Kontexte, in denen die in diesem Kapitel vorgestellten juristischen Kommentare geschrieben wurden, gehören überwiegend in die frühe, die ›päpstliche‹ Phase der spätmittelalterlichen Hospitalreformen. Das liegt daran, dass die Kirchengesetzgebung nach der Publikation der Clementinen und vor dem Konzil von Trient keine größere Dekretalen- oder Canonessammlung mehr hervorgebracht hat und somit auch die Energien, die in die Kommentierung der Basistexte flossen, nach dem 14. Jahrhundert allmählich verebbten. Die Päpste publizierten nach 1317 zum Thema Hospitäler nur sehr wenige Einzelverordnungen mit generellem Geltungsanspruch. Die überwiegend italienischen Kanonisten und Legisten, mit denen wir es im Folgenden zu tun haben, schrieben zwischen 1319 und etwa 1440. Sie kannten daher nur die päpstlichen 5 Die überlieferten Hospitalstatuten sind Legion, vgl. nur die in den anschließenden Fallstudien herangezogenen Belege. Ich darf außerdem auf meine Edition eines italienischen Beispiels (die Satzung des Hospitals der Geißlerbruderschaft S. Stefano in Assisi, 1338) hinweisen: Frank, Gli statuti, S. 87 – 100. Weitere Beispiele in Frank, Spätmittelalterliche Hospitalreformen, Anm. 16. 6 Reicke, Das deutsche Spital 1, v. a. Vorwort S. VII f.; ebd. 2, S. 287 f.; Drossbach, Das Hospital – eine kirchenrechtliche Institution?; Auge, »ne pauperes et debiles in … domo degentes divinis careant«. Vorsichtiger dagegen Sydow, Kanonistische Fragen.

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Die Grundlagen des mittelalterlichen Hospitalrechts

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Versuche der Hospitalreform, noch nicht die Zentralisierungs-, Spezialisierungs- und Professionalisierungsbewegung, die seit etwa 1450 in Norditalien und benachbarten Regionen einsetzte. Hauptquellen sind Texte, die sich mit der Clementine Quia contingit beschäftigen. Da auf philologische Perfektion beim Umgang mit der mittelalterlichen juristischen Literatur häufig verzichtet werden muss, habe ich vorwiegend Druckausgaben des 16. Jahrhunderts benutzt, in einzelnen Fällen aber auch die mir erreichbaren Handschriften. Auf ein Resümee der für die Hospitäler signifikantesten Gesetze mit allgemeinem Geltungsanspruch (2) folgen Abschnitte über den Avignoneser Kontext der Dekretale Clemens’ V. (3), über den von dem Florentiner Kanonisten Lapus de Castellionio7 in den 1370er Jahren verfassten Tractatus hospitalitatis (4), über ausgewählte Kommentare zu Quia contingit aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (5) und aus der Zeit um 1400 (6). Vollständigkeit ist hier nicht zu erreichen, doch die Auswahl sollte breit genug sein, um einen Überblick über die wichtigsten Argumente zu verschaffen. In den Abschnitten, die der kanonistischen Kommentarliteratur gewidmet sind (4 – 6) wird Lapus’ Tractatus hospitalitatis im Mittelpunkt stehen, weil er – einzige spätmittelalterliche monografische Abhandlung – den vollständigsten Katalog an Fragen bietet, die in dieser Zeit an das Hospitalrecht gestellt wurden.

2.

Die Grundlagen des mittelalterlichen Hospitalrechts

Die gemeinrechtliche Grundlage, auf der die Hospitäler arbeiteten, war dünn. Die Hinweise im Codex Iustiniani und in Justinians Novellen8 bezogen sich vor allem auf vermögens-, fiskal- und prozessrechtliche Privilegien der xenodochia, 7 Lapus, Tractatus. S. zu ihm und zu allen anderen im Folgenden genannten Juristen: Pennington, Medieval and Early Modern Jurists, s. v., mit der älteren Literatur. S. ferner zu den meisten italienischen Juristen, von denen in diesem Kapitel die Rede ist, das neue Dizionario biografico dei giuristi italiani (in dem Lapo da Castiglionchio und Giovanni da Legnano allerdings fehlen). Auf diese beiden nützlichen Hilfsmittel wird von nun an nicht mehr im Einzelnen hingewiesen. Die in den meisten älteren Studien und auch in Frank, Spätmittelalterliche Hospitalreformen, gewählte Namenform »Iohannes Lapus de Castellionio« ist durch die Form Lapus de Castellionio (italienisch Lapo da Castiglionchio il Vecchio) zu ersetzen. S. dazu und auch zu Lapus’ Biografie Murano, Autographa, S. 82 – 86, sowie unten, Anm. 38 f. 8 Die Liste der einschlägigen, teils griechischen Gesetze bei Nasalli Rocca, Il diritto, S. 35 – 37, umfasst: Cod. 1.2, ll. 15, 17, 19, 23, 24; Cod. 1.3, ll. 31 (32), 34 (35), 41 (42), 45 (46); Nov. 7 u. 123. Hinzuzufügen sind: Cod. 1.2, l. 22; Cod. 1.3, ll. 24 u. 48; Nov. 120. Nummerierung hier nach der Editio stereotypa (Krueger/Mommsen/Schoell, Corpus 2 u. 3). Zum spätrömischen und frühmittelalterlichen Konzept der Unveräußerlichkeit von Kirchen- und Hospitalgütern, von dem ein Teil dieser Gesetze handelt, s. Esders, Die frühmittelalterliche »Blüte« des Tauschgeschäfts.

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Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

orphanotrophia und anderen wohltätigen Institutionen, die in vielerlei Hinsicht den Kirchen gleichgestellt wurden; ihre Leiter wurden mit Vormündern von Waisen verglichen und – bereits von Justinian – der Kontrolle der Bischöfe unterstellt. Sofern sie nicht in griechischer Sprache abgefasst waren, wurden diese Gesetze von den Legisten kommentiert. Deren Hauptaugenmerk lag allerdings nicht auf den Hospitälern und verwandten Einrichtungen, sondern auf den in diesen Texten angesprochenen Rechtsgeschäften und -begriffen wie Veräußerung, Verpachtung, Abgabenpflicht usw.; wenn die Kommentatoren konkrete Beispiele benötigten, nannten sie in erster Linie Kirchen. Zur Erläuterung ein Blick auf einige herausragende Autoren: Bartolus von Saxoferrato († 1357) geht in seiner Codex-Lektüre auf die fraglichen Gesetze eher kurz ein und erwähnt Hospitäler nur selten, zum Beispiel dort, wo er von einem testamentarischen Legat für nicht namentlich aufgelistete Arme spricht, das normalerweise dem örtlichen Hospital zukommen soll.9 Ausführlicher äußert sich Baldus von Perugia († 1400) im Rahmen seiner Erörterung (circa 1385) des Gesetzes Orphanotrophos über die Rechtsstellung der Hospitalleiter. Dieses Gesetz – für Baldus’ Schüler Paulus de Castro († 1441) das »beste Gesetz, das wir in Sachen Hospitäler und Hospitalleiter haben« – setzt die Vorstände von Waisenhäusern mit Vormündern von Kindern gleich und leitet daraus ihre Rechte und Pflichten ab.10 Die mittelalterlichen Juristen übertragen dies von den Leitern der Waisenhäuser auf die Leiter aller Hospitäler. Daher ergreift Baldus die Gelegenheit, an dieser Stelle zu diskutieren, ob die hospitalarii ein Güterinventar anlegen, wem sie über ihre Buchhaltung Auskunft geben müssen und ob sie Laien sein dürfen; ferner spricht er dem Gesetz die Geltung für »private«, das heißt nicht mit Beteiligung des Ortsbischofs gegründete Hospitäler ab. Für Letztere, die bischöflich initiierten oder genehmigten Hospitäler gelte im Übrigen, dass sie als »loca pia« für alle ihnen gewidmeten Legate ihrem Diözesan eine Abgabe, die »canonica portio«, zu leisten haben.11 Ähnlich, wiewohl nicht 9 Bartolus, Codex, f. 26rv–30ra (zu Cod. 1.2 u. 1.3) u. Bartolus, Novellen (aber Bartolus’ Autorschaft fraglich), f. 11ra–13va, 51va–52rb (zu Nov. 7 u. 120). Zu Cod. 1.3.48 merkt Bartolus an, dass es – gegen den Wortlaut des Gesetzes – »heute« üblich sei, dass der Bischof aus solchen Legaten nicht nur bewegliche Güter, sondern auch Immobilien zu Gunsten der Armen verkaufe und nicht nur Hospitäler, sondern beliebige Arme begünstige (Bartolus, Codex, f. 29vb–30ra). – Zu Bartolus zuletzt Murano, Autographa, S. 66 – 71. 10 Baldus, Codex, f. 50vb–51ra (zu Cod. 1.3.31, hier als l. »XXX« gezählt). Paulus de Castro, Super prima parte Codicis, f. 14va: »ista est melior lex quam habemus in materia hospitalium et hospitalariorum.« – Zu Baldus und Paulus s. zuletzt Murano, Autographa, S. 103 – 109, 129 – 135; zur Datierung von Baldus’ Codex-Kommentar ebd., S. 105. Paulus kommentierte die ersten Bücher des Codex in den 1430er Jahren (ebd., S. 133). 11 Baldus, Codex, f. 50vb–51ra Nr. 7 – 8. Auf das Problem der canonica portio (hier am Ende von Nr. 8) geht Baldus in seinem Kommentar zu Cod. 1.3.48 (Si quis ad declinandam) ausführlicher ein. Auch dort klassifiziert er nur die bischöflich initiierten Hospitäler als »loca pia«. Doch geht es ihm an dieser Stelle vor allem darum, die unterschiedliche Position

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Die Grundlagen des mittelalterlichen Hospitalrechts

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immer widerspruchsfrei, fasst der Peruginer Jurist den Rechtsstatus von Hospitälern auch in seinen consilia.12 Damit führt uns Baldus, der Zivil- und Kirchenrechtler, schon mitten ins Gelände der kanonistischen Debatten um das Hospitalrecht und mittelbar auch um die juridischen Bedingungen von Hospitalreformen. In der Tat unterfüttert er seinen Kommentar zu der spätrömischen lex Orphanotrophos massiv mit Belegen aus dem Kirchenrecht und insbesondere mit der Dekretale Quia contingit.13 Seine Grenzziehung zwischen Hospitälern, die als »loca pia« zu bezeichnen sind, und anderen, »privaten«, die diesen Titel nicht beanspruchen können, ist nicht nur zwischen Kirchenrechtlern und Legisten umstritten, sondern auch innerhalb der Kanonistik keineswegs einheitlich anerkannt. Seine Allegationen, Themenwahl und Argumentationsweise sind ein Indiz dafür, dass die eigentliche Bühne für die juristische Debatte um Hospitäler das kanonische Recht ist. Auch der oben zitierte Satz des Paulus de Castro vom »besten Gesetz« zeigt, dass die Legisten das im Zivilrecht auffindbare Material im Grunde für zu lückenhaft hielten, um daraus ein eigenes Hospitalrecht zu entwickeln. Einige der genannten römischen leges wurden ins Decretum Gratiani aufgenommen. Freilich sagt Gratians um 1140 entstandene Sammlung weit mehr über die Tugend der hospitalitas als über die im 12. Jahrhundert noch wenig sichtbaren institutionalisierten Hospitäler. Doch bereits die Kommentarliteratur zum Decretum14 definierte einige Grundprinzipien des Hospitalrechts: rechtliche Verpflichtung der Christen, insbesondere des Klerus und der Bischöfe, zur hospitalitas; Typologie der loca pia unter Rückgriff auf Justinian; Unterscheidung zwischen den mit bischöflicher Zustimmung errichteten Hospitälern, die von Hospitälern vs. Bruderschaften gegenüber dem Bischof herauszuarbeiten (Baldus, Codex, f. 55rb–59va, hier l. »XXXVII«; besonders 58rb–va Nr. 19 – 20). S. dazu auch Frank, Bruderschaften, Memoria und Recht, Anm. 28, u. unten, Kap. IV, Anm. 61. – Der gegenüber seinem Lehrer durchaus kritische Paulus de Castro schließt sich in seinem Codex-Kommentar (Paulus de Castro, Super prima parte Codicis, f. 14va) Baldus’ Interpretation an, vor allem auch in Bezug auf den Begriff »loca pia«; in seinem consilium 167 (Paulus de Castro, Consilia 2, f. 79va–b) hingegen unterscheidet er anders, nämlich zwischen Hospitälern, auf die die Bezeichnung »loca pia« zutrifft (alle), und solchen, die »loca ecclesiastica« oder »sacra« sind (nur die vom Bischof initiierten, mit kirchlichen Attributen versehenen Hospitäler). 12 Baldus, Consiliorum 3, Nr. 5 (ein Bruderschaftshospital in Amelia ist ein »locus […] prophanus«); ebd. 4, Nr. 167 (ein bischöflich bestätigtes Hospital ist ein »locus pius et ecclesiasticus, non profanus«); ebd. 5, Nr. 160 (in einem Hospital in Foligno Scheidung der nicht-geistlichen von den geistlichen Funktionen); ebd. 6, Nr. 28 (resümiert die Diskussion um die Unterscheidung von »hospitalia sacra et prophana«, erwähnt auch den Traktat des Lapus de Castellionio). Vgl. Frank, Bruderschaften, Memoria und Recht, Anm. 29 – 31. 13 Baldus hat zwar einen fragmentarischen Kommentar zum Liber Extra hinterlassen, zu den Clementinen aber nur eine Sammlung von Notizen (Clm 24164, f. 35r–48r ; s. Pennington, Medieval and Early Modern Jurists, s. v. Baldus). 14 Caron, L’evoluzione, S. 142 ff.

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Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

als vollwertige, dauerhaft bestehende loca pia mit allen Rechten galten, und einfachen privaten Hospitälern.15 Im Liber Extra, der Dekretalensammlung Papst Gregors IX., fanden zwei kurze Auszüge aus älteren päpstlichen Entscheidungen Platz: De xenodochiis (X 3.36.3) und Ad haec (X 3.36.4). Der erste der beiden Texte, aus einer römischen Synode Eugens II., trägt den Ortsbischöfen auf, dafür zu sorgen, dass die Hospitäler in ihren Diözesen tatsächlich ihre Funktionen erfüllen.16 Im zweiten beantwortet Urban III. eine Anfrage aus Rimini, ob ein Hospital wieder zu weltlichen Zwecken umfunktioniert werden könne: Wenn das Hospital, wie üblich, mit der Autorität des Bischofs errichtet worden und somit eine religiöse Institution sei, dann komme eine Profanierung genauso wenig in Betracht wie zum Beispiel bei bischöflich konsekriertem liturgischen Gerät.17 Somit hebt der Liber Extra in Sachen Hospital zwei bereits von den Dekretisten bzw. im römischen Recht behandelte Aspekte heraus: die bischöfliche Aufsichtskompetenz und die Unterscheidung zwischen »religiösen« und »weltlichen« Hospitälern. Er insistiert ferner auf der Bedeutung der ursprünglichen Zwecke eines Hospitals (»utilitates, quibus constituta sunt«) und erschwert eine Veränderung dieser Zwecke (»ad mundanos usus redire non debet«). Diese Punkte sollten bei späteren Reformen eine wichtige Rolle spielen. Während der Liber Sextus Bonifaz’ VIII. nichts Einschlägiges hinzufügte, nahmen sich das Konzil von Vienne und Papst Clemens V. der Materie ausführlicher an. Im Laufe des 13. Jahrhunderts hatte die Zahl der Hospitäler stark zugenommen und die ersten Fälle von partieller Übernahme der Kontrolle durch die Stadtkommunen (für Reicke Indizien einer Kommunalisierung) waren zu verzeichnen gewesen.18 Der scharfe Ton, in dem die Dekretale Quia contingit die von ihr befohlenen Maßnahmen begründet, und die Behandlung des Themas in vorbereitenden Lokalsynoden und Traktaten bestätigen, dass sich bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts Klagen über die Verwaltung der Hospitäler angestaut

15 Caron, L’evoluzione, S. 148 f., 152 – 154. 16 Friedberg, Corpus 2, col. 603: »De xenodochiis et aliis similibus locis per sollicitudinem episcoporum, in quorum dioecesi exsistunt, ad easdem utilitates, quibus constituta sunt, ordinentur.« Das vorangestellte Summarium spitzt den Inhalt noch zu: »Episcopo subsunt omnia loca pia, et ad eius sollicitudinem debent ordinari ad usum destinatum.« – Vgl. JK, S. 321 (826 Nov. 15). In Frank, Spätmittelalterliche Hospitalreformen, Text vor Anm. 28, ist De xenodochiis fälschlich Eugen III. zugewiesen. 17 Friedberg, Corpus 2, col. 603 (hier nur das Summarium): »Locus, auctoritate episcopi ad usum hospitalitatis deputatus, est religiosus, et ad mundanos usus redire non debet.« – Vgl. JL 15723 S. 509 (a. 1185 – 1187). 18 Reicke, Das deutsche Spital 1, S. 196 ff. Kritisch zu Reickes Begriff der Kommunalisierung Pauly, Peregrinorum, S. 163 – 212. Italienische Fälle: Gazzini, Rodolfo Tanzi; Sommerlechner, Spitäler in Nord- und Mittelitalien, S. 126 – 128.

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Die Grundlagen des mittelalterlichen Hospitalrechts

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hatten.19 Der Verfasser der Glossa ordinaria zu den Clementinen, Johannes Andreae, und die meisten anderen Kommentatoren gliedern Quia contingit in vier Abschnitte. Die später von dem Avignoneser Kanonisten Bonifacius Ammannati20 vorgeschlagene Einteilung in sieben Abschnitte ist jedoch sachgemäßer. Auf ihr beruht die folgende Zusammenfassung des Inhalts: (§ 1) »Quia contingit interdum«:21 Papst und Konzil müssen eingreifen, »weil es manchmal vorkommt«, dass die Rektoren der Hospitäler und ähnlicher Einrichtungen ihre Pflichten vernachlässigen: die Güter nicht zusammenhalten, die Gebäude verfallen lassen, den Stiftungszweck – nämlich die Versorgung von Armen und Kranken – »inhumaniter« missachten und die Einkünfte in die eigene Tasche stecken. (§ 2) »Nos incuriam et abusum«: Angesichts solcher Nachlässigkeit und Missbräuche befiehlt der Papst (»sancimus«) mit Billigung des Konzils, dass die zuständigen Kollatoren die Hospitäler reformieren (»salubriter reformare«), das heißt die verlorenen Güter wiederherstellen (»in statum reduci debitum«) und die Rektoren zwingen, entsprechend den Kapazitäten des Hauses bedürftige Klienten aufzunehmen. (§ 3) »In quo si forte«: Falls die Zuständigen dies vernachlässigen sollten (»commiserint negligentiam vel defectum«), dann müssen die Ortsbischöfe eingreifen, und zwar auch – auf der Rechtsgrundlage dieser Dekretale – im Fall von exemten Hospitälern; Widerstand ist mit kirchlichen Strafen und anderen Mitteln des Rechts auszuräumen. (§ 4) »Ut autem«: Damit all dies besser beachtet werde, ist es fortan verboten, ein Hospital als Pfründe an Weltkleriker zu übertragen (»saecularibus clericis22 in beneficium conferatur«); gegenteilige Gewohnheiten sind wirkungslos. Nur zwei Ausnahmen: wenn bereits die Stifungsurkunde die Verpfründung des Rektorenamts vorsieht oder wenn der Rektor durch einen Wahlakt eingesetzt wird. Mit der Leitung sollen geeignete Männer von gutem Ruf beauftragt werden (»gubernatio viris providis […] committatur«), von denen unwahrscheinlich ist, dass sie die Ressourcen des Hospitals ihrem Zweck entfremden. (§ 5) »Illi etiam«: Die so beauftragten Rektoren müssen nach dem Beispiel 19 Synode von Ravenna 1311: Mansi, Sacrorum Conciliorum 25, col. 449 – 476, hier col. 463. Guillelmus, Tractatus, pars III tit. XIX S. 265, tit. LXII S. 352 f. Zur Realität der Probleme in Hospitälern des 13. und frühen 14. Jh.s s. die in der vorigen Anm. u. unten, Kap. II, Anm. 31 genannte Literatur ; ferner Le Blévec, La part du pauvre 2, S. 658 – 661, sowie Jakob von Vitry, Historia (oben, Einleitung, Anm. 7). 20 Mehr zu ihm unten, Anm. 91 f. 21 Friedberg, Corpus 2, col. 1170 f. Deutsche Übersetzung in: Wohlmuth, Dekrete, S. 374 – 376 (Text nach Friedberg). Paragraphenzählung von mir hinzugefügt. 22 In dem Satz »nullus ex locis ipsis saecularibus clericis in beneficium conferatur« bezieht sich »saecularibus« nicht auf »locis«, wie Sydow, Kanonistische Fragen, S. 54, 59 (mit weitreichenden Schlussfolgerungen) annimmt, sondern auf »clericis«.

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Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

von Vormündern (»ad instar tutorum et curatorum«) vereidigt werden, ein Inventar der Hospitalgüter anfertigen und jährlich vor dem Bischof Rechnung legen (»rationem reddere«). Wenn sie das nicht tun, ist ihre Ernennung hinfällig. (§ 6) »Praemissa vero«: Alles bisher Gesagte gilt nicht für Hospitäler der Ritterorden und anderer religiöser Orden. Den Rektoren dieser Hospitäler wird jedoch »kraft heiligen Gehorsams« befohlen, dass sie nach Vorschrift ihrer Ordensstatuten die »hospitalitatem« pflegen; notfalls sollen die Ordensoberen sie dazu zwingen. (§ 7) »Ceterum«: Was die liturgischen Funktionen der Hospitäler betrifft, sollen die alten Gewohnheiten beibehalten werden; das gilt sowohl für den Fall, dass ein Hospital selbst über Altäre, Friedhof und Kapläne verfügt, als auch dann, wenn die zuständigen Pfarrer die liturgischen Dienste versehen. Dieser strenge Text, der die Missstände mit ungewöhnlicher Deutlichkeit anspricht, lässt nur wenige Ausnahmen zu: Er soll generell keine Anwendung finden auf Ordenshospitäler, während zwei begrenztere Ausnahmen das Verbot einschränken, die Rektorenämter als Klerikerpfründen zu vergeben. Er greift bekannte Prinzipien aus dem kirchlichen Hospitalrecht und den römischen Referenztexten auf: Sicherung des Hospitalvermögens; Bindung der Mittel an den von den Stiftern vorgesehenen Zweck, bedürftigen Personen zu helfen; Aufsichtsfunktion der Bischöfe; Vergleich der Rektoren mit Vormündern von Waisen und Ableitung entsprechender Pflichten aus dieser Analogie – zum guten Teil Normen, die auf Stabilisierung abzielen. Doch in einer Situation, in der die Stabilität vieler Hospitäler offensichtlich als bedroht galt, hieß Stabilisieren zugleich Reformieren. Quia contingit ist in der Tat das Fanal eines päpstlichen Reformversuchs und setzt neue Schwerpunkte. Der Text legt diese Absicht nicht nur durch die Wortwahl offen (§ 2: »salubriter reformare«, »in statum reduci debitum«), sondern implizit auch durch seine Struktur, die Struktur eines Reformtextes: Clemens V. stellt Fehlentwicklungen fest (§ 1), bekundet seinen Willen, den Sollzustand wiederherzustellen (§ 2), definiert und delegiert die Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels (§§ 2, 3, 4, 5) und stattet die von ihm delegierten Exekutoren der Reform, insbesondere die Bischöfe, mit den notwendigen Kompetenzen und Zwangsmitteln aus (§ 3, teils auch § 6). Er erkennt stillschweigend an, dass die Sachlage in der Zwischenzeit kompliziert geworden war. Dies ist vor allem daran zu sehen, dass die für die Ernennung der Hospitalrektoren zuständigen Instanzen mit einer möglichst umfassenden Formel benannt werden,23 damit auch wirklich alle im frühen 14. Jahrhundert existierenden Varianten abgedeckt würden. 23 In § 2: »hi, ad quos id de iure vel statuto in ipsorum fundatione locorum apposito aut ex consuetudine praescripta legitime vel privilegio sedis apostolicae pertinet«. In § 4 kürzer : »illorum, ad quos dictorum locorum commissio pertinet«.

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Die Avignoneser Hospitäler und die päpstliche Hospitalreform des 14. Jahrhunderts

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Die angeordneten Neuerungen liegen auf der Ebene der Reformmethoden, mit denen der Papst seine Ziele zu erreichen gedachte. Dazu gehören die Stärkung der bischöflichen Kontrollrechte, das Verpfründungsverbot und die Kriterien für die Eignung der Rektoren, bei denen offensichtlich in erster Linie an Laien gedacht war. Damit ist immerhin, wenn auch noch versteckt, der Tatsache Rechnung getragen, dass mehr und mehr Hospitäler in kommunale Verwaltung kamen und damit meist von Laien geleitet wurden. Doch trotz allem spricht der Text die in den Hospitälern der Zeit realiter belegten Konflikte und Entwicklungen nur teilweise an: Gewiss waren Zweckentfremdung und Veruntreuung von Gütern durch das Führungspersonal ein häufiges Problem und die wirtschaftliche Existenzsicherung fundamental. Doch von den häufigen Konflikten in den religiösen Hospitalkommunitäten beispielsweise ist keine Rede.24 Um sie zu entschärfen, dürfte es kaum genügt haben, allein auf die Eignung und Integrität des Rektors zu achten.

3.

Die Avignoneser Hospitäler und die päpstliche Hospitalreform des 14. Jahrhunderts

Die Rezeption der vom Papst lancierten Konzilsdekretale Quia contingit lässt sich gut verfolgen, solange man im Innenraum des juristischen Diskurses bleibt; der nächstliegende Weg ist es, Clementinenkommentare zu untersuchen, wie es im weiteren Verlauf dieses Kapitels auch geschehen wird. Im ›wirklichen‹, das heißt: außerjuristischen Leben sah es allerdings anders aus: Dieser Abschnitt fragt nach dem lokalhistorischen Kontext der von Clemens V., dem ersten Avignoneser Papst, und einigen seiner Nachfolger gewollten Neuordnung der Hospitäler, nach dem Umgang der Päpste mit Quia contingit und nach Spuren der Dekretale in Texten, die nicht unmittelbar aus dem gelehrten juristischen Diskurs hervorgegangen sind. Als die Päpste sich unter Clemens V. in Avignon einzurichten begannen, verfügte die Stadt bereits über eine gewisse Zahl von Hospitälern:25 Insgesamt waren es (ohne Ritterorden) acht, von denen eines, das Hospital der Kathedrale, bereits 1316 von Clemens’ Nachfolger Johannes XXII. an den örtlichen Bischof übertragen wurde. Die beiden wichtigsten der verbleibenden sieben Hospitäler waren das Hospital du Pont-Fract und das am Eingang zur Rhúnebrücke gelegene Hospital du Pont oder St-B¦n¦zet.26 Mit der Etablierung der Kurie erwies 24 Beispiele für solche Konflikte ab dem späteren 14. Jh. unten, Kap. II – IV. 25 Das Folgende basiert vor allem auf Pansier, Les anciens húpitaux. 26 Übersichtlicher als die verschiedenen Planskizzen in Pansier, Les anciens húpitaux, passim, sind die beiden Pläne in Chiffoleau/Le Blévec/Zerner, Aspects, S. 306 u. 308, und besser

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Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

sich dieses Angebot rasch als unzureichend. Päpste und Kurialen trugen in den nächsten Jahrzehnten Entscheidendes zur Potenzierung der Avignoneser Armen- und Krankenfürsorge bei, sowohl durch Schaffung zentraler Almosenbehörden als auch durch Stiftung neuer Hospitäler. Pierre Pansier zählt im 14. Jahrhundert, bis zum endgültigen Auszug der Päpste im Jahr 1403, 21 neue Hospitäler. Diese neuen Häuser gehen nicht in ihrer Gesamtheit, aber doch zum Teil auf Stiftungen von Kardinälen oder anderen Kurialen zurück. Wie sich auch in anderen Städten beobachten lässt, übten nicht alle dieser fast 30 vor 1400 nachweisbaren Hospitäler ihre Funktionen auf Dauer aus. Aus Testamenten der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts lässt sich schließen, dass nur zwischen elf und siebzehn Häuser tatsächlich aktiv waren und daher mit Legaten bedacht wurden. Sie wurden – oft unabhängig von der Identität der Stifter – von verschiedenen Institutionen oder Personengruppen getragen bzw. verwaltet: Neben Hospitälern, die dem Bischof oder anderen kirchlichen Institutionen unterstanden, finden sich solche in kommunaler Hand, außerdem von Bruderschaften, von Privatleuten und später auch von Zünften gegründete Einrichtungen. Einige Hospitäler – und nicht nur solche, die einer Kirche gehörten – wurden von religiösen oder semireligiösen Kommunitäten betreut. Manchmal zogen es selbst Kardinäle vor, die Leitung ihrer Hospitalstiftung nicht einer kirchlichen Institution, sondern der Kommune anzuvertrauen.27 Trotz dieser organisatorischen Gemengelage fällt auf, dass die in anderen Gebieten Südfrankreichs im 14. Jahrhundert sehr deutliche Tendenz zur Kommunalisierung der Hospitäler sich in Avignon und den benachbarten päpstlichen Landen nur langsam Bahn brach.28 Geht man die von Pansier zusammengestellten Nachrichten durch, so stößt man auf mehrere Häuser, deren Leitung im 14. Jahrhundert entweder direkt als Pfründe an Kleriker vergeben oder auf andere Weise klerikalisiert wurde.29 Das Vergaberecht lag in den meisten Fällen beim Bischof, doch zusätzlich griffen auch die Päpste immer wieder in die lokalen Hospitäler ein, um ihre Familiaren und Kurialen mit Rektorenposten zu versorgen. Es scheint sogar, dass gerade die Ankunft der Kurie zur Ersetzung der religiösen Hospitalkommunitäten durch bepfründete Kleriker beigetragen hat. Freilich nutzten nicht alle Avignoneser Päpste die Hospitäler in gleichem Maß für ihre Benefizialpolitik. Clemens V. verstieß zwar auch nach dem Konzil von in Le Blévec, La part du pauvre 2, S. 751 (13. Jh.) u. 753 (14. Jh., im Vgl. zur Liste bei Pansier aber nicht ganz vollständig). – S. unten, Plan 1. 27 So z. B. das 1363 von Kardinal Ardoin Aubert gegründete Hospital, in dessen Gebäude dann das Hospital St-B¦n¦zet verlegt wurde (Pansier, Les anciens húpitaux, S. 17, 90 f.). 28 Dies beobachtet Le Blévec, La part du pauvre 2, S. 630 f., 646 – 652; zusammenfassend bereits Chiffoleau/Le Blévec/Zerner, Aspects, S. 309 – 311. 29 Pansier, Les anciens húpitaux, S. 35 – 111 (kurze Einzelartikel zu insgesamt 38 Hospitälern, außer Ste-Marthe).

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Die Avignoneser Hospitäler und die päpstliche Hospitalreform des 14. Jahrhunderts

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Vienne noch gegen das Verpfründungsverbot, machte sich im Prinzip aber die vom Konzil beschlossene Hospitalreform zu Eigen.30 Johannes XXII., der 1317 die Clementinen zur Kommentierung an die Universitäten sandte, brachte für die Reform nur wenig Interesse auf, versorgte vielmehr Kleriker mit Hospitälern, indem er sie von Quia contingit dispensierte. Ganz anders sein Nachfolger Benedikt XII., der in seine Bemühungen um Ordensreformen auch die Hospitäler einschloss: Zu den Aufträgen seines Reformkommissars Arnaud de Verdale gehörte unter anderem die Neuordnung der Hospitäler in der Kirchenprovinz Narbonne. Hingegen setzte sich sein Nachfolger Clemens VI. mit besonders zahlreichen Verpfründungen südfranzösischer Hospitäler, allerdings nicht in der Stadt Avignon, regelmäßig über die Bestimmungen von Quia contingit hinweg.31 Erst Urban V. wandte sich in den 1360er Jahren wieder ernsthaft dem Thema Hospitalreform zu. Seine Maßnahmen zielten sowohl auf die gesamte westliche Kirche als auch auf ein lokales Versuchsfeld, die Avignon benachbarte Diözese Arles.32 An französische, spanische und italienische Erzbischöfe richtete er 1364 mehrere Mandate, mit denen er sie aufforderte, Quia contingit endlich Geltung zu verschaffen und deshalb alle von seinen Vorgängern mit Pfründen providierten Hospitalrektoren abzusetzen. Reflexe dieser Initiative lassen sich auch einige Jahre später noch beobachten.33 Auf lokaler Ebene entsandte er 1365 einen Kommissar in die Diözese Arles. Dieser Reformer, ein dem Papst verbundener Kartäuserprior, visitierte in den folgenden Jahren sowohl das Domkapitel von Arles als auch Hospitäler, erzielte jedoch nach dem vorübergehenden Abzug der Kurie nach Italien keine dauerhaften Ergebnisse. Ähnliches ist auch von Urbans Nachfolger Gregor XI. zu konstatieren, der sich zwar stark für einzelne, auch Avignoneser Hospitäler und Wohlfahrtseinrichtungen engagierte, aber keine größere Reform in Angriff nahm.34 Die Erschütterungen, denen Avignon nach dem Abzug der Kurie Benedikts XIII. 1403 und in den Kriegen der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts ausgesetzt war, brachten auch die Hospitäler der Stadt in Not. Dies führte 1447 zu einer 30 Le Blévec, La part du pauvre 2, S. 640. 31 Le Blévec, La part du pauvre 2, S. 640 f., 662 (Johannes XXII.), S. 641, 663 – 665 (Benedikt XII.), S. 642 – 646 (Clemens VI.). Zu den Ordensreformen Benedikts XII.: Felten, Beno„t XII, u. Felten, I motivi, S. 152 – 157. Ferner Ballweg, Konziliare oder päpstliche Reform, S. 221 – 256. 32 Le Blévec, La part du pauvre 2, S. 665 – 667, beschränkt sich auf den lokalen Schauplatz. Zu den generellen Verordnungen dieses Papstes s. unten, Anm. 69 – 71, im Zusammenhang mit dem Kanonisten Lapo da Castiglionchio, der ein solches Mandat Urbans ausführlich kommentiert. 33 Spuren von Urbans V. Versuch einer Hospitalreform in Italien (1366 – 1372): Frank, Gli ospedali, Anm. 86 f.; zu Florenz s. ferner Trexler, Synodal Law, S. 302. 34 Le Blévec, La part du pauvre 2, S. 667 f.

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Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

Intervention der Kommune bei Papst Nikolaus V., der einer drastischen Reduzierung der Zahl der Hospitäler und einer Konzentration ihrer Güter unter der Leitung der Kommune wiederholt zustimmte. Doch der vor Ort regierende Papstlegat Pierre de Foix verfolgte die Angelegenheit zögernd und nahm sie schließlich in seine eigenen Hände. Im Jahr 1459 wurde die Hospitalreform vollzogen: Neben einem Waisenhaus, dem Leprosorium und einem Antoniterhaus blieben noch fünf der alten Hospitäler übrig. Avignon ist somit ein Beispiel für eine ähnliche Reforminitiative, wie sie sich etwa gleichzeitig in Norditalien anbahnte.35 Dennoch greift die Schlussfolgerung von Daniel Le Bl¦vec, Hospitalreformen dieser Art seien in der Mitte des 15. Jahrhunderts ein gesamteuropäisches Phänomen und mancherorts sogar früher als in Italien betrieben worden, zu weit. Einzelne Fälle von Hospitalkonzentrationen wie in Avignon bedeuten nicht, dass anderswo, und gewiss nicht in Nordeuropa, bereits um 1450 ähnlich dichte Reformmaßnahmen wie in Italien durchgeführt oder gar Pendants zu den Ospedali Grandi errichtet worden wären. Es kann festgehalten werden, dass die Päpste des 14. Jahrhunderts in ihrer südfranzösischen Residenzstadt eine aktive Hospital- und Fürsorgepolitik betrieben. Avignon bot eine differenzierte Hospitallandschaft, in der sich die Funktionsweise verschiedener institutioneller Ausprägungen in situ beobachten ließ. Ungeachtet dieser Möglichkeit, empirische Lehren zu ziehen, hielten sich viele Avignoneser Päpste nicht an das von Clemens V. initierte Reformprogramm, und diejenigen, die es versuchten, hatten keinen durchschlagenden Erfolg. Vielleicht hat der kreative Umgang der Päpste mit der Clementine Quia contingit dazu beigetragen, dass sie auch im Rechtsalltag eher selten zitiert wurde. Gewiss könnten die bei der Vorbereitung dieses Buches zusammengetragenen Belege für eine Kenntnis von Quia contingit noch erweitert werden, doch ist immerhin bezeichnend, dass im gesamten hier ausgewerteten Material nur sporadische Rekurse auf diese Grundnorm des spätmittelalterlichen Hospitalrechts zu verzeichnen sind, und wenn man sie verwendete, dann nicht unbedingt in einer Weise, die dem mutmaßlichen ›Willen des Gesetzgebers‹ entprach.36 35 Zum Umbau von 1447 – 1459 s. Pansier, Les anciens húpitaux, S. 27 – 30; Le Blévec, La part du pauvre 2, S. 671 – 677 (Krise um 1400), 677 – 685 (Papstbriefe nach den Ausfertigungen in lokalen Archiven). – Eine Sondierung im Schedario Garampi des ASV hat für Nikolaus V. die beiden folgenden einschlägigen Registereinträge erbracht: Reg. Vat. 403, f. 36r–v, 1451 Mai 14(?) (Inkorporation einer Kapelle in das kommunal kontrollierte Hospital St-Lazare); Reg. Vat. 396, f. 293r–v, 1451 Juli 7 (Auftrag an den Kardinallegaten, die von der Kommune Avignon erbetene Union der Hospitäler zu vollziehen). Der Registereintrag der Unionsbulle Pius’ II. von 1459 ist über den Schedario Garampi nicht zu finden. 36 Erwähnungen von Quia contingit: 1318 in einem Vertrag zwischen dem Bischof von Avignon und den neuen hospitalarii des Petit Húpital, einem Ehepaar (Pansier, Les anciens húpitaux, S. 17). 1390 März 21 bei der Ernennung des neuen Rektors des Mailänder Hospitals S.

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Der Tractatus hospitalitatis von Lapus de Castellionio

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Der Tractatus hospitalitatis von Lapus de Castellionio

Die Rezeptionsspuren von Quia contingit führen zu einer fragmentarischen Geschichte: Sie erzählt von einer mit maximaler Autorität verabschiedeten Basisnorm, der es schwer fiel, sich in der Praxis zu bewähren. Höher zu bewerten als die unmittelbare praktische Bedeutung der Dekretale ist ihre subkutane Wirkung als Motor theoretischer Überlegungen und Baustein in der Rhetorik künftiger Hospitalreformen. Wir kehren damit zu ihrer Verwendung im juristischen Diskurs zurück und überspringen zunächst gut sechs schwierige Jahrzehnte Hospitalgeschichte bis zu den 1370er Jahren, als Lapus de Castellionio seinen Traktat über das Hospitalrecht verfasste. Es gibt viele Möglichkeiten, einen solchen Text zu erschließen. Das herkömmliche Vorgehen wäre es, einzelne Textpassagen mit anderen Quellen zu verbinden und daraus ein Gesamtbild des mittelalterlichen Hospitalrechts zu zeichnen.37 Der hier beschrittene Weg ist hingegen der, die Argumente dieses und anderer Juristen unter dem Gesichtspunkt ihrer Affinität, Kompatibilität oder Gegnerschaft zur Hospitalreform neu zu lesen. Damit ist nicht nur inhaltliche Kompatibilität oder Gegnerschaft gemeint, also eine Untersuchung der vom Verfasser gefundenen Lösungen im Hinblick darauf, ob sie eine Reform sachlich unterstützten oder verhinderten. Von Interesse ist vielmehr auch die im juristischen Text verwendete Terminologie, denn die Präsenz, die Kontextualisierung oder das Fehlen bestimmter Begriffe kann über den Beitrag eines Juristen zur Reformdynamik Aufschluss geben. Außerdem sollen Denkfiguren freigelegt werden, die dem Reformprozess strukturell affin sind: Das betrifft die narrative Struktur des Reform-Plots sowie den Umgang der Juristen mit der Veränderbarkeit der Zustände, die unter anderem ein Effekt von Zeitdynamiken ist. Damit dieses Programm nicht in den trockenen Gefilden der spätmittelalterlichen Kommentarliteratur vesandet, werden die drei genannten Perspektiven (inhaltliche, terminologische und strukturelle Beziehungen zur Reform) auf konkrete thematische Zugänge ausgerichtet. Insbesondere wird danach gefragt, Dionigi (s. unten, Kap. II, Anm. 26). 1405 bei der Übergabe eines Hospitals in Lodi an einen Kardinal als Kommendatar (Agnelli, Ospedali lodigiani, S. 10). 1452 Apr. 27 bei der Rektorenernennung in einem Hospital bei Mailand (s. unten, Kap. II, Anm. 80, Pecchiai, L’Ospedale Maggiore, S. 125). 1457 Nov. 21 bei der Gründung des Ospedale Maggiore von Lodi (s. unten, Kap. II, Anm. 145). 1471 in einem Konflikt um die Leitung eines Hospitals in Angers (Chaumot, L’húpital Saint-Jean). 1501: Johannes Geiler von Kaysersberg beruft sich in seiner Kritik des Großen Spitals von Straßburg auf die Dekretale (s. unten, Kap. IV, Anm. 51, 55). 1542: Eine Satzung der Hospitalunion von Modena verweist auf die Clementine (s. unten, Kap. V, Anm. 100). In seinem Hospitalgesetz von 1545 Jan. 15 zieht König Franz I. von Frankreich Quia contingit als Rechtsgrundlage heran (s. unten, Kap. III, Anm. 195). 37 So arbeiteten etwa Imbert, Les húpitaux en droit canonique, und (mit stärkerem Akzent auf der historischen Entwicklung des Hospitalrechts) Nasalli Rocca, Il diritto.

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Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

welche rechtlichen Instrumente entwickelt wurden, um (a) die Differenzen zwischen den realen Leistungen der Hospitäler und dem erwarteten ›Normalzustand‹ zu fassen, (b) die Kontrolle über die Hospitäler zu sichern und (c) die Veränderbarkeit der Verhältnisse zu ermöglichen. Die für den ersten Punkt (a) maßgeblichen Normen betreffen die hospitalitas und speziell das Verhalten der Hospitalrektoren, aber auch die materielle Basis, von der die Umsetzung der Normen abhing. Punkt (b) berührt die Beziehungen zwischen Hospital und Obrigkeiten, einen klassischen Untersuchungsgegenstand der Hospitalgeschichte: In der Reformperspektive erhalten diese Beziehungen eine neue Dynamik, denn eine Reform konnte die Zuständigkeiten für die Kontrolle und die verfügbaren Machtmittel verschieben, ja das Problem der kirchlichen oder weltlichen Zuständigkeit für die Hospitäler gerade virulent werden lassen. Punkt (c), die Möglichkeit von Veränderungen, wirft spezifisch juristische Probleme auf: Die Doctores mussten klären, wie sich Gewohnheit, übergeordnetes und neu gesetztes Recht zueinander verhielten und wie die Grundkoordinate jeder Veränderung, der Faktor Zeit, rechtlich einzuhegen war. Während in (c) der Zeitverlauf im Fokus steht, wird in (a), wo Norm und Realität gegeneinanderstehen, die zeitliche Perspektive gerade ausgeblendet. Lapus de Castellionio38 wurde nach einer Phase als Privatlehrer und Florentiner Gesandter 1367 Professor für kanonisches Recht am Studium von Florenz, wo der Traktat entstanden sein dürfte; 1378 musste er im Zuge des CiompiAufstands die Stadt verlassen, ging erst nach Padua und dann nach Rom, wo er 1381 starb. Er scheint sich für die Materie auch deshalb interessiert zu haben, weil er für mehrere Hospitäler vor Gericht gegutachtet hatte.39 Er kannte mithin die Realität der toskanischen Hospitäler, war offen für eine breite Rekrutierung der Rektoren, hatte große Achtung vor der klerikalen Hierarchie, nahm den Klerus aber auch in die Pflicht. Für seine Vertrautheit mit dem Sujet spricht ferner die Tatsache, dass er von den hier untersuchten Autoren der einzige ist, der seine Referenztexte up to date hält: Nur Lapus bezieht eines der vorhin erwähnten Mandate Urbans V. von 1364 in seine Argumentation ein.40

38 Zur Biografie s. Murano, Autographa, S. 82 – 86; Spagnesi, Dominus Lapus, S. 123 – 128; Spagnesi, Le allegazioni, S. 898 – 909. 39 Er erwähnt die Florentiner Hospitäler S. Gallo, S. Salvi, S. Sebio, S. Maria Nova und S. Miniato, außerdem ein Hospital in Prato und das Ospedale del Ceppo von Pistoia: Lapus, Tractatus, f. 163ra–rb (Nr. 3), f. 164vb (Nr. 28); f. 165vb (Nr. 54); f. 166ra (Nr. 60); f. 166va (Nr. 70 – 71); f. 167rb (Nr. 91, 94), 167va (Nr. 95); Murano, Autographa, S. 82, fig. 28. Zu den genannten Florentiner Hospitälern: Davidsohn, Geschichte 4-3, S. 50 f. (S. Gallo), 47 (S. Salvi, S. Miniato), 49 f. (S. Sebio), 53 f. (S. Maria Nuova); Davidsohn, Forschungen 4, S. 389 – 391 (S. Gallo), 392 f. (S. Sebio), 394 (S. Maria Nuova), 401 (S. Miniato). Vgl. auch unten, Anm. 50, 60, 69. 40 S. unten, Anm. 70 f. Außerdem fordert Lapus an einer anderen Stelle (Tractatus, f. 165rb,

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Der Tractatus hospitalitatis von Lapus de Castellionio

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Der Tractatus ist in der (hier benutzten) Venezianer Ausgabe in 105 meist kurze, manchmal längere Abschnitte und eine Einleitung unterteilt. Sie folgen keiner stringenten Ordnung, lassen sich aber zu thematischen Gruppen bündeln,41 auch wenn manche Themen mehrfach (und nicht ohne Widersprüche) behandelt werden. Es handelt sich eigentlich nicht um einen Kommentar zu Quia contingit, sondern um eine repetitio zu X 3.36.3, der Dekretale De xenodochiis. Da Lapus aber an diesem kurzen Text die »gesamte Materie der Hospitäler bewältigen« möchte,42 zitiert er Quia contingit ungleich öfter als die Ausgangsdekretale.

Differenzen zwischen Norm und realer Leistungsfähigkeit von Hospitälern (a)43 Schon in der Einleitung konstatiert der Kanonist, dass es das Ziel (»effectus«) eines Hospitals sei, die Armen zu unterstützen. Wer davon abweiche, handle gegen die Natur, was ähnlich unakzeptabel sei wie Wucher ; auch Wucher sei gegen die Natur, denn es liege schließlich nicht in der Natur des Geldes, sich aus sich selbst heraus zu vermehren.44 Dieses oberste Ziel, an das er im weiteren Verlauf immer wieder erinnert, steuert auch die Argumentation in den zahlreichen Abschnitten, in denen das Amt der Rektoren untersucht wird: Zum Beispiel betont er den »usum debitum hospitalis«, wenn er den Rektoren nahe legt, persönliche Präferenzen bei der Auswahl der aufzunehmenden pauperes hintanzustellen. Sollte ein Rektor oder hospitalarius von dieser Norm abweichen, obliegt es dem Ortsbischof, dies zu korrigieren.45 Aus dieser Grundnorm

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Nr. 41), künftig publizierte Extravaganten zu den päpstlichen Reservationsrechten in Hospitälern gegebenenfalls einzubinden. Die Gliederung in 105 Abschnitte stammt sicherlich von den Kuratoren der Tractatus-Edition; die Nummern 85 – 89 fehlen, s. unten Anm. 64. Generell ist die Textqualität der Venezianer Tractatus-Edition ziemlich dürftig. Murano, Autographa, S. 85, weist auf die einzige bisher bekannte handschriftliche Überlieferung hin (die ich nicht eingesehen habe): Prato, Bibl. Roncioniana Q.V.10, f. 65r–81v (zusammen mit einem Lapus irrig zugeschriebenen Traktat De canonica portione). Lapus, Tractatus, f. 162vb: »ego intendo totam materiam expedire«. S. auch Frank, Spätmittelalterliche Hospitalreformen, Anm. 39, u. Murano, Autographa, S. 85. S. oben, Erläuterung zu Punkt (a). Die Analyse des Traktats beschränkt sich hier auf die signifikantesten Passagen; ausführlichere Belege in Frank, Spätmittelalterliche Hospitalreformen, Anm. 42 – 49. Lapus, Tractatus, f. 162vb: »Item quia unaquaeque res debet suum operari effectum, de ordi. cogn. cum dilectus (X 2.10.2), effectus ergo xenodochii est pauperes receptare et reficere; pervertendo hoc fit contra naturam rei, quod non est sustinendum, sicut non est sustinendum quod quis recipiat usuras de pecunia mutuata, quia est contra naturam rei, quia pecunia de sui natura non germinat et usurarius vult eam germinare, quod non est sentiendum nec etiam permittendum.« Lapus, Tractatus, f. 166rb Nr. 60: »posset hoc [ein Verstoß] corrigi per episcopum tamquam

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Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

ergibt sich auch, dass Hospitäler von Abgaben an die Ortsbischöfe befreit sind46 und dass sie, anders als Kirchen, Güter veräußern dürfen, wenn den Armen in einer Notlage anders nicht geholfen werden kann.47 Im Rahmen dieser generellen Zielsetzung der Armenversorgung konnte ein Stifter seinem Hospital freilich bestimmte Merkmale vorgeben und spezielle Zwecke festlegen. Davon hing auch die Größe der Mindestausstattung ab: Sie musste den Zwecken genügen, und dies festzustellen, war im Zweifelsfall Sache des Bischofs.48 Häufig trat jedoch der Fall ein, dass der Wunsch des Stifters auf Widerstände traf, zumal wenn es sich um eine testamentarische Stiftung handelte, deren Initiator die Verwirklichung nicht mehr selbst in die Hand nehmen konnte. Die so entstehende Differenz zwischen gewünschtem Normalzustand und Realisierung zu überbrücken, oblag nach Lapus wiederum dem Ortsbischof, wie es an mehreren Stellen des Tractatus heißt.49 Der Diözesan hatte das Recht dazu, weil eine solche Stiftung zwar nicht immer ein »locus religiosus« (oder auch »locus ecclesiasticus« oder »locus religiosus et ecclesiasticus«) im engeren Sinne war, auf jeden Fall aber »ad pias causas« gemacht wurde. Halten wir fest, dass Lapus de Castelliono das Hospitalrecht an einer Grundnorm aufhängt – oberster Zweck eines Hospitals ist die sustentatio pauperum – und dass er nach diesem Maßstab das Verhalten der Verantwortlichen und deren Umgang mit der materiellen Ausstattung der Hospitäler bewertet. Diese Grundnorm steht in der kirchenrechtlichen Tradition, hat quasi axiomatischen Charakter und braucht nur spärlich mit vorgängigen Gesetzestexten belegt zu werden. Zur Begründung wird allenfalls auf Quia contingit verwiesen, daneben aber auch auf zeitgenössische Beispiele (S. Maria Nova in Florenz50) sowie auf die »Natur der Sache«. Halten wir außerdem fest, dass Lapus die Prüfung der zahlreichen Schwierigkeiten, die das reale Funktionieren eines Hospitals und den erwarteten Normalzustand auseinanderdriften lassen mochten, vor allem einer Figur zugesteht: dem Ortsbischof. Der rechtliche

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indiscrete factum et qui usum debitum hospitalis et mentem disponentis pervertit seu restringit«. Lapus, Tractatus, f. 165va Nr. 48, unter Berufung auf die Glosse des Johannes Andreae zu Quia contingit. Lapus, Tractatus, f. 166ra Nr. 63. Ebd., f. 166va Nr. 71, werden Veräußerungen, die nicht die Grundausstattung betreffen, als ohnehin unproblematisch dargestellt: »Sed de bonis obvenientibus et relictis vel oblatis fidelium ista facilius vendi possunt, quia cum semper est causa universalis, perpetua et iusta, scilicet ut distribuantur in usus pauperum …« Lapus, Tractatus, f. 165ra Nr. 38: »Quia diversarum specierum sunt: nam alia ad hospitandum, et tunc principalis cura in lectis erit; alia ad curandum infirmos, et tunc principalis cura erit in bonis ac devotis ministris et expertis in opere medicine, et sic de singulis et sic hoc maior et minor dos admitteretur.« Vgl. zu den verschiedenen Hospitaltypen auch ebd., f. 163vb Nr. 14. Lapus, Tractatus, f. 165vb Nr. 55, f. 166rb Nr. 65. Weitere Belege in Frank, Spätmittelalterliche Hospitalreformen, Anm. 48. Lapus, Tractatus, f. 166va Nr. 70 – 71.

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Der Tractatus hospitalitatis von Lapus de Castellionio

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Kontext, in dem die Regeln des bischöflichen Eingreifens festgelegt werden, ist zum einen die Frage nach der Umsetzung bzw. Veränderbarkeit des Stifterwillens und zum anderen das allgemeinere Problem der Jurisdiktion über die Hospitäler.

Die Kontrolle über die Hospitäler (b)51 Für dieses Thema sind insbesondere die beiden folgenden Aspekte wichtig: Wer war mit welchem Recht für die Kontrolle vor allem der Rektoren zuständig? Und darauf aufbauend: In welchen Jurisdiktionsbereich gehörten Hospitäler, in den kirchlichen oder den weltlichen? Der erste der beiden Aspekte sei hier nur gestreift. Das Thema der Kontrolle der hospitalarii ist der Kontext, in dem Lapus am ehesten auf Termini wie »correctio« oder »reformatio« zurückgreift. Er folgt Quia contingit und frühen Clementinenkommentatoren wie Jesselinus de Cassanis, wenn er feststellt, dass das Recht der Aufsicht über die Rektoren (»die Aufsicht oder Korrektur, reformatio oder Besserung dieser Einrichtungen [und] ihrer Leiter«) durch das Gründungsstatut, durch päpstliches Privileg oder durch Gewohnheit zwar an alle möglichen Personen gelangt sein kann; de iure, also normalerweise, stehe es aber dem Diözesan oder allenfalls auch den Patronen zu.52 Wo dem Bischof aus einem der eben genannten Gründe (Privileg etc.) die Jurisdiktion über ein Hospital entzogen worden sei, könne er auf Grund der ihm durch Quia contingit verliehenen Kompetenzen immer dann kontrollierend eingreifen (Visitation), wenn die direkt Zuständigen ihre Aufsichtspflicht vernachlässigen.53 Die von der Clementine konkretisierte außerordentliche Jurisdiktion der Bischöfe (bei Vernachlässigung durch die Patrone) war allerdings auch keine hundertprozentige Garantie dafür, dass sie die zahlreichen Hindernisse, die sich ihrer ordentlichen Jurisdiktion über die Hospitäler entgegenstellten, tatsächlich überwinden konnten. Am wirksamsten hätte die Aufsicht sich organisieren lassen, wenn die Bischöfe bereits bei der Bestellung der Rektoren hätten eingreifen können, doch gerade auf diesem Feld mussten sie oftmals allen möglichen anderen Rechtsansprüchen weichen (Ordensspitäler, andere Exemtionen, Laienpatronat, lokale Gewohnheit).54 Die juristische Beurteilung dieser Hindernisse führt zum zweiten der oben genannten Aspekte und zu einer Kernfrage 51 S. oben, Erläuterung zu Punkt (b). 52 Lapus, Tractatus, f. 163vb Nr. 15: »Amplius quaero ad quem spectat horum locorum [et] rectorum suorum cura seu correctio, reformatio vel emendatio.« 53 Lapus, Tractatus, f. 164ra Nr. 17, 18 u. 20; vgl. ferner ebd., f. 165va Nr. 48. 54 Dazu vor allem Lapus, Tractatus, f. 164rb–164vb Nr. 25 – 28.

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Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

der spätmittelalterlichen Debatten um das Hospitalrecht: Sind die Institutionen der Wohlfahrt als kirchlich oder als weltlich einzustufen? Die Tendenz der kirchlichen Gesetzgebung ist eigentlich klar : Die Dekretale X 3.36.3 stellt »xenodochia« und ähnliche »loca« unter bischöfliche Jurisdiktion. Doch man wusste schon im 12. Jahrhundert, als Papst Urban III. sein zu X 3.36.4 verarbeitetes Mandat erließ, dass es zwei Sorten von Hospitälern gab: solche, die »cum auctoritate episcopi« gegründet wurden, und andere, denen die bischöfliche Initiative, Anleitung, Erlaubnis oder Zustimmung (die Interpretation von auctoritas ist vielfältig) fehlte. In seiner einflussreichen Summa aurea brachte der Hostiensis in der Mitte des 13. Jahrhunderts diese Unterscheidung auf den Punkt.55 Die Clementine Quia contingit verschob die Gewichte noch einmal zu Gunsten der Bischöfe, indem sie ihnen zusätzlich ein außerordentliches Interventionsrecht im Bedarfsfall einräumte. Für die Reformperspektive ist die grundlegende Unterscheidung zwischen Hospitälern »cum« und »sine auctoritate episcopi« in zweifacher Hinsicht relevant: zum einen, weil von ihrer Beantwortung abhängt, wer die Verantwortung für reformerische Eingriffe trug, und zum anderen, weil die Grenze zwischen kirchlichen und weltlichen Anteilen eines Hospitals selbst Gegenstand einer Reform sein konnte. Die Folgerung aus der Rolle des Bischofs scheint einfach zu sein: War er beteiligt, dann war das Hospital ein »locus religiosus« oder »locus ecclesiasticus«; wurde die Rechnung hingegen ohne den Bischof gemacht – was grundsätzlich möglich war –, dann kam dem Hospital nur der Status eines »locus prophanus« zu. Doch bot dieses begriffliche Instrumentarium einigen Interpretationsspielraum. Lapus entwickelt das Problem aus der Frage, ob jedermann nach Belieben ein Hospital errichten könne. Grundsätzlich gilt: Jeder kann sein Haus der hospitalitas widmen und Arme beherbergen, auch für begrenzte Zeit, genauso wie jeder nach Belieben Almosen geben kann. Nur wird »ein solcher Ort kein religiöser sein, noch wird er kirchliche Immunität genießen, der Kirche zugerechnet oder der Jurisdiktion des Bischofs unterstehen. Er kann wieder anderen, irdischen Zwecken zugeführt, gekauft, verkauft und verschenkt werden.«56 Den dazu herangezogenen Belegen57 sei zu entnehmen, »dass diese Rechte nicht ohne die 55 Hostiensis, Summa aurea, col. 1150 f. (zu X 3.36 De religiosis domibus). Weitere Belege bei Imbert, Les húpitaux, S. 67 – 73. 56 Lapus, Tractatus, f. 163va–vb Nr. 10: »Sed talis locus non erit religiosus, nec gaudebit immunitate ecclesiastica, nec ad ecclesiam computabitur, nec est sub iurisdictionem episcopi; et poterit ad alios humanos usus redire et emi et vendi potest et donari.« Vgl. auch oben, Anm. 49. 57 Lapus führt an: Hostiensis, Summa aurea, col. 1207 f. (zu X 3.48 De ecclesiis edificandis), ebd., col. 1108 (zu X 3.31 De regularibus) u. col. 1199 f. (zu X 3.45 De reliquiis); den Kommentar eines Petrus (wohl Petrus Bertrandus) zu Quia contingit und die Dekretale Inter dilectos (X 3.24 De donationibus, c. 8).

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Der Tractatus hospitalitatis von Lapus de Castellionio

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Autorität des Bischofs entstehen können; wir müssen die Worte ›nicht entstehen können‹ so begreifen, dass diese Rechte kirchlich sind, denn als profane kann das sehr wohl [geschehen], wie gesagt wurde.«58 Mit anderen Worten: Ein ohne Mitwirkung des Bischofs gegründetes Hospital ist sehr wohl Träger von Rechten, nur nicht von solchen, die ausschließlich der kirchlichen Sphäre zustehen, sondern eben von »profanen« Rechten. Es blieb nun freilich zu klären, wo genau die Grenze zwischen den beiden Hospitaltypen sowohl theoretisch als auch im konkreten Einzelfall zu ziehen war. Über die einem Hospital zuzuordnenden kirchlichen Immunitätsprivilegien gehen die Meinungen auseinander, doch tendiert Lapus dazu, den Hospitälern – sofern loci religiosi im oben erläuterten Sinn – und unter dieser Bedingung auch den Hospitalrektoren kirchliche Immunität zuzugestehen, vor allem im Hinblick auf den Schutz ihrer Güter.59 Da es aber in der Praxis häufig vorkam, dass die Gründungsgeschichte nicht mehr bekannt und eine bischöfliche Mitwirkung nicht positiv nachweisbar war, suchte man nach Indizien, die ein Hospital unabhängig von der Existenz einer Stiftungsurkunde als kirchliches auswiesen. Solche »signa« (Altar, Kapelle, Glockenturm, Friedhof) waren bereits von den Dekretalisten des 13. Jahrhunderts zusammengestellt worden, so dass Lapus diesen Punkt nur anzudeuten braucht.60 Von Interesse ist hier aber die Terminologie, die bei ihm die Grenze zwischen kirchlichen und weltlichen Hospitälern, aber auch zwischen kirchlichen Hospitälern und ›richtigen‹ Kirchen markiert. Die entsprechenden Begriffe fallen zum Beispiel im Kontext der Frage, wie die spirituellen Funktionen eines Hospitals sich mit den älteren Rechten der Pfarrkirche vertragen, in deren Bezirk es lag. Keine Konflikte mit Parochialrechten verursache die Errichtung von »hospitalibus non religiosis seu non factis auctoritate episcopi«, denn so etwas sei eine »privata domus«.61 Wenn dagegen ein Hospital »sub effigie vel signo vel denominatione loci ecclesiastici« errichtet werde, benötige es die Zustimmung des Bischofs und auch des zuständigen Pfarrers. Eine allzu subtile Differenzierung zwischen Hospital und Kirche lehnt der Kanonist, der hier, wie häufig, seinem Florentiner Lehrer Lapus Abbas folgt, zumindest in diesem Zusammenhang ab: Was für Kirchen gelte, gelte in diesem Fall auch für kirchliche Hospitäler.62 58 Lapus, Tractatus, f. 163vb Nr. 10: »quod talia iura non possunt fieri sine auctoritate episcopi; intelligamus ›non posse fieri‹ scilicet quod sint ecclesiastica, alias ut prophana bene potest, ut dictum est«. 59 Lapus, Tractatus, f. 163vb Nr. 11 – 13. 60 Lapus, Tractatus, f. 165vb Nr. 54. Als Hauptindiz hebt er außerdem das Vorhandensein eines Heiligenpatroziniums hervor, wie z. B. beim Hospital S. Salvi in Florenz. 61 Lapus, Tractatus, f. 164vb Nr. 35. 62 Lapus, Tractatus, f. 165ra Nr. 35: »isto casu ecclesiarum nomina veniunt hospitalia«, was

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Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

Nach diesen Vergleichen zwischen Kirchen und den mit Beteiligung des Bischofs gegründeten Hospitälern stellt Lapus Letztere, die kirchlichen Hospitäler, den »privaten« gegenüber. Er schließt, dass der Bischof notfalls auch in private Hospitäler eingreifen darf, nicht nur weil er Schützer der Elenden, sondern weil er für alle »loca pia« zuständig ist. Kann der Bischof die Erben zwingen, eine solche private Stiftung umgehend zu realisieren? Er kann das ohne Zweifel ebenso wie bei anderen Legaten für loca pia (X 3.26.19), ja nach Meinung einiger ist jedes Legat ein frommes und in alle kann sich der Bischof einmischen (X 3.26.19; Arch[idiaconus? = Guido de Baysio] zu Decr. Grat. C. 11 q. 1 c. 13). […] [Der Erbe] muss gezwungen werden, dass er [die Stiftung] zu dem Zweck bewahrt und aufrechterhält, zu dem sie vom Testator gedacht war, [nämlich] dass die Armen dort gütig aufgenommen werden, nicht nur weil bedürftige Personen unter dem Schutz des Bischofs stehen, wie oben gesagt wurde, sondern auch, weil der ganze Bereich(?) der loca pia ihm zusteht und er der Richter ist.63

Mit locus pius greift der Verfasser auf einen Begriff zurück, der den Gegensatz zwischen kirchlichem und weltlichem (privatem) Hospital überbrückt, indem er alle wohltätigen Institutionen, gleichgültig wie sie gegründet worden waren, einschließt. Lapus und andere Kanonisten des 14. Jahrhunderts deuteten locus pius zu Gunsten der bischöflichen Jurisdiktion und damit letztlich des kirchlichen Charakters der Hospitäler. Das ergibt sich auch daraus, dass der Florentiner den Traktat des Francesco degli Atti über die Pflicht aller loca pia, Bischöfen und Pfarrern die portio canonica zu zahlen, hier zustimmend zusammenfasst.64 Die für diesen Begriff charakteristische Unschärfe lässt jedoch, zumindest theoretisch, auch die Möglichkeit erahnen, dass man ihn umdeuten und nach Abzug wahrscheinlicher Transkriptionsfehler so viel heißt wie: »In diesem Fall laufen Hospitäler unter dem Namen der Kirchen.« Am Ende des Absatzes werden die kirchlichen Merkmale von Hospitälern nochmals resümiert, um zu begründen, warum ihre Existenz die Parochialrechte tangiert. Bemerkenswerterweise beginnt die Liste mit der Feststellung: »[hospitale] non est titulus profanicus nec ecclesiasticus.« Weitere Merkmale: Ein Hospital könne nicht ohne Simonie verkauft werden und es verfüge über Spiritualia. – An anderen Stellen ist sich Lapus der Ähnlichkeit von kirchlichen Hospitälern und Kirchen weniger sicher, s. die Belege in Frank, Spätmittelalterliche Hospitalreformen, Anm. 62 f. 63 Lapus, Tractatus, f. 165vb Nr. 55: »non est dubium secundum quod in aliis locis piis legatis (de testa. Ioannes), immo, secundum quosdam omne legatum est pium et de omnibus potest se intromittere episcopus, ut in praeallegato c. Ioannes et not(at) Arch(idiaconus?) in canone Silvester XI q. […] [Haeres] cogi debet ut conservet et manuteneat ad eum usum ad quem deputatus est per testatorem, ut pauperes benigne recipiantur ibidem, non solum quia personae miserabiles sunt sub protectione episcopi, ut supra dictum est, verum etiam quia extentum piorum locorum ad eum pertinet et ipse est iudex.« Die vollständige Passage ist zitiert und übersetzt in Frank, Spätmittelalterliche Hospitalreformen, Anm. 64. 64 Lapus, Tractatus, f. 166vb–167ra Nr. 84; wahrscheinlich war dieser Teil ursprünglich länger, denn in der Edition fehlen die Nummern 85 – 89. Der »episcopus Clusinus« ist Francesco degli Atti, s. Trexler, The Bishop’s Portion, S. 354 f.; zur Anwendung des Begriffs locus pius auf Bruderschaften vgl. Baldus’ Kommentar zu Cod. 1.3.31 u. 1.3.48 (oben, Anm. 11 f.).

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Der Tractatus hospitalitatis von Lapus de Castellionio

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auf die weltliche Seite ziehen kann – selbst wenn dies mit Hospitälern bis ins späte 14. Jahrhundert noch kaum ernsthaft versucht wurde. Ein weiterer thematischer Kontext, in dem die Kirchlichkeit von Hospitälern auf den Prüfstand kam, war der Rechtsstatus des Rektors: Sollte er Laie oder Kleriker sein, und wenn Letzteres, war sein Posten eine Pfründe oder nicht? Quia contingit (§ 4) hat eine Verpfründung verboten, jedoch zwei Ausnahmen zugelassen, die in der kanonistischen Debatte eine prominente Rolle spielen. Lapus scheint zu den Gegnern einer großzügigen Deutung dieser Ausnahmen gehört zu haben. Für ihn war der erwünschte Normalfall der, dass die Hospitalleitung als befristetes Amt und nicht als kirchliches beneficium vergeben wurde; zwar konnte der Rektor Kleriker sein, nur eben kein Pfründner, doch im Grunde hielt der Kanonist Laien für besser geeignet, weil Hospitäler sich größtenteils mit weltlichen Dingen befassen.65 Lapus de Castellionio löst die von der Tradition bis dahin klar gezogene Unterscheidung von kirchlichen und weltlichen Hospitälern in verschiedene, nicht immer kongruente, manchmal sogar widersprüchliche Teilunterscheidungen auf, je nach dem, aus welcher Perspektive er das Problem beleuchtet: Teils sind Hospitäler kirchlich privilegiert, teils nicht; teils unterstehen sie den Bischöfen, teils nicht; eigentlich sollen sie von Laien geleitet werden, aber nicht unbedingt. Diese Oszillationen sind auch auf der terminologischen Ebene spürbar. Obwohl für ihn die alte Differenz zwischen »locus religiosus/ecclesiasticus« und »domus privata« ihre Gültigkeit behält, sind Hospitäler, wie es an einer Stelle heißt, »weder profan noch kirchlich«.66 Sein Rekurs auf den Begriff »locus pius« könnte ein Versuch sein, dieser Unschärfen mit Hilfe eines weiter gefassten Konzepts Herr zu werden.

Die Veränderbarkeit der Zustände in der Zeit (c)67 Ungeachtet der Neigung des juristischen Diskurses zur Stabilisierung der Verhältnisse hat das Recht es ständig mit dem Problem der Veränderbarkeit und daher mit einer Denkfigur zu tun, in die sich leicht ein Reform-Plot einnisten kann. Die Veränderung der Dinge in den Griff zu bekommen, ist eine der wesentlichen Aufgaben gerade auch der mittelalterlichen Jurisprudenz, weil deren 65 Lapus, Tractatus, f. 163rb Nr. 4: Laienkonversen eines Klosters, die sich ohnehin mit Landwirtschaft und »alia mechanica« beschäftigen, seien um so besser für das »officium curandi pauperum« geeignet. Weitere Belege in Frank, Spätmittelalterliche Hospitalreformen, Anm. 67. Vgl. aber unten, Anm. 72. 66 S. Zitat oben, Anm. 62. 67 S. oben, Erläuterung zu Punkt (c).

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Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

Basis historische Normensysteme waren: das römische Recht und die frühkirchlichen Canones. Dass bei der Lösung dieser Aufgabe der Begriff der consuetudo mit seinen zeitlichen Dimensionen eine wichtige Rolle spielte, soll uns hier nicht weiter aufhalten, denn im Tractatus hospitalitatis und in den anderen hier untersuchten Texten gelangt die Reflexion über die ›Gewohnheit‹ nicht über die längst etablierte juristische Routine hinaus. Ein anderer Zeitindikator ist hier von größerem Interesse: der insistente Rückgriff der Kanonisten auf das Konzept des Anfangs oder Ursprungs, konkret auf die Intentionen des Hospitalstifters oder auf den Zustand des Hospitals bei der (vielleicht lang zurückliegenden) Gründung. Von solchen Argumenten war schon mehrfach die Rede. Unter dem Blickwinkel des juristischen Zeitregimes kann man sie so auf den Punkt bringen: Wer Ursprung sagt, meint Veränderung, sei es im negativen, sei es im positiven Sinn. Das durch die Zeitdifferenz zwischen Ursprung und Gegenwart produzierte Spannungsverhältnis war von großer rechtlicher Relevanz für die Hospitäler. Oberste Norm war zwar die Rückkehr zur ursprünglichen Verfassung (»ultima voluntas testatoris pro lege est servanda«68), doch kamen die Kanonisten nicht umhin, diese Spannung einer juristischen Deutung zu unterziehen, die Wahrscheinlichkeit einer bischöflichen Beteiligung an der Gründung abzuwägen oder den Stifterwillen mit seiner Umsetzung abzugleichen. Von dieser Deutungsanstrengung hing nicht nur ab, ob ein Hospital als kirchlich oder weltlich galt, sondern auch, ob seine Funktionen geändert werden durften: mit anderen Worten, ob es zu reformieren war. Die Veränderbarkeit des Rechts in der Zeit ist zugleich eine Frage der Rechtsfortbildung durch neue Normen und deren Rezeption. Unter diesem Blickwinkel ist Lapus allen anderen hier behandelten Autoren um eine Nasenlänge voraus: Er widmet einen seiner letzten größeren Themenblöcke der Kommentierung einer rezenten Norm, dem schon erwähnten Mandat Papst Urbans V. vom 28. August 1364, das der in der Praxis offensichtlich zu wenig beachteten Dekretale Quia contingit auf die Sprünge helfen sollte. Dieses Zeugnis für die Auseinandersetzung eines Kanonisten mit der aktuellen Gesetzgebung hat auch eine praktische Seite, denn wie Lapus berichtet, hatte er sich mit der Anordnung Urbans schon als Gutachter sowohl in einem Prozess um die vakante Rektorenstelle eines Hospitals in Prato als auch im Fall des Hospitals von S. Miniato (Ospedale del Ponte) in Florenz befasst.69 Er transkribiert zunächst ein längeres Stück aus dem Papstbrief wörtlich.70 68 So Lapus, Tractatus, unter anderem f. 166rb Nr. 65, unter Berufung auf Decr. Grat., C. 13 q. 2 c. 4 Ultima voluntas, und auf die Glossa zum Decretum Gratiani. 69 Lapus, Tractatus, f. 167ra–rb Nr. 91 (S. Miniato), f. 167rb Nr. 94, f. 167va, Nr. 95 (Prato). 70 Lapus, Tractatus, f. 167ra Nr. 90: Urban V., Quamvis super reformatione, 1364 Aug. 28.

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Der Tractatus hospitalitatis von Lapus de Castellionio

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Urban V. legt darin dar, dass Papst Clemens V. mit seinem Erlass Quia contingit (der kurz paraphrasiert wird) eine Neuordnung der Hospitäler verlangt habe, die jedoch zu wenig beachtet werde. In Sorge um das Seelenheil der für die vernachlässigten Hospitäler zuständigen Oberen und um das Wohl der Armen und Leprosen bekräftigt Urban die Maßnahmen seines Vorgängers sowie eine von ihm selbst schon früher publizierte ähnliche Anordnung. Er wiederholt, dass sämtliche Hospitalrektoren, welche – von wem und wie auch immer – ihre Posten auf Dauer oder gar als Pfründe erhalten haben, abgesetzt sind, egal ob Religiosen, Weltkleriker oder Laien. Ausgenommen werden, wie in Quia contingit, nur Ordenshospitäler sowie jene Rektoren, die sich auf ein sie schützendes Statut des Gründers berufen können oder durch Wahl an ihr Amt gelangt sind. Er befiehlt den Empfängern des Mandats, seine vorausgegangene Anordnung binnen eines Monats nach Erhalt dieses neuen Briefes in allen Kathedralen zu publizieren, entsprechend zu vervielfältigen und unter Androhung von Kirchenstrafen für seine Ausführung zu sorgen. Der Austausch aller Hospitalleiter wäre eine ziemlich radikale Maßnahme gewesen. Lapus überlegt deshalb, ob der Papst das wirklich so gemeint haben kann oder ob diesem Reformversuch nicht besser die Zähne gezogen werden müssen. Meinungsbildend war für ihn auch der erwähnte Prozess in Prato, bei dem er mit seinem Gutachten verhindert hatte, dass auf die Nachfolge eines in curia verstorbenen, aber laikalen Spitalrektors die päpstliche Pfründenreservation angewandt wurde. Seine Argumentation ist hier relativ eigenständig, greift kaum auf Werke anderer Juristen zurück und begnügt sich mit wenigen Allegationen von älteren Canones oder Gesetzen. Die meiste Energie investiert er in eine ingeniöse und, wie er selbst verkündet, neue Deutung der von Urban V. eingeräumten Ausnahmen (also Gründungsstatut und Wahlamt).71 Seine Lektüre läuft – offenbar im Interesse der besonderen Anforderungen, die der Fall Prato gestellt hatte – darauf hinaus, dass klerikale Rektoren im Amt bleiben können, während Laienrektoren den Hut nehmen müssen. Dies ist einer der nicht seltenen Widersprüche dieser Abhandlung, deren Autor an anderen Stellen gerade den Vorzügen einer laikalen Hospitalleitung das Wort redet.72 Der Kanonist führt hier vor, wie man eine von oben eingeleitete Reform mit Lapus hatte wohl einen besseren Text, als es die fehlerhafte Tractatus-Ausgabe suggeriert (spätere Zitate aus dem Mandat, z. B. Lapus, Tractatus, f. 167rb Nr. 95, sind partiell korrekter). Vgl. die moderne Edition: Fierens/Tihon, Lettres d’Urbain V, 1, Nr. 1239 S. 536 – 538. Das Mandat wurde an zahlreiche Erzbischöfe geschickt, s. die Registereinträge in: Lecacheux/Mollat, Lettres secrÀtes, Nr. 1192 f. Vgl. oben, Anm. 32 f. – Eine längere Passage ist (nach der modernen Edition) zitiert und übersetzt in Frank, Spätmittelalterliche Hospitalreformen, Anm. 73. 71 Lapus, Tractatus, f. 167rb Nr. 95. Einzelheiten in Frank, Spätmittelalterliche Hospitalreformen, Anm. 73 – 77. 72 Vgl. oben, Anm. 65.

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Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

juristischen Werkzeugen zumindest partiell aushebeln kann. Doch die Passage zeigt noch etwas anderes: Durch seine Aufmerksamkeit für das Fortschreiten des Hospitalrechts in der Zeit lässt Lapus – unabhängig von den mehr oder weniger reformskeptischen inhaltlichen Ergebnissen seiner Diskussion – erkennen, dass er sich des Problems der Veränderbarkeit des rechtlichen Rahmens bewusst ist, dass er neues Recht auf eine alte Institution anzuwenden versteht und dass er damit über ein Konzept von zumindest theoretisch denkbarer Reformierbarkeit verfügt.

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Frühe Kommentare zu Quia contingit

Bei der Durchsicht anderer Auslegungen der Dekretalen Clemens’ V. werden von den bisher untersuchten Aspekten besonders zwei im Zentrum stehen: zum einen die Position der Hospitäler zwischen Kirche und Welt, zum anderen Zeitdynamiken, insbesondere die Spannung zwischen dem ursprünglichen Programm (Stifterwille) und seiner Umsetzung. Begonnen sei mit einigen der von Lapus de Castellionio zitierten, also vor 1370 entstandenen Texte. Auszugehen ist von der Glossa ordinaria des Johannes Andreae († 1348) zu den Clementinen (1322 abgeschlossen).73 Von allen ihm verfügbaren Juristen beruft sich Lapus auf diesen Bologneser Kanonisten mit Abstand am häufigsten,74 nicht nur auf die Clementinen-Glosse, sondern auch auf andere seiner Werke. Zumindest zu Quia contingit sind die Erläuterungen der Glossa ordinaria meist sehr kurz und beschränken sich häufig darauf, einschlägige oder vergleichbare Canones, Dekretalen und römische Gesetze anzuführen; nur selten weicht diese Prägnanz einer komplexeren Argumentation. Auf wichtigen Teilgebieten des Hospitalrechts ist Johannes Andreae so etwas wie das Sprachrohr des sensus communis. Zum Beispiel benutzt er Quia contingit, um nochmals auf das für alle Kanonisten zentrale Thema der Realisierung des Stifterwillens einzugehen: Diese Dekretale habe definitiv klar gemacht, dass nur der Papst den von Stifter vorgesehenen Zweck ändern dürfe.75 Auch was die Definition der Hospitäler als kirchliche oder nicht-kirchliche Institutionen be73 Iohannes Andreae, Apparatus glossarum in Clementinas, zu Quia contingit p. 112b–114b. Zu diesem Kanonisten zuletzt Murano, Autographa, S. 44 – 50. Zur Datierung s. Bertram, Clementinenkommentare. 74 Wiederholt, aber weniger oft als Johannes Andreae, werden in Lapus’ Tractatus zitiert: die Summa aurea des Hostiensis, die Clementinenkommentare von Lapus Abbas, von Jesselinus de Cassanis, Paulus de Liazariis und Guilelmus de Monte Lauduno sowie die consilia des Federicus de Senis. Dazu kommen vereinzelte Nennungen von mindestens 16 weiteren Kanonisten, Legisten (Bartolus) und Theologen (Thomas von Aquin). 75 Iohannes Andreae, Apparatus, p. 112b (ad v. »Sedis apostolice«). – In einem viel zitierten consilium lockerte der Bologneser diese Beschränkung allerdings, s. unten, Anm. 86.

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Frühe Kommentare zu Quia contingit

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trifft, liegt der Bologneser Kanonist auf der Linie der bis dahin gängigen Meinung, die er mit Bezug auf den Schlussabschnitt von Quia contingit (§ 7, Beziehungen der Hospitäler zu den Pfarrkirchen) wie folgt resümiert: Wenn kirchliche Attribute bestehen, ist die Genehmigung des Bischofs nötig und dann ist ein Hospital ein »locus religiosus«. Davon abgesehen – so fügt er unter Verweis auf Hostiensis und seinen eigenen Kommentar zu Ad haec an –, sei jeder frei, in seinem Haus Arme aufzunehmen; nur könne dort liturgisch nichts geschehen, was über Bußübungen hinausgeht.76 Was ihn an Hospitälern aber vornehmlich interessiert, sind die Rektoren; ihnen widmet er die einzigen etwas ausführlicheren Betrachtungen. Er ist auch der erste, der darauf hinweist, dass in einer früheren, vom Konzil von Vienne gebilligten Fassung der Dekretale Quia contingit Familienväter vom Rektorenamt noch ausgeschlossen waren, diese Bestimmung aber in der endgültigen Fassung getilgt wurde.77 Seiner Meinung nach wollte der Papst mit Quia contingit die Amtszeit der Rektoren befristen – daher die Ablehnung der auf Lebenszeit vergebenen Pfründen –, jedoch zeige die Erfahrung, dass Hospitalrektoren immer schon (»hodie sicut olim«) auf Dauer berufen worden seien.78 Noch vor Johannes Andreae verfasste Guilelmus de Monte Lauduno († 1343) einen viel zitierten Clementinenkommentar (1319). Er wählte aus Quia contingit79 eine kleinere Zahl von Stichwörtern aus, versah diese jedoch zumindest teilweise mit einem ausführlicheren Kommentar als sein Bologneser Zeitgenosse Johannes Andreae. Der in Toulouse lehrende Kanonist war interessiert an der Grundnorm der hospitalitas und der Frage der Zugehörigkeit der Hospitäler zur kirchlichen Sphäre, vor allem aber an den Bedingungen, unter denen der Stifterwille realisiert oder geändert werden konnte. Guilelmus braucht einen gewissen Anlauf, um diese Probleme speziell auf Hospitäler zuzuspitzen. Auch auf seinem bevorzugten Terrain, der Umsetzung der Stifterabsichten, trägt er zunächst generelle, nicht ausschließlich auf Hospitäler anwendbare Überlegungen vor: Nur der Papst darf als Oberhaupt der römischen Kirche fromme Stiftungen umlenken; jeder kann seine Stiftung so gestalten wie er will, solange er nicht gegen die Gesetze verstößt; der Bischof hat 76 Iohannes Andreae, Apparatus, p. 114b (ad v. »Altare«); so deute ich jedenfalls den knappen Satz »sed tunc poenitere posset«. Etwas ausführlicher, aber ähnlich Johannes’ Kommentar zu X 3.36.4, Ad haec (Iohannes Andreae, In tertium Decretalium librum, f. 182vb). 77 Iohannes Andreae, Apparatus, p. 113a–b (ad v. »Secularibus«). Literatur zur Redaktion der Clementinen in Frank, Spätmittelalterliche Hospitalreformen, Anm. 82. 78 Iohannes Andreae, Apparatus, p. 113b (ad v. »Committatur«). S. zum Rektorenamt auch die Glossen zu den Wörtern »Tutorum et curatorum«, »Praestare«, »Inventaria«, »Reddere rationem«, ebd., p. 114a. 79 Guilelmus de Monte Lauduno, Apparatus super Clementinas, zu Quia contingit f. 125vb–127va.

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Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

sich herauszuhalten, solange der Gründer am Leben ist, und darf die Erben frühestens ein Jahr nach dem Tod des Stifters zur Realisierung der Stiftung anhalten. Bei all dem ist von Hospitälern kaum die Rede. Guilelmus bringt als Beispiel für einen Konflikt zwischen Stifterwillen und geltendem Recht einen von anderen Kanonisten später noch oft diskutierten Fall: Eine Testatorin vermacht einem von ihr in der Kathedrale von Barcelona gestifteten Altar ihre Bestattungstücher, während die Statuten des Domkapitels solche Tücher dem Kapitel zusprechen. Seiner Meinung nach ist dem Willen der Testatorin der Vorzug zu geben.80 Erst bei der Frage nach den rechtlichen Bedingungen der bischöflichen Intervention (der Kernaussage von Quia contingit) lässt Guilelmus sich auf Hospitäler ein. Auch er unterscheidet implizit kirchliche von nicht-kirchlichen Hospitälern, gibt Letzteren aber viel größeren Raum als Johannes Andreae. Für ihn scheint der Normalfall, dass die Zuständigen ihre Aufsichtspflicht nicht vernachlässigen. Aber kann es denn überhaupt Hospitäler geben, in denen der Bischof normalerweise kein Visitationsrecht hat? Es kann: nämlich all jene Häuser, die keine signifikanten kirchlichen Attribute haben. Sie dürfen sogar über ein Oratorium mit Altar zum internen Gebrauch der Leprosen oder pauperes verfügen, das der Bischof genehmigt haben muss, doch leitet sich allein daraus kein bischöfliches Eingriffsrecht ab. Natürlich haben solche Hospitäler (für die Guilelmus keine eigene Bezeichnung nennt) keine kirchlichen Privilegien und ihre Insassen empfangen die Sakramente vom zuständigen Pfarrer.81 Man gewinnt aber den Eindruck, dass er die Grenze zwischen Gründungen mit oder ohne auctoritas episcopi für weniger wichtig hält als die zwischen Ordensspitälern (»loca religiosa« im engsten Sinn) und allen anderen Hospitälern. Die drei anderen von Lapus de Castellionio häufig zitierten frühen Clementinenkommentare stammen von Paulus de Liazariis (vor 1323?), Jesselinus de Cassanis (1323) und Lapus Abbas (nach 1338). Da diese Texte schwer erreichbar sind,82 werden hier die Exzerpte herangezogen, mit denen Johannes de Lignano 1378 seinen Clementinenkommentar aus den Beiträgen dieser und anderer älterer Kanonisten kompilierte.83 Diese Exzerpte sind im Allgemeinen verläss80 Guilelmus de Monte Lauduno, Apparatus, f. 126rb (ad v. »Apostolice sedis«), f. 126rb–va (ad v. »Statuto«), f. 126va–vb (ad v. »Compellere non omittant«). 81 Guilelmus de Monte Lauduno, Apparatus, f. 126va–vb (ad v. »Compellere non omittant«). Ähnlich im Kommentar zum Ritterordens-Paragrafen von Quia contingit, ebd., f. 127ra–rb (ad v. »Mulitarium« [sic!]). 82 Von Paulus und Jesselinus existiert kein Druck, von Lapus Abbas eine gekürzte Ausgabe (Rom 1589), die ich nicht erreichen konnte; s. Bertram, Clementinenkommentare, S. 155 f., 160. Zu Paulus zuletzt Murano, Autographa, S. 60 – 63. 83 Zur handschriftlichen Überlieferung Bertram, Clementinenkommentare, S. 150 – 152. Ich habe benutzt: Iohannes de Lignano, Commentaria in Clementinas, Clm 14014, saec. XV (zu Quia contingit f. 136vb–139rb). Außer den drei Genannten exzerpierte Johannes de

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lich,84 auch wenn Johannes († 1383) die Originaltexte häufig gekürzt hat. Jedenfalls bedeutet das, dass die Verantwortung für die Auswahl der kommentierten Stichwörter nicht bei den Verfassern selbst, sondern bei Johannes de Lignano liegt. Diesen interessierten im Fall von Quia contingit vor allem die Kommentare seiner Vorgänger zu § 2 (Befehl an die zuständigen Kollatoren), § 4 (Verpfründungsverbot) und – weniger deutlich – § 1 (Narratio). Es seien hier die beiden Hauptthemen der frühen Clementinenkommentare am Beispiel von zwei Autoren herausgegriffen: die bereits mehrfach aufgeworfene Frage der Realisierung des Stifterwillens und das Rektorenamt. Erstere erläutert Johannes de Lignano vor allem durch die Feder von Lapus Abbas (Lapus Tactus, † nach 1360), Abt von S. Miniato bei Florenz, Lehrer des Lapus de Castellionio, der ihn im Tractatus hospitalitatis im selben thematischen Zusammenhang zitiert hatte.85 Lapus Abbas diskutiert unter dem Stichwort »ad illum [usum]« – dem Passus, in dem Quia contingit (§ 1) einschärft, dass das urspüngliche Programm einer frommen Stiftung prinzipiell zu beachten ist – die Bedingungen für nachträgliche Eingriffe in den Stifterwillen. Er plädiert für eine strenge Auslegung der Regel, die, sofern die Stifterabsicht realisierbar ist, allein vom Papst umgangen werden kann; nicht einmal ein päpstlicher legatus a latere habe eine Vollmacht dazu. Damit stellt er sich gegen Johannes Andreae, der – so Lapus Abbas – zusammen mit anderen Doctores in einem consilium zugestanden habe, dass ein von einem Testator gewünschtes Hospital von den Exekutoren mit Zustimmung des Bischofs in einen Konvent umgewandelt werden könne, weil das »Größere und Bessere« (der Konvent) das Hospital einschließe. Gegen diesen Rekurs auf die Mengenlehre spricht nach Lapus jedoch die Maxime »ultima voluntas pro lege servanda est«, die Johannes Andreae an anderer Stelle selbst hochgehalten habe.86 Von Paulus de Liazariis († 1356) exzerpiert Johannes de Lignano unter anderem eine Passage zur Rechtsstellung der Rektoren und zu den Anforderungen an das Amt. Nach einem längeren prozessrechtlichen Exkurs und einer solide begründeten Ablehnung von Religiosen als Hospitalleitern plädiert Paulus für laikale Rektoren, sofern das fragliche Hospital keine cura animarum habe. Aber es gelte ja ohnehin, dass »die Verwalter solcher Institute weder Sakramente spenden noch Gottesdienst halten, sondern lediglich die Einkünfte zum Gebrauch der bedürftigen Personen verteilen«.87 Auch die von Quia contingit

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Lignano noch Guilelmus de Monte Lauduno, Stephanus Hugoneti und Mattheus Romanus. Zu Johannes s. zuletzt Murano, Autographa, S. 87 – 101, hier 95 f. (Beitrag von A. Bartocci). Vgl. das Beispiel bei Bertram, Clementinenkommentare, S. 167 – 174. Lapus, Tractatus, f. 166rb, Nr. 67 (u. Nr. 65 – 66). Lapus Abbas, exzerpiert von Iohannes de Lignano, Commentaria, f. 139ra–rb. Paulus de Liazariis, exzerpiert von Iohannes de Lignano, Commentaria, f. 137vb (ad v.

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Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

postulierte Analogie zur Figur des Vormunds spreche für eine Bevorzugung laikaler Rektoren. Das Problem stelle sich im Übrigen nur bei Hospitälern, die in kirchlicher Hand seien (»in hospitalibus traditis in potestate persone ecclesiastice«),88 nicht bei den anderen, bei denen die Führung durch Laien ohnehin selbstverständlich sei. Zu beachten ist hier die Verschiebung der zeitlichen Perspektive: Nicht die Mitwirkung des Bischofs an der Gründung, sondern die Trägerschaft in der Gegenwart ist entscheidend. Paulus nimmt das von der Dekretale ausgesprochene Verpfründungsverbot sehr ernst und betont die Absicht des Gesetzgebers, die Übertragung von Hospitälern als kirchliche Titel an Kleriker zu verhindern. Das Amt eines Hospitalrektors sei als »gubernatio« zu charakterisieren, nicht als »titulus ecclesiasticus«; denn wo die »subventio pauperum« im Mittelpunkt stehe, entfallen die Rechtsgründe, aus denen ein Gut als kirchliche Pfründe vergeben wird (Versorgung eines Klerikers, Liturgie).89 Kurz: In den dem Tractatus hospitalitatis vorausgehenden, in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts verfassten Kommentaren zu Quia contingit ist die Unterscheidung der kirchlichen Hospitäler (»loca religiosa«) von den anderen präsent, scheint aber ebensowenig Anlass zu einer Problematisierung gegeben zu haben wie der von den älteren Rechtsquellen bereitgestellte Begriff »locus pius«. Eine Ausnahme ist hier allenfalls Paulus de Liazariis mit seinem Plädoyer für laikale Rektoren auch in kirchlichen Hospitälern. Die Bedingungen der Veränderbarkeit von Hospitälern werden im Rahmen einer nachträglichen Umwandlung der Stiftungszwecke diskutiert, nicht als Reflexion auf die Normenproduktion oder auf die rechtliche Einhegung des vom historischen Prozess verursachten Wandels (auch wenn Johannes Andreae die Differenz von historisch gewordener Realität und Sollzustand ausdrücklich anspricht). Dass dem Stifterwillen grundsätzlich zu folgen ist, ist für die frühen Kommentatoren der Clementinen, abgesehen von Johannes Andreae, ein unumstößliches Prinzip.

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Kommentare zu Quia contingit um 1400

Die gegen Ende des 14. und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts geschriebenen Clementinenkommentare unterscheiden sich von ihren Vorgängern des frühen 14. Jahrhunderts schon durch ihre größere Länge. Die als sedes materiae des Hospitalrechts etablierten Dekretalen – De xenodochiis, Ad haec und Quia contingit – wurden immer stärker im Zusammenhang gesehen, die »Clericis secularibus«): »gubernatores enim talium locorum sacra non conferunt nec divina celebrant, sed simpliciter proventus dispensant in usus miserabilium personarum.« 88 Paulus de Liazariis, exzerpiert von Iohannes de Lignano, Commentaria, f. 137vb. 89 Paulus de Liazariis, exzerpiert von Iohannes de Lignano, Commentaria, f. 137vb–138ra (ad v. »In beneficium«).

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Kommentare zu Quia contingit um 1400

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beiden kurzen Texte aus dem Liber Extra im Licht der späteren Clementine interpretiert. Im Zentrum stehen hier zwei Autoren, Bonifacius Ammannati und Franciscus Zabarella.90

Bonifacius Ammannati Bonifacius Ammannati († 1399) verfasste seinen Clementinenkommentar nach 1388 in Avignon.91 Das Werk ist wenig verbreitet (nur eine Handschrift), die beiden Druckausgaben des 16. Jahrhunderts92 nennen den Autor Bonifacius »de Vitalinis«. Doch was das Hospitalrecht betrifft, verdienen die Anmerkungen dieses Laien, der eigentlich Legist war und 1397 in Avignon zum Kardinal erhoben wurde, zu Quia contingit eine genauere Lektüre, denn sie bringen Bewegung in einige zentrale Begriffe. Er ist der erste, der Quia contingit sinnvollerweise in sieben statt in die seit Johannes Andreae üblichen vier Abschnitte zerlegt. Er geht nicht mehr nach Stichwörtern vor, sondern versieht den Text zuerst mit 34 Anmerkungen (»nota primo« usw.), um dann mit einer Reihe von conclusiones, die an Paulus de Liazariis und Lapus Abbas angelehnt sind, zu enden. Den Tractatus hospitalitatis des Lapus de Castellionio scheint er noch nicht gekannt zu haben. Bonifacius spricht systematisch von »hospitalia et alia pia loca«. Besonders auffällig aber ist, dass er den Begriff »cura« als einen Oberbegriff verwendet, der »loca pia« und Pfarrkirchen vergleichbar macht: Sie alle sind »curata«, doch während den Pfarrkirchen die »cura spiritualium« obliegt, haben die Hospitäler die »cura temporalium«. Anders ausgedrückt: Beide leisten eine »cura activa«, die Hospitäler jedoch für die Körper, die Pfarrkirchen für die Seelen.93 Eine Umwandlung des »usus pius«, für den ein Hospital gestiftet wurde, ist auch für Bonifacius ausgeschlossen (es sei denn auf Anordnung des Papstes). Während bei anderen Institutionen das Recht Umwidmungen durchaus zulasse, sei dies bei Hospitälern nicht denkbar, denn dort gehe es um die »Funktion der Hospitäler für die Bedürftigkeit der Armen«, von der nicht abzugehen sei.94 90 Bemerkungen zu weiteren Clementinenkommentaren des 15. Jh.s von Petrus de Ancarano, Johannes de Imola und Panormitanus in Frank, Spätmittelalterliche Hospitalreformen, Anm. 121 – 125. 91 Zu ihm s. Maffei, Profilo; Bartocci, Un opuscule, S. 430 – 433, 442 f. Bonifacius erwähnt Avignon im Kommentar zu Quia contingit, s. unten, Anm. 95. 92 Neben dem hier benutzten Lyoner Druck Bonifacius, Lectura (1522) existiert eine Venezianer Ausgabe von 1574. 93 Bonifacius, Lectura, f. 157vb Nr. 1 – 4. 94 Bonifacius, Lectura, f. 157vb–158ra Nr. 14 – 16: »effectum hospitalium propter indigentiam pauperum« (f. 158ra Nr. 16). Begründet wird das vorwiegend mit römischen Gesetzen, nicht mit den von Kanonisten zum selben Zweck herangezogenen Sätzen aus Decr. Grat. (z. B. C. 13

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Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

Nach einigen Absätzen, in denen er die Interventionsmöglichkeiten der Bischöfe nach Quia contingit darlegt, allerdings tendenziell eingrenzt und ein vorschnelles Rufen nach dem weltlichen Arm kritisiert,95 geht er auf das Verbot ein, Rektorenstellen als Pfründen auszugeben. In diesem wichtigen Abschnitt kommt Bonifacius auf den Begriff der cura zurück: Wenn Hospitäler nicht als Pfründen an Weltkleriker übertragen werden dürfen, dann sind sie folglich an Laien zu vergeben, weil die »cura pauperum« der »cura« eines Familienvaters ähnlich sei und der Rektor eines Hospitals sich um die Temporalia zu kümmern habe.96 Was aber ist mit den Ordensleuten? Bonifacius versucht Innocenz’ IV. Aussage, dass Religiosen Hospitäler leiten dürfen (wie man an Leprosengemeinschaften sehe), mit der traditionellen Norm zu vereinbaren, die es Regularklerikern verbietet, ihre Klöster zu verlassen (etwa als Hospitalleiter). Deshalb trifft er eine Unterscheidung zwischen »regularis« und »religiosus«: »religio« stehe »pro quadam bene vivendi ratione«, und in diesem Sinne sei das Amt der Hospitalrektoren ein religiöses Amt, jedoch nichts für Regularkleriker (Kanoniker, Mönche) – außer im Fall von Ordensspitälern. Die anerkannte Ausnahme, dass Mönche sich im Dienst der Seelsorge aus ihren Klöstern entfernen dürfen, zähle hier nicht, eben weil Hospitäler sich der »cura corporum« widmen. Weltkleriker dürfen zwar Hospitäler leiten, jedoch zu denselben Bedingungen wie Laien, denn Hospitäler sind keine kirchlichen Pfründen; sie sind aber dennoch »religiosa, omni veneratione digna«.97 Auf terminologischer Ebene ist das ein neuer Ton: Beachtlich ist insbesondere die Loslösung des Begriffs »religiosus« von der Welt der kirchlichen Institutionen. Bonifacius öffnet einen Raum, in dem das Religiöse sich nicht nur von der kirchlichen Sphäre entfernt, sondern durch Vermittlung der »verehrungswürdigen« (»omni veneratione digna«) Institution des Hospitals sogar mit dem Körper (»cura corporum«) verbunden werden kann. Er führt diese fast experimentell wirkende Umdeutung des Religiösen allerdings nicht konsequent weiter. Im Zusammenhang mit den kirchlichen Funktionen eines Hospitals bleibt er zwar zunächst dabei, dass hier etwas Spirituelles (Friedhof, Altar) etwas Zeitlichem (dem Hospital) zugeordnet würde (»spirituale accedit temporali«98), nicht umgekehrt. Daraus folge wiederum, dass ein

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q. 2 c. 4 Ultima voluntas) oder X 3.26 (De testamentis), c. 17. Vgl. auch Bonifacius, Lectura, f. 159va Nr. 110 – 116. Tadel der zu raschen Einschaltung des »brachium seculare« durch kuriale Richter in Avignon: Bonifacius, Lectura, f. 158ra Nr. 32. Bonifacius, Lectura, f. 158ra–rb Nr. 33 – 35. Den Vergleich zwischen Hospitalrektor und paterfamilias hatten bereits Johannes Andreae (Apparatus, p. 113b, ad v. »Secularibus«), Paulus de Liazariis und Mattheus Romanus gezogen (beide hier nach den Exzerpten in Iohannes de Lignano, Commentaria, f. 137vb u. 138vb). Bonifacius, Lectura, f. 158rb Nr. 35 – 40. Bonifacius, Lectura, f. 158vb Nr. 79 – 80.

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Kommentare zu Quia contingit um 1400

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Hospital ein »locus religiosus« sei, sonst könne es nicht über geistliches Zubehör verfügen. Da er dann aber doch wieder an der traditionellen Bestimmung festhält, dass nur ein mit bischöflicher Autorität gegründetes Hospital ein »locus religiosus« sei, läuft das auf die zirkuläre Schlussfolgerung hinaus, dass nur ein solches Hospital geistliches Zubehör haben könne und von Dauer sei; ohne Mitwirkung des Bischofs handele es sich lediglich um einen »locus penitentie« (vgl. Johannes Andreae), der im Wortsinne »temporale«, nämlich befristet sei. Bonifacius zitiert Hostiensis, der gesagt hatte, »religiosus est hospitalis largo modo sumendo religionem«, nutzt diese Bemerkung hier aber nicht zu einer Fortentwicklung des Begriffs religiosus, sondern deutet sie so, dass damit lediglich die Differenz zwischen Ordensspitälern und einem weiteren Kreis von anderen (aber eben bischöflich genehmigten) Hospitälern gemeint sei.99 Ebenfalls nicht konsequent zu Ende gedacht, aber dennoch bemerkenswert ist die von Bonifacius an anderer Stelle vertretene Auffassung vom Zugriff des Rechts auf die Zeit. Er betont, dass die Aufhebung aller consuetudines, die eine Verpfründung begünstigen, sich nur auf vergangene, nicht auf zukünftige Gewohnheiten bezieht. Zwar sei die ursprünglich für ein Hospital getroffene Regelung der Maßstab und müsse gegebenenfalls restituiert werden, aber das schließe einen Wandel nicht aus. Die Sache muss im ursprünglichen Zustand bewahrt werden, und dem steht nicht entgegen, [dass] etwas sich verändern muss, denn die bei der Gründung dieser Einrichtungen erlassenen Statuten bleiben hier unangetastet (Dig. 2.14.48; Cod. 3.42.8; Cod. 8.54.3), nicht aber die Umstände, die sich »accidentaliter« einstellen (Dig. 50.1.17.3; Cod. 8.47.10.1d). […] Und auch Dig. 1.1.6 steht dem nicht entgegen, wo die zivilen Rechte, die ja »accidentalia« sind, als stärker angesehen werden als das Naturrecht und das Recht der Völker, die ursprünglich da waren; denn jenes betrifft die religiösen Gebräuche und das, was von den Grundbedingungen der Rechte festgelegt wird, und so ist es hier. Daher gilt: So wie der Autor [Clemens V.] das Ursprüngliche bewahrt und von den »accidentalibus« abkommt, so hätte er umgekehrt auch die »accidentalia« bewahren und das Ursprüngliche außer Kraft setzen können (X 3.8.4; Dig. 1.4.1).100 99 Bonifacius, Lectura, f. 159ra Nr. 81 – 84. Das Hostiensis-Zitat ist ungenau. Es stammt auch nicht aus dem Absatz »Quid de rusticis« im Kommentar der Summa aurea zum Titel De regularibus, wie Bonifacius schreibt, sondern aus dem Kommentar zu De ecclesiis edificandis, s. Hostiensis, Summa, col. 1208: »talis locus [ein Hospital ›sine auctoritate episcopi‹] […] nec gaudebit ecclesiastica libertate, quamvis largo modo religiosus intelligatur.« – Zum Begriff »locus penitentie« vgl. oben, Anm. 76. 100 Bonifacius, Lectura, f. 158rb Nr. 42 – 43: »Nota vicesimo quod res debet conservari in statu primordiali, nec ob(stat) [quod] illud debet alterari, quia statuta edita in fundatione horum locorum hic manent firma (argu. l. in traditionibus ff. de pac. [Dig. 2.14.48]; l. penult. C. ad exhi. [Cod. 3.42.8]; l. quotie[n]s C. de do. que sub modo [Cod. 8.54.3]), non autem conditiones que accidentaliter contigerunt (concordat l. libertus § prescriptio ff. ad municipia [Dig. 50.1.17.3] et l. cum in adoptivis in prin. et § sed ne articulum C. de adop.

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Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

Bonifacius bedient sich hier, unter intensivem Rekurs auf römische Gesetze, des Begriffs der Akzidentien: Spätere Abweichungen (»accidentalia«) vom Kern des anfangs Festgesetzten kommen vor und können wieder rückgängig gemacht werden, was offenbar die Absicht des Autors von Quia contingit sei. Doch berechtigt Dig. 1.1.6 – ein Satz Ulpians, der das Zivilrecht als besonderes Recht von den allgemeinen Rechtsquellen (ius naturale, ius gentium) abhebt – dazu, auch das umgekehrte Vorgehen für denkbar zu halten: nämlich den historischen Wandel gegenüber dem ursprünglichen Zustand zu stärken. Diese Aussage verdient hervorgehoben zu werden, weil sie Innovationen rechtlich absichert: Ein kanonistisch arbeitender Legist entwickelt ein Argument dafür, dass Reform nicht nur im Gewand der Rückkehr zu den besseren Anfängen denkbar ist, sondern auch als auf die Zukunft gerichtete reformatio in melius.

Franciscus Zabarella Franciscus Zabarella († 1417),101 der Paduaner Kanonistikprofessor und spätere Kardinal Papst Johannes’ XXIII., schloss 1402 einen umfangreichen Clementinenkommentar ab, in dem allein der Dekretale Quia contingit mehr als sechs Folio-Druckseiten gewidmet sind.102 Er ist der erste der hier behandelten Kanonisten, der den Tractatus des Lapus de Castellionio gelesen hat; er zitiert ihn zwar nicht zu Quia contingit, aber in seinem Kommentar zum Liber Extra.103 Zabarella teilt Quia contingit in sechs größere Teile mit jeweils eigenen Summarien (sowie in zwei kleinere Unterabschnitte). Die sechs Teile gliedern sich in eine Reihe von nummerierten Notabilia sowie in nummerierte oppositiones und/ oder questiones, in denen einzelne der in den Notabilia genannten Punkte vertieft werden. Im Vergleich zu Bonifacius Ammannati orientiert sich Zabarellas Kommentar, der wohl auf seine Lehrtätigkeit zurückgeht, enger am Ausgangstext. [Cod. 8.47.10.1d]) […]. Nec obstat l. ius civile ff. de iusti. et iure (Dig. 1.1.6), ubi iura civilia, que sunt accidentalia, sunt fortiora iuri naturali et iuri gentium, que sunt primordialia, quia illud est quo ad observantiam et circa ea que statuuntur a iurium conditione, et ita hic. Unde sicut autor preservat primordialia et derogat accidentalibus, ita e contra poterat preservasse accidentalia et derogasse primordialibus (argu. c. proposuit de conces. preben. [X 3.8.4] et l. in princi. ff. de constitu. princi. [Dig. 1.4.1])«. – Vgl. zu dieser Innovationsfreudigkeit aber oben, Anm. 94. 101 Zu ihm Girgensohn, Francesco Zabarella; zuletzt Murano, Autographa, S. 121 – 127. 102 Franciscus Zabarella, Commentaria, f. 122vb–126ra. Nach Murano, Autographa, S. 122, hat er den Clementinenkommentar bereits vor 1391 begonnen. S. auch Bartocci, Un opuscule, Anm. 89. 103 Franciscus Zabarella, Lectura, f. 190rb–va (zu X 3.36.3) u. 190va–191rb (zu X 3.36.4). Zur Problematik der Druckausgaben dieses Werks s. Girgensohn, Francesco Zabarella, S. 251 – 254.

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Kommentare zu Quia contingit um 1400

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Vom Tractatus hospitalitatis abgesehen, ist dies bis dahin die umfangreichste Auseinandersetzung mit dem Hospitalrecht. Der Paduaner Kanonist bietet einen soliden Überblick über die Debatte, gelangt in einzelnen Punkten aber zu prononcierten Urteilen. So betont er unter Berufung auf die zehn Gebote die unveräußerliche Grundnorm der »opera humanitatis« (bewusst mit dieser Wortwahl), nach welcher Hospitäler handeln müssen. Gegen diejenigen, die die Erfüllung dieser Norm verhindern, sei die Anrufung des weltlichen Arms vollauf gerechtfertigt.104 Er verwirft mit Lapus Abbas den Vorschlag des Johannes Andreae, dass die Mittel für die Gründung eines Hospitals auf einen Konvent umgelegt werden können, weil eine Religiosengemeinschaft ein größeres und besseres Ziel sei. Das topologische Bild sei zwar richtig, aber damit allein mache man es sich zu leicht: »Es ist nicht einfach wahr, dass es mehr ist, eine Ordenskirche zu errichten als ein Hospital; sondern vielmehr sind beide unterschiedliche Werke der Frömmigkeit, die sich zueinander verhalten wie Überschreitendes und Überschrittenes.«105 Es ging Zabarella folglich nicht so sehr um die Bewahrung des ursprünglichen Programms als um den Eigenwert eines Hospitals als frommes Werk. Der Paduaner interessiert sich besonders für die rechtlichen Bedingungen der Kontrolle der Rektoren durch die Bischöfe oder die anderen zuständigen Instanzen,106 für ihre Bestellung und ihre Amtsdauer, wobei er überzeugt ist, dass eine unbefristete Beauftragung im Sinne der Professionalität der Verwaltung vorzuziehen sei.107 Doch nach terminologischen Experimenten steht ihm der Sinn offenbar nicht. Insbesondere sagt er wenig über den kirchlichen bzw. weltlichen Charakter von Hospitälern. Eher am Rande geht er darauf im Zusammenhang mit der Frage ein, ob Hospitäler dem Bischof Abgaben zahlen müssen. Wenn ein Hospital kein »locus ecclesiasticus« ist, bestehe kein Zweifel an seiner Abgabenfreiheit (und damit auch an der Befreiung von bischöflichen Visitationen); als »locus ecclesiasticus« hingegen müsste es derlei Abgaben, zum Beispiel das cathedraticum, eigentlich zahlen, aber bisher sei es üblich, Hospi104 Franciscus Zabarella, Commentaria, f. 122vb–123ra, »Octavo no(ta)« (»opera humanitatis«); f. 122vb, »Quinto no(ta)«; f. 124rb, § »Contradictores«: »Secundo quero« (»brachium seculare«). 105 Franciscus Zabarella, Commentaria, f. 123va, »Quarto quero«: »Item non est verum simpliciter quod facere ecclesiam religiosorum sit plus quam facere hospitale, sed potius hec sunt diversa pietatis opera que se habent tanquam excedentia et excessa; per hoc quod dixi de reg(ularibus), sane (X 3.31.10)« (Hervorhebung Th. F.). Vgl. oben, Anm. 86. Zum Verbot der Zweckentfremdung s. weitere Belege in Frank, Spätmittelalterliche Hospitalreformen, Anm. 111. 106 Franciscus Zabarella, Commentaria, f. 123rb–123va, »Quarto oppongo«. 107 Franciscus Zabarella, Commentaria, f. 125rb, »Decimoquarto quero: […] ut habeant affectionem ad loca et sint in regimine melius instructi et ex longiori tempore; nam expertum est, quod crebra mutatio rectorum loca consumit.« Das Thema umfasst den gesamten § »Ut autem«, f. 124va–125rb.

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Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

täler davon generell auszunehmen.108 Auffällig ist hier vor allem, dass ihm der Unterschied zwischen »nicht-kirchlich« und »kirchlich« nicht einmal erklärungsbedürftig scheint. Zu diesem Thema äußert sich Zabarella jedoch in seinem 1404 – 1410 entstandenen Dekretalenkommentar ausführlicher. An die Dekretale Ad haec stellt er die Frage, wann ein Hospital ein »locus religiosus« ist. Die Antwort bleibt zunächst im Rahmen des Üblichen: wenn es mit Autorität des Bischofs gebaut wurde, andernfalls nicht.109 Eine genauere Analyse ergebe jedoch, dass ein Privatmann (»privatus«) durchaus einen »locus religiosus« installieren könne; die entscheidende Grenze verlaufe zum »locus ecclesiasticus«. So sei ja schon längst festgestellt worden (zum Beispiel durch Papst Innocenz IV.), dass es jedermann freistehe, ein Hospital mit Oratorium zu errichten, nur dürfe dieses nicht die Form einer Kirche haben und es dürfe dort ohne bischöfliche Erlaubnis kein Gottesdienst stattfinden. Dieses Modell (»religiosus« vs. »ecclesiasticus«) wird sodann der Probe des Faktischen ausgesetzt. Zabarella berichtet über ein Gutachten, das er zu folgendem Fall gemacht hatte: Eine wohltätige Bruderschaft (»quaedam societas instituta ad pauperes et infirmos recipiendos«110) hat mit Erlaubnis des Bischofs ein Oratorium gebaut, aber ausdrücklich abgelehnt, dass sie oder das Oratorium deshalb als kirchlich anzusehen sei. Danach hat sie vom Bischof verlangt, dass dort das volle liturgische Programm zugelassen wird, ohne damit zuzugeben, einen »locus ecclesiasticus« schaffen zu wollen. Obwohl nach traditioneller Ansicht eigentlich alles dafür spräche, dass das Oratorium als kirchliche Institution eingestuft werden muss, gelangt der Gutachter zur gegenteiligen Auffassung: »Contrarium consului«, und zwar mit dem Hauptargument, dass die Gründer Laien waren. »Die von ihnen geschaffene Einrichtung muss als profan eingeschätzt werden, weil die Einrichtungen den Personen zugeordnet werden, nicht umgekehrt.« Kreativ begründet wird dieser Satz mit zwei Canones, die bei Gratian den Vorrang der inneren Einstellung vor der äußeren Würde eines Ortes sichern sollten.111 Die Initiatoren hätten von Beginn an ihre Absicht deklariert, keine kirchliche Institution schaffen zu wollen, und das sei berechtigt, weil das Oratorium nämlich nicht als kirchliches erbaut worden sei und der Bischof nicht den Grundstein gelegt habe, »quod fieri debet in loco ecclesiastico«. Es gebe zwei Arten von Oratorien: öffentliche und private. Öffentliche seien »non […] sine autoritate episcopi« zu errichten, bei privaten sei die bischöfliche auctoritas 108 109 110 111

Franciscus Zabarella, Commentaria, f. 124ra, »Duodecimo quero«. Franciscus Zabarella, Lectura, f. 190va. Franciscus Zabarella, Lectura, f. 190vb, »Tertio quero de questione facti«. Franciscus Zabarella, Lectura, f. 190vb: »Locus ergo per eos constitutus debet censeri prophanus quia loca personis accedunt, non e converso, 42 di. nos qui et c. non. loca (Decr. Grat., Dist. 40[!] c. 3 u. 4)«. Vgl. Friedberg, Corpus 1, col. 145 f.

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nicht notwendig, könne aber fakultativ erteilt werden, ohne dass das Oratorium deshalb kirchlich würde. Nur wenn es öffentlich oder »sacrum« sei, dürfe es definitiv nicht mehr profanen Zwecken zugeführt werden.112 Für die Bruderschaft bedeute das, dass sie in ihrem »oratorium predictum prophanum« mit einem Tragaltar die Messe feiern, allerdings keinen festen Kleriker dotieren und keine sichtbaren kirchlichen Attribute wie Glockenturm und Glocke errichten dürfe; denn dann würde das Oratorium als regelrechte Kirche wahrgenommen, wäre also ein öffentlicher »locus ecclesiasticus«. Neu in den Überlegungen des Franciscus Zabarella ist zum einen eine präzisere, enge Definition der Formel »cum auctoritate episcopi«: Nachträgliche Zustimung wirkt sich nicht auf den Rechtsstatus einer Institution aus, vielmehr ist eine aktive Mitwirkung, ja Initiative des Diözesans bei der Gründung erforderlich, bekundet durch die Grundsteinlegung. Zum anderen zieht er eine neue Grenze zwischen einer im engeren Sinne »kirchlichen« (»locus ecclesiasticus«) und einer weiteren »religiösen« Sphäre (»locus religiosus«) , eine Differenz, mit der die Unterscheidungen zwischen öffentlich oder heilig (»publicum«, »sacrum«) auf der einen und privat oder profan (»privatum«, »prophanum«) auf der anderen Seite korrespondieren, aber nicht identisch sind. Diese Grenzziehung eröffnet nicht-kirchlichen Hospitälern, ähnlich wie bei Bonifacius Ammannati, einen neuen Raum. Sie verdeutlicht, was Zabarella meinte, als er davon sprach, eine Ordenskirche und ein Hospital seien »unterschiedliche Werke der Frömmigkeit«: Beide sind religiös, aber das Hospital nicht unbedingt kirchlich, und beiden kommt die gleiche Würde zu.

7.

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Dies war in etwa der Stand der juristischen Debatte zum Hospitalrecht, als um die Mitte des 15. Jahrhunderts in Italien und Südfrankreich ernsthafte Versuche einsetzten, die städtischen Hospitallandschaften zu reformieren und mit neu errichteten Ospedali Grandi umzustrukturieren. Eine der Städte, die um 1450 Schauplatz eines solchen Bemühens um Konzentration und effizientere Verwendung der Hospitalressourcen wurden, ist Avignon – derselbe Ort, von dem aus die Päpste Clemens V., Benedikt XII. und Urban V. seit 1312/1317 eine systematische Reform der europäischen Hospitäler angestoßen hatten. Ob Clemens V. in Avignon selbst auf jene Missstände aufmerksam geworden war, 112 Franciscus Zabarella, Lectura, f. 190vb, Nr. 2. Die Bezeichnung eines öffentlichen Kultorts als »sacer« im engeren Sinne, im Unterschied zu einem (vom Bischof genehmigten) »locus religiosus« im weiteren Sinne findet sich schon bei Hostiensis, Summa aurea, col. 1150 f. (zu De religiosis domibus).

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Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

denen er mit seiner Dekretale Quia contingit abhelfen wollte, ist offen. Sicher ist jedoch, dass Anfragen in diesem Sinn auch von unten und von auswärts gekommen waren (Lokalsynoden) und das Konzil von Vienne darauf reagiert hatte, bevor der Papst den in Vienne formulierten Kanon in seiner Dekretalensammlung leicht modifiziert in Kraft setzte. Ziel dieser päpstlichen Reform war es, die karitativen Grundfunktionen zu garantieren, die Verwaltung zu verbessern und die Wirtschaftskraft zu steigern. Um all dies unter einen Hut zu bringen, haben die Päpste eine Beteiligung der Laien nicht nur akzeptiert, sondern gefördert; die Mitwirkung der Laien sollte jedoch im Rahmen der kirchlichen (bischöflichen) Kontrolle verbleiben, die zu sichern ein wichtiges Ziel von Quia contingit war. Was haben die Juristen zu dieser frühen Phase der Hospitalreformen beigetragen und wie haben sie die Reformen des 15. und 16. Jahrhunderts vorbereitet? Es geht hier im Wesentlichen um die institutionellen Aspekte, nicht um die medizinischen oder sozialen Seiten des Hospitallebens, zu denen die Juristen sich kaum direkt geäußert haben. Die Legisten vertieften die Materie allenfalls im Hinblick auf zivilrechtliche Gesichtspunkte (zum Beispiel Fragen des Erbrechts), und wenn sie sich gründlicher mit dem Hospitalrecht auseinandersetzten, dann deshalb, weil sie – wie Baldus – die kanonistische Diskussion im Blick hatten. Dass die Hauptdiskussion im kanonistischen Bereich stattfand, erklärt sich schon aus Gründen der fachlichen Zuordnung: Der wichtigste normative Text zum Hospitalrecht, Quia contingit, gehörte nun einmal ins Kirchenrecht und musste daher in erster Linie von Kirchenrechtlern kommentiert werden (aber wie Bonifacius Ammannati beweist, war Interdisziplinarität möglich). Insofern diese und die anderen einschlägigen Dekretalen ihrerseits Produkt kanonistischer Reflexion sind und Quia contingit selbst ein Reformtext ist, kann generell von einem aktiven Beitrag der Kanonistik zur Hospitalreform des 14. Jahrhunderts gesprochen werden. Dies auch deswegen, weil die Rezeption der Clementine durch die Nachwelt vorwiegend von der Arbeit der Doctores abhing; andere mit Hospitälern befasste Texte (Urkunden, Predigten) machten bis zum 16. Jahrhundert keinen sehr regen Gebrauch von ihr. Wenn man jedoch auf die inhaltliche Diskussion einzelner Reformziele blickt, so erweist sich der Beitrag der Kanonistik rasch als ambivalent, denn sie wirkte nicht selten als Reformbremse. Das mag zum einen mit der erstaunlichen Stabilität hospitalrechtlicher basics zusammenhängen, die zum Teil schon im Codex Iustiniani fixiert worden waren (vor allem die Kontrollrechte der Bischöfe, aber auch die Grundnorm der hospitalitas) und im Mittelalter weitergereicht wurden. Zum anderen war der hohe Wert, den das Kirchenrecht dem Schutz frommer Stiftungen und damit der Intention der Stifter einräumte, ein geeignetes Mittel, um jeglichen Versuch, die Verhältnisse zu verändern, zu blockieren. Eines der

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wirksamsten Argumente gegen Reformen, die eine Rationalisierung der Verwaltung durch Auflösung und Verschmelzung kleinerer Hospitäler vorsahen, war der Hinweis auf die dadurch bewirkte Verletzung des Stifterwillens. Alle hier vorgestellten Texte äußern sich zu diesem Thema, fast alle Autoren stoßen in dieses Horn, fast alle sind der Meinung, dass nur der Papst die Macht hat, den als »lex« betrachteten Willen des Stifters abzuändern. Es gibt, so gesehen, gute Gründe für die Schlussfolgerung, dass Hospitalreformen (und Reformen im Allgemeinen) sich im späten Mittelalter nur gegen die starken Beharrungskräfte des Kirchenrechts durchsetzen ließen. Es sollte jedoch deutlich geworden sein, dass diese Schlussfolgerung nur die halbe Wahrheit erfasst. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich erstens, dass selbst über die Bewahrung des Stifterwillens kein absoluter Konsens bestand. Manche Autoren, in der hier getroffenen Auswahl Johannes Andreae, ersannen Deutungen, die eine flexiblere Anwendung dieser Norm ermöglichten. Zweitens zögerten die Kanonisten nicht, die Anforderungen an das Amt der Hospitalrektoren hoch zu schrauben, wie es ein der christlichen caritas verpflichtetes Amt ja auch nahelegte. Die damit erzeugte Differenz zwischen Anspruch und Realität war ein Einfallstor für Reforminitiativen. Drittens schmiedeten die Kanonisten auf einem wichtigen Feld des Hospitalrechts – der bischöflichen Kontrollkompetenz – Werkzeuge, die zwar nicht unbedingt für Reformen eingesetzt werden mussten, aber in der Hand eines Reformers doch nützliche Dienste leisten konnten. Allerdings deuteten sie den Wirkungsgrad dieser Werkzeuge unterschiedlich: Während Lapus de Castellionio den Bischöfen eher weitgehende Rechte einräumte, setzte Guilelmus de Monte Lauduno auf die Selbstkontrolle der Hospitalpatrone und Franciscus Zabarella gutachtete für die Unabhängigkeit eines weit gefassten Kreises ›privater‹ Kirchen (und e fortiori Hospitäler) vom Diözesan. Die hier aufscheinenden Ambivalenzen sind nicht einfach Resultat von Meinungsverschiedenheiten, sondern entstehen dadurch, dass die von den Rechtsgelehrten ausgearbeiteten Konzepte oftmals inhaltlich neutral sind und sich deshalb in diese oder jene Richtung lenken lassen. Das gilt selbst für das scheinbar eiserne Festhalten am Stifterwillen: Man kann dieses Konzept zwar gegen spätere Eingriffe in Stellung bringen, man kann aber ebenso die ursprünglich guten Stifterintentionen mit späteren Abweichungen kontrastieren und damit gerade zum Reformmotor machen; Beispiele für diese zweite Position werden in den folgenden Fallstudien mehrfach zu finden sein. Demnach war die Jurisprudenz in der Lage, eine Reform entweder zu zerreden oder ihr zu einer (maßvollen) Wirksamkeit zu verhelfen. Es sei an Lapus de Castellionio erinnert, der mit seiner Interpretation des Reformmandats Urbans V. beide Möglichkeiten vorführt: Das Mandat lässt sich so lesen, dass es praktisch wirkungslos ist, oder aber so, dass die anvisierten Maßnahmen immerhin teilweise greifen. Und

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Die juristische Diskussion um das Recht der Hospitäler

Bonifacius Ammannati hält zwei gegensätzliche Modi der Verbesserung von Hospitälern für rechtlich denkbar : die Rückkehr zum ursprünglichen Rechtszustand oder aber die Anerkennung und Inkraftsetzung späterer Änderungen. Nicht nur lassen sich Gesetze und Rechtssätze auf die eine oder andere Weise interpretieren, auch fehlt es den von den Juristen gewählten Begriffen oft an Eindeutigkeit. Die von solchen Begriffen überdeckten Spannungen und Ambivalenzen sind für unseren Kontext vor allem dort von Interesse, wo es um den Rechtscharakter von Hospitälern geht. Denn dieses Problem war, wie wir sehen werden, ein Schlüsselproblem der Hospitalreformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Die juristischen Kommentare des 14. und frühen 15. Jahrhunderts führen zwar noch keine Diskussion darüber, ob und wie die Hospitäler von der kirchlichen in die weltliche Jurisdiktion überantwortet werden sollen; das wäre – da es sich überwiegend um kanonistische Texte handelt – systemwidrig. Aber dürfen wir uns deshalb mit der tautologischen Schlussfolgerung zufrieden geben, das mittelalterliche und frühneuzeitliche Hospital sei eine kirchenrechtliche Institution? Und ist »kirchenrechtlich« gleichbedeutend mit »kirchlich«? Wer diese Schlussfolgerung zöge, würde übersehen, dass schon die Dekretisten eine Grenze zwischen kirchlichen und nicht-kirchlichen Hospitälern gezogen haben. Letzteren wurde in der Kanonistik des 14. und frühen 15. Jahrhunderts immer mehr Raum zugestanden, die verwendete Terminologie geriet in Fluss, war umstritten und wurde selbst innerhalb des Werks einzelner Juristen nicht widerspruchsfrei verwendet. Der Begriff locus pius zum Beispiel konnte sehr verschiedene Reichweiten haben: Für manche Autoren, etwa Baldus, bezeichnet er alle kirchlichen, dem Bischof unterstehenden und ihm abgabenpflichtigen Institutionen (zum Beispiel Hospitäler), im Gegensatz zu den vom Bischof unabhängigen und damit weltlichen Institutionen. Für andere schloss er alle Hospitäler ein, denen damit die Würde einer grundsätzlich gottgefälligen Institution zugeprochen wurde, egal ob sie im engeren Sinne kirchlich waren oder nicht. Manche Autoren zogen statt pius das Wort religiosus vor (Hostiensis, Ammanati, Zabarella), woraus sich wieder neue Anschlussmöglichkeiten und Abgrenzungen ergaben. Die Skala der Epitheta, die zur Fixierung des Rechtscharakters eines Hospitals herangezogen werden, reicht von locus sacer und ecclesiasticus über religiosus und pius zu locus penitentie und profanus. Vor allem die beiden mittleren Begriffe, religiosus und pius, lassen Raum für das Vordringen der Idee, dass ein Hospital weltlichen Charakter haben kann, aber dennoch eine »religiöse«, »fromme« oder »würdige« Einrichtung ist, deren Funktion in der Durchführung von opera humanitatis (Zabarella) besteht. Die ebenfalls auf die Hospitäler angewandte Opposition publicus (kirchlich) vs. privatus (laikal, weltlich) schafft nur scheinbar größere Klarheit; bei ihr war man spätestens dann mit seinem

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Latein am Ende, wenn sich ein Hospital in öffentlicher (häufig kommunaler), aber eben nicht kirchlicher Trägerschaft befand oder in eine solche überging (das Problem wird von Paulus de Liazariis angeprochen). Manche Juristen formulieren den ambivalenten Rechtsstatus von Hospitälern ausdrücklich (Lapus de Castellionio: »[hospitale] non est titulus profanicus nec ecclesiasticus«). Andere schlagen einen Oberbegriff vor, unter dessen Dach Hospitäler ihren eigenen Platz neben anderen kirchlichen Institutionen finden, dabei jedoch ihre weltlich gefärbte Andersartigkeit beibehalten und entwickeln können; dies leistet der von Bonifacius Ammannati eingebrachte Begriff der cura. Es kann zum einen festgehalten werden, dass die von den Juristen, vor allem den Kanonisten entwickelte Begrifflichkeit konzeptionelle Bausteine geliefert hat, die auch für Hospitalreformen herangezogen werden konnten, selbst wenn aus den inhaltlichen Argumenten der einzelnen Autoren oftmals (zum Beispiel im Fall von Lapus de Castellionio) Reformskepsis spricht. Zum anderen lassen sich neben den genannten Begriffen und zwischen den Zeilen der Argumentation juristische Denkfiguren freilegen, die sich strukturell den Reformnarrativen annähern und auch die Debatte um das Hospitalrecht steuern. Eine solche Denkfigur ist die Relation von Ursprung und Gegenwart, die auch in der juristischen Gedankenführung eine große Rolle spielt. Die hier verwendeten Mikronarrative – Niedergang (am Anfang war es besser), neutraler historischer Wandel (der anfängliche Zustand wurde durch verschiedene Faktoren verändert) oder legitimatorische Erzählungen (wenn der Bischof bei der Gründung dabei war, ist das Hospital kirchlich; was der Stifter wollte, zählt) – lassen sich leicht in einen Reform-Plot einspeisen. Eine weitere juristische Denkfigur ist der Umgang mit Normenwandel im Fortschreiten der historischen Zeit. In ihr kondensiert sich die Reflexion darüber, wie Gewohnheit Rechtskraft erlangt und sich zu bestehendem bzw. neu gesetztem Recht verhält. Auch dies ist zugleich ein Problem, das Reformer umtreibt, denn diese kritisieren gar zu gerne die ›schlechten‹ Gewohnheiten, die aus ihrer Sicht zu den reformbedürftigen Missständen geführt haben. Kurz, die juristische Argumentation ist nicht nur ein Werkzeug, mit dessen Hilfe Hospitalreformer wie Clemens V. oder Urban V. Verbesserungen anstießen, sondern hat auch dazu beigetragen, dass Reformen überhaupt erst denkbar wurden (warum sie schließlich realisiert wurden oder scheiterten, steht auf einem anderen Blatt). Das Hauptinteresse der juristischen Debatten für eine Geschichte des Reformdiskurses liegt daher weniger in einzelnen reformerischen oder antireformerischen Inhalten als vielmehr darin, dass sie die Möglichkeitsbedingungen für das Reformdenken geschaffen oder zumindest erweitert haben.

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II.

Die Mailänder Hospitalreform und das Ospedale Maggiore

1.

Ein Paradefall und seine Quellen

Die juristische Argumentation hatte den im vorausgegangenen Kapitel beschriebenen Grad an Subtilität erreicht, als gegen Mitte des 15. Jahrhunderts in Italien eine Reihe von Hospitälern neuen Typs gegründet wurde. Dieser Vorgang galt, nicht zuletzt wegen der mit ihm häufig verbundenen neuen Hospitalbauten, schon den Zeitgenossen als spektakuläre Innovation; für die spätere Geschichtsschreibung handelt es sich um die Hospitalreform par excellence, so dass vor allem in Italien der Ausdruck »riforma ospedaliera« fast zu einer sozialhistorischen Epochenbezeichnung geworden ist. Das politisch-geografische Zentrum dieser Reform war das Herrschaftsgebiet der Herzöge von Mailand. Da Gebäude wie das ab 1456 in Mailand errichtete Ospedale Maggiore zur Architekturgeschichte der Renaissance gehören, sind sie seit langem im Blick der kunstgeschichtlichen Forschung. Aber auch die Historiker haben sich ihrer angenommen: Lag es für die lokale Stadtgeschichtsforschung nahe, die Hospitäler zu würdigen, weil sie zum Prestige der jeweiligen Stadt beitrugen, so fanden die Sozial-, Wirtschafts- und Demografiehistoriker in den Ospedali Maggiori ein besonders dankbares Untersuchungsfeld, verfügen diese doch in aller Regel über gut geführte und meist auch leicht zugängliche Archive.1 Als Charakteristika der italienischen Hospitalreformen des 15. Jahrhunderts gelten in der Forschung – neben den zwar nicht in jedem Fall, aber doch vielfach realisierten Neubauten (1) – die Vereinigung der bestehenden kleineren Hospitäler unter einem zentralen Verwaltungsrat (2), dessen Mitglieder meist (wenn auch nicht immer) für begrenzte Zeit gewählt wurden; die Stärkung der Kom1 Die Zugänglichkeit ist vor allem dort unproblematisch, wo die Bestände der Hospitäler an ein Archivio di Stato gekommen sind, wie es z. B. in Pavia, Parma oder Padua der Fall ist. In anderen Fällen, z. B. in Lodi, sind kommunale Archive zuständig. Eine Ausnahme ist das Ospedale Maggiore von Mailand, dessen Archiv sich bis heute am ursprünglichen Sitz befindet, aber interessierten Nutzern offen steht (nach Terminvereinbarung). Seinem Leiter, Dott. Paolo Galimberti, möchte ich für seine Hilfsbereitschaft herzlich danken.

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Die Mailänder Hospitalreform und das Ospedale Maggiore

petenzen der weltlichen Obrigkeiten gegenüber kirchlichen Rechten an den Hospitälern (3); die Spezialisierung der neuen Großhospitäler und der mit ihnen unierten älteren Häuser auf jeweils verschiedene Kategorien von Bedürftigkeit (4); und schließlich die Tendenz, das Leitbild der ›heilbaren Krankheit‹ zum Hauptkriterium für die Auswahl zumindest der stationären Patienten zu machen (5).2 Über dieses Resümee der Hauptinhalte der italienischen Hospitalreformen ließe sich ad infinitum diskutieren, denn nur selten weist ein konkreter Fall in idealtypischer Weise sämtliche Merkmale zugleich auf. Es geht hier freilich nicht darum, die Brauchbarkeit dieses Musters zu verteidigen und die Problematik einiger aus ihm hervorgehender Entwicklungsbegriffe wie ›Laisierung/Säkularisierung‹ (oben Punkt 3) oder ›Medikalisierung‹ (oben Punkt 5) auszublenden. Fürs Erste genügt es, den konzeptionellen Hintergrund und den Handlungsrahmen skizziert zu haben, in welche die Veränderungen einzuordnen sind, die sich in der norditalienischen Hospitallandschaft mit – unstrittig – auffallender Intensität im 15. Jahrhundert beobachten lassen. Dies erlaubt es, eine Liste von Vergleichsfällen anzuführen, die den typologischen Kontext für die Geschichte des Mailänder Ospedale Maggiore bilden.3 Gleich der früheste Fall von Hospital-Zentralisierung mit Neubau eines Großhospitals ist insofern ›atypisch‹, als er außerhalb des Mailänder Gebiets anzusiedeln ist: In Brescia, seit 1426 venezianisch, wurde ein solcher Plan seit 1427 geäußert, allerdings erst 1447 in die Tat umgesetzt. Der nächste Fall, Pavia,4 führt wieder ins Herzogtum Mailand: Das dort ab 1449 errichtete neue Hospital S. Matteo weist erstmals den Grundriss eines quadratischen Kreuzes auf, wie er kurz danach in Mailand erneut verwirklicht werden sollte. In den 1450er Jahren erfolgten – kurz vor oder parallel zu der sich über längere Zeit hinziehenden Errichtung des Mailänder Ospedale Maggiore – Hospitalneugründungen in weiteren lombardischen Städten; der Herzog, Francesco Sforza, genehmigte, förderte und beeinflusste diese Gründungen, überließ die Initiative und Ausführung jedoch stets den lokalen Akteuren. Das war bereits in Pavia so, trifft aber ebenso auf Cremona zu, wo die Kommunalregierung ab 1451 ein neues Hospital bauen ließ, sowie auf Lodi, wo der Bischof 1457 auf Wunsch der kommunalen 2 Bianchi/Słon, Le riforme ospedaliere; Albini, La riforma quattrocentesca. 3 Die folgende Aufzählung von Fallbeispielen basiert, wo nicht anders angegeben, auf Carpaneto da Langasco, L’intervento papale; Leverotti, Ricerche, S. 93 f.; Gorini, Gli ospedali lombardi; Albini, Citt— e ospedali, S. 114 – 118; Albini, La riforma quattrocentesca; Albini, Sugli Ospedali in area padana; Franchini/Della Torre/Pesenti, Ospedali lombardi, S. 11 – 46; Bianchi/Słon, Le riforme ospedaliere, S. 23 – 25; Bianchi, Italian Renaissance Hospitals; Ricci, I corpi, S. 28 – 38. Zur Spezialliteratur führt auch Gazzini, Gli ospedali nell’Italia medievale, § »Saggi di riferimento regionale«. 4 Crotti, Il sistema caritativo-assistenziale, S. 149 – 166, u. unten, Anm. 140.

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Ein Paradefall und seine Quellen

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Elite diverse ältere Hospitäler dem größten von ihnen inkorporierte, das ab 1459 durch einen Neubau ersetzt wurde.5 Auch in Bergamo, also auf venezianischem Gebiet, ergriff der Bischof 1457 die Initiative zur Vereinigung der kleinen Hospitäler. Nachdem etwa zur selben Zeit mit dem Bau des Mailänder Ospedale Maggiore begonnen worden war, schlossen sich weitere Städte im herzoglichen Territorium dem Beispiel der Hauptstadt an: In Como wurde nach langem Vorlauf6 1468 der Bau eines neuen, »allgemeinen« Hospitals beschlossen (aber erst 1481 begonnen), in Piacenza machte man sich 1471 an die Zusammenlegung der älteren Hospitäler und an die Errichtung eines neuen Groß-Instituts. In Parma7 betrieben der Mailänder Herzog und die Kommunalführung seit 1470 die Inkorporation der kleinen Häuser in das schon bestehende größte Hospital der Stadt, ein Vorhaben, das 1471 von Papst Sixtus IV. genehmigt wurde, sich aber in den Jahren danach wegen stadtinterner Konflikte nur mit Mühe umsetzen ließ; daher dauerte es bis 1482, bis das päpstliche Mandat von 1471 in der Stadt publiziert wurde. Kleinere Städte im Dukat folgten mit deutlicher Verzögerung.8 Die Reihe der Beispiele für eine einschneidende Umgestaltung der Hospitalorganisation ließe sich mit Blick auf andere Regionen verlängern, etwa auf Ferrara (1440), Mantua (1449) oder Genua (ab 1471); erinnert sei zudem noch einmal an Avignon. Doch nicht überall suchte man die Lösung in der Zentralisierung um einen neuen Großbau: Sieht man von den im Mailänder Grenzgebiet liegenden venezianischen Städten Brescia, Bergamo und Crema (1468) ab, so verlief in den Hauptzentren der Terraferma und in Venedig selbst der Wandel der Hospitäler erheblich verhaltener. Dort sind zwar Umgestaltungen einzelner Instititutionen und Neugründungen zu verzeichnen, aber keine umfassenden Umstrukturierungen oder Neubauten von Großeinrichtungen mit Zentralfunktion.9 Dies kann, wie etwa in Treviso, seine Ursache darin haben, dass große Häuser sich schon seit dem 14. Jahrhundert etabliert hatten. Ähnliches ist auch für die toskanischen Städte zu beobachten, welche – namentlich Florenz und Siena – in Norditalien immer wieder als Vorbild genannt wurden: in Florenz das Hospital S. Maria Nuova vielleicht wegen seiner architektonischen Gestalt, in 5 Zu Cremona und Lodi s. unten, Anm. 134 ff. 6 ASMi, Registri ducali 25, f. 243r–v (1456 Mai 13), Supplik des Herzogs von Mailand an den Papst wegen der Genehmigung eines Großhospitals für Como; ähnlich erneut 1460 Juni 16 (BA, Ms. I 399 inf., f. 14r). 7 Ricci, La realizzazione della riforma. 8 Lucioni, Carit— e assistenza, S. 83 – 98, zur Vereinigung der beiden Hospitäler von Varese in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 9 Zu Ferrara s. unten, Kap. V, Anm. 3, zu Genua Marchesani/Sperati, Ospedali, S. 55 f., 201, 240 f., 251, 262. Veneto: Varanini, Per la storia; Bianchi, La Ca’ di Dio; Bianchi, Il governo della carit— (mit Dank an Francesco Bianchi für die Mitteilung dieses Aufsatzes); D’Andrea, Civic Christianity ; D’Andrea, L’Ospedale; Scarabello, Le strutture assistenziali.

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Die Mailänder Hospitalreform und das Ospedale Maggiore

Siena S. Maria della Scala wegen seiner Rolle als Zentrum eines regionalen Hospital-Imperiums.10 Vergleichbar mit der toskanischen Organisationsform ist die Situation in Rom,11 während andere Städte im Kirchenstaat eine Reform der Hospitäler entweder gar nicht oder erst im 16. Jahrhundert in Angriff nahmen.12 Schon diese nicht einmal vollständige Liste von Beispielen macht deutlich, dass der Umbau der Hospitallandschaft im Italien des mittleren 15. Jahrhunderts sich je nach lokalem Kontext in unterschiedlichen Formen vollzog. Die Päpste, wie etwa Sixtus IV. im Fall von Parma, unterstützten ein solches Reformvorhaben in der Regel, ließen sich aber, wie das Ospedale Maggiore von Mailand zeigen wird, von ihren politischen Interessen leiten und konnten sich zudem über die Stimmen der Reformgegner nicht einfach hinwegsetzen. Die daraus entstehenden Debatten führen direkt in die Rechtsprobleme, die durch eine Hospitalreform aufgeworfen wurden. Der rechtliche Maßstab für die Bewertung des Funktionierens bzw. des Scheiterns eines Hospitals und seiner Rektoren war auch um 1450 die Clementine Quia contingit, selbst wenn deren Bestimmungen in den Reformdokumenten selten ausdrücklich zitiert wurden. Dass auch die Frage, ob die Neuorganisation die betroffenen Institutionen eher unter kirchliche oder vielmehr unter weltliche Kontrolle bringen würde, ein zentraler Punkt in den Reformen des 15. Jahrhunderts war, wird die Erörterung des Mailänder Falls erweisen. Doch zunächst ein Wort zu den hier im Mittelpunkt stehenden Quellen. Die Reichhaltigkeit der von den lombardischen Ospedali Grandi hinterlassenen Archive macht eine vollständige Sichtung gerade auch im Fall des Mailänder Hospitals – trotz beträchtlicher Verluste im Zweiten Weltkrieg – selbst für die ersten Jahrzehnte seiner Geschichte unmöglich. Um einen Eindruck von der Dichte einer einzigen Registerserie zu erhalten, genügt ein Blick in das neue Regestenwerk, das die von seinem Verwaltungsrat, dem capitolo der deputati, Tag für Tag getroffenen Entscheidungen resümiert: Allein die Bände 2 – 8 dieser ordinazioni oder deliberazioni des 1447 neu geschaffenen Gremiums ergeben über 3000 Regesten.13 Zu dieser wohl wichtigsten Quelle für die Verwaltungs10 Henderson, Splendide case di cura; Piccinni/Vigni, Modelli di assistenza; Leverotti, L’ospedale senese. Was genau an den baulich heterogenen toskanischen Beispielen imitiert werden sollte, ist schwer zu entscheiden, s. Franchini/Della Torre/Pesenti, Ospedali lombardi, S. 16 – 20. 11 Esposito, Gli ospedali romani. 12 Frank, Cusanus, zum gescheiterten Versuch des Kardinals Nikolaus von Kues, 1463 in Orvieto eine Neuorganisation der Hospitäler durchzusetzen. – 16. Jh.: Spedal-Grande von Viterbo, s. Pinzi, Gli ospizi, S. 187 – 285, Dokumente S. 388 – 413, u. Frank, Gli ospedali viterbesi, S. 196 f. – Zu Modena, das im frühen 16. Jh. den Päpsten unterstand, s. unten, Kap. V. Zu Bologna s. Terpstra, Apprenticeship of Social Welfare. 13 Albini/Gazzini, Materiali. Die Bände 2 – 8 umfassen die Jahre 1456 – 1498; der erste Band (1447 – 1452) dieser im Archiv des Mailänder Ospedale Maggiore aufbewahrten Register der

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Ein Paradefall und seine Quellen

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geschichte des neuen Hospitals kommen diverse weitere Serien, insbesondere jene Register, die der Sicherung seines enormen Grundbesitzes und der Buchhaltung dienten.14 Für unsere Frage nach der Sprache der Hospitalreform sind Aufzeichnungen dieser Art freilich keine sehr ergiebige Quelle, selbst wenn man einräumt, dass z. B. die Rechnungsbücher über die Realisierung von Reformanstrengungen einige neue Aufschlüsse geben könnten. Von größerer Bedeutung für den hier verfolgten Ansatz sind die im Vorfeld der Gründung des Ospedale Maggiore entstandenen obrigkeitlichen Erlasse sowie die Briefwechsel zwischen den beteiligten Gruppen, Parteiungen, Personen und Institutionen. Die wichtigsten von ihnen sind teils im Urkundenfonds des Hospitalarchivs zu finden, teils in den Archiven der herzoglichen Regierung; sie sind häufig, aber längst nicht vollständig ediert.15 Dieses Material ist durch die bisherige Forschung gut erschlossen, wurde allerdings stets mit ereignis-, institutions- oder sozialgeschichtlicher Zielsetzung ausgewertet, insbesondere um den Hergang der Mailänder Hospitalreform zu rekonstruieren. Statuten aus der Gründungszeit haben sich nicht erhalten und wurden offensichtlich zunächst auch nicht angefertigt; die erste verfügbare Statutenversion ist ein 1558 im Druck verbreiteter Text.16 Einen gewissen Ausgleich dafür schafft jedoch ein Traktat über Geschichte und Verfassung des Ospedale Maggiore, den die Deputati 1508 bei ihrem priore, Gian Giacomo Ghilini, in Auftrag gegeben haben.17 Vornehmlich auf diese Zeugnisse stützt sich die nun folgende Untersuchung der Debatten um die Durchführung und Konsolidierung der Mailänder Hospitalreform des 15. Jahrhunderts; außerdem werden einzelne Quellen zu lombardischen Vergleichsfällen herangezogen.

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ordinazioni capitolari (AOM, Ordinazioni capitolari 1) wurde nicht in das Regestenwerk aufgenommen, weil das Gremium der Deputati in dieser Phase noch nicht kontinuierlich arbeitete. Zum Beispiel AOM, Registri Patrimoniali, 9 Bde., 1475 – 1594 (= Titolo XI Appendice, Classe I), oder die Serie der Registri di contabilit— (= Titolo IX). Zur heutigen Ordnung des AOM s. Piazza, L’Archivio; zur Geschichte Galimberti, La conservazione. Meist in älteren Regestenwerken oder Urkundeneditionen wie: Santoro, I registri, Bascapè, Antichi diplomi, oder Natale, Acta Libertatis. Alle wichtigen Urkunden wurden bereits von Pecchiai, L’Ospedale maggiore, ausgewertet oder paraphrasiert. Andererseits fehlt bis heute eine Edition eines zentralen Dokuments wie der Bulle, mit der Papst Pius II. die Gründung des Ospedale maggiore bestätigte (1458 Dez. 9). Einzelheiten zu diesen Zeugnissen in den folgenden Abschnitten am jeweiligen Ort. S. dazu unten, Anm. 189 ff. Gilinus, Fundationis. S. dazu unten, Anm. 147 ff.

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2.

Die Mailänder Hospitalreform und das Ospedale Maggiore

Erste Reformschritte

Politische und kirchliche Rahmenbedingungen Als der römische König Wenzel den Signore von Mailand, Gian Galeazzo Visconti, 1395 zum Herzog erhob, verlieh er der Machtposition des dynamischsten Fürsten Italiens dauerhafte Legitimität. Gian Galeazzo (Alleinherrschaft 1385 – 1402) verstand seine neue Würde nicht nur als juristische Herausforderung, sondern auch als Ansporn zur Festigung seines ausgedehnten, aber eher locker zusammengefügten Territoriums.18 Die militärische Expansion hatte unter seinen Vorgängern, neben großen Teilen des italienischen Nordwestens einschließlich der ligurischen Küste, zeitweise auch Bologna unter die Visconti-Herrschaft gezwungen und griff unter Gian Galeazzo auf die wichtigsten Städte im Veneto, die Toskana und sogar die zentralen päpstlichen Lande über. Abgesehen von diesen spektakulären, wiewohl kurzlebigen diplomatischmilitärischen Erfolgen und der jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit Florenz, ist für die Hauptvertreter der Visconti-Dynastie, insbesondere für Gian Galeazzo und seinen Nachfolger Filippo Maria, das Interesse an jenem Feld der Innenpolitik kennzeichnend, das wir heute ›Gesundheits- und Sozialpolitik‹ nennen würden. Dies lässt sich sowohl an Maßnahmen gegen sanitäre Notlagen (Pestepidemien) als auch an der Haltung zu Fürsorgeinstitutionen beobachten. Auf beiden Gebieten erzielten die Herren von Mailand zwar zunächst kaum reale Ergebnisse, haben im Vergleich zu anderen italienischen Regionen – ganz zu schweigen vom nördlichen Europa – jedoch das Verdienst des Vorreiters: Mailand ist die erste Stadt, in der zur Bekämpfung von Seuchen eine Gesundheitsbehörde (Ufficio di sanit—) mit hoheitlichen Rechten instituiert wurde, und zwar noch in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts.19 Was die Hospitäler der Stadt betrifft, so erhielten diese von den Dynasten des 14. Jahrhunderts reiche Schenkungen, waren mit den Pestepidemien allerdings überfordert und mussten von den Obrigkeiten gezwungen werden, wenigstens wirtschaftlich zur Versorgung der Kranken beizutragen. So könnte zu erklären sein, warum die Idee einer zentralisierten Hospitalorganisation bereits unter Gian Galeazzo 18 Fossati/Ceresatto, La Lombardia, S. 550 – 572. Zur juristischen Diskussion: Canning, The political thought, S. 209 – 226; Pennington, The Prince, S. 202 – 216; Cengarle, Immagine di potere, S. 63 – 86. 19 Maßnahmen zur Pestabwehr schon 1348 und dann wieder 1374 unter Bernabý Visconti; systematische Einschränkung des Menschen- und Warenverkehrs sowie Isolation der Verdächtigen und Erkrankten unter Gian Galeazzo während der Pest von 1400; Einrichtung (oder zumindest Vorbereitung) des Ufficio di sanit— unter Filippo Maria. S. dazu: Corradi, Annali delle epidemie, S. 246; Pasi Testa, Alle origini, S. 377 – 380; Albini, Guerra, S. 68 f., 84; Albini, Citt— e ospedali, S. 85 f.; Nicoud, Les m¦decins, S. 53 – 59.

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Erste Reformschritte

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aufkam: Schon dieser plante nämlich, eine Großeinrichtung nach dem Vorbild von Siena zu schaffen, jedenfalls die um 1400 existierenden Mailänder Hospitäler der gemeinsamen Leitung eines herzoglichen Beamten zu unterstellen; er verstarb jedoch, bevor das Vorhaben in die Tat umgesetzt werden konnte.20 Nach dem gewaltsamen Ende seines Bruders Giovanni Maria (1403 – 1412) war Filippo Maria Visconti (1412 – 1447), der jüngere Sohn und zweite Nachfolger Gian Galeazzos, lange Jahre damit beschäftigt, seine Herrschaft zu sichern, der Auflösung des Mailänder ›Staates‹ entgegenzuwirken und die Anerkennung seines Herzogtitels durch König Sigismund zu erreichen.21 Die kritische Lage der Zentralgewalt am Beginn der Regierung Filippo Marias ist die Probe aufs Exempel dafür, dass die kleineren Adelsherrschaften und vor allem die anderen Kommunen, die zusammen mit dem Kerngebiet um Mailand den erweiterten Visconti-Dukat bildeten, sich sehr schnell auf ihre frühere Freiheit besannen, sobald die Gelegenheit günstig schien. Dies sei hier auch deshalb festgehalten, weil die stets nur graduell abgetretene Autonomie von Kommunen wie Parma, Piacenza, Cremona, Pavia oder Lodi22 nicht zuletzt auf dem Feld der Wohlfahrtspolitik sichtbar blieb; Hospitäler waren Sache der einzelnen Kommunalführungen und Bischöfe, und deshalb haben die oben aufgelisteten Hospitalprojekte in diesen Städten ihre jeweils eigene, von der Stadt Mailand und vom Herzog zwar beeinflusste, aber dennoch individuelle Geschichte. Noch unter Filippo Maria wurde für Mailand ein neuer Plan zur Verbesserung der Hospitäler gefasst. Zwar kam der Ausführung auch diesmal der Tod des letzten Visconti-Herzogs zuvor, doch griffen die Nachfolger die Initiative auf und leiteten die ersten Schritte zur Reform der Mailänder Hospitäler ein. Diese Nachfolger waren keine Dynasten, sondern die Vertreter der städtischen Führungsschicht, die nach dem kinderlosen Tod Filippo Marias zur kommunalen Regierungsform zurückkehrte und die Repubblica Ambrosiana proklamierte.23 Der Republik fehlten jedoch die militärischen Mittel, nicht nur um das ViscontiTerritorium zusammenzuhalten, sondern auch um sich in der vom letzten 20 Santoro, I Registri, Nr. 192 S. 103 (1399 Nov. 2); Nr. 247 S. 112 (1400 Mai 1); Nr. 22 f. S. 125 (1401 Apr. 26); Nr. 64 f. S. 132 (1401 Nov. 6 u. 7); Nr. 68 S. 133 (1401 Nov. 9). S. auch Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 77; Albini, Citt— e ospedali, S. 84 – 86; Albini, La gestione, S. 271. 21 Fossati/Ceresatto, Dai Visconti, S. 573 – 604; zur Legitimitätsfrage Somaini, Processi costitutivi, S. 710 – 728. Zur systematisch betriebenen Feudalpolitik Filippo Marias s. Cengarle, Immagine di potere, S. 109 – 134 u. Appendice S. 135 – 160. 22 Reste von eigenständiger Regierung hielten sich vor allem in den unterworfenen Städten selbst, während deren frühere Territorien tendenziell an die Zentrale gezogen und an herzogliche Vasallen ausgegeben wurden (Cengarle, Immagine di potere, S. 95 – 107). 23 Fossati/Ceresatto, Dai Visconti, S. 605 – 612; Somaini, Processi costitutivi, S. 723 f. Ein archivalisches Manifest der Repubblica Ambrosiana sind die beiden unter dem Namen Acta Libertatis Mediolani von A. R. Natale edierten Register mit Regierungserlassen.

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Die Mailänder Hospitalreform und das Ospedale Maggiore

Visconti geerbten Auseinandersetzung mit Venedig zu behaupten. Sie musste sich daher mit dessen Schwiegersohn und Feldherrn Francesco Sforza arrangieren und sich schließlich, als dieser sich gegen sie wandte und für seine Frau Bianca Maria und sich selbst das Erbe der Visconti beanspruchte, von ihm belagern lassen. Am Ende sahen die capitanei der Republik keinen anderen Ausweg, als dem Sforza die Stadt zu übergeben. Am 22. März 1450 ritt der neue Herzog feierlich in Mailand ein. Ein Merkmal der Visconti-Herrschaft, das die Sforza zu übernehmen trachteten, aber neuen Umständen anpassen mussten, war die Kontrolle der kirchlichen Benefizien in ihrem Territorium. Die Visconti hatten sich seit dem 14. Jahrhundert, zunächst im offenen Konflikt mit den Avignoneser Päpsten, Güter des Mailänder Erzbistums angeeignet, den Klerus besteuert und die wichtigen Pfründen mit wachsendem Erfolg an ihre Vertrauten vergeben; für das Verhältnis der Herzöge zum Mailänder Stadtadel war etwa die Rekrutierung des Domkapitels von besonderer Bedeutung. Häufig, wenn auch nicht immer, gelang es ihnen, die Kurie davon zu überzeugen, einen Wunschkandidaten als Mailänder Erzbischof zu berufen. Für die Sforza stellte sich das Problem auf neue Weise: Sie mussten geduldiger mit der Kurie verhandeln, da ihr Herrschaftsantritt zeitlich mit dem Wiedererstarken des Papsttums nach den Konzilien zusammenfiel; sie hatten zudem mit den Interessen und den kurialen Verbindungen der hochgestellten Familien Mailands und der Lombardei zu rechnen. Im Prinzip konnten aber auch sie ein auf Verhandlungen mit Rom basierendes Kirchenregiment aufbauen. Dieses zielte nicht bloß auf staatliche Appropriation von kirchlichen Gütern und Rechten, sondern hatte auch eine produktive Seite, die sich zum einen in bedeutenden Kirchenstiftungen und zum anderen in der Förderung von Ordensreformen manifestierte.24 Dies verdient deshalb hervorgehoben zu werden, weil damit das soziopolitische Spannungsfeld – Herzog, städtische Führungsgruppen, lokale Kirche, römische Kurie – aufgerissen ist, in dem auch die Debatten um die Reform der Hospitäler und das Ospedale Maggiore zu verorten sind.

Mailänder Hospitäler und andere karitative Institutionen bis um 1440 Die Hospitallandschaft Mailands vor 1450 weist Besonderheiten auf, die sie von vielen italienischen, aber auch nordalpinen Städten abheben. Im Unterschied zu dem Mix von institutionellen Lösungen, wie er sich in anderen mittelalterlichen 24 Chittolini, Stati regionali; Ansani, La provvista dei benefici; Belloni, Francesco della Croce, S. 13 – 32; Somaini, Processi costitutivi, S. 776 – 786; Somaini, Carlo Pallavicino.

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Erste Reformschritte

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Städten entwickelte,25 wurden die Mailänder Hospitäler, jedenfalls die wichtigeren von ihnen, von Kommunitäten semireligiöser oder nach der Augustinusregel lebender fratres und sorores betreut und unterstanden dem Erzbischof. Bis in die Mitte des 15. Jahrhunderts war es daher unstrittig, dass es sich um kirchliche Einrichtungen handelte, für die der Erzbischof häufig urkundete.26 Diese Urkunden geben, je nach Einzelfall, Aufschluss über die Gründungsumstände, die Normgebung durch den Erzbischof, die Mitwirkung eines Komitees von Laien aus der Nachbarschaft (decani) an der Verwaltung, über innere und äußere Konflikte oder über den Charakter der Kommunitäten. Da die Entstehungszeit der meisten Häuser ins 11.–13. Jahrhundert fällt, ist die Präsenz solcher religiösen oder semireligiösen Gemeinschaften nicht überraschend, denn dies war die Organisationsform vieler hochmittelalterlicher Hospitäler in Europa.27 Das Besondere an Mailand ist vielmehr die Zähigkeit, mit der diese sich über alle politischen Veränderungen hinweg bis ins Spätmittelalter halten konnten. Eine weitere Besonderheit der Stadt liegt in der Existenz von mehreren großen und gut dotierten Bruderschaften (im lokalen Sprachgebrauch meist: scholae oder consortia), deren Hauptfunktion die Armenfürsorge war. Sie gehen teils auf das frühe 14. Jahrhundert zurück (die Scuola delle Quattro Marie), teils handelt es sich um Gründungen des 15. Jahrhunderts (zum Beispiel die Scuola della Divinit—). Gemeinsam war ihnen die Herkunft der Mehrzahl ihrer Mit-

25 Eine große organisatorische Vielfalt (kirchliche, kommunale, von Laienstiftern verwaltete Hospitäler, Ordenshospitäler, Mischformen) weist Pauly, Peregrinorum, passim, für den Rhein-Maas-Raum nach. In Italien s. etwa Rom (Esposito, Gli ospedali romani), Viterbo (Frank, Gli ospedali viterbesi) oder Florenz (Henderson, Splendide case di cura). Weitere Beispiele für institutionell heterogene Hospitallandschaften wären Avignon (s. oben, Kap. I.3) oder Paris (s. unten, Kap. III). 26 Auswahl signifikanter Belege: Bascapè, Antichi diplomi, Nr. IV u. V (erzbischöfliche Statuten für das Ospedale del Brolo, 1161 Feb. u. 1168 Aug. 22: maximal dreizehn Brüder und sieben Frauen bilden die Kommunität); Nr. VII (erzbischöflicher Schutz für das Hospital S. Simpliciano, 1170 Juni 5); Nr. X (ergänzende Statuten für das Ospedale del Brolo, 1194 Juli 23); Nr. XIII (erzbischöfliches Urteil in einem Streit zwischen Magister und decani des Ospedale del Brolo, 1200 Jan. 20); Nr. XIV (Ospedale S. Ambrogio, 1215 Aug. 4); Nr. XVII (erzbischöfliche Statuten für das Ospedale Nuovo, 1268 Okt. 15, Augustinusregel explizit genannt); Nr. XXVIII (Hospital S. Vincenzo in Prato, 1318 Feb. 26); Nr. XLI (Gründung des Hospitals S. Caterina, 1337 März 26); Nr. LVI (Ernennung des Magisters des Hospitals S. Dionigi durch den Erzbischof, 1390 März 21, unter Berufung auf die Clementine Quia contingit). 27 Es sei hier bewusst auf Reicke, Das deutsche Spital, und sein starres Modell des »bruderschaftlichen Hospitals« (v. a. Bd. 1, S. 48 – 92, 93 – 195) verzichtet. S. aber z. B.: Gazzini, Uomini e donne (Monza); Le Blévec, La part du pauvre 2, S. 624, 700 – 704 (Provence); Piccinni/Vigni, Modelli di assistenza (Siena); zusammenfassend Sommerlechner, Spitäler in Nord- und Mittelitalien, S. 111 – 117.

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glieder aus der wohlhabenden Schicht der Großkaufleute.28 Diese sich explizit als laikal verstehenden und von der Stadtregierung auch offiziell als laikal anerkannten wohltätigen scholae ergänzten die Leistungen der Hospitäler. Sie wurden von der Kommune und später den Herzögen als weltliches Gegengewicht zu den der Kirche unterstehenden Hospitälern gefördert und spätestens im 15. Jahrhundert unter den Oberbegriff loca pia gefasst – eine nicht ungefährliche Begriffswahl, wie sich im 16. Jahrhundert zeigen sollte, als posttridentinische Kirche und Regierung um den Rechtsstatus der scholae stritten.29 Um die Hospitäler stand es, wie ihr eifrigster Historiker – der Archivar des Ospedale Maggiore, Pio Pecchiai – zu betonen nicht müde wird, im 14. und frühen 15. Jahrhundert schlecht.30 Um 1400 operierten in Mailand mindestens 15 Hospitäler, die teils innerhalb, teils außerhalb des (aus der Barbarossazeit stammenden, im 13. Jahrhundert verstärkten) größeren Mauerrings lagen und einem der nach den sechs Haupttoren benannten Stadtsechstel zugeordnet waren. Intra muros befanden sich die bereits genannten Hospitäler del Brolo, Nuovo und S. Caterina, außerdem die Hospitäler »della Colombetta«, S. Nazaro (auch S. Antonio oder »dei porci«), S. Bernardo, S. Martino und das Ospedale della Piet— (ein Ableger der 1405 vom Erzbischof gegründeten Wohlfahrtsbehörde Ufficio della Piet— dei poveri). Vor den Mauern hatten sich die ebenfalls schon erwähnten Hospitäler S. Ambrogio, S. Dionigi, S. Vincenzo in Prato und S. Simpliciano angesiedelt, außerdem S. Celso, S. Lazzaro und S. Maria Maddalena; viele dieser Häuser verdanken ihren Namen der Tatsache, dass sie in unmittelbarer Nähe eines Klosters mit demselben Patrozinium errichtet worden waren (und oft in dessen Abhängigkeit gerieten).31 Nicht mitgezählt sind in dieser Liste die Hospitäler spezialisierter Orden wie jene der Kreuzherren, Antoniter, Humiliaten oder die zwei Häuser der Johanniter, die in der Armenfürsorge allerdings keine wichtige Rolle spielten. 28 Noto, Gli amici dei poveri, S. XIII – XXIX; Albini, Citt— e ospedali, S. 216 – 224; Albini, Vite di mercanti; Gazzini, Confraternite e societ— cittadina, S. 222 – 224; Sella, Rationalizing Charity. 29 Zur Anerkennung als pia loca durch die herzogliche Regierung und zum späteren Streit s. Prosdocimi, Il diritto ecclesiastico, S. 225 – 227, 230, 235 – 238, 275 – 280. Zum Begriff locus pius s. oben, Kap. I, Anm. 11 f., 63 f., u. Kap. I.7. 30 Pecchiai, L’Ospedale maggiore (1927). 31 Zu S. Simpliciano s. Albini, Citt— e ospedali, S. 88 – 90; Sommerlechner, Spitäler in Nordund Mittelitalien, S. 123 – 125, 130, sowie die neue Edition der Gründungsurkunden von 1091 in Sommerlechner, Quellen, S. 176 – 181. Zum Ufficio della Piet— dei poveri s. auch Welch, Art and Authority, S. 129 f. Überblick über die Mailänder Hospitäler in Pecchiai, L’Ospedale maggiore, S. 130 – 147, der für 1450 mit maximal 20 aktiven Hospitälern in und bei der Stadt rechnet. S. ferner die Ortsregister unter »Milano, ospedale« in den Bänden Albini, Citt— e ospedali, und Albini, Carit— e governo della povert—. – Zur Lage der im späten 13. Jh. existierenden Hospitäler (das sind nicht alle soeben aufgezählten) s. Plan 2; die Hauptgebäude der Stadt am Ende des 15. Jh.s in Plan 3.

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Dass in vielen Hospitälern starke Spannungen den Betrieb störten, kann man aus den Dokumenten, die Pecchiai gesammelt hat, auch dann herauslesen, wenn man sich seine kleruskritische Verve nicht zu Eigen macht. Im Übrigen dürfte auch der schon erwähnte Plan Gian Galeazzo Viscontis von 1399, sie unter Aufsicht zu stellen und zu zentralisieren, nicht bloß ein machtpolitischer Schachzug gewesen sein, sondern muss einen vertretbaren Grund auch darin gehabt haben, dass Unzulänglichkeiten offen zu Tage getreten waren. Die politischen und klientelaren Auseinandersetzungen im Mailand des 13. und 14. Jahrhunderts, vor allem die zwischen den Visconti und ihren städtischen Gegnern oder zwischen den Visconti und den Päpsten, schlugen sich auch im Kampf um den Zugriff auf die Hospitäler, konkret um die Auswahl der Hospitalrektoren nieder, deren Posten gegen Ende des 14. Jahrhunderts – Quia contingit hin oder her – wie kirchliche Pfründen vergeben wurden. Hinzu kamen wirtschaftliche Schwierigkeiten, bedingt durch ausbleibende Einnahmen oder persönliches Fehlverhalten mancher Rektoren und Magister, aber auch durch Hungerkrisen oder Epidemien.32 Die Skandale, die Pecchiai in den alten Hospitälern aufdecken zu können glaubte, reichen vom Ospedale Nuovo, in dem es um 1320 schweren Streit um die Absetzung des Rektors gab und ein frater später gestand, Geld veruntreut zu haben, über Intrigen, die in den 1420er Jahren im Ospedale del Brolo und gleichzeitig im Hospital S. Dionigi gegen die Rektoren eingefädelt wurden, bis hin zu zahlreichen Dokumenten, denen sich eine Überschuldung vieler Häuser entnehmen lässt. Dass um 1400 die römische Kurie begann, die Rektorenpfründen selbst zu vergeben, und zwar mehrfach an Kandidaten im Kindesalter, verschlechterte die finanzielle Lage der Hospitäler weiter, denn damit mussten noch mehr Prozesse, Ablösesummen und Pensionen aus den Einkünften bestritten werden.33 Der wackere Archivar schildert die von ihm gebrandmarkten klerikalen Machenschaften deshalb so ausführlich, damit Notwendigkeit und Erfolg der schließlich auf den Weg gebrachten Reform umso deutlicher hervortreten. Allerdings werfen seine Quelleninterpretationen viele Fragen auf. So müsste seine Entscheidung, viele Texte aus ihrem Zusammenhang zu nehmen und in eine Erzählung der Missstände einzubauen, Fall für Fall geprüft werden: In die richtige Perspektive gerückt, ist nicht jede Kreditaufnahme ein Beweis für heillose Misswirtschaft. Dass sich nicht alles in das Narrativ fügen lässt, nach welchem die weltlichen Obrigkeiten einem verantwortungslosen Klerus die Reform abringen mussten, wird schon allein aus der Tatsache deutlich, dass den

32 Albini, Citt— e ospedali, S. 93 – 102. 33 Pecchiai, L’Ospedale maggiore, S. 79 – 96. S. auch Albini, La gestione, S. 268 – 270.

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entscheidenden Anstoß zu einer Veränderung kein anderer als der Mailänder Erzbischof gegeben hat.34

Neue Anläufe in der Mailänder Hospitalreform (1445 – 1447) Es wurde oben bereits angedeutet, dass Herzog Filippo Maria Visconti sein Interesse an der Seuchenprävention auf die allgemeine Situation der Mailänder Hospitäler ausdehnte. Im Jahr 1445 beauftragte der Papst, wohl auf Betreiben des Herzogs, eine Kommission damit, die Hospitäler und loca pia im Dukat Mailand zu visitieren. Sie bestand aus drei hohen Klerikern: dem Abt von S. Celso und den beiden Vikaren des Erzbischofs, Francesco della Croce und Antonio Pichetti. Am Ende ihrer Kontrollen verordneten die Visitatoren den Leitern von drei Hospitälern – S. Lazzaro, S. Dionigi und S. Martino – konkrete Verbesserungen: insbesondere in der Ernährung der Insassen, außerdem in der ärztlichen, pflegerischen und geistlichen Versorgung der Kranken sowie im Bauzustand der Krankensäle. Außerdem durften die drei Häuser künftig ohne Erlaubnis der Kommission weder männliche oder weibliche Religiosen neu aufnehmen noch Arme empfangen oder entlassen.35 Aus dieser von der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit gemeinsam getragenen Initiative wurden zunächst keine Konsequenzen gezogen. Ob der Tod des Herzogs im August 1447 weitere Maßnahmen verhinderte – oder im Gegenteil erst ermöglichte –, ist offen. In jedem Fall nahm die Repubblica Ambrosiana sich des Hospitalthemas sofort an und brachte eine auffällige institutionelle Neuerung auf den Weg: Am 10. September 1447 ließ sie ein Mandat registrieren,36 das auf Anordnung der Regierung (»dominorum Capitaneorum et Deffensorum Libertatis illustris et excelse Communitatis Mediolani«) von einem bis dahin nicht bekannten Gremium verkündet und umgesetzt werden sollte. Es ist überschrieben »Pro hospitalibus et pauperibus alogiandis« (»für die Hospitäler und die Unterbringung der Armen«). Das Gremium, dem die Umsetzung oblag, wird umständlich umschrieben: »Mandato nobillium et discretorum virorum dominorum Deputatorum ad querendum loca opportuna et necessaria ac 34 Pecchiai, L’Ospedale maggiore, S. 98, 110 f., gibt sich Mühe, diese erzbischöfliche Initiative als Fortsetzung eines schon vorher bestehenden herzoglichen Plans abzuwerten und generell die ›Laizität‹ der Reform nachzuweisen (S. 160 – 163). 35 Pecchiai, L’Ospedale maggiore, S. 99 f. (demnach ist der Bericht der Kommission nur in einer unvollständigen Abschrift des 19. Jh.s überliefert). Ferner : Prosdocimi, Il diritto ecclesiastico, S. 209 f.; Cosmacini, La Ca’ Granda, S. 36; Belloni, Francesco della Croce, S. 177. 36 Natale, Acta Libertatis, Reg. 6 Nr. 33 S. 217 f. Die Edition umfasst die beiden vom Ufficio degli Statuti der Republik produzierten Registerbände 5 u. 6 (separate Nummerierung der in den beiden Registern enthaltenen Dekrete).

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hospitalia et allia loca pia, tam vachua, quam non …«37 Ziel des Erlasses war es, die Vermögen der Hospitäler und loca pia zu schützen: Sie hatten als Gläubiger Vorrang vor allen anderen Prätendenten, und jeder, der ihnen Pachtzinsen schuldete, etwas von ihrem Vermögen ausgegeben hatte oder ihre Güter besaß, musste dies binnen acht Tagen den Deputati schriftlich anzeigen; deren Büro war, wie nebenbei mitgeteilt wird, in der Mailänder Domfabrik zu finden. Diese Verordnung, die sich offensichtlich an das Personal und die Pächter der Hospitäler richtete, wurde einige Monate später zu Gunsten des Ospedale del Brolo ähnlich wiederholt; nun war, schon etwas kürzer, von einem Gremium »dominorum Deputatorum ad querendum loca oportuna et necessaria ac hospitalia et allia loca pia etc.« die Rede.38 Weitere eineinhalb Jahre später ist die italienische Form »deputati a la sustentatione di poveri et gubernatione de li hospitali de Millano« belegt.39 Die drei genannten Dokumente zeigen die für Arme und Hospitäler zuständigen Deputati bereits in Aktion. Doch gab es einen Erlass der Repubblica Ambrosiana (oder noch des Herzogs?), mit dem diese neue Magistratur instituiert wurde? Ein solcher findet sich weder in den beiden Registern der Republik, aus denen soeben zitiert wurde, noch wurde er in die Register übernommen, welche die Sitzungen der Deputati protokollieren. Band 1 dieser Sitzungsprotokolle setzt zwar ebenfalls 1447 ein, doch stammt der erste dort eingetragene Beschluss vom 23. Oktober, ist also jünger als der oben angeführte Beleg vom 10. September.40 Eine womöglich frühere Spur findet sich im ersten der beiden 37 Natale, Acta Libertatis, Reg. 6 Nr. 33 S. 217 (orthografische Besonderheiten sind hier beibehalten). Der Satz geht noch weiter: »… tam vachua, quam non, per civitatem et suburbia et specialiter ubique locorum (sic?) ubi ipsis videbitur convenire et oportunum fore, in quibus logiare possint pauperes et sustentari etc.: quod nulla persona …« (es folgen die Anordnungen). Das »etc.« lässt vermuten, dass diese Amtsbeschreibung die Funktion eines offiziellen Titels hatte. In wörtlicher Übersetzung: »Auf Befehl der edlen und verständigen Männer, der Herren Verordneten zur Suche von geeigneten und notwendigen Orten und Hospitälern und anderen loca pia, sowohl leeren als auch nicht leeren, in der Stadt und den Vorstädten und insbesondere überall, wo es ihnen passend und opportun erscheint, in denen die Armen wohnen und unterhalten werden können etc.: Dass niemand …« Unterzeichnet ist der Erlass vom Vorsitzenden der Deputati, »Antonius prior«. 38 Natale, Acta Libertatis, Reg. 6 Nr. 147 S. 323 f. (1448 März 12), unterzeichnet vom Prior und vier weiteren Deputati. 39 Natale, Acta Libertatis, Reg. 6 Nr. 603 S. 739 f. (1449 Okt. 20), Ausschreibung einer Versteigerung zur Pacht von Gütern des Ospedale del Brolo und eines im Umland gelegenen Hospitals, unterzeichnet vom Notar der Deputati. 40 AOM, Ordinazioni capitolari 1, f. 1v : Beschluss 1447 Okt. 23. Die Überschrift auf f. 1r lautet: »Questo si À el libro de le concluxione fate e deliberat [sic!, korrigiert aus ›deliberazione‹] per li deputati sopra le provixion dei poveri« (»Das ist das Buch der Beschlüsse, die von den Deputierten zur Versorgung der Armen gemacht und verabschiedet wurden«). Demnach waren die Deputati schon fest etabliert, aber es ist gut möglich, dass diese Überschrift erst nachträglich angebracht worden ist.

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genannten Register des Ufficio degli Statuti der Republik, dessen Inhaltsverzeichnis den ersten dort eingetragenen Akt wie folgt benennt: »Certi Deputati causa hospitalium et locorum, f. I«. Dahinter könnte sich der Vorgang der Instituierung verbergen – doch ist fol. I der Handschrift offenbar verloren.41 Wahrscheinlich ist jedenfalls folgender Ablauf: In den ersten Wochen der Repubblica Ambrosiana wurde durch die regierenden Capitanei ein neues Aufsichtsgremium für die Kranken- und Armenfürsorge geschaffen. Sein Name stand anfangs noch nicht genau fest, später hießen seine Mitglieder meist so, wie es die Überschrift des ersten von ihnen selbst angelegten Registers angibt: »Deputati sopra le provvisioni dei poveri« (so die standardisierte Form); auf sie bezieht sich die Kurzform ›Deputati‹, die im Folgenden verwendet wird, auch wenn es in Mailand noch andere Deputierte mit den verschiedensten Funktionen gab. Nach welchem Verfahren diese ersten Deputati für Arme und Hospitäler ausgewählt wurden, ist unklar. Immerhin erfahren wir aus ihrem ersten Registerband, dass in dieser frühen Phase drei Deputati pro Stadttor, also insgesamt achtzehn, vorgesehen waren.42 Diese Zahl änderte sich jedoch im März 1448, als der Mailänder Erzbischof sich der Sache annahm.

Erzbischof Enrico Rampini greift ein (1448) Enrico Rampini († 1450), 1443 von Pavia nach Mailand transferiert, seit 1446 Kardinalpriester von S. Clemente und päpstlicher Legat in der Lombardei, erließ am 9. März 1448 ein langes Dekret, das die Wahl, die Zahl und die Kompetenzen der Deputati sowie ihr Verhältnis zu den Leitern der Mailänder Hospitäler neu regelte. Das vom Kanzler und Notar der erzbischöflichen Kurie, Iohannes de Aplano (Giovanni Appiani), geschriebene Notarsinstrument ist durch mehrere Textzeugen glaubwürdig überliefert43 und wurde nur wenige Monate nach seiner 41 Es fehlt jedenfalls in der Edition (Natale, Acta Libertatis, S. 3). In der Einleitung weist der Herausgeber nirgendwo auf den Verlust dieses Blattes und damit der ersten beiden im Inhaltsverzeichnis angekündigten Akte hin (s. insbesondere die Beschreibung der Handschrift ebd., S. XXXIII). Auch Pecchiai, L’Ospedale maggiore, S. 100 f., kennt keine solche Urkunde. 42 AOM, Ordinazioni capitolari 1, f. 1r. 43 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXV S. 134 – 138. Die Überlieferung ist komplexer, als der Editor angibt. Die Beglaubigung (ebd., S. 139) der ältesten ›Abschrift‹ des Erlasses, die der erzbischöfliche Notar und Kanzler Iohannes de Daverio am 23. Juni 1450 zusammen mit der ›Abschrift‹ eines weiteren, eng verbundenen Dekrets (1448 Apr. 27, s. dazu unten, Anm. 59) auf einem einzigen großen Pergament unterbrachte, gibt folgende Auskunft: Iohannes de Aplano habe beide Dekrete wie normale Notarsinstrumente in sein Imbreviaturregister eingetragen, sei dann aber in Gefangenschaft geraten, weshalb er sie nicht mehr auf Pergament ausfertigen konnte. Eben dies holte Iohannes de Daverio am 23. Juni 1450 nach (mit eigens notariell bestätigter Erlaubnis des erzbischöflichen Vikars). Deshalb ist diese dop-

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Publikation von Papst Nikolaus V. bestätigt.44 Dieser engagierte Reformtext verdient eine ausführliche Würdigung. Der Erzbischof – das heißt seine Kanzlei vermutlich unter maßgeblicher Mitwirkung seines primicerius und früheren Vikars Francesco della Croce,45 der auch als Zeuge genannt ist – teilt die neue Ordnung, die er den Mailänder Hospitälern geben will, in drei ungleich lange Teile (vom Eingangs- und Schlussprotokoll abgesehen): Einer einleitenden Begründung seiner Intervention (I) folgt eine lange Reihe von detaillierten Neuregelungen (II), vom Herausgeber sinnvoll in insgesamt elf, durch »Primo« bzw. »Item« eingeleitete Absätze gegliedert. Den Schluss bildet eine kurze Ermahnung (III) an die Deputati und die Hospitalleiter, die hier stets als »ministri« tituliert werden. Teil (I) ist eine einzige lange, von sieben Partizipialformen getragene Periode. Als erstes, so schickt der Diözesan voraus, »haben wir unsere Amtspflichten auf die hospitalia pauperum Mailands angewandt« (»adhibentes«) und »haben erwogen« (»pensantes«), dass es die vornehmste Aufgabe (»gloria«) eines Bischofs sei, die Almosen der Armen, die Christus sich zu Erben bestimmt habe, zu beschaffen.46 Danach markieren zwei verba videndi – »wir haben mit Gewissheit erkannt« (»intelligentesque pro certo«) und »wir haben bemerkt« (»advertentesque«) – die Diagnose. Erkannt hat er, dass alle Mailänder Hospitäler – innerhalb und außerhalb der Mauern, in den Vorstädten und im Bezirk der »Corpi santi« –, die vor längerer Zeit gegründet wurden, wegen der schlechten Verwaltung, Sorge und Sorgfalt der Verwalter nicht so, wie es sein pelte Pergamenturkunde nicht als ›Abschrift‹, sondern als ›Original‹ anzusehen; ein anderes Original hat nie existiert und »fehlt« daher auch nicht, wie BascapÀ (ebd., S. 134) angibt. – Insgesamt ist die Edition wegen ihrer Lese- und Druckfehler kein vollwertiger Ersatz für die handschriftliche Überlieferung (die ich nicht überprüfen konnte); die insgesamt drei im AOM aufbewahrten Textzeugen (das Pergament von 1450 und zwei andere Kopien) hat BascapÀ nicht kollationiert. – Zu den beiden Kanzlern s. Belloni, Francesco della Croce, S. 81 f., deren Bemerkungen zur Überlieferung jedoch nicht ganz korrekt sind. Der Inhalt beider Erlasse ist zusammengefasst bei Pecchiai, L’ospedale maggiore, S. 108 – 112. Vgl. zu den Jahren 1447 – 1448 auch Prosdocimi, Il diritto ecclesiastico, S. 210 – 213. 44 Unediert, Original in AOM, Diplomi 50 (1448 Juli 5); das Dekret des Erzbischofs ist wörtlich inseriert. Es sind zwei notariell beglaubigte Abschriften vorhanden (1448 Aug. 30, erwähnt in: Bascapè, Antichi diplomi, S. 134), ferner eine Kopie des 18. Jh.s in: BA, Ms. I 399 inf., f. 75r–78v. 45 Zu dieser bedeutenden Persönlichkeit im Mailänder Klerus und seinem Beitrag zur Hospitalreform s. Belloni, Francesco della Croce, v. a. S. 73 f., 93, 177 – 184; Welch, Art and Authority, S. 130 f. Im März 1448 war Francesco nicht mehr Vikar. S. auch eine lange subscriptio Francescos zu einem consilium mehrerer Juristen über die Steuerfreiheit von Hospitälern (gedruckt in Baldus, Consiliorum 6, Nr. 121 S. 239 f.). 46 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXV S. 134. Den Ausdruck »quod gloria episcopi est pauperum alimoniis providere« hat Albini, La riforma quattrocentesca, Anm. 36 f., bereits bei einem Mailänder Erzbischof des 12. Jh.s nachgewiesen; allerdings steht statt »alimoniis« dort »operibus«, wohl verkürzt für »operibus misericordiae«. Er knüpft an die kanonistische Tradition an (Bischof als pater pauperum, aber auch Quia contingit, vgl. oben, Kap. I.2).

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sollte, sondern nur in geringem Maß den Bedürftigkeiten abgeholfen haben und gegenwärtig abhelfen; das ist in dieser Stadt Mailand bekannt, und zwar so, dass es niemandem, der bei klarem Verstand ist, verborgen ist, was umso schmerzlicher ist, als diese Hospitäler ja wegen der Armen gegründet wurden.47

Diese schonungslos vorgetragene Einsicht wird mit einem positiven Gegenbeispiel konfrontiert. Der Erzbischof habe bemerkt, dass es in der Stadt einige »loca pia« gebe, die man »scole et consortia« nenne und die von Laien regiert werden. Die sechs wohltätigen Bruderschaften, die hier gemeint sind, werden namentlich aufgezählt: das Ufficio della Piet— dei poveri, die Misericordia, die Umilt—, die Divinit—, die dem Dritten Orden des hl. Franziskus assoziierte Bruderschaft (später Carit— genannt) und die Scuola delle Quattro Marie. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass »ihre Einkünfte ohne Betrug an die pauperes Christi, wie es sich nach der Satzung dieser Einrichtungen gehört, verteilt wurden«.48 Hier die von Laien geführten scholae, die »ohne Betrug« das Richtige tun, dort die Hospitäler, in denen alles aus dem Ruder läuft: Dass die Hospitäler von Geistlichen geleitet werden und der Kirche unterstehen, wird nicht ausdrücklich hervorgehoben, ist jedoch die zwingende Schlussfolgerung, die sich dem Leser aus dem Kontrast zwischen beiden Beobachtungen aufdrängt. Die als Konsequenz aus diesem Befund abzuleitenden Maßnahmen werden durch Verben eingeleitet, die die Absicht des Erzbischofs ausdrücken, auf den künftigen Gang der Dinge einzuwirken: »wir wollen« (»volentesque«), »wir sind der Meinung« (»opinantes«). Er will diesem Übel abhelfen und ist sich gewiss, dass er damit den Seelen derjenigen, die die Hospitäler einst in frommer Absicht gestiftet haben, einen großen Gefallen tun wird. Er hält es zudem für wahrscheinlich, dass die laikalen Spender die Hospitäler künftig umso großzügiger unterstützen werden, je besser sie sehen, dass deren Einkünfte »ad usum pauperum« gebraucht und nicht veruntreut werden; außerdem hofft er, dass durch größere Leistungen der Hospitäler das Betteln an den Häusern der Bürger aufhören wird.49 47 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXV S. 134: »quod hospitalia omnia Mediolani intus et foris, in suburbiis et intra Corpora Sanctorum, instituta retroactis temporibus, ob malam administrationem, curam et diligentiam administratorum non quantum debuit, sed parum et debiliter necessitatibus subvenerunt et de presenti subveniunt, quod quidem in hac civitate Mediolani notorium est, et ita quidem ut nemo sane mentis hoc ignoret, quod tantum plus dolendum est, quanto hospitalia ipsa propter pauperes fuerunt instituta«. – Die »Corpi santi« sind der vor den spätantiken Stadtmauern gelegene Bereich, in dem sich die Grabbasiliken und die ersten Klöster ansiedelten. 48 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXV S. 135: »quo magis ipsorum fructus sine fraude in pauperes Christi, ut decet, ex ordinatione ipsorum locorum, fuerunt dispensati«. Aus dem Rahmen der laikalen Bruderschaften fällt nur das Ufficio della Piet— dei poveri (hier : »domus Pietatis«), eine erzbischöfliche, aber mit Laienbeteiligung verwaltete Institution. 49 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXV S. 135. Ausschnitte: »quodquidem ad summam grati-

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Ein letztes Argument garantiert eine Rückversicherung in der Vergangenheit: Enrico Rampini ahmt (»imitantesque«) bewusst die alten Bräuche (»temporum antiquorum instituta«) nach, denn wie eine Inschrift am Ospedale del Brolo beweise, verteilten damals bruderschaftlich organisierte »Dekane« die Almosen zusammen mit den Hospitalleitern, und diese Dekane seien Laien gewesen.50 Die hier entfaltete Argumentation lehnt sich in mancherlei Hinsicht an die Clementine Quia contingit an, ist aber deutlich komplexer, weil sie sich auf vier miteinander verknüpfte Topoi stützt: (a) Position des Reformers, sowohl biblisch (Arme als Erben Christi) als auch kirchenrechtlich (Amt des Bischofs) hergeleitet; (b) Diagnose, aber (anders als in der Clementine) mit Kontrastierung des negativen durch einen positiven Befund; (c) allgemeine Absichten des Reformers und Hoffnungen für eine bessere Zukunft; (d) Rückbindung an eine bessere Vergangenheit, die durch die Inschrift, aber auch durch die Anspielung auf die ursprünglichen Stifterabsichten evoziert wird. Das Wort reformare kommt nirgends vor, reformatio nur ein einziges Mal quasi en passant in den Verordnungen im zweiten Teil, mit der technischen Bedeutung von ›Umbau der Räumlichkeiten‹ (»cura reformationis locorum ipsorum hospitalium«51). Und doch lässt die rhetorische Struktur der Einleitung keinen Zweifel daran, dass es hier um eine Reform im präzisesten Sinn des Wortes geht: Weil die Dinge so stehen, wie einleitend dargelegt, verabschiedet der Erzbischof – auf Grund seiner Gewalt als Diözesan und als päpstlicher Legat – eine Reihe von Verordnungen (Teil II), die die mittelalterliche Hospitallandschaft Mailands erheblich verändern werden. Sie seien im Folgenden zusammengefasst. (1) Der erste und wichtigste Punkt betrifft Wahl und Aufgaben der Deputati: Da Reform stets auch Neugestaltung von Verfahren ist, ersinnt Enrico Rampini eine mehrstufige Wahlprozedur. Im erzbischöflichen Auftrag ernennen jährlich einmal in der Fastenzeit Vertreter der Kommune (die Behörde der Dodici di Provvisione mit ihrem Vikar) und die Mitglieder der oben genannten sechs wohltätigen Bruderschaften oder loca pia jeweils zwei Wahlmänner aus ihrem tudinem animarum illarum cedere arbitramur, que pie et iuste dum in corporibus humanis fuerunt hospitalia illa instituerunt et dotaverunt«; »verisimileque opinantes quod eo magis laici manus suas ad hospitalia porrigent, quo magis viderint ipsorum fructus ad usum pauperum et nichil in sinistrum transire, cessabitque etiam et consequenter questus elemosinarum ad domos civium«. 50 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXV S. 135: »in hospitali Brolii decanos consortii pauperum, qui laici erant, simul cum ministro ad predictas dist[r]ibutiones fiendas aperte in lapide sculpto in muro dicti hospitalis fuisse legitur«. Zu den decani des Ospedale del Brolo, die eine schola oder ein consortium pauperum bildeten bzw. einer solchen Bruderschaft vorstanden, s. ebd., Nr. IV, V, X, u. XIII (vgl. auch oben, Anm. 26). Ebd., Nr. V S. 72, wird die von Enrico Rampini korrekt zitierte Inschrift im Zusammenhang mit den Statuten des Erzbischofs Galdino (1168 Aug. 22) erwähnt. Ein solcher ›Beirat‹ (nicht immer eine Bruderschaft) von laikalen decani war in mehreren Mailänder Hospitälern tätig, jedenfalls bis ins 14. Jh. 51 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXV S. 137.

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Kreis.52 Diese (insgesamt vierzehn) Wahlmänner53 wählen zusammen mit dem Vikar des Erzbischofs aus jedem Stadtsechstel acht Bürger aus, deren Namen dem Erzbischof präsentiert werden. Dieser ernennt je vier von ihnen zu Deputati und verleiht ihnen seine Vollmacht. Die Hauptaufgabe der auf diese Weise rekrutierten 24 Deputati, deren Amtszeit ein Jahr dauert, ist die korrekte Verteilung der Ressourcen der Hospitäler an deren arme Nutzer (»pauperes Christi«). Sie entscheiden darüber zusammen mit dem Minister des jeweiligen Hospitals, doch hat dieser nur eine Stimme und kann daher von den Deputati leicht überstimmt werden. Ihr Engagement ist ehrenamtlich. Die Punkte (2) bis (5) regeln die Vereidigung der Wahlmänner, das Gehalt der Hospitalleiter, über das der Erzbischof in einem späteren Erlass entscheiden will, die Einsetzung von Beamten für die Wirtschaftsführung in jedem Hospital und die künftige Abwicklung von Geschäften, die die Ministri nur noch mit Zustimmung der Deputati tätigen können.54 Zum Versammlungsort der Deputati bestimmt Punkt (6) das größte und ehrwürdigste Haus, das Ospedale del Brolo, »wie wenn es das Haupt dieser neuen Gesellschaft wäre«; in den Metaphern »caput« und »societas« deutet sich an, dass schon Enrico Rampini an eine Zentralisierung der Mailänder Hospitäler dachte.55 Punkt (7) verlangt Baumaßnahmen, die Errichtung von Altären und die Einstellung von Kaplänen in jedem Hospital, Punkt (8) definiert ein sehr breites Spektrum von Nutzern: Geholfen wird stationär aufgenommenen, aber auch externen Armen, seien sie krank oder nicht, sowie im Ospedale del Brolo speziell Findelkindern. In Punkt (9) behält der Erzbischof sich die Ersetzung einzelner Deputati vor, während Punkt (10) die Zusammenlegung kleiner Hospitäler ankündigt, aber auf ein späteres Dekret verschiebt.56 Der Schlussabsatz (11) konzediert den Deputati und Ministri das Recht, Änderungen vorzunehmen, behält das letzte Wort aber dem Erzbischof vor.57 Vor dem Eschatokoll, das als Zeugen den Bischof von Bobbio, den Abt und Kanonisten Bernardo del Carretto, ebenfalls Familiaren des Erzbischofs, sowie 52 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXV S. 135. Mit »Vicarius« ist hier der Leiter der Dodici di Provvisione gemeint. – Absatznummerierung Th. F. 53 Später scheinen alle zwölf Dodici di Provvisione mit ihrem Vikar an der Wahl teilgenommen zu haben; nach dem Dekret von 1448 sollten sie indes nur zwei Wahlmänner stellen. 54 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXV S. 135 f. 55 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXV S. 136 f.: »ad suprascriptum locum [hospitale Brolii] quasi caput istius nove societatis pro agendis ipsorum hospitalium omnium conveniatur«. 56 Punkte (7)–(10): Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXV S. 137. Zu den Unionen s. unten, Anm. 62, Dekret vom 27. April. 57 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXV S. 137: »facere declarationes, ordines, modus (sic!) et limitationes pro bona administratione ipsorum hospitalium«; »modus« ist wohl verlesen für »mod(ification)es«, ein juristischer Terminus technicus für ›präzisierende Einschränkung‹, der hier genau passen würde, s. Du Cange, Glossarium 5, S. 433 f., u. Battaglia, Grande dizionario 10, S. 667.

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Francesco della Croce nennt, greift eine kurze Ermahnung (Teil III) den in der Einleitung gezeichneten Kontrast zwischen Geistlichen und Laien wieder auf. Jetzt äußert Enrico Rampini die Hoffnung, dass dieser Gegensatz einem besseren Zusammenwirken Platz machen möge. Er beschwört die Ministri der Hospitäler und die Deputati, zu kooperieren; die Laien sollen nicht versuchen, den Klerus zu beherrschen, die Ministri aber sollen in der Hospitalverwaltung so viel leisten, dass die Laien irgendwann von selbst einsehen, dass ihre Hilfe eigentlich überflüssig ist.58 Dieses Wunschergebnis der Reform wird hier vorweggenommen, wie wenn die zuvor aufgelisteten Maßnahmen bereits erfolgreich umgesetzt worden wären. Der Ausblick ergänzt die in der Einleitung entfalteten Argumente, indem er den dort proklamierten Zielen der Reform ein weiteres hinzufügt. Während eingangs die Wirkungen auf die Laien und die Mailänder Stadtgesellschaft hervorgehoben werden (Seelenheil der Stifter, Steigerung künftiger Zuwendungen, Reduzierung des Bettelns), geht es hier um die klerikale Seite: Diese darf, wenn sie denn einmal das Fegefeuer der erzbischöflichen Reformmaßnahmen unter dem Ansporn laikaler Kontrolle durchlaufen hat, damit rechnen, wieder in ihre alten Rechte eingesetzt zu werden. Von der Möglichkeit vorsichtiger Interpretation (»declarationes«) dieser Verordnungen, wie sie in Punkt (11) den Deputati eingeräumt wird, machte Enrico Rampini selbst als erster Gebrauch. In einem Zusatzdekret vom 27. April 1448 widmete er sich den Auswirkungen seiner Reform auf die Ministri der Hospitäler.59 Man kann es – wieder abgesehen von den protokollarischen Teilen – in sechs Absätze unterteilen. (1) In erster Linie geht es um die finanzielle Absicherung der Ministri, die im März (dort in Punkt 3) angekündigt worden war. Das Personal von zwölf Hospitälern wird aufgelistet. Der Vergleich der Gehälter ergibt, dass der Erzbischof für jeden Minister 30 duc. und für jeden Religiosen 20 duc. pro Jahr vorsieht. Am meisten fällt im Ospedale del Brolo an, wo der Minister mit »personis sex ad servitium« agiert und aus den Einnahmen jährlich 150 duc. abzweigen darf. Dass es sich bei diesen »Personen« um die fratres (und/oder sorores), also die Reli-

58 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXV S. 137. Zwar ist der Satz in der Edition entstellt (s. den von mir kursivierten Passus) und lässt daher keine exakte Übersetzung zu, sei aber dennoch wiedergegeben: »Nos omnes ministros et laicos cives sic deputatos seu deputandos per viscera misericordie Domini nostri Jhesu Christi obtestamur quod sic secundum Deum simul vivere studeant, quod neque laici ipsi dominantes in clerum et ministri illi forma gregis facti per sua bona opera incedentes se tales ostendant, ut in hac hospitalium administratione cura laicorum etiam laicis ipsis superflua esse videtur.« 59 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXVI S. 138 f. Zur Pergamentausfertigung (1450 Juni 23) dieses Dekrets s. oben Anm. 43. Der hier schreibende Notar (Iohannes de Daverio) hat das Eingangsprotokoll gekürzt. – Absatznummerierung Th. F.

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Die Mailänder Hospitalreform und das Ospedale Maggiore

giosen, handelt, geht aus der Beschreibung ihres Habits weiter unten hervor.60 Aus der Gehaltsliste erfahren wir, wie groß (oder besser : wie klein) diese Hospitalkommunitäten inzwischen waren. Von zwölf genannten Hospitälern verfügten vier über eine einzige solche »persona«, zwei (S. Bernardo, S. Martino) nährten allein ihren Minister, die übrigen sechs hatten zwei bis sechs Religiosen. Im Dekret vom 9. März kamen die fratres und sorores nur versteckt vor: Dort wurde hin und wieder, wenn von einem Minister die Rede war (in Punkt 3 und 5), das Possessivpronomen »et sui« hinzugefügt, das sich auf die zugehörigen Religiosen beziehen muss. (2) Von den Ministri fordert das Dekret ein Mindestalter von 30 Jahren, einen guten Ruf, nach Möglichkeit die Priesterweihe und eine Profess auf die Augustinusregel. Außerdem wird der Habit der Ministri wie auch (3) der einfachen fratres festgelegt, die ebenfalls auf die Augustinusregel Profess leisten und sich durch »zello (sic!) caritatis« auszeichnen sollen. Die Ministri müssen (4) mindestens zweimal im Jahr mit den Deputati Rechnung legen und die Ergebnisse dem Erzbischof präsentieren. Sie haben (5) in den Sitzungen mit den Deputati das Recht auf einen Ehrenvorrang61. Im letzten Punkt (6) werden die am 9. März schon angekündigten Unionspläne konkretisiert: Beim Ausscheiden oder Tod ihrer aktuellen Ministri sollen die Hospitäler S. Bernardo und S. Maria Maddalena vereinigt und dann dem Hospital S. Simpliciano inkorporiert werden.62 Dass dieser rhetorisch weniger aufwändige zweite Erlass, der im Wesentlichen die materiellen Konsequenzen der Reform zu Ende denkt, auf größere Widerstände als der erste stieß, wird uns später noch beschäftigen. Die Neudefinition des Amtes der Deputati hingegen, die sich in eine Kette von vorausgehenden Initiativen einreiht, wurde rasch umgesetzt. Der neue Wahlmodus, die Vergrößerung und die ersten Unternehmungen des neuen Vorstands der Mailänder Hospitäler schlugen sich unmittelbar, ab März 1448, im ältesten Register seiner Sitzungsprotokolle nieder.63 Ganz offensichtlich war die Intervention des Erzbischofs mit der Regierung der Ambrosianischen Republik abgesprochen. Denn diese unterstützte die Deputati im Sommer 1448 mit einer Schenkung, die das Vermögen des sich herausbildenden Mailänder Hospital-Pools um einen wichtigen Baustein erweiterte. Mit ihrer feierlichen, durch eine illuminierte C – Initiale mit Darstellung des 60 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXVI S. 138: »alie vero persone ad servitium dictorum hospitalium deputate sint [… Lücke im Text] professe ordinem (sic!) Sancti Augustini …« 61 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXVI S. 138. 62 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXVI S. 139. Es folgen das Schlussprotokoll mit teilweise anderen Zeugen als am 9. März und die Beglaubigung der doppelten Pergamentausfertigung durch den Notar Iohannes de Daverio (s. oben, Anm. 43). 63 AOM, Ordinazioni capitolari 1, f. 17r. Zu dieser Neuwahl der Deputati s. auch Pecchiai, L’Ospedale maggiore, S. 112 f., der das Register auswertet.

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hl. Ambrosius eröffneten Schenkungsurkunde64 übertragen die »Capitanei et defensores libertatis« den »pauperes Christi« und in deren Namen den Deputati umfangreiche Gebäude in Cusago, wenige Kilometer westlich von Mailand gelegen. Dort sollten in normalen Zeiten »pauperes« beherbergt, in Zeiten der Pest jedoch die Infizierten aufgenommen werden; die Versorgung der Pestkranken und der Kampf gegen die Seuche wurden damit ausdrücklich zur Aufgabe der Mailänder Hospitäler erklärt. Sie hätten, so verkünden die Capitanei in der Narratio, nach dem Tod des letzten Herzogs ihre Gedanken »unter anderem der Reform der Hospitäler« zugewandt, mit denen es wegen der »schlechten Regulierung ihrer Ministri von Tag zu Tag bergab ging«. Der Erzbischof habe dazu Anordnungen getroffen, die auf Antrag der Republik auch der Papst bestätigt habe. Demnach seien 24 »Deputati für diese Reform und Regulierung« ernannt worden, damit »die Güter der Hospitäler mit der angemessenen Ordnung verwaltet und die Armen Christi nicht um ihr Recht betrogen werden«.65 Ein Geschenk mit Tücken: Als Sonderstandort für Seuchenjahre hatte Cusago seine Bewährungsprobe schon kurze Zeit später zu bestehen. Als Mailand und große Teile Italiens 1450 – 1451 von einer schweren, sich seit 1448 ankündigenden Pestepidemie heimgesucht wurden, wurden die Gebäude für den in der Urkunde festgelegten Zweck tatsächlich genutzt. Dies hat im ersten Registerband der Deputati deutliche Spuren hinterlassen, denn von April bis September 1451 füllte er sich mit Notizen über Krankenpfleger, Fuhrleute oder Totengräber, die nach Cusago geschickt wurden.66 Doch von dieser praktischen Folge der Schenkung abgesehen, zeigt die Urkunde noch mehr : Zum einen bezeugt sie ausdrücklich eine Allianz zwischen Ambrosianischer Republik und kirchlicher Obrigkeit in Sachen Hospitalreform. Zum anderen trifft sie einige sprachliche Entscheidungen, die hervorzuheben sind: Anders als das erzbischöfliche Dekret vom März 1448 definieren die Capitanei den Eingriff in die Hospitäler klar als »reformatio«; und sie verwenden den Neologismus »regulatio«67 als Terminus 64 AOM, Diplomi 1405 (1448 Aug. 31). Abbildung in Cosmacini, La carit— e la cura, S. 42 f. 65 AOM, Diplomi 1405 (einzelne Buchstaben wegen Falte im Pergament nicht lesbar): »direximus statim animum nostrum inter cetera ad reformanda hospitalia huius inclyte Civitatis nostre que per malam ministrorum suorum regulationem deteriora in dies efficieban[tur]«; »deputati […] ad eiusmodi reformationem et regulationem«; »quod bona hospitalium ipsorum debito cum ordine suo regentur nec pauperes Christi iure fraudabuntur suo«. 66 AOM, Ordinazioni capitolari 1, f. 66v–80v. Zu dieser Epidemie von europäischen Ausmaßen (1448 – 1451) s. Albini, Guerra, besonders S. 27 f., 121 – 138. 67 Das Wort ist weder im klassischen lateinischen Vokabular noch in Du Cange, Glossarium, nachgewiesen. Hingegen kommt die Volgare-Form regolazione seit dem 14. Jh. bei Predigern (als individueller Prozess) und im kommunalen Wortschatz (als Regelung, Statut) vor (Battaglia, Grande dizionario 15, S. 747 f.); aus ihr dürfte die lateinische Form abgeleitet sein. Auch die Sforza-Kanzlei verwendete das Wort, als der Herzog 1450 versuchsweise seine eigenen Deputati »ad regulationem hospitalium« ernannte (Pecchiai, L’Ospedale maggiore, S. 118).

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Die Mailänder Hospitalreform und das Ospedale Maggiore

technicus für den ›regulierenden‹ Eingriff in institutionelle Abläufe (»reformationem et regulationem«), aber auch im negativen Sinn für das Fehlen einer solchen Regelhaftigkeit (»per malam ministrorum suorum regulationem«). Diese regulatio, die nichts mit der Welt des ›Regularklerus‹ bzw. der religiösen Orden zu tun hat, oszilliert ähnlich wie reformatio zwischen der individuellen und der institutionellen Ebene, nuanciert die Bedeutung jedoch mit Blick auf die ›regelnde‹ Intervention einer dazu befugten Autorität. Zwei Punkte seien an dieser Stelle bilanziert: Erstens mussten in dieser ersten ernsthaften Phase der Reformarbeit die Argumente, mit denen die Notwendigkeit von Korrekturen untermauert werden sollten, nicht neu erfunden werden. Die Clementine Quia contingit hatte eine brauchbare rhetorische Struktur bereitgestellt; Notare und Kanzleien, die diese Dekretale gelesen hatten, griffen, selbst wenn sie sie nicht wörtlich zitierten, die von ihr bereitgestellten Argumente auf. Allerdings geht der Erlass des Erzbischofs vom 9. März 1448 über Quia contingit hinaus und erweitert das rhetorische Instrumentarium in Sachen Hospitalreform. Zweitens sind als Teilnehmer an der Mailänder Reformdebatte die folgenden Gruppen auszumachen: Zu den Initiatoren und Befürwortern zählten ein Teil, vemutlich die meinungsführende Mehrheit, der laikalen Elite der Stadt, die auch die Regierung der Repubblica Ambrosiana stellte,68 sowie ein Teil des führenden Klerus, insbesondere Erzbischof Enrico Rampini und der primicerius Francesco della Croce (nach dem Tod des Kardinals 1450 änderten sich die Kräfteverhältnisse im Klerus wieder). Die Gegner sind vorwiegend unter den Rektoren (Ministri) der Hospitäler zu suchen, die ebenfalls aus hochgestellten Familien kamen, sowie unter jenen Personen, die mit Zustimmung der Rektoren große Güterkomplexe der Hospitäler gepachtet hatten. Es war daher keineswegs ausgemacht, dass die Reformfraktion sich rasch würde durchsetzen können. In der Tat gelang es den Deputati trotz teilweise einschneidender Initiativen – zu nennen etwa ihr Versuch, am 1. August 1448 gleich 27 neue Hospitalrektoren in Stadt und Land zu ernennen69 – in den ersten Jahren nicht, die Mailänder Hospitallandschaft grundlegend umzugestalten.

68 Albini, Citt— e ospedali, S. 233 – 256, gibt eine alphabetisch nach Familiennamen geordnete Liste der Deputati von den Anfängen bis 1499, aber eine prosopografische Aufbereitung wurde bis heute nur in Ansätzen versucht (etwa: Ferrari, L’Ospedale Maggiore, S. 259 f.; Albini, La Fundatio). 69 Zu den ersten Maßnahmen der Deputati s. Pecchiai, L’Ospedale maggiore, S. 112 – 118.

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Die Gründung des Ospedale Maggiore

3.

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Francesco Sforza, Bianca Maria Visconti und die Gründung des Ospedale Maggiore

Tauziehen um die Gründung (1450 – 1455) Der Zusammenbruch der Ambrosianischen Republik bedeutete auch für den von ihr kreierten Vorstand der Mailänder Hospitäler einen Neuanfang. Es zeigte sich jedoch rasch, dass das Herzogspaar, Francesco Sforza und Bianca Maria Visconti, die Hospitalreform nicht nur unterstützte, sondern deren Sichtbarkeit durch die Errichtung eines neuen Gebäudes sogar erheblich steigern wollte. Für eine solche Lösung gab es in ihrem Herrschaftsgebiet bereits Beispiele: In Pavia, wo Sforza vor seinem Einzug in Mailand residiert hatte, war das Hospital S. Matteo seit 1449 im Bau und in Cremona waren die Planungen so weit gediehen, dass ein Jahr später, 1451, mit dem Bau des neuen Großhospitals S. Maria della Piet— begonnen werden konnte.70 Die Idee war also nicht völlig neu. Dennoch bleibt Mailand mit seinem architektonisch innovativen Renaissancehospital – dem Ospedale Maggiore oder der C— Granda, wie es in der Stadt auch genannt wird – der Paradefall der norditalienischen Hospitalreform. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass die neuere Forschung den Neubau, dem vor allem die Kunstund Architekturgeschichte die Aura eines repräsentativen Fürstenprojekts verliehen hatte, stärker an seinen historischen Kontext rückbindet: Was zum Beispiel den basalen Aspekt der Finanzierung betrifft, steht fest, dass das Herzogspaar dazu so gut wie nichts beisteuern konnte.71 Es liegt daher nahe, die C— Granda als Schauplatz fortgesetzter Debatten zu deuten, die wir nun weiterzuverfolgen haben. Im Vergleich zu den Studien von Pio Pecchiai, der sich durch die Auswertung des Hospitalarchivs zwar große Verdienste erworben hat, aber die von seinen Archivalien offen gelassenen Aspekte vernachlässigte oder mit Topoi aus seiner Laisierungs-Erzählung auffüllte, brachte ein Aufsatz von Franca Leverotti (1984) den größten Fortschritt.72 Erst die von ihr ausgewerteten Akten der herzoglichen und kommunalen Behörden ermöglichen es, die in Mailand und zwischen Mailand und Rom geführten Debatten um das neue Hospital wenigstens in groben Zügen nachzuzeichnen. Auf dieser Grundlage wandten sich Giuliana Albini und ihre Mitarbeiter seit den 1990er Jahren wieder dem Hospitalarchiv 70 Crotti, Il sistema caritativo-assistenziale, S. 154; Ricci, I corpi della piet—, S. 45 – 50. 71 Piseri, Pro necessitatibus nostris, arbeitet die schwierige Finanzlage des Sforza und die ökonomische Seite seines Bündnisses mit den Medici und Cosimo il Vecchio auf neuer Quellengrundlage anschaulich heraus. 72 Leverotti, Ricerche sulle origini. Die traditionelle Sicht bei Pecchiai, Le origini, oder Cosmacini, La C— Granda, S. 45 – 60. Differenzierter Pecchiai, L’Ospedale Maggiore, S. 118 – 129.

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Die Mailänder Hospitalreform und das Ospedale Maggiore

zu, um durch systematische Erschließung einzelner Registerserien die Sozialund Wirtschaftsgeschichte des laufenden Betriebs in den ersten Jahrzehnten seiner Geschichte zu durchleuchten.73 Im Folgenden werden die wichtigsten Stationen der Gründung vor allem nach Leverotti insoweit resümiert, als es für die Kontextalisierung der näher vorzustellenden Texte notwendig ist. Die Annahme, dass Francesco Sforza den Hospitalbau schon bald nach seinem Amtsantritt im März 1450 ins Auge fasste, wird seit Pecchiai damit begründet, dass er der Stadt ein ›freundliches‹ Gegenstück zu seinem anderen, ›feindlichen‹ Projekt präsentieren wollte – dem Wiederaufbau des Kastells (Castello Sforzesco) auf der gegenüberliegenden Nordwestseite Mailands.74 Ob die Mailänder sich durch den Hospitalplan wirklich von der sofort 1450 in Angriff genommenen, ungeliebten Stadtfestung ablenken ließen, ist zwar fraglich. Doch spätestens im Frühjahr 1451 wurden konkrete Schritte unternommen, um das Hospital zu realisieren und zum Zentrum einer Hospitalunion zu erheben: Zu dieser Zeit schickte Francesco einen Gesandten nach Rom, um die Zustimmung Papst Nikolaus’ V. einzuholen, und bat Cosimo de’ Medici um eine Zeichnung des Florentiner Hospitals S. Maria Nuova. Doch trotz des prinzipiellen Einverständnisses des Papstes und der guten Ratschläge Cosimos verzögerte sich die Umsetzung. Dies lag zum einen daran, dass die finanziellen Aufwendungen des Herzogs für den Kastellbau, an dem seit September 1451 der Florentiner Architekt Filarete mitwirkte, im Verein mit den Kosten des Krieges gegen Venedig keinen Spielraum ließen, um eine weitere Großbaustelle zu bezahlen oder auch nur zu subventionieren. Der Höhepunkt der Pestepidemie im Sommer 1451 lähmte die Stadt zusätzlich. Zum anderen schlug den Befürwortern der Hospitalreform Widerstand aus der erzbischöflichen Kurie unter dem neuen Diözesan Giovanni (III.) Visconti (1450 – 1453) und aus Teilen des Klerus entgegen. Die notorische Ablehnung der Reform durch die noch amtierenden Hospitalrektoren bekam dadurch neue Kraft.75 Für die Haltung des Erzbischofs Giovanni Visconti sind drei Zeugnisse besonders aufschlussreich: ein Brief, in dem der Herzog ihn am 31. Januar 1452 offiziell über sein Hospitalprojekt informierte, eine Serie von erzbischöflichen Urkunden für vier Mailänder Hospitäler (1451 Juni 6) und ein Dekret des Erzbischofs vom 2. Februar 1453, das die mit seinem Vorgänger Enrico Rampini verbundene Reform neu interpretiert. Der Brief des Sforza ist in einer in die Biblioteca Ambrosiana gelangten Sammlung von Dokumenten überliefert, die ein Gelehrter um 1800 teils aus den Registern der herzoglichen Verwaltung 73 S. neben den Arbeiten von G. Albini auch: Ferrari, L’Ospedale Maggiore, Albini/Gazzini, Materiali, S. 150 (Vorarbeiten verschiedener Projektmitarbeiter/innen). 74 Pecchiai, L’Ospedale maggiore, S. 163; Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 79; Boucheron, Le pouvoir de b–tir, S. 238 f. – Zur Lage von Kastell und Ospedale Maggiore s. Plan 3. 75 Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 79 – 82.

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herausgeschnitten und teils aus Originalbriefen oder eigenen Abschriften zusammengestellt hat.76 Der mit »C« (für Sforzas Kanzler Cichus Simonetta) signierte Brief von 1452 fasst zunächst das Bau- und Unionsprojekt zusammen: Ohne Zweifel ist Eure Vaterschaft schon darüber informiert, wie sehnlichst wir wünschen und wie fest und unerschütterlich wir entschlossen sind, alle Hospitäler dieser unserer Stadt Mailand zu reformieren und so wiederherzustellen, dass ihre Einkünfte von nun an wirklich an die Armen Christi gelangen und nicht verschwendet werden wie bisher. Und Eure Vaterschaft weiß auch, dass wir beabsichtigen, zum Lob des allmächtigen Gottes, zum Heil unserer und unserer Nachkommen Seele, zum Schmuck und Ruhm dieser unserer Stadt und zum Nutzen der Armen alle unsere großen und gewaltigen Paläste beim Brolo und Lagetto zu verschenken, um dort ein prächtiges und großes Hospital zu errichten; von diesem sollen, wie von einem Oberhaupt, alle übrigen Hospitäler der Stadt abhängen, und sie sollen von jenen 24 Bürgern geleitet werden, die durch erzbischöfliche Autorität abzuordnen sind, und zwar gemäß den Statuten, die ihnen einst vom apostolischen Stuhl gegeben und feierlich bestätigt wurden.77

Diese merkwürdige Narratio, die sich selbst für überflüssig erklärt, weil der Empfänger ja schon alles weiß, breitet eine geschickte Mischung von innovativen und traditionellen Gesichtspunkten aus. Das von Erzbischof Enrico 1448 geprägte Reformargument wird aufgegriffen, aber in einem Halbsatz konzentriert: Reform, um zu Gunsten der Armen die bisherige Verschwendung abzustellen. 76 Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 82 Anm. 30 u. passim, wertet diese Sammlung systematisch aus; zu ihrer Geschichte s. Leverotti, L’ospedale senese, S. 278 f. Es handelt sich um BA, Ms. I 399 inf. Die Papierhülle, die die Einzelblätter und Faszikel zusammenhält, ist von der Hand des Sammlers (wahrscheinlich Pietro Custodi) beschriftet: »Spedale maggiore di Milano – Esposti – Lazaretti, ec(cetera) nel sec(olo) XVe preced(enti) e posteriori«. Dieser Gelehrte interessierte sich für die Geschichte der Mailänder Wohlfahrtseinrichtungen und die Monti di Piet—, besaß aber kein Zartgefühl für die von ihm ›verzettelten‹ Registerbände. Jedes Blatt wurde später mit einer fortlaufenden Nummerierung versehen, doch vielfach sind auch die alten Blattzählungen der Sforza-Register noch zu erkennen (Beispiele unten, Anm. 99, 109). – Die Sammlung enthält (f. 32r–37v) auch einen Bericht über das Hospital S. Maria della Scala in Siena, über das man in Mailand informiert sein wollte. Leverotti, L’ospedale senese, hat ihn gesondert ediert und auf 1456 datiert, aber s. die Rückdatierung auf 1399 bei Piccinni/Vigni, Modelli di assistenza, S. 137. 77 BA, Ms. I 399 inf., f. 28r : »Non dubitamus p(aternitatem) v(estram) informatam esse cum quanto desiderio affectemus nostrique sit firmi et inconcusi (sic!) propositi, hospitalia omnia huius nostre urbis Mediolani reformari et ita reduci, ut eorum redditus transeant deinceps realiter in pauperes Christi, non dilapidentur ut hactenus; eandem q(uoque) paternitatem scire quod intendimus omnino ad laudem Dei omnipotentis et pro salute anime nostre et descendentium a nobis decoremque et famam eius urbis nostre et utilitatem pauperum donare omnia palatia nostra magna et ingentia de Brolio et Lagetto pro uno solempni et magno hospitali ibidem constituendo, a quo ut capite principali cetera omnia hospitalia civitatis dependeant et regantur per illos XXIIII cives auctoritate archiepiscopi deputandos et secundum formam capitulorum eis alias per sedem apostolicam concessorum et solempniter confirmatorum.«

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Teilweise neu sind die Mittel, dies zu erreichen: Aufbau eines Hospitalsystems, das einem neu zu errichtenden Zentralhaus unterstellt sein soll. Bestehen bleibt das vom Papst schon bestätigte Gremium der 24 Deputati, die weiterhin im Auftrag des Erzbischofs operieren. Neu ist hingegen der Aspekt der fürstlichen Stiftung, der sich aus der geplanten Schenkung des Baugeländes ergibt: Die alten Visconti-Paläste im Brolo, die Francesco Sforza großzügig verschenken will, liegen am »Lagetto«, also an einer Stelle der südöstlichen Stadtmauer und ihres Wassergrabens, an der das Ospedale Maggiore später in der Tat gebaut werden wird. Die für diese Schenkung gegebenen Begründungen sind wiederum der Tradition entnommen: zu Ehren Gottes, zum Seelenheil, zum Dekor der Stadt und zum Wohl der Armen – dagegen lässt sich nichts einwenden. Zweck dieser Einleitung ist es, die Forderung des Herzogs an den Erzbischof vorzubereiten: Er soll sich der Supplik anschließen, mit der das Volk und die Kommune von Mailand, das Herzogspaar und die Deputati den Papst um Bestätigung ihres Vorhabens bitten wollen, damit das fromme Werk nicht länger verzögert werde. Es mache, so die eher unsanfte Schlussbemerkung, sicherlich einen schlechten Eindruck auf die Kurie, wenn in diesem großen Kreis von Petenten ausgerechnet der Oberhirt fehle, den das Thema doch zuallererst angehe. Der Oberhirt hatte jedoch seine eigene Meinung. Er hatte schon im Juni 1451, anlässlich der Pest, den Rektoren von vier Hospitälern – Brolo, S. Caterina, S. Dionigi und S. Simpliciano – mitgeteilt, dass er zusammen mit dem herzoglichen Rat (»consilio ducali«) einige freiwillige Bürger beauftragt habe, sich um die Pestkranken zu kümmern.78 Die dazu nötigen Mittel sollten auch aus den genannten Hospitälern kommen, und zwar aus der Differenz zwischen den Gesamteinnahmen und den für den laufenden Betrieb benötigten Mitteln. Der Erzbischof verwendete deshalb einige Mühe darauf, herauszubekommen, wieviel Geld die Rektoren für den Betrieb, das heißt für sich, ihre Religiosen, Angestellten und die armen Insassen jährlich brauchten; um diese Summe zu garantieren, schrieb er ihnen bestimmte Güterkomplexe zu, über die sie künftig verfügen durften. Im Ospedale del Brolo betrug diese, aus zehn einzeln aufgelisteten Besitzungen gespeiste Pauschale im Jahr 1500 fl., was einem guten Viertel der Gesamteinnahmen entsprach; in den kleineren Häusern war sie niedriger, scheint aber in jedem Fall weit über den 1448 von Enrico Rampini für Rektoren und Religiosen festgesetzten Pensionen zu liegen (zur Erinnerung: im Ospedale del Brolo 150 duc.). Die Bewertung der Zahlen von 1451 ist allerdings nicht so einfach, wie oft behauptet wird, denn zum einen waren floreni weniger 78 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXVII – LXX S. 139 – 142 (alle 1451 Juni 6 und im Original im AOM). Den vollen Text gibt der Editor nur für Nr. LXVII (Ospedale del Brolo), bei den anderen, die »ähnlich« seien, beschränkt er sich auf die jeweilige Liste der Besitzungen. »Consilio ducali« ebd., S. 139.

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wert als Dukaten und zum anderen mussten von der neuen Pauschale erheblich mehr Menschen ernährt werden.79 Der Vorteil für die Rektoren war allerdings, dass sie nach der neuen Regelung ihr Gehalt steigern konnten, sofern sie die Zahl der Insassen verminderten. Dass der neue Erzbischof mit dem Gang der Dinge nicht einverstanden war, zeigen nicht nur die spitzen Bemerkungen in dem zitierten Brief des Herzogs vom Januar 1452, sondern auch seine weiteren Maßnahmen80 und vor allem ein Dekret, das er am 3. Februar 1453 verabschiedete.81 Man macht es sich allerdings zu leicht, wenn man diesen Erlass als Zeugnis einer generell reformkritischen Haltung interpretiert. Vielmehr hat auch er den Charakter eines Reformtextes, ebenso wie das Dekret von 1448 und wie viele andere Reformstatuten, die in diesem Buch noch näher vorgestellt werden. Der Erzbischof erklärt, dass es eine seiner Hauptsorgen sei, die »zur Sphäre unserer Jurisdiktion gehörenden Hospitäler und wohltätigen Einrichtungen« in guten Händen zu wissen. Leider habe eine von ihm veranlasste Visitation feststellen müssen, dass die Rektoren einiger Hospitäler deren Mittel nicht für »arme und elende Personen«, sondern zum eigenen Nutzen einsetzen. Wir verachten ihre Nachlässigkeit und ihren Missbrauch und wollen diese Hospitäler in allen eben genannten Punkten heilsam reformieren und diese Rektoren – je nach den Möglichkeiten und Einkünften derselben Hospitäler – zur Aufnahme und zum Unterhalt der armen und elenden Personen zwingen, wie es die Pflicht unseres Hirtenamts verlangt. Wir fordern alle und jeden der Ministri und Rektoren der genannten Hospitäler […] auf, wir ermahnen sie und geben ihnen nichtsdestoweniger im Namen des heiligen Gehorsams und bei Strafe des Verlustes der Ministerämter in den genannten Hospitälern umso strenger den Auftrag, dass jeder von ihnen zusieht, binnen sechs Tagen […] die unten stehenden Anordnungen, die wir mit Hilfe unseres verehrungswürdigen Vikars und der von uns ernannten Visitatoren angefertigt haben, als heilsame und den heiligen Kanones entsprechende [Normen] in die Tat umzusetzen.82 79 Pecchiai, L’Ospedale maggiore, S. 124 f., unterstellt eine Erhöhung der Pensionen. Die floreni von 1451 sind Zählgulden — 32 sol., während Dukaten 1448 etwa 65 sol. wert waren. Von den Pauschalen sollten 1451 aber auch die Kapläne, Diener und v. a. die Insassen unterhalten werden, was 1448 nicht vorgesehen war. Wenn z. B. das große Ospedale del Brolo im Schnitt 100 Personen versorgte, die pro Kopf jährlich, vorsichtig geschätzt, 5 duc. kosteten, dann wären allein für sie 500 duc. (= 1000 fl.) aufzubringen gewesen; für den Rektor, die Religiosen, den Kaplan und das Dienstpersonal blieben 500 fl. (= 250 duc.), also nicht so viel mehr als die 150 duc., die Enrico Rampini für Rektor und Religiosen vorgesehen hatte. 80 Nach Pecchiai, L’Ospedale maggiore, S. 121 f., veränderte er die Zusammensetzung der Deputati und ernannte wieder Hospitalrektoren auf Lebenszeit (ebd., S. 125). 81 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXXI S. 142 – 144 (nach Original im AOM). 82 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXXI S. 143: »Nos incuriam et abusum ipsorum detestantes ac hospitalia ipsa in predictis omnibus salubriter reformare volentes et rectores ipsos ad pauperum et miserabilium personarum huiusmodi receptionem et sustentationem debitam iuxta facultates et proventus hospitalium ipsorum compellere, prout ex offitii nostri pastoralis debito astringimur ; universos et singulos ministros seu rectores hospitalium pre-

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Diese Bestandsaufnahme ist kaum weniger deutlich als die Diagnose des Vorgängers, die Sanktionierung einer Nichtbefolgung der angekündigten Reformmaßnahmen sogar um einiges strenger als bei Enrico Rampini. Nach der Datierungsformel folgen als Anhang die in sieben Abschnitte eingeteilten »Ordinationes«. Es besteht kein Grund, diese Vorschriften als belanglos abzutun, nur weil einige von ihnen (die zweite bis sechste) sich auf die Grundbedürfnisse der Hospitalinsassen, nämlich Ernährung, Kleidung, Hygiene und Heizung konzentrieren. Der Vergleich mit anderen Reformstatuten, zum Beispiel im HútelDieu von Paris, wird zeigen, dass es oft genau darum ging: dem Personal einzuschärfen, wenigstens diese Grundbedürfnisse sicherzustellen. Während der erste Paragraf die schon einleitend erwähnte Pflicht, so viele Bedürftige wie möglich aufzunehmen, präzisiert, spricht der siebte und letzte ein heikles Thema ungewöhnlich offen an: Zu den kirchenrechtlich vorgeschriebenen Pflichten der Rektoren und Religiosen gehöre es sicher nicht, Güter zu verschleudern und die Hospitalgebäude verfallen (»ruinis deformari«) zu lassen. Deshalb scheine es besonders absurd, wenn ein Hospital, das schon Rektor und Religiosen ernähre, auch dessen Verwandte mitversorge und zusätzlich noch Verwaltungspersonal bezahle! Da all dies zu Lasten der Armen gehe, verbietet der Erzbischof sowohl die Einstellung besoldeten Personals als auch die Präsenz von Verwandten. Ausnahmen sind nur dann zulässig, wenn die Arbeit ohne bezahlte Verwalter nicht zu schaffen wäre bzw. wenn die Verwandten im Hospital tatsächlich Dienste erbringen, wofür sie aber nicht mehr als ihren Lebensunterhalt bekommen dürfen.83 Seit Pecchiai wurde das gesamte Dekret ausschließlich im Licht dieser letzten Ausnahmeklausel gelesen: Es sei dem Erzbischof nur darum gegangen, die nepotistische Misswirtschaft der Rektoren durch die Hintertür zu legalisieren.84 Diese auf den Vorwurf der Heuchelei hinauslaufende Deutung ist, wenn man sich den gesamten Tenor des Dekrets in seinem Kontext vergegenwärtigt, nicht dictorum […] requirimus et monemus, dantes eis et eorum singulis nichilominus in virtute sancte obedientie et sub pena privationis ministratuum hospitalium predictorum districtius in mandatis, quatenus infra sex dies proximos futuros […] quilibet ipsorum ordinationes infrascriptas, quas assistentibus nobis venerabili vicario nostro et visitatoribus per nos cum ipso deputatis fecimus, tamquam salubres et sacris canonibus conformes adimplere studeat cum effectu.« – Das Zitat weiter oben ebd.: »hospitalia et alia pia loca jurisdictionis nostre ambitu comprehensa«. 83 Bascapè, Antichi diplomi, Nr. LXXI S. 144: »quod nullus minister seu rector habens fratres seu professos hospitalis sui negociorum gestores salariatos nec aliter tenere (debe)at, nisi negocia loci seu hospitalis talia et tanta fuerint, quod per magistrum et fratres comode expediri non possint. Nullus etiam patrem, fratres, consanguineos vel affines in hospitali suo tenere presumat, nisi pro servitiis hospitalis, quo casu etiam eis vite necessaria sufficiant.« Die Präsenz von Verwandten der Rektoren war schon 1448 von den Deputati bekämpft worden (Pecchiai, L’Ospedale maggiore, S. 117). 84 Pecchiai, L’Ospedale maggiore, S. 126 f.; ähnlich Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 82, 85; Cosmacini, La C— Granda, S. 48.

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gerechtfertigt. Dass Giovanni Visconti unter dem Deckmantel eines Reformstatuts in Wahrheit jegliche Reform unterminieren wollte, kann man ihm nur unterstellen, wenn man die (letztlich siegreiche) Sforza-Variante zur einzig denkbaren Reform erklärt. Angesichts der Tatsache, dass die angebliche Begünstigung der Rektoren in den Dekreten von 1451 weniger eindeutig ausfällt, als es den Anschein hat, ist es korrekter, die Äußerung Giovannis zur Hospitalreform genau so ernst zu nehmen wie die Äußerungen der Gegenseite und sie alle als Beiträge zu einer 1453 noch offenen Debatte zu deuten. Es gibt zwar in der Tat eine Reihe von Indizien dafür, dass der Erzbischof an der Reform seines Vorgängers Enrico Rampini einiges auszusetzen hatte und erst recht über das Sforza-Projekt besorgt war.85 Worauf es ihm eigentlich ankam, scheint in der oben zitierten Wendung »hospitalia et alia pia loca jurisdictionis nostre ambitu comprehensa (Hervorhebung Th. F.)« zusammgefasst zu sein: auf die erzbischöfliche Jurisdiktion über die Hospitäler, ein Recht, das er durch die Maßnahmen seines Vorgängers und noch mehr durch das geplante Zentralhospital gefährdet sah. Von daher erklären sich seine Schritte zur Entmachtung der Deputati und zur Stützung der bisherigen Rektoren: Letztere mochten nachlässig arbeiten, aber immerhin unterstanden sie dem Erzbischof; ihrer Nachlässigkeit ließ sich durch eigene Reformen begegnen, und eben dies sollte mit dem Dekret von 1453 versucht werden. Schon 1452 hatte der Herzog selbst einen Kompromiss mit den Hospitalrektoren ausgehandelt. Doch kurz zuvor hatte er, um seine Einnahmen zu erhöhen, den gerade vakanten Rektorenposten im Hospital S. Simpliciano verkauft. Dieser aus Finanznot und klientelistischem Druck geborene Verstoß gegen seine eigene Hospitalpolitik rief scharfe Kritik sowohl aus dem herzoglichen Rat als auch von den Deputati hervor: Er unterlaufe die geplante Union der Hospitäler, belaste die Armen und sei peinlich gegenüber Rom. Sforza setzte den skandalösen Verkauf trotzdem durch. Kirchenpolitisch motivierte Verstimmungen zwischen ihm und Nikolaus V. verzögerten die Ausstellung der längst erwarteten Bulle, so dass die päpstliche Zustimmung zum Bau des Ospedale Maggiore und zur Inkorporation der anderen Hospitäler beim Tod des Papstes (24. März 1455) immer noch nicht erteilt war.86 Das sollte sich auch unter 85 S. oben, Anm. 83. Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 85, resümiert einen Brief von Papst Nicolaus V. an Giovanni Visconti (1452 Nov. 13), in dem der Papst ihn auffordert, gegen liturgische Anmaßungen einiger Hospitalrektoren vorzugehen, die in Rom gemeldet worden seien. Möglicherweise war das der Anlass für die Visitation der Hospitäler. Eine Vorlage für das inhaltlich in eine ganz andere Richtung zielende Reformdekret von 1453 ist der Papstbrief aber nicht, eher ein Beleg dafür, mit welchen Mitteln der Kampf um die Hospitäler geführt wurde. 86 Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 84 f.; die Proteste der Deputati (Herbst 1452) beweisen zugleich, dass das Gremium sich nicht aufgelöst hatte, wie Pecchiai, L’ospedale maggiore,

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dem Nachfolger, Calixt III. (1455 – 1458), nicht ändern, obwohl die politischen Bedingungen in Italien sich seit dem Frieden von Lodi (1454) gebessert hatten. Unterdessen propagierte ein vom Herzog eingeladener Prediger aus der franziskanischen Observanz das Hospitalprojekt, ein Verfahren zur Herstellung von öffentlichem Konsens, das nicht nur in Mailand angewandt wurde, sondern auch in anderen Städten des Sforza-Territoriums, in denen eine Hospitalreform in Arbeit war.87 Prediger aus verschiedenen Orden wurden für diese Aufgabe gewonnen, doch ihre Predigttexte sind, jedenfalls nach bisherigem Kenntnisstand, nicht erhalten. Auf Giovanni Visconti, der 1453 starb, folgte Nicolý Amidano (1453 – 1454), nach dessen kurzem Pontifikat Francesco Sforza endlich mit seinem Bruder Gabriele (1454 – 1457) einen Wunschkandidaten durchsetzen konnte. In dessen Amtszeit wurde das herzogliche Hospitalprojekt entscheidend vorangebracht. Der neue Erzbischof griff auf Wunsch der Deputierten erneut in die materielle Versorgung der Rektoren ein. Am 30. April 1455 verkündete er einen Mittelweg zwischen den relativ niedrigen und vor allem festen Pensionszahlungen des Enrico Rampini und den etwas höheren, jedenfalls flexibleren Einkünften nach dem Dekret von Giovanni Visconti. Wenige Monate später, am 14. Januar 1456, kam er den Rektoren auch in der Frage, aus wessen Etat eventuelle Verbindlichkeiten der Hospitäler zu bezahlen waren, weit entgegen.88

Baubeginn und Verhandlungen mit Papst Calixt III. (1456 – 1457) Auch der Herzog unternahm im Jahr 1456 konkrete Schritte, um den Bau des neuen Hospitals voranzutreiben. Auf der Suche nach der besten architektonischen Lösung intensivierte er seine Kontakte nach Florenz und Siena.89 In Mailand legte er am 1. April 1456 endgültig den Bauplatz fest, indem er den Deputati das schon erwähnte Gelände im Brolo, auf der Südostseite des MauS. 123, aus der Lücke in den Versammlungsprotokollen zwischen März 1452 und 1456 geschlossen hatte. 87 Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 86, stellt richtig, dass in Mailand 1455 und 1456 nicht der bekannte Franziskanerobservant Michele da Carcano predigte, sondern Antonio da Bitonto aus demselben Orden. Die Nachricht von Michele in Mailand geht auf Gilinus, Fundationis, Kap. 6, zurück und wurde von der älteren Forschung (aber auch noch von Welch, Art and Authority, S. 136) übernommen. Zu weiteren Predigern s. Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 85 – 88, u. unten, Text nach Anm. 135. Zur Schlüsselrolle des Dominikanerobservanten Domenico da Catalogna für das Hospital S. Matteo in Pavia s. Crotti, Il sistema caritativo-assistenziale, S. 154 – 159, u. unten, Anm. 140; von ihm sind Briefe an die Hospitalbruderschaft und ein Statutenentext überliefert, aber keine Predigten zum Thema. 88 Pecchiai, L’Ospedale maggiore, S. 129, 168 – 170. 89 S. dazu unten, Anm. 125 ff.

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errings, mit den zum Abbruch freigegebenen Visconti-Palästen überließ und damit die 1452 dem damaligen Erzbischof angekündigte Schenkung endlich wahrmachte. Die Arenga dieser mit einer F-Initiale, farbigen Wappen, imprese und Fleuronn¦-Schmuck feierlich ausgestatteten, von Franesco Sforza und seinem Kanzler Cichus Simonetta handsignierten Urkunde90 legt die Motive des Schenkers dar : Er habe von Gott so viele Wohltaten empfangen – Kriegsglück, Schutz in Gefahr, die Herzogswürde, vor allem aber jetzt den Frieden in Italien –, dass er sich nicht undankbar zeigen könne. Die gottgefälligste Gegengabe seien die »Werke der Frömmigkeit, die an Bedürftigen, Armen und Kranken geleistet werden«, denn sie löschen die Flecken der Sünde aus, stimmen Gott gütig und verwandeln seinen Zorn stets in Milde: Was nämlich den Armen als Almosen gegeben wird, wird Christus gegeben, wie er selbst bezeugt (»wiefern ihr es einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr es mir getan«).91

Aus diesen Gründen, so Francesco, wolle er zu Ehren der Jungfrau Maria und der Heiligen, zu seinem Seelenheil und dem seiner Gemahlin, zum Wohl seiner Herrschaft und somit zum Trost der Stadt Mailand das genannte Gelände mit seiner Bebauung (dessen detaillierte Beschreibung im Folgenden mindestens ein Viertel des Urkundentextes in Anspruch nimmt) zum Gegenstand einer Schenkung machen. Übertragen wird all dies den Deputati, unseren 24 Bürgern, die im laufenden Jahr nach den durch erzbischöfliche und auch päpstliche Autorität bestätigten Anordnungen zur Leitung und guten Regierung aller Hospitäler unserer Stadt abgeordnet sind und in Zukunft jedes Jahr abgeordnet sein werden – das heißt den Armen Christi.92

Zweck der Schenkung ist die Errichtung eines »großen und feierlichen Hospitals«, das dem Glanz der Herzogsherrschaft und der Stadt angemessen ist und dem der Sforza auch in Zukunft alle erdenkliche Hilfe zu gewähren verspricht. Die Deputati dürfen das ihnen übertragene Grundstück und seine Bebauung zu diesem Zweck umgestalten, wie es ihnen notwendig scheint: In diesem Sinn 90 Transkription bei Grassi, Lo Spedale, S. 94 f., aber fehlerhaft (unbrauchbar die italienische Übersetzung ebd., S. 95 f.) und daher mit dem Original (AOM, Diplomi 1176) abzugleichen. 91 Grassi, Lo Spedale, S. 94 (hier überarbeitet): »opera enim pietatis que in egenos, pauperes et infirmos conferuntur, adeo sunt Deo acceptabilia, ut extinguant peccatorum maculas, benignum Deum reddant et ex irato semper placabile faciant: quicquid enim confertur in elimosinam pauperibus, Christo confertur, ipso attestante ›quod uni ex minimis istis feceritis michi feceritis‹« (nach Mt 25,40). 92 Grassi, Lo Spedale, S. 94: »illis viginti quattuor civibus nostris, qui pro presenti anno iuxta ordines auctoritate archiepiscopali et etiam papali confirmatis [Original sic!, sinnvoller wäre: confirmati] ad gubernationem et bonum regimen omnium hospitalium huius nostre civitatis et nunc sunt et qui in futurum per singulos annos erunt deputati, immo pauperibus Christi«.

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treten das Hospital und seine »agentes« vollständig in die Rechte des Herzogs ein. Es handelt sich um eine Schenkung, deren Begründung aus der klassischen Topik der Stiftungen zur Förderung des Seelenheils zusammengestellt ist: ein frommes Werk aus Dankbarkeit gegen Gott und zu Ehren der Heiligen, Verdienstlichkeit der Armenfürsorge, Hoffnung auf gutes Gelingen der weltlichen Existenz wie auf Tilgung der Sünden, schließlich Verweis auf Mt 25,40, die Evangelienstelle mit den Werken der Barmherzigkeit. Die im Brief von 1452 an Erzbischof Giovanni bereits angedeuteten Motivationen werden hier aufgegriffen und vertieft. An der Rechtsstellung der Deputati ändert der Herzog auf den ersten Blick nichts, erkennt er doch ihre päpstlich gebilligte Ernennung durch den Erzbischof explizit an. Aber : Die in der Schenkungsurkunde entrollte Kette von Repräsentationsbeziehungen deutet in eine andere Richtung: Mehrfach wird (mit einer bis dahin unüblichen Wortwahl) gesagt, dass die Deputati die »Agenten« (»agentes«) des zu errichtenden Hospitals sind. Als solche repräsentieren sie den Herzog, wie es ausdrücklich heißt (in ihrem Wirkungskreis tun sie alles »quemadmodum nosmet ipsi potuissemus«). Auf der anderen Seite repräsentieren sie aber auch die Armen Christi (die Schenkung geht an sie, wie wenn sie an die Armen ginge, »immo pauperibus Christi«), und das heißt mit Mt 25,40 letztlich: Christus.93 Damit legt sich eine neue, herzogliche Kette der Repräsentationen (Francesco Sforza stiftet das Hospital, das von den Deputati repräsentiert wird, die darin sowohl den Herzog repräsentieren als auch die Armen, die Christus repräsentieren) über die bisherige erzbischöfliche Kette (die Deputati repräsentieren den Erzbischof/Papst, von dem sie ernannt werden, und partiell die Hospitäler, die sie zusammen mit den Rektoren beaufsichtigen). Suggestiv an der herzoglichen Version ist vor allem die Vorstellung, dass die beiden Enden der Kette sich zum Kreis schließen und dadurch Herzog und Christus in ein und dieselbe Position rücken könnten. Diese für die Anhänger der Sforza-Reform gewiss verführerische, für den Erzbischof (jedenfalls wenn er nicht Gabriele Sforza hieß) eher abschreckende Vorstellung ist ein Effekt der Verflechtung eines Stiftungsakts mit einem Reformprozess. Eben dies war es, was die Urkunde vom 1. April 1456 ins Werk setzte. Mit demselben Datum setzen die Register wieder ein, in denen die Deputati ihr Beschlüsse protokollierten, und wenige Tage später legte Francesco Sforza mit einem feierlichen Zeremoniell, in Anwesenheit des Erzbischofs, der Herzogin, von Honoratioren, auswärtigen Gesandten und vielen Mailändern den Grundstein zum neuen Ospedale Maggiore.94 Da die päpstliche Bestätigung 93 Die Zitate, sofern nicht schon vorher nachgewiesen, in Grassi, Lo Spedale, S. 95. 94 Albini/Gazzini, Materiali, Regest 1 (= AOM, Ordinazioni capitolari 2, f. 1r–v); die dort genannte Papstbulle kann sich nicht auf Calixt III. beziehen, sondern meint Nikolaus V., 1448

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immer noch nicht gegeben worden war, verstärkte Francesco seine Bemühungen in Rom. Am 22. Mai 1456 schrieb er seinem dortigen Gesandten, Giacomo Calcaterra, er solle beim Papst um die möglichst baldige Ausstellung einer Bestätigungsbulle und einen Ablass für dieses »so heilige und fromme Werk« nachsuchen. Dem Brief lag der Entwurf einer Supplik bei, die dem Papst vorgelegt werden sollte.95 In dieser berichten die Bittsteller zunächst über die Intervention (1448) des Erzbischofs und Kardinals Enrico Rampini, der viele »nützliche Beschlüsse zur heilsamen Reform und Verwaltung der Hospitäler« publiziert habe. Jetzt habe das Herzogspaar damit begonnen, einen Hospitalneubau errichten zu lassen, für den der Grundstein schon gelegt worden sei. »Das Großhospital soll das Haupt aller anderen sein und diese sollen mit ihm einen Körper bilden«,96 ihre Rektoren nach und nach von den 24 Deputati abgelöst werden. Vor allem für diese Union und ihre sämtlichen Rechtsfolgen bitten das Herzogspaar, der Erzbischof und die Mailänder um päpstliche Genehmigung. Nur je ein Hospital pro Stadtsechstel soll ausgenommen bleiben; diese sechs würden zwar ebenfalls den Deputati unterstehen, aber von Männern des jeweiligen Stadtteils geleitet werden. Da die Hospitäler der Diözese Mailand nicht weniger unter schlechter Verwaltung leiden, sollen auch sie den Deputati unterstellt und dem Ospedale Maggiore uniert werden. Auf weitere Einzelbestimmungen folgt am Ende die Bitte um Gratis-Versendung der Bulle und einen Vollablass für das neue Hospital. Eine als Anhang beigefügte Notiz schlägt unter der Überschrift »Instrumenta alias in scriptis memorata« sechs weitere Anordnungen vor, um die Ablösung der alten Hospitalrektoren zu regeln. Dieser zweite Entwurf einer Supplik an den Papst (der erste war, wie oben erwähnt, an Nikolaus V. gerichtet) zeichnet sich durch eine besonders weit vorangetriebene Zentralisierung der Hospitallandschaft und eine relativ harte Behandlung der bisherigen Hospitalrektoren und Pächter aus. Jetzt ist geplant, Juli 5 (oben, Anm. 44). – Das Datum der Grundsteinlegung ist uneinheitlich überliefert, 4. oder 12. April. In seinem Architekturtraktat gibt Filarete den 12. April »1457« an; entweder verwechselt er in der Rückschau das Jahr oder er zählt im stilus pisanus: Antonio Averlino, Trattato, S. 320 f. u. jeweils Anm. 1. 95 ASMi, Registri ducali 25, f. 240v (Brief an Giacomo Calcaterra, ital.), f. 241r–242v (Supplik, lat.), benutzt von Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 102. Das italienische Zitat »tanto pia et devota opera« auf f. 240v. Zu Giacomo Calcaterra s. Leverotti, Diplomazia, S. 130. Zum gesamten Schriftwechsel der Jahre 1456 – 1459 zwischen dem Mailänder Hof, den Mailänder Gesandten in Rom und dem 1456 zum Kardinal erhobenen Bischof von Pavia, Giovanni di Castiglione, s. Nowak, Ein Kardinal, insbesondere S. 244 – 282, 299 – 311, 312 – 402, 403 – 426; das Ospedale Maggiore spielt in Nowaks Quellenauswahl freilich kaum eine Rolle (s. aber unten, Anm. 105). 96 Zitate: ASMi, Registri ducali 25, f. 241r: »pluresque etiam alias utiles reformaciones circa salubrem reformacionem vel gubernacionem dictorum hospitalium fecit«; ebd., f. 241v : »hospitale magnum sit caput omnium aliaque hospitalia cum eo faciant unum corpus« (ab »magnum« am Rand nachgetragen).

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alle Hospitäler in der Stadt und der Diözese den Deputati zu unterstellen und daneben nur noch sechs Stadtteilhospitälern eine Sonderrolle einzuräumen. Als federführender Supplikant stellt sich der Herzog in die Tradition des Reformers Enrico Rampini. Die von diesem festgelegten Kompetenzen der Deputati sind geltendes Recht, die Errichtung eines zentralen Hauses ist ebenfalls schon beschlossene Sache. Wofür man die päpstliche Erlaubnis brauchte, war zum einen das weitere Vorgehen der Deputati gegen die Hospitalrektoren und zum anderen die Inkorporation der alten Hospitäler in das neue Großhospital. Während der Bau nur langsam in Gang kam, ließ die Antwort des Papstes, dem die Unterstützung seiner Kreuzzugspläne durch den Mailänder Herzog zu lau war, auf sich warten. Im Oktober 1457 wiederholte der Herzog, diesmal über den Bischof von Modena, seine Supplik an den Papst; von geringen Änderungen abgesehen, entspricht der Text dem von Mai 1456.97 Calixt III. hat auch diese Supplik nicht gebilligt, denn im November 1457 intensivierte Francesco Sforza seine diplomatischen Bemühungen. In Briefen an mehrere Gesandte und Mittelsmänner versuchte er, die (von Mailänder Reformgegnern beeinflussten) Bedenken des Papstes zu entkräften. Angeschrieben wurden Leonardo di Castiglione, Kanoniker am Dom von Mailand, scriptor apostolicus und Gesandter der Deputati in Rom, sowie der Kardinal und Bischof von Pavia Giovanni di Castiglione (wahrscheinlich ein Verwandter Leonardos), den der Papst mit der weiteren Prüfung der Sache beauftragt hatte.98 Am ausführlichsten gerät die Beschwichtigung der päpstlichen Einwände in einem Brief an den herzoglichen Gesandten in Rom, Ottone del Carretto.99 Ihm schickte Francesco genaue Instruktionen für seine Gespräche an der Kurie und für eine neu zu formulierende Supplik. Der Papst irre, wenn er meine, dass viele Hospitäler geschlossen werden sollen »und der Stadt und den Armen Christi dadurch mehr Schaden als Nutzen und Zier erwachse«.100 Die Hospitäler S. Ambrogio, S. Simpliciano, S. Martino, S. Dionigi und S. Celso bleiben bestehen, wenn auch ohne eigene Rektoren. Dasselbe gilt für die Hospitäler del Brolo (für 97 BA, Ms. I 399 inf., f. 21r–22v (Datierung »1457 X« von späterer Hand hinzugefügt); Leverotti, Ricerche sull’origine, S. 104. 98 BA, Ms. I 399 inf., f. 13r u. 18r–v (beide 1457 Nov. 21); vgl. Leverotti, Ricerche sull’origine, S. 109. Zu Giovanni s. Nowak, Ein Kardinal (oben Anm. 95), zu Leonardo ebd., S. 40 u. 208. 99 BA, Ms. I 399 inf., f. 18v–20v (1457 Nov. 21, aus einem Register mit der Foliierung 213 – 215 herausgeschnitten), vgl. Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 105, 108 f. In f. 19 u. 20 sind recto und verso vertauscht worden. Zu Ottone del Carretto, der im Nov. 1456 Giacomo Calcaterra als Gesandter an der Kurie gefolgt war, s. Leverotti, Diplomazia, S. 136, u. Nowak, Ein Kardinal (ad indicem). Eine Kopie dieser Argumentationshilfe ging an Leonardo di Castiglione (s. oben, Anm. 98). 100 BA, Ms. I 399 inf., f. 18v : »urbi et Christi pauperibus detrimentum potius quam beneficium et ornamentum subsequi«.

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Findelkinder), S. Lazzaro (für Leprosen) und S. Antonio (»heute ein Pferdestall«). Ihre Unabhängigkeit behalten das Johanniterhospital, das Ospedale della Piet— sowie vier weitere Ordens- oder von Laienbruderschaften geführte Hospitäler. Durch Inkorporation in das neue Großhospital aufgehoben werden nur das Ospedale Nuovo, das Ospedale »Porcorum«, S. Caterina oder (alternativ) S. Vincenzo und S. Maria Maddalena, außerdem S. Bernardo, das aber sowieso (seit 1448) mit S. Simpliciano uniert ist. Zwei Randbemerkungen fügen an, dass die ersten drei von den zuletzt genannten Häusern (gemeint sind wahrscheinlich das Ospedale Nuovo, Porcorum und S. Caterina oder S. Vincenzo) sowie S. Maria Maddalena und S. Bernardo so wenige Einkünfte haben, dass deren Schließung wahrlich nicht zu viel verlangt sei.101 Dieses letztere Argument wird noch öfter wiederholt: Von einer Aufhebung betroffen seien nur vier Hospitäler, oder genauer : Ihre Gebäude sollen weiter genutzt, nur ihre Besitzungen verkauft und in den Neubau investiert werden. Die Umwidmung zu Gunsten des Ospedale Maggiore entkräfte den Einwand, die Veräußerung laufe dem Stifterwillen zuwider ; im Übrigen verkaufen auch andere wohltätige Institutionen (die Bruderschaften, die Domfabrik) immer wieder Güter. Ordenshospitäler seien nicht betroffen, die Rektoren durch Pensionen versorgt. Dass ein Erzbischof sich gegen ein so erfolgreiches Projekt stellen könnte, sei kaum denkbar. Und zum Schluss: Manche kritisieren das Ospedale Maggiore, weil es in Konkurrenz zur Domfabrik trete und dieser einen Teil ihrer Wohltäter entziehen werde. Die Erfahrung setze diese Kritiker ins Unrecht, denn in Mailand habe schon immer eine große Zahl religiöser und wohltätiger Institutionen existiert, ohne dass dies dem Dom geschadet habe (Beispiele für solche Institutionen werden angeführt). Ergo: »Das Hospital wird errichtet und die Domfabrik nicht behindert werden, obwohl der Bau eines Hospitals von höherer Verdienstlichkeit ist als der einer ohnehin schon so prachtvoll gestalteten Kirche; aber Gott sei Dank wird das eine getan und das andere nicht gelassen.«102 Ob diese letztere Bemerkung dem Papst wirklich vorgetragen wurde, sei dahingestellt. Jedenfalls ist die Argumentation nun von einer gewissen Vorsicht geprägt: Die Sache sei gar nicht so tiefgreifend, wie sie scheine, man wildere nicht in kirchlichem Terrain und wenn, dann nur gegen Entschädigung (Rektoren), und auch kirchenrechtlich sei alles in Ordnung. Dass die Liste der

101 BA, Ms. I 399 inf., f. 19v, 19r (dort die Randbemerkungen und der »Pferdestall«). Die drei genannten Hospitäler werfen zusammen unter 500 duc., die beiden letztgenannten weniger als 60 duc. im Jahr ab. 102 BA, Ms. I 399 inf., f. 20r: »Fiet hospitale nec opus ecclesie tardabitur, quamvis altioris sit meriti fabrica unius hospitalis quam ecclesie sic pompose edificate, sed dei gratia unum fiet et aliud non omittet.« Die voranstehend resümierte Argumentation ebd. u. f. 20v.

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Hospitäler in sich noch nicht ganz stimmig ist, ist vorerst von sekundärer Bedeutung. Hintergrund dieser Beschwichtigungsversuche war der Widerstand der Rektoren und von Teilen des Domklerus. Die Domkanoniker – wenn auch nicht geschlossen: Leonardo di Castiglione arbeitete für die Deputati – steckten hinter der Befürchtung, das neue Hospital könnte die Freigebigkeit der Spender auf sich ziehen, zumal es dasselbe Marienpatrozinium haben sollte wie die Kathedrale. Auch die Rektoren wussten sich in Rom Gehör zu verschaffen, einige von ihnen waren schließlich vom Papst ernannt worden. Da der Mailänder Erzbischof Gabriele unterdessen die Rechtsposition der Deputati gestärkt hatte, damit sie die Güter der ihnen unterstellten Hospitäler effizienter bewirtschaften konnten, häuften sich die Konflikte mit den Rektoren und den von ihnen zu günstigen Konditionen eingesetzten Großpächtern.103 Gabriele Sforza starb im September 1457, Nachfolger wurde im Oktober der Abt des Mailänder Klosters S. Celso, Carlo da Forl‡. Obwohl die Deputati sich bis zum Herbst 1457 mit den meisten Rektoren einig wurden,104 konnte Calixt III. sich nicht dazu entschließen, dem Herzog den Gefallen zu tun, seine Version der Hospitalreform offiziell gutzuheißen. Dadurch gewannen die Mailänder Gegner Zeit, erneut an der Kurie zu intervenieren. Zwei von Francesco Sforzas Vertrauensleuten in Rom, sein Gesandter Ottone del Carretto und der Kardinal von Pavia, informierten den Herzog im Juni 1458 über derlei Vorgänge. Nach dem Bericht des Kardinals haben »viele Bürger« den Papst in einer anonymen Supplik gewarnt, »dass dieser Neubau keine andere Wirkung haben werde als die, die Güter der Armen zu verschwenden und zu vereinnahmen, und vieles andere; sie bitten den Papst, dass er sich diese Sache genau überlege, weil er darüber später vor Gott Rechenschaft ablegen müsse.« Deshalb habe der heilige Vater befohlen, dass die Angelegenheit erst weiter geprüft werde (mit der Untersuchung wurde der Kardinal betraut).105 Bereits am Vortag hatte Ottone del Carretto dem Herzog Ähnliches geschrieben. Erhalten ist nur Francescos Antwort an den Gesandten. In ihr teilt der Herzog mit, dass er zwar einerseits über die Frechheit dieser Bürger sehr aufgebracht sei, diese aber andererseits nicht allzu tragisch nehme: 103 Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 105 – 108. 104 Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 107 f.; BA, Ms. I 399 inf., f. 12r (1457 Dez. 5). 105 BA, Ms. I 399 inf., f. 29r (1458 Juni 4): »che questa errectione non si conforta ad altro effecto che per consummare et usurpare li beni de poveri et multa alia; supplicando alla santit— sua che in questo vogla havere bona advertentia per che ne hevera a rendere ragione dinanze a Dio«. Schon zitiert von Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 110 f. – Dass der Kardinal von Pavia die Vorwürfe untersuchen sollte, geht aus dem Brief Francescos an Pius II. vom 10. Okt. 1458 hervor (s. unten, Anm. 108). S. aber auch den Hinweis von Nowak, Ein Kardinal, S. 401 f. Anm. 346, auf weitere Briefe vom Mai/Juni 1458 in Sachen Hospital, die ich nicht überprüft habe.

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Denn ganz offensichtlich handle es sich um »böswillige, schlechte und geringe Leute, die fürchten, dass das Hospitalprojekt ihren persönlichen Interessen schaden werde«: also um Pächter, die für wenig Pachtzins auf den Gütern der Hospitäler sitzen und »den Armen das Ihre wegfressen«.106 Er sei zuversichtlich, dass schon die Anonymität der Supplik den Papst von der Boshaftigkeit der Absender überzeugen und die Prozedur daher eher beschleunigen werde. Der Vorwurf, das Projekt sei das Werk von Wenigen, die im eigenen Interesse und ohne die Zustimmung der Stadt agieren, sei Unsinn; wie gründlich alles vorbereitet und abgestimmt sei, beweisen die in den letzten Jahren unternommenen Schritte zur Genüge, nicht zuletzt die Schenkung des Baugeländes von 1456. Die Kritik an der Verwaltung der anderen Hospitäler durch die Deputati sei ungerecht, denn dies werde sich mit der Zeit bessern. Jedenfalls sprechen die Kritiker nur aus egoistischem Interesse, aber es sei nun einmal die »Natur der Schlechten, Böses zu sagen und, noch mehr als es zu sagen, auch zu tun«.107 Aus diesem Labyrinth der gegenseitigen Anschuldigungen – beide Seiten warfen sich vor, die Reform nur deshalb zu wollen oder zu behindern, weil dies den jeweiligen materiellen Interessen diene – fand Calixt III. keinen Ausweg mehr : Er starb im August 1458, ohne dass er die gewünschte Genehmigung erteilt hätte. Deshalb musste sein Nachfolger, der dem Mailänder Herzog näher stehende Pius II., sich schon bald nach seinem Amtsantritt mit der Sache befassen.

Die Bestätigung durch Papst Pius II. (1458 – 1459) Nachdem Deputati und Herzog den Widerstand der Pächter überwunden hatten, wandte Francesco sich am 10. Oktober 1458 mit seiner Bitte an den neuen Papst. Das Volk von Mailand und das Herzogspaar erwarten, dass jetzt »endlich« jene Gnade gewährt werde, die sie schon so lange und mit mehreren Suppliken vom Vorgänger erbeten hatten. Er fasst noch einmal seine Motivationen und sein persönliches Engagement für das neue Hospital zusammen, verweist auf die Ergebnisse der Untersuchung durch den Kardinal von Pavia, der die »Ehrbarkeit und Nützlichkeit der Sache« konstatiert habe und dem Papst berichten werde. Weiteres werde Pius von Ottone del Carretto erfahren. Das »so heilige wie notwendige Werk« möge nun den päpstlichen Segen erhalten. Mit derselben Post beauftragte er seinen Gesandten sowie den Kardinal, mit Hilfe eines Mittels106 BA, Ms. I 399 inf., f. 31r–v (1458 Juni 12, mit Bezug auf den Brief des Ottone vom 3. Juni). Zitate: »malivoli, cativi et de pocha conditione et che temono questo facto del’hospedale non habii effecto, per danno dela sp(ec)ialita sua«; »et manzano quello debbe essere di poveri« (f. 31r). Vgl. Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 110 f. 107 BA, Ms. I 399 inf., f. 31v : »Et natura de cativi À de dire male et farlo piu tosto che dire.«

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Die Mailänder Hospitalreform und das Ospedale Maggiore

manns an der Kurie, der schon im Sommer 1458 eingeschaltet worden war, die Expediton der Bulle zu beschleunigen.108 Die Bulle Pius’ II. vom 9. Dezember 1458, mit der die Inkorporation bestimmter Mailänder Hospitäler in das noch zu errichtende Zentralhospital offiziell gestattet und die Rolle der Deputati präzisiert wurde, hat eine komplexere Geschichte, als es die ältere Forschung erkannt hat. Es ist das Verdienst von Franca Leverotti, die diesbezügliche Korrespondenz zwischen Mailand und Rom rekonstruiert und nachgewiesen zu haben, dass die Bulle realiter erst nach dem 15. Februar 1459 publiziert, aber auf den 9. Dezember 1458 rückdatiert wurde.109 Nach dem 10. Oktober 1458 ging ein Entwurf der Bulle (wahrscheinlich mit Datum 9. Dezember) in Mailand ein, wurde dort mit Korrekturen versehen und am 15. Februar nach Rom zurückgeschickt. Danach wurde dort der definitive Text angefertigt und unter dem Datum »9. Dezember 1458« versandt. Die Bulle110 legte die Verfassung des nun vorwiegend auf das Ospedale Maggiore ausgerichteten Mailänder Hospitalsystems für die Zukunft fest. Der Papst erklärt in der Arenga, dass die Sorge für die Armen und Elenden, in denen Christus repräsentiert sei, zu seinen liebsten Anliegen gehöre. Er fördere daher die Errichtung und Erhaltung von entsprechenden Institutionen und wolle dazu beitragen, dass diese immer dann, wenn sie »deformiert« seien, »durch [das Mittel] einer angemessenen Union oder andere geeignete Mittel der Reform in einen ordentlichen Zustand zurückversetzt werden«.111 In der Narratio fasst Pius II. die Reformgeschichte der Mailänder Hospitäler zusammen: Von den An108 ASMi, Registri ducali 25, f. 401v. Der Brief beginnt: »Maxima est universo huic popullo mediolanensi mihique et illustrissime consorti mee expectatio ut ab apostolica sede eam tandem gratiam imp[e]tremus quam diu omnibus votis optavimus, omnibus precibus, repetitis supplicibus ad felicis recordationis Calistum precessorem vestre sanctitatis litteris consequi laboravimus.« Weitere Zitate: »honestate et utilitate rey«; »tam sancto tamquam necessario operi«. Der Brief ist keine formale Supplik, die aber entweder hier beilag oder wenig später folgte. – Brief an Ottone del Carretto ebd., f. 401v–402r ; Brief an den Kardinal ebd., f. 402r. 109 Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 112 f. Entscheidendes Zeugnis ist die Kopie eines Briefes von Francesco an Ottone del Carretto in BA, Ms. I 399 inf., f. 11r (1459 Feb. 15), der den korrigierten Bullenentwurf begleitete. – Auf f. 11v ist die (gestrichene) Schlusspassage des Bullenentwurfs zu lesen, der in Details vom definitiven Text abweicht. Folglich muss das ganze Blatt einem Register entnommen worden sein, in dem die Abschrift des Entwurfs auf der Recto-Seite endete und auf der nächsten Verso-Seite der Brief vom 15. Feb. 1459 registriert wurde; die alte Blattnummer »422« dieses Registers ist auf f. 11v noch zu erkennen. 110 »Ex superne dispositionis arbitrio«, Original in AOM, Diplomi 64. Ich habe den (über den Schedario Garampi aufgefundenen) Eintrag in ASV, Reg. Vat. 470, f. 159r–161v, benutzt und mit einem Foto des Originals kollationiert, da der Registereintrag Flüchtigkeitsfehler aufweist. Eine Edition fehlt bis heute. Auszüge in Pecchiai, L’Ospedale maggiore, S. 171 – 173, stark verkleinertes Foto in Pecchiai, Le origini. 111 ASV, Reg. 470, f. 159v : »per unionis accomode aut alia reformationis oportuna remedia ad statum debitum reducantur«.

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Die Gründung des Ospedale Maggiore

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ordnungen des Erzbischofs Enrico Rampini zu den 24 Deputati und ihrer Bestätigung durch Nikolaus V. gelangt er zu dem verdienstlichen Plan des Herzogspaars, ein großes Zentralhospital zu gründen. Nach der erfolgreichen Grundsteinlegung sei von den Fürsten und der Stadt die folgende Bitte112 vorgetragen worden: Der Papst möge (1) den Bau mit all seinen kirchlichen Attributen genehmigen, (2) dem neuen Hospital alle anderen in der Stadt und im Suburbium gelegenen Hospitäler unieren, egal welchen Rechts sie seien, und zwar so, dass sie zusammen mit ihrem Haupt, dem neuen Großhospital, ein »corpus« bilden; dieser »Körper« soll (3) von den – jetzt nur noch 18 – Deputati geleitet werden, die (4) jährlich vor dem Erzbischof Rechnung legen müssen; (5) generell möge der Papst das Projekt in jeder Hinsicht fördern. Die Zusammenfassung der Supplik in der Bulle ist, wenn man sie mit den Suppliken an Calixt III. von 1456 und 1457 vergleicht, sicherlich nicht vollständig. Sie zeigt jedoch, dass seit 1456 immer wieder dieselben narrativen Begründungen (die Missstände, die Reform Enrico Rampinis, die Stiftung, die Grundsteinlegung) und Metaphern (Haupt und Körper)113 verwendet werden, um der Kurie das Vorhaben plausibel zu machen. Allerdings weisen die daraus abgeleiteten Normen im Detail doch Unterschiede auf. In seiner Dispositio, die mehr als die Hälfte des Textes einnimmt, trifft Pius II., von den non-obstantibusKlauseln und anderen Formeln zur rechtlichen Absicherung abgesehen, insgesamt neun Anordnungen.114 Diese werden zum Teil wörtlich aus der Supplik übernommen, aber meist modifiziert. Das trifft schon auf Punkt (1) der Supplik zu: In der genauer formulierten Dispositio entfällt die Wendung »iure parochiali«, das für Insassen und Anghörige des Ospedale Maggiore gefordert worden war. Punkt (2), die Union, wird präzisiert: Alle in Stadt und Suburbium gelegenen Hospitäler, auch wenn sie von Klöstern oder Orden abhängen oder als kirchliche Pfründen vergeben sind, können mit allen zugehörigen Rechten dem neuen Zentralhaus inkorporiert werden – außer drei: Die Hospitäler S. Nazaro »porcorum« und S. Maria Maddalena werden zu Lebzeiten der amtierenden Rektoren, S. Lazzaro auf Dauer ausgenommen.115 Punkt (3), die Übertragung der 112 Von der an Pius II. vermutlich noch im Okt. 1458 versandten offiziellen Supplik ist in den Mailänder Archiven kein Entwurf erhalten; möglicherweise ließe sie sich in den Supplikenregistern Pius’ II. im ASV finden, was ich nicht versucht habe. 113 Das Bild von Haupt und Körper wird in der Bulle dreimal evoziert: im Bericht über das herzogliche Stiftungsvorhaben, im Bericht über die Mailänder Supplik und in den Anordnungen, die diesen Punkt der Supplik aufgreifen. Zu den Suppliken an Calixt III. von 1456 u. 1457 s. oben, Anm. 95, 97. 114 ASV, Reg. 470, f. 160v–161v ; die non-obstantibus-Klauseln auf f. 161r. Das Resümee der Supplik findet sich auf f. 160r–v. 115 Weder in den Suppliken an Calixt III. (oben, Anm. 95, 97) noch in der Liste von 1457 (oben, Anm. 99 – 101) sollten diese Häuser ausgenommen werden. Auch von den sechs StadtteilHospitälern, die 1456 eine Sonderstellung bekommen sollten, ist 1458/1459 keine Rede

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Gesamtleitung an die Deputati, wird akzeptiert,116 ihre Zahl (auf Wunsch der Herzogs) stillschweigend von 24 auf 18 reduziert; hinzugefügt wird jedoch, dass zwei von ihnen Kirchenleute sein müssen. Punkt (4), die Rechnungslegung, gilt offenbar als selbstverständlich und wird ebenso weggelassen wie die allgemeine Bitte um Wohlwollen in Punkt (5), unter der die Bulle offenbar den gesamten Rest der Supplik subsumiert, ohne weitere Details zu zitieren. Stattdessen regelt Pius II. sechs weitere Belange, die teils schon 1456 angesprochen und vermutlich auch in der an ihn selbst gerichteten Supplik gestanden hatten, teils aber erst im Winter 1458/1459 neu aufgebracht worden waren: (a) Wenn der Rektor eines der unierten Hospitäler stirbt oder sein Amt aufgibt, dürfen die Deputati dessen Besitzungen übernehmen und die Einkünfte in den Neubau oder zu Gunsten der anderen Hospitäler investieren. Die Möglichkeit, diese Besitzungen zu veräußern, ist jedoch nicht vorgesehen.117 (b) Dem Herzog wird zum Lohn für sein Engagement zugestanden, dass er einen Vertreter benennen darf, der an den Sitzungen der Deputati als 19. Mann teilnimmt und ohne den keine wichtigen Entscheidungen getroffen werden. Diese Bestimmung gehört zu den Verbesserungen, die Francesco Sforza im Winter 1458/1459 in den Entwurf der Bulle einarbeiten ließ.118 In seinem Brief an Ottone del Carretto trug er diesem auf, den Papst zu bitten, den wahren Urheber dieser Neuregelung geheim zu halten; den Deputati stellte er die Regelung später als Eigeninitiative des Papstes dar, mit der er selbst nichts zu tun habe.119 Dies war der Preis, der für die Überformung einer ursprünglich städtisch-republi-

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mehr. Die 1448 von Erzbischof Enrico angeordnete Unierung von S. Maria Maddalena mit S. Simpliciano war offenbar bis dahin nicht vollzogen worden. Auch eine grammatikalische Unregelmäßigkeit – »per cives […] eligendorum et instituendorum« (statt »eligendos et instituendos«) – gelangte von der Supplik, wie sie in ASV, Reg. Vat. 470, f. 160r unten, zitiert wird, in die Dispositio der Bulle (ebd., f. 160v unten; so auch im Original). ASV, Reg. Vat. 470, f. 161r. In seinem Brief vom 15. Feb. 1459 an Ottone del Carretto (BA, Ms. I 399 inf., f. 11r, s. oben, Anm. 109) bedauert der Herzog diese Einschränkung, hofft aber auf eine spätere Änderung (s. auch Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 112). Die Instruktionen von Nov. 1457 (s. oben, Anm. 99), hatten den Verkauf von Gütern zu rechtfertigen versucht, wie es auch die Suppliken von 1456 u. 1457 verlangt hatten. S. oben, Anm. 109. ASV, Reg. Vat. 470, f. 161r. Vgl. BA, Ms. I 399 inf., f. 11r (1459 Feb. 15): »À parso necessario che fra costoro sia de continuo uno de li nostri el quale sii presente ali consigli et congregationi et deliberationi che se farano; et cossi havemo facto notare una particula qui de sotto la quale farete giongere in fine bulle, et come accadra meglio« (»es schien notwendig, dass unter jenen [Deputati] ständig einer unserer Leute an den abzuhaltenden Sitzungen, Versammlungen und Beschlüssen teilnimmt; und in dem Sinn haben wir einen Zusatzparagrafen hier unten schreiben lassen, den Ihr am Ende der Bulle, oder wie es am besten scheint, einfügen lasst«). In dem oben, Anm. 109, genannten Passus des Entwurfs (und auch in Reg. Vat. 470, f. 161v) ist von achtzehn Deputati die Rede, im Original von »decem et novem«. BA, Ms. I 399 inf., f. 17r–v (1460 März 23), Francesco Sforza an die Deputati. Als Vertreter des Herzogs im Hospitalvorstand wird hier der Kanzler Cichus Simonetta benannt.

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kanischen, dann erzbischöflichen Reform durch eine fürstliche Stiftung zu entrichten war. (c) Die inkorporierten Hospitäler, die weiterhin als solche funktionieren, müssen in Betrieb bleiben und entsprechend finanziert werden. (d) Die Rektoren erhalten ihre Pensionen, wie sie in den notariell niedergelegten Abmachungen zwischen ihnen und den Deputati fixiert worden sind, und zwar bis zum Tod (vorher hatte anscheinend auch ein Ausscheiden aus anderen Gründen als Anlass für ein Auslaufen der Pensionszahlungen gegolten). (e) Die Rekrutierung der 18 vom Erzbischof ernannten Deputati wird modifiziert: Sie sollen von nun an immer sechs aus ihrem Kreis benennen, die jeweils ein Jahr länger im Amt bleiben, damit die Kontinuität gesichert werden kann. (f) Der letzte Abschnitt ist den außerstädtischen, in der Diözese Mailand liegenden Hospitälern gewidmet. Auch dort haben die Deputati volle Aufsichtsrechte, müssen die Versorgung der Armen (aber auch die der Rektoren) sicherstellen, dürfen sie nach dem Ausscheiden der Rektoren selbst übernehmen und ihre beweglichen und unbeweglichen Güter mit dem Ospedale Maggiore vereinigen.120 Mit dieser Bulle war das Mailänder Ospedale Maggiore auch offiziell geboren. Noch im selben Jahr 1459 gelang es seinen Unterstützern, das Werk mit einem attraktiven päpstlichen Ablass auszustatten, wie es Francesco Sforza schon 1456 von Calixt III. gefordert hatte. Am 1. April schrieb er – wahrscheinlich noch bevor die auf den 9. Dezember 1458 rückdatierte Bulle in Mailand eingetroffen war – an Ottone del Carretto und wies ihn an, die beigelegte Supplik um einen Vollablass für das Ospedale Maggiore auf den Weg zu bringen.121 Für die Finanzierung des Bauwerks war eine solche Förderung unabdingbar : Dem Herzog standen keine anderen Mittel zur Verfügung und den Deputati waren durch das Verbot, Güter der inkorporierten Hospitäler zu verkaufen, die Hände gebunden. Die erbetene Bulle122 wurde am 5. Dezember 1459 ausgestellt und bestimmte, dass die Wohltäter des neuen Hospitals alle zwei Jahre am 25. März (Mariä Verkündigung) einen Plenarablass erwerben konnten; im jeweils anderen Jahr profitierte die Domfabrik von dem Privileg.

120 ASV, Reg. Vat. 470, f. 161v. Dieser Punkt war ähnlich bereits in den Suppliken an Calixt III. (oben, Anm. 95, 97) enthalten. Zudem war dort vorgeschlagen worden, dass die Jurisdiktion über jenen Landbesitz der unierten Hospitäler, der in anderen Diözesen als der Mailänder lag, dem Heiligen Stuhl zustehen sollte. Davon verlautet bei Pius II. nichts. 121 BA, Ms. I 399 inf., f. 15r–v (u. weitere Kopie f. 8r–v ; 1459 Apr. 1); auf f. 15v–16r der Text der zugehörigen Supplik an Pius II. 122 Das Original befindet sich im Archiv der Mailänder Fabbrica del Duomo, die sich den Ablass mit dem Hospital teilte.

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Die Mailänder Hospitalreform und das Ospedale Maggiore

Das Bauwerk Wie sah die neue C— Granda aus? Über das für die Architekturgeschichte so bedeutsame Gebäude ist sowohl aus kunsthistorischer Sicht als auch unter speziell bauhistorischem Blickwinkel intensiv geforscht worden. Durch die Restaurierung nach den schweren Bombenschäden, die es 1942 – 1943 erlitten hat, war sowohl die Notwendigkeit als auch die Gelegenheit zu einer gründlichen Bestandsaufnahme gegeben.123 Wir können uns angesichts dieses Forschungsinteresses damit begnügen, die Ergebnisse knapp zu resümieren, um dann mit Patrick Boucheron zu fragen, »was bauen heißt«,124 oder genauer : Was bedeutete das Gebäude des Ospedale Maggiore für die Mailänder Hospitalreform? Über den Beitrag Filaretes besteht nach wie vor kein Konsens.125 Der seit 1451 im Dienst Francesco Sforzas stehende Florentiner entwirft in seinem später geschriebenen Architekturtraktat, einem italienischen Dialog zwischen dem Architekten und einem Fürsten, die Idealstadt »Sforzinda« mit allen erdenklichen Gebäuden. Das Hospital dieser Idealstadt, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist,126 soll nach dem Vorbild des Hospitals von Mailand gebaut werden, das deshalb genau beschrieben und mit Zeichnungen veranschaulicht wird; dass diese Beschreibung mit dem realen Ospedale Maggiore ziemlich gut – aber eben nicht hundertprozentig – übereinstimmt, belegen zahlreiche auch in situ nachweisbare Details und vor allem die charakteristische Gesamtanlage mit den beiden kreuzförmigen Krankenstationen, die durch einen zentralen Hof mit Kapelle und Friedhof getrennt sind. Doch wie sicher ist es, dass dieser Grundriss – der in der Hospitalarchitektur Schule machen sollte – wirklich von Filarete erdacht wurde? Hat er ihn nicht eher aus Rom oder von anderen Florentiner Renaissancearchitekten (zum Beispiel von Leon Battista Alberti) übernommen? Hat er ihn von Florentiner Anlagen oder den in der Lombardei bereits im Bau befindlichen kreuzförmigen Hospitälern (Mantua, Pavia) abgeschaut? Und was wurde von dem ursprünglichen Entwurf, unabhängig davon, ob Filarete ihn

123 Grassi, Lo Spedale; die Autorin hatte als leitende Architektin wesentlichen Anteil am Wiederaufbau und an der Erforschung des Ospedale Maggiore nach dem Zweiten Weltkrieg. Ferner : Franchini/Della Torre/Pesenti, Ospedali lombardi, S. 25 – 35, 137 – 177, wo die ältere kunst- und bauhistorische Forschung aufgearbeitet ist. Schon diese hatte die Beschlussprotokolle der Deputati wie auch die Rechnungsbücher ausgewertet; mit Hilfe des Regestenwerks von Albini/Gazzini, Materiali, kann der reale Gang der Arbeiten bis 1498 wenigstens grosso modo mitverfolgt werden. 124 Boucheron, Von Alberti zu Machiavelli, § 13. 125 Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 88 – 102. Zur Diskussion um die Rolle Filaretes s. Franchini/Della Torre/Pesenti, Ospedali lombardi, S. 25 – 28, 30 – 35; Welch, Art and Authority, S. 145 – 153. 126 Antonio Averlino, Trattato, Liber XI, dort S. 298 – 322.

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allein konzipiert oder von anderen übernommen hat, in Mailand tatsächlich realisiert?127 Die kunsthistorische Diskussion, die ihr Augenmerk insbesondere auf die architekturpolitischen Kontakte zwischen dem Sforza-Hof und den Medici gerichtet hat, braucht hier nicht im Einzelnen verfolgt zu werden. Was die letztgenannte Frage nach der realen Umsetzung des Filarete-Entwurfs betrifft, so hängt ihre Beurteilung auch mit der Tatsache zusammen, dass Filarete den Deputati vom Herzog als Architekt und Baumeister aufgedrängt wurde, aber insgesamt nicht allzu lange auf der Baustelle beschäftigt war. Sein bezahltes Engagement reichte von Februar 1457 bis November 1459, danach wurde er durch lokale Baumeister ersetzt, blieb aber dennoch, zumindest phasenweise, bis 1465 in Mailand und war als Berater für den Hospitalbau tätig. Mit dem Bau wurde zwar schon 1457 – 1458 begonnen, aber richtig in Fahrt kam er erst ab 1460, also nach dem Ende der offiziellen Leitung durch Filarete.128 Gewiss hat man sich schon von Anfang an darauf verständigt, den auf das vorhandene Baugelände zugeschnittenen Gesamtentwurf des Florentiners im Prinzip umzusetzen. Allerdings wurde davon zunächst nur das südliche Kreuz mit seinen umlaufenden Gebäuden sowie ein Teil des mittleren Hofes gebaut; die (im Traktat en d¦tail beschriebene) zentrale Kapelle wurde nie, das nördliche Kreuz erst im 17. Jahrhundert in Angriff genommen. Wie sich schon aus diesen Andeutungen ersehen lässt, sind die Diskrepanzen zwischen Entwurf im Trattato und realer Baugeschichte trotz aller Ähnlichkeiten groß genug und die Beziehungen Filaretes zu den Bauherren problematisch genug, um Raum für Zweifel aller Art zu lassen. Doch was bedeutete der Bau für die Hospitalreform in Mailand? Filarete steht, wie immer man seine Rolle einschätzt, für die fürstliche Seite des Reformprozesses: Die Macht des Architekten, das Gebäude aus seiner Vorstellungskraft hervorzubringen, entspricht dem politischen Willen des Herzogs, in der Stadt ein weiteres Symbol für seine Herrschaft zu errichten. Das wichtigste andere Symbol ist das Castello Sforzesco, 127 S. zur Diskussion die oben in Anm. 125 genannte Literatur sowie Boucheron, Le pouvoir, S. 217 – 239. Um den Nachweis von Übereinstimmungen zwischen Filaretes Traktat und dem Baubefund hat sich insbesondere Liliana Grassi im Zuge ihrer Restaurierungsarbeiten bemüht. Dagegen konstatiert Welch, Art and Authority, S. 153: »much of the remainder of Filarete’s plan remained a fantasy.« – Fantasievoll ist auch die Darstellung des Projekts im Frontispiz von Ghilinis Traktat (s. Einbandbild), mit zwei fertigen Höfen und einer Zentralkapelle. 128 In den Versammlungsprotokollen der Deputati ist eine kontinuierliche Bautätigkeit erst ab Januar 1461 nachzuweisen (Albini/Gazzini, Materiali, Regest Nr. 621, 637 etc.). Schon im November 1458 muss aber der erste Flügel des südlichen Kreuzes fertig gewesen sein, denn es wurden 26 Betten bestellt (ebd., Regest Nr. 350, 1458 Nov. 29; s. auch Nr. 385, 1459 Jan. 22; Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 99 Anm. 120). – Zu Filaretes Engagement s. etwa Leverotti, Ricerche sulle origini, S. 90, 97 – 99, Franchini/Della Torre/Pesenti, Ospedali lombardi, S. 30 f.

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zu dem das Hospital, wie schon vielfach hervorgehoben wurde, eine Gegenposition inszeniert: Während das Kastell die Macht, nach Meinung vieler Mailänder gar die tyrannische Macht des Fürsten bezeichnet, ist das Hospital Ausdruck der Versöhnung des Herrschers mit der Stadt, der Kontinuität zu den Visconti und zur Repubblica Ambrosiana; beide Bauten beziehen sich aufeinander wie Krieg und Frieden (oder wie die in der politischen Literatur seit der Antike ausgearbeiteten Fürsteneigenschaften severitas und clementia).129 Als Urheber und Nutznießer der rhetorischen Funktion, die Boucheron der Architektur als »politischer Sprache« zuweist, sieht vor allem die kunsthistorische Forschung, im Gefolge Filaretes, vornehmlich den Fürsten. Diese Deutung des Ospedale Maggiore als herzogliche Stiftung wurde zudem gefördert durch Inschriften an der Hospitalfassade.130 Doch nach allem, was bisher dargelegt wurde, lässt sich die Mailänder Hospitalreform nicht auf eine hoheitliche Anordnung reduzieren. Auch die simple Gegenüberstellung einer Reform von oben (symbolisiert durch den Hospitalbau) und einer Reform von unten (verkörpert durch die Deputati) würde der komplexen Reformdebatte nicht gerecht. Zwar gehörte dem Gremium der Deputati seit 1459 ein Vertreter des Herzogs an und standen auch manche seiner aus den Stadtsechsteln gewählten Mitglieder dem Sforza nahe. Zugleich aber verfolgten die 18 »cives« durchaus ihre eigenen Interessen. Das Bauwerk könnte somit auch als Bühne für den Kampf zwischen verschiedenen Reformkonzeptionen gedeutet werden. Es ist ein Produkt von Kompromissen, ähnlich wie die ganze Mailänder Hospitalreform: Diese resultiert aus Verhandlungen zwischen den Reformern (Deputati, Herzog) und den Reformgegnern (Hospitalrektoren, Großpächtern), zwischen der kirchlichen Hierarchie (Erzbischof, Domkapitel, Papst) und der weltlichen Seite (Deputati, Herzog), das heißt in letzter Instanz zwischen rivalisierenden Gruppen in der 129 Boucheron, Le pouvoir, S. 238, mit der Deutung »Krieg und Frieden«; ich ergänze den Hinweis auf severitas und clementia, der mir hier ebenfalls einschlägig scheint, vgl. Ubl, Clementia oder severitas. Kastell und Hospital konnten in der Vorstellung der Zeitgenossen freilich auch in einem sehr direkten Sinn aufeinander bezogen werden: »Chi vive a corte more a l’ospedale«, schrieb der Sforza-Rat Tommaso Tebaldi über die Risiken einer Hofkarriere (zit. nach Somaini, Processi, S. 775). 130 Zu den Stifterinschriften: Antonio Averlino, Trattato, S. 321; es fällt auf, dass die von Filarete wiedergegebene Inschrift, die so nicht erhalten ist, Francescos alleinige Stifterrolle viel stärker hervorhebt als die beiden erhaltenen (nicht präzise datierbaren) Inschriften. – Von den beiden heute noch im AOM aufbewahrten Stifterbildern (Abbildung des einen u. a. in: Cosmacini, La carit—, S. 53) ist weder sicher, ob sie Francesco und Bianca Maria oder ihre Nachfolger zeigen, noch wann die Originale, von denen die beiden erhaltenen Bilder Kopien sind, gemalt wurden; dies geschah jedenfalls nicht vor 1472, also nach dem Tod der beiden Stifter. Die Bemerkungen zu den Bildern von Albini, Le riforma quattrocentesca, S. 259 f., sind entsprechend zu relativieren. Für Auskunft danke ich Dott. Paolo Galimberti vom AOM.

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städtischen Elite (vor 1450) oder zwischen der Sforza-Partei und den SforzaOpponenten (ab 1450). Die Notwendigkeit zu Kompromissen – nun zwischen dem Herzog und den Deputati – schrieb sich auch in das Gebäude ein. Das war schon wegen der Finanzierung nicht anders lösbar und zeigt sich sowohl am Fall Filarete und der Beauftragung wechselnder Baumeister durch die Deputati als auch an der Tatsache, dass das Filarete-Projekt fürs Erste nur zur Hälfte realisiert wurde. Die Mauern des Hospitalgebäudes machen Konzepte sichtbar und ›begehbar‹, die mit dem Reformdiskurs in Zusammenhang gebracht werden können: Diversifizierung der Funktionen (in seinem Trattato betont Filarete diesen Punkt) und damit Arbeitsteilung, Professionalität und Expertise; kurze Wege, Übersichtlichkeit, innovative Lösungen für Belüftung und Abwasserentsorgung (auf diese Systeme ist der Architekt besonders stolz131), also Rationalität. In diesem Gebäude nahmen die Deputati als Direktion der vereinigten Mailänder Hospitäler ihren Sitz, so dass die Verwaltung der durch Inkorporation von außerstädtischen Häusern ständig wachsenden Organisation nun vom neuen Zentrum aus erfolgen konnte: So wachte der Hauptsitz, selbst ein vollwertiges Hospital mit exemplarischer Funktion, über die in Stadt und Land verteilten untergeordneten Häuser und deren umfangreiche Ländereien. Wie es die Suppliken an die Päpste und die Bulle Pius’ II. mit der Rede von caput und corpus bereits vorweggenommen hatten, handelt es sich um eine Organisationsform, für die die Metapher von Haupt und Körper sich ganz offensichtlich anbot. Diese Metapher war auch auf vielen anderen ›Baustellen‹ der kirchlichen oder politischen Reformen des 15. Jahrhunderts en vogue:132 Ganz offenbar traute man ihr zu, die Plausibilität einer institutionellen Lösung – insbesondere einer Reform dieser Institutionen – in den Augen der Zeitgenossen zu erhöhen. Ihre Logik scheint zwingend, und da die denkbaren Beziehungen zwischen Haupt und Körper/ Gliedern vielfältig sind, eignet sich die Metapher auch dazu, die der Reform inhärenten Spannungen zu überbrücken. Die Architektur des neuen Ospedale Maggiore erfüllte die Ansprüche, die an Gestalt und Funktionalität des ›Gehirns‹ in einem corpus von Institutionen gestellt werden konnten, auf überzeugende Weise. Der Bau stand für Professionalität, für Rationalität, für die Effizienz des ordnenden Willens der Verwaltung und nicht zuletzt für ästhetische Qualität und Harmonie – insgesamt also vielleicht für das, was die Mailänder Laienelite meinte, wenn sie von »regulatio«133 sprach. Die C— Granda wurde damit ein steinernes (oder eher : ein aus Ziegeln

131 Antonio Averlino, Trattato, S. 303 – 306; Baldasso, Function and Epidemiology. 132 S. oben, Einleitung, Anm. 36. 133 S. oben, Anm. 67.

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Die Mailänder Hospitalreform und das Ospedale Maggiore

gemauertes) Argument in der Propagierung einer Reform, die neben Adoptiveltern (dem Herzogspaar) mehrere Erzeuger und viele Erben hatte.

Zwei regionale Vergleichsfälle: Cremona und Lodi In mehreren dem Herzog von Mailand unterworfenen Städten ergriffen die örtlichen laikalen und/oder kirchlichen Eliten kurz vor, gleichzeitig mit oder kurz nach der Reform der Hospitäler in der Hauptstadt vergleichbare Initiativen. In Cremona, etwa 80 km südöstlich am Po gelegen, beschritten die Reformer ähnliche organisatorische Wege, gelangten aber erheblich schneller zum Ziel als die Mailänder. Wohl im Jahr 1450 predigte ein angesehener Kirchenmann, der in einem städtischen Konvent lebende Regularkanoniker Timoteo Maffei, die Notwendigkeit einer Verbesserung der hospitalitas. Wenig später ergriff die Kommunalführung, unterstützt vom Statthalter des Herzogs, die Initiative; auffällig ist, dass sie ohne Rückendeckung des Ortsbischofs agierte und diese auch nicht erbat. Am 2. und 3. Februar 1451 beschloss der Stadtrat, innerhalb der Mauern ein neues Großhospital mit dem Patrozinium S. Maria della Piet— zu bauen, dieses einem Gremium von 16 kommunalen »sindici et procuratores« zu unterstellen und ihm sämtliche anderen Hospitäler in Stadt und Diözese Cremona zu inkorporieren.134 Eine Supplik mit der Bitte um Genehmigung wurde umgehend an Papst Nikolaus V. gesandt, und schon Anfang Mai kam ein Mandat aus Rom, das einen Cremoneser Kanonisten und Antoniterbruder mit der Durchführung aller von der Kommune gewünschten Maßnahmen beauftragte. Der Mann schaffte es bis Ende 1451, seinen Auftrag auszuführen und dem zu errichtenden Großhospital zunächst zehn städtische Häuser zu unieren, obwohl hier – anders als in Mailand – den Rektoren und Laienpatronen der alten Hospitäler keinerlei Konzessionen gemacht wurden. Wenige Jahre später wies Francesco Sforza seine Beamten in Cremona an, dem neuen Hospital jede Unterstützung zu gewähren, und suchte seinerseits in Rom um einen Ablass nach. Zu dieser Zeit war der Bau, für dessen Kern eine Bruderschaft die Grundstücke zur Verfügung gestellt hatte, bereits fortgeschritten.135

134 Ricci, I corpi della piet—, S. 293 – 333, mit Edition der fünf wichtigsten Dokumente aus der Gründungsphase, hier Dok. 1 (S. 293 – 308), ein Beschlussprotokoll des Stadtrats. 135 Ricci, I corpi della piet—, Dok. 2 S. 309 – 312 (Mandat Nikolaus’ V., 1451 Mai 6); Dok. 3 S. 313 – 321 (vier Notarsinstrumente, mit denen der Exekutor seine Arbeit aufnimmt, 1451 Juni 25); Dok. 4 S. 322 – 331 (1451 Dez. 18, das definitive Urteil des Exekutors zu Gunsten des neuen Hospitals und seiner »sindici«; Erwähnung der Bruderschaft S. 326); Dok. 5 S. 332 – 333 (1455 Aug. 14, Mandat des Herzogs). Ein Brief an Ottone del Carretto wegen der

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Die Gründung des Ospedale Maggiore

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Wie wurde in diesen Texten argumentiert? Der Stadtrat paraphrasierte zur Begründung seiner Initiative die Predigten des Timoteo Maffei. Auf eine Anprangerung der Missstände in den existierenden Hospitälern wurde zunächst verzichtet, entweder weil Timoteo diesen Punkt selbst nicht betont hatte oder weil es den Reformern klüger schien, keine Ressentiments zu wecken. Dem Ratsprotokoll zufolge hatte der Kanoniker die positiven Seiten des Projekts beleuchtet: Die Stadt müsse alles dafür tun, um Gottes Zorn abzuwenden oder zu besänftigen, und das beste Mittel dazu sei der Bau eines »schönen und angemessenen Hospitals«, in dem Pilger und Kranke, egal welcher Provenienz, aufgenommen und anständig versorgt würden. Es müsse daher, neben freiwillligen Helfern, über gutes Pflegepersonal und Ärzte verfügen. Die Aufsicht solle zusammen mit den nötigen Vollmachten geeigneten Männern übertragen werden. All das diene auch dem Ansehen Cremonas in der Welt. Der Stadtrat machte sich diese Mahnung zu Eigen, indem er alles Notwendige rechtsförmig beschloss. Aber er ging noch weiter : Um den Neubau finanzieren zu können, benötigte man die Ressourcen der alten Hospitäler. Ein Ratsmitglied forderte daher deren Inkorporation, zumal sie keine hospitalitas mehr leisteten und die Rektoren die Einnahmen in die eigene Tasche wirtschafteten (das neue Patrozinium »S. Maria della Piet—« klingt wie ein Manifest gegen solch mitleidlose Zustände). Dafür solle man beim Papst um Genehmigung nachsuchen. Es gab nur eine Gegenrede: Der Laienpatron eines der zu annektierenden Hospitäler merkte an, dass er der Union nur bedingt zustimmen könne: Sollte sich herausstellen, dass das neue Hospital von seinem Vorstand ebenso missbraucht werde (falls »ein reißender Wolf kommt, der es frisst und verschlingt«), wie es bekanntlich schon in anderen Fällen geschehen sei, dann wolle er sein altes Hospital wieder zurückbekommen. Das Plenum beschloss, es mit der Union zu versuchen und die Supplik auf den Weg zu bringen. Unter den ersten sechzehn gewählten Prokuratoren war auch der Redner, der den Vorschlag gemacht hatte.136 Das zustimmende Mandat des Papstes wiederholt die in der Supplik wahrscheinlich schon vorformulierte Kritik an den alten Hospitälern (Misswirtschaft der Rektoren, folglich kaum hospitalitas) und die Bezugnahme auf die Vorbilder der großen Hospitäler in Florenz oder Siena; dieser letztere Punkt, der auch für Mailand wichtig werden sollte, wird in der Urkunde dreimal wiederholt, zuletzt verbunden mit der wenig praktikablen Anordnung, auch die Statuten beider(!) toskanischen Hospitäler zu übernehmen. Der Papst genehmigte die geplanten Ablass-Supplik in ASMi, Registri Ducali 25, f. 381v (1458 Apr. 30); der Sammler von BA, Ms. I 399 inf., verweist auf f. 23r auf diesen Brief. 136 Dies alles in Ricci, I corpi della piet—, Dok. 1 S. 296 f. (Mahnung des Predigers; »unum pulcrum et decens hospitale«), 298 – 302 (Beschlüsse zum Neubau und zu den 16 Prokuratoren), 302 f. (Unionsdebatte; »ne […] unus lupus rapax veniat qui illud comedat et devoret«), 306 f. (Wahl der 16 Prokuratoren).

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Die Mailänder Hospitalreform und das Ospedale Maggiore

Inkorporationen und gewährte dem von der Kommune gewählten Aufsichtsgremium uneingeschränkte Rechte über die Rektoren der unierten Hospitäler. Ausdrücklich merkte er an, dass es für den Bau von S. Maria della Piet— keiner Erlaubnis durch den Bischof bedurfte. Offenbar besaßen die Cremoneser Rektoren, anders als ihre Kollegen in der Hauptstadt, keinen Einfluss in Rom, denn ihre Einsprachen gegen die Umsetzung des päpstlichen Mandats durch den Exekutor blieben erfolglos.137 Die Bestätigung durch den Herzog, der sich – aus Mailänder Sicht verständlicherweise und vielleicht nicht ohne Neid – vor allem für den Neubau interessierte (»sie schreiten sorgfältigst und bewundernswert in seinem Bau und seiner Realisierung fort«, »eine große Zierde«), fußt auf einer Kurzfassung der traditionellen Theologie der Barmherzigkeit: Hilfe für die Bedürftigen ist eine Konsequenz aus der Verehrung für den armen Christus, der uns erlösen und schon auf Erden schützen möge. In seiner wenig später erfolgten Mailänder Schenkung ließ Francescso Sforza seine Motivationen mit größerer Raffinesse formulieren.138 Es dürfte mit dem erstaunlich raschen Erfolg dieser Hospitalreform zu erklären sein, dass die Debatte in Cremona von geringerer Intensität war als in Mailand. Die nur wenige Jahre später initiierte Reform in der zwischen Cremona und Mailand gelegenen Stadt Lodi stieß hingegen auf größere Schwierigkeiten, jedenfalls soweit es die Inkorporation der bestehenden Hospitäler betraf. In Lodi setzte die Kommunalführung 1454 eine Untersuchungskommission auf die Hospitäler an und bat danach den Bischof um einschneidende Verbesserungen. Doch erst ein neuer Bischof, Carlo Pallavicino (1456 – 1497), reagierte auf dieses Anliegen. Sein Dekret vom 21. November 1457 ist ein entschiedenes Plädoyer für eine Reform, die einen Mittelweg zwischen der rein kommunalen Cremoneser Lösung und der offiziell erzbischöflich dirigierten Mailänder Variante einschlägt. Vorausgegangen war dem bischöflichen Dekret bereits ein Schreiben des Mailänder Herzogs nach Rom, mit dem dieser um die päpstliche Genehmigung für eine Union der Hospitäler in Stadt und Diözese Lodi warb.139 137 Ricci, I corpi della piet—, Dok. 2 S. 309 – 312 (1451 Mai 6) und Insert desselben Papstbriefs in Dok. 3 S. 314 – 316. Über die rechtlichen Schritte der Rektoren und Patrone berichtet Dok. 4 S. 324 – 327. 138 Ricci, I corpi della piet—, Dok. 5 S. 332 f.: »accuratissime atque mirifice in eius constructione et expeditione procedant«; »non mediocre decus et ornamentum«. Vgl. zur Mailänder Schenkung oben, Anm. 91 ff. 139 Das Dekret des Bischofs Carlo Pallavicino ist ediert bei Timolati, Monografia, S. 95 – 99 (1457 Nov. 21). Die Supplik für Lodi von 1457 Mai 18 (mit einer Notiz an Ottone del Carretto und dem Hinweis, dass die Supplik 1457 Okt. 14 wiederholt wurde) in ASMi, Registri Ducali 25, f. 322v ; der Sammler von BA, Ms. I 399 inf., verweist auf f. 23r auf die Supplik in diesem Reg. 25. – Vgl. Cremascoli/Donnini, Gli Statuti, S. 19; Caretta, L’assistenza, S. 295 – 297; sowie die in Frank, Bruderschaften und Armenfürsorge, S. 311 f., genannte Literatur.

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Die Gründung des Ospedale Maggiore

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Die Organisationsform des 1459 von Pius II. bestätigten Ospedale Maggiore von Lodi unterscheidet sich von der Mailänder Lösung vor allem dadurch, dass hier die Leitung nicht einem jährlich wechselnden, gewählten Gremium von Deputati oblag, sondern einer kleinen Gruppe von Honoratioren, die sich 1466 in eine etwas größere Bruderschaft umbildete; deren Mitglieder konnten so lange aktiv bleiben, wie sie wollten. Der Kern des Hospitalpersonals bestand aus einer Kommunität von quasi religiös lebenden dedicati und dedicatae. Diese Kombination von einem externen, bruderschaftlichen Vorstand mit einer internen Semireligiosen-Gemeinschaft war im lombardischen Kontext zuerst in Pavia erprobt worden, wo das neue Großhospital S. Matteo allerdings nicht beanspruchte, die älteren Hospitäler zu absorbieren. Dass Lodi sich an Pavia orientierte, zeigen die 1466 für die Lodigianer Bruderschaft und Hospitalkommunität entworfenen Statuten: Diese lehnen sich eng – häufig mit wörtlicher Übernahme, aber auch mit charakteristischen Unterschieden – an die Statuten an, die der Dominikaner und spiritus rector des Paveser Hospitals, Domenico da Catalogna, 1451 für die von ihm inspirierte Hospitalbruderschaft in Pavia entworfen hatte.140 Die Lodigianer Ordnung unterscheidet sich von dem Text des Dominikaners insbesondere durch einen in zwei Fassungen ausgearbeiteten Prolog, der die Aufgaben der Bruderschaft aus humanistischen und religiösen Erwägungen sowie biblischen und historischen Exempla entwickelt. Indes eignen sich die Statuten für einen Vergleich mit Mailand insofern schlecht, als für das Ospedale Maggiore der Hauptstadt im 15. Jahrhundert keine Satzung geschrieben wurde.141 Gute Vergleichsmöglichkeiten bietet hingegen das Dekret des Bischofs von Lodi. Die Kommune, an die der bischöfliche Erlass sich richtet, habe ihm berichtet, dass die zahlreichen in und um Lodi existierenden Hospitäler in früheren Zeiten wohlhabend waren und die »Armen Christi, Kranken und anderen bedürftigen Personen« gut versorgten. Jetzt aber seien die meisten wegen der Kriege und anderer Kalamitäten, aber auch wegen der schlechten Arbeit ihrer Rektoren völlig heruntergekommen (»deformata«) und verarmt, weshalb sie keine hospitalitas mehr anbieten und weder ihre Klienten noch die Rektoren selbst ernähren können. Andere Häuser leisten, obwohl es ihnen etwas besser gehe, ebenfalls viel zu wenig. Vor allem das Hospital S. Spirito della Caritate, in dem ein Minister einer Kommunität von Laienbrüdern vorsteht, sei wegen deren Misswirtschaft und Schlechtigkeit praktisch am Ende (»sic etiam deformata ac desolata et colapsa«) und sogar in Somaini, Carlo Pallavicino, S. 32, 35 – 38, weist nach, dass der Bischof nur eine unterstützende Rolle spielte. 140 Vgl. die Edition in Cremascoli/Donnini, Gli Statuti, mit der ausführlichen Zusammenfassung der (unedierten) Paveser Statuten in Mangili, L’Ospedale S. Matteo, S. 63 – 100. Weder die Bearbeiter der Lodigianer Edition noch Crotti, Il sistema caritativo-assistenziale, S. 160 – 191, sagen etwas zu der Verbindung zwischen Pavia und Lodi. 141 S. dazu unten, Anm. 189.

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Die Mailänder Hospitalreform und das Ospedale Maggiore

seinem Baubestand zerstört oder gefährdet; dadurch bleiben kaum noch Mittel für die Armen, weshalb diese – insbesondere die dort lebenden Findelkinder – verhungern müssen. Dies sei eine »enorme Beleidigung ihrer Vorfahren, ein Schandfleck für die Stadt und ein Grund zur Empörung der meisten [Bürger]«.142 So weit der Befund. Was tun? Die Vertreter der Kommune überlegen zunächst, dass dem Skandal begegnet werden könnte, wenn sämtliche Hospitäler in Stadt und Diözese Lodi mit S. Spirito della Caritate, dem größten Haus, vereinigt und von einem oder zwei Rektoren ordentlich geleitet würden. Ihr Lösungsvorschlag geht aber noch weiter : Sie wollen, in Anbetracht des Bibelworts »Wohl dem, der sich des Schwachen annimmt, zur bösen Zeit wird der Herr ihn erretten« (Ps 41,2) und »im Gefolge einer gewissen Nachbarstadt«,143 ein neues Hospital bauen, nach Florentiner und Venezianer Vorbild. In diesem neuen, von der Kommune zu leitenden Haus sollen sowohl S. Spirito als auch alle anderen vollständig aufgehen.144 Der Bischof, der die Bedürftigen »im Schoß der Nächstenliebe trägt«,145 kommt diesem Wunsch weit entgegen. Er stimmt zu, dass das neue Hospital mit allen kirchlichen Attributen (vor allem Kapelle und Friedhof) gebaut und sein Vorstand von der Kommune eingesetzt wird; allerdings behält er sich vor, dass ihm die Leiter (ebenso wie der Spitalkaplan) präsentiert, also letztlich bischöflich ernannt und die Abrechnungen regelmäßig vorgelegt werden – dies unter ausdrücklicher Berufung auf die Dekretale Quia contingit. Um Mittel für den Neubau zu beschaffen, genehmigt er im Prinzip die angestrebten Inkorporationen, nennt aber zunächst nur sieben von den alten Hospitälern namentlich, sechs in der Stadt und im Suburbium, ein weiteres in der Diözese. Alle amtierenden Rektoren bekommen einen noch festzulegenden Unterhalt, der Rest der Einnahmen jedes inkorporierten Hauses soll halb an die Armen und halb in den Neubau fließen. Es dürfen keine neuen Rektoren eingesetzt und keine neuen fratres in S. Spirito della Caritate aufgenommen werden. Im Unterschied zum Mailänder Dekret von Enrico Rampini (1448) verfasst 142 Timolati, Monografia, S. 96: »in maximum eorum majorum praeiudicium, dictae Civitatis dedecus et scandalum plurimorum«. Die weiter oben zitierte Kombination »Christi pauperes et infirmi aliaeque miserabiles personae« (ebd., S. 95) wiederholt sich mehrfach. – Die Transkription von Timolati, wohl nach dem Original im damaligen Hospitalarchiv (heute im Archivio Storico Comunale von Lodi, aber die Gründungsdokumente und die Statutenhandschrift liegen im Tresor der Banca Popolare di Lodi), ist nicht frei von Lesefehlern; die redundante Kommasetzung wurde hier ausgedünnt. 143 Timolati, Monografia, S. 96: »quamdam aliarum Civitatum circumvicinarum vestigiis inherendo« – damit wird anscheinend auf Pavia angespielt. 144 Abschriften der Urkunde ersetzen den Verweis auf Venedig (»venetum«) durch Siena (Cremascoli/Donnini, Gli Statuti, S. 19 Anm. 36). 145 Timolati, Monografia, S. 96: »Nos itaque qui pauperes et infirmos ac miserabiles personas huiusmodi in visceribus gerimus caritatis …«

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Die Gründung des Ospedale Maggiore

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der Bischof von Lodi die Diagnose der Missstände nicht selbst, sondern legt sie den Antragstellern, deren Initiative er sich anschließt, in den Mund. Durch wörtliche, paraphrasierende und kommentierende Übernahme der Supplik macht sich Carlo Pallavicino jedoch zu deren Mitautor. Er zeigt damit, dass neben der Eigendiagnose (Rampini) auch das – von Suppliken typischerweise in Gang gesetzte – Verfahren des Zitats fremder Sichtweisen für die Reformdebatte geeignet ist (auch der Stadtrat von Cremona griff mit seiner Paraphrase der Predigten des Timoteo Maffei auf dieses Verfahren zurück). Die Beschreibung der negativen Ausgangslage gerät in Lodi ziemlich ausführlich. Die wichtigsten Klagepunkte werden mehrfach wiederholt, aber nach und nach gesteigert bis zu dem drastischen Vorwurf, man lasse aus Nachlässigkeit und Bosheit kleine Kinder verhungern. Das Wort reformatio fällt nirgendwo als solches, liegt aber in der Luft, weil sein Gegenteil, deformatio, gleich zweimal evoziert wird und weil der Text sich rhetorisch als Reformtext inszeniert: Einst waren die Zeiten besser, dann kam der Verfall, die Gegenwart ist unerträglich, die Lösungsvorschläge werden in rechtsverbindliche Anordnungen verwandelt. Diese bischöflichen Anordnungen berühren alle kritischen Punkte (auch den Umgang mit den Rektoren), sind jedoch erheblich weniger detailliert als in der Mailänder Vergleichsurkunde. Dies erklärt sich daraus, dass die vom Herzog gestützte Kommunalführung von Lodi gegenüber dem Bischof deutlich mehr Spielraum hatte und dass mit dem versteckten Hinweis auf das Vorbild Pavia auch die Details der Hospitalverfassung nicht von Neuem ausgebreitet werden mussten. Wie die Initiatoren und Carlo Pallavicino es erhofft hatten, traf eine päpstliche Bestätigung des Bau- und Unionsprojekts rasch ein. Es blieb jedoch nicht bei diesem ersten Brief von Papst Pius II. (Juli 1459). Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts folgte eine ungewöhnlich lange Serie von Papstbriefen, die deshalb angefordert wurden, weil die Inkorporation diverser Hospitäler sich wegen des Widerstands ihrer Rektoren oder Patrone immer wieder verzögerte. Der Neubau des nach seinem Vorgänger weiterhin S. Spirito della Caritate genannten Ospedale Maggiore kam dennoch rasch voran, wurde 1467 eröffnet und besteht bis heute.146

146 Zu den Papsturkunden und den Inkorporationen s. Timolati, Monografia, S. 15; Cremascoli/Donnini, Gli Statuti, S. 22 f.

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4.

Die Mailänder Hospitalreform und das Ospedale Maggiore

Nach der Reform ist vor der Reform: Bewährung in der Praxis und Konstruktion von Reformtraditionen

Deputati und Ospedale Maggiore bei der Arbeit Es bleibt der unterhaltsamste Mailänder Hospitalreformtext vorzustellen, der von dem Deputato Gian Giacomo Ghilini 1508 verfasste Bericht über Geschichte und Verfassung des Ospedale Maggiore.147 Dieser außergewöhnliche Traktat soll hier auf zwei Perspektiven hin untersucht werden: Zum einen ist er Quelle dafür, wie die Erben der Reformer über die Reform dachten, zeigt also – zusammen mit anderen, noch späteren Texten – wie man eine Reformtradition konstruiert. Zum anderen gibt er Auskunft über die inneren Verhältnisse im Ospedale Maggiore und in der gesamten Mailänder Hospitallandschaft um 1500, ist also eine bequeme Quelle für deren Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte. In dieser zweiten Hinsicht ist Ghilini freilich nicht ohne weiteres zu trauen, doch bieten die von Giuliana Albini und ihrem Schülerkreis erschlossenen Schriften zur Alltagsverwaltung eine willkommene Kontrollmöglichkeit. Beginnen wir mit dieser zweiten, der ›praktischen‹ Perspektive. Ghilini, Spross einer angesehenen Familie der Mailänder Hofaristokratie und unter Herzog Ludovico il Moro mit wichtigen politischen Funktionen betraut, zog sich 1499, als Ludovico vom französischen König Ludwig XII. abgesetzt wurde, fürs Erste aus der Politik zurück. In den Jahren 1507 – 1509 ist er als Deputato des Ospedale Maggiore nachzuweisen und engagierte sich danach bis zu seinem Tod 1515 auch für andere wohltätige Institutionen.148 Er schrieb seine Abhandlung über das Hospital auf Wunsch der anderen Deputati, und zwar in lateinischer und italienischer Sprache; beide Fassungen ließ er, anscheinend auf eigene Kosten, in einer Mailänder Offizin im November 1508 gleichzeitig drucken. Die Elemente seiner Schrift, welche die Zusammensetzung und Wahl der Deputati, den baulichen Zustand des Ospedale Maggiore und die ihm integrierten städtischen Hospitäler beschreiben, sind durchaus vertrauenswürdig: In dieser Hinsicht konnte der Autor sich weder vor seinen Kollegen noch vor der von ihm gewünschten (und über die italienische Fassung auch erreichbaren) breiteren Mailänder Leserschaft eine Ungenauigkeit erlauben. Das Zentralhaus war mit seiner Südhälfte, bei der es vorerst bleiben sollte, fertig und längst funktionsfähig. Es hatte neun städtische Hospitäler »annektiert«, darunter auch S. Lazzaro, das Pius II. eigentlich von der Inkorporation ausgenommen hatte. 147 Gilinus, Fundationis. Die Namensform ›Ghilini‹ nach Albini, La Fundatio. 148 Den neuesten Forschungsstand über Ghilini und sein Werk referiert Albini, La Fundatio. Zum Traktat s. bereits Pecchiai, Gli albori, S. 501 – 504.

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Nach der Reform ist vor der Reform

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Dieses System von 1+9 Institutionen bildet für Ghilini den Kern der Mailänder Wohlfahrtsorganisation, auch wenn er die anderen karitativen Einrichtungen (die großen Bruderschaften, weitere Hospitäler, den Monte di piet—, Armenstiftungen), denen er gegen Ende eine Reihe von kurzen Kapiteln widmet, sehr wohl im Blick hat.149 Man kann hier ruhig von einem System sprechen, denn den größeren Teil des Traktats nimmt die Darlegung der hochdifferenzierten Arbeitsteilung und der Verteilung der verschiedenen Klientengruppen auf die einzelnen Häuser ein.150 Die Spezialisierung auf bestimmte Funktionen beginnt bei den Deputati (lateinisch: »prefecti«), deren jeder seine eigenen Zuständigkeiten hat, und setzt sich fort in einem vielfach abgestuften Personal; Leitungsaufgaben – etwa der Chef des Ospedale Maggiore, »architriclinus« in der antikisierenden lateinischen Form, »sescalco« (»Seneschalk«) in der italienischen – werden ebenso beschrieben wie das Pflegepersonal, andere Funktionsstellen (Koch, Kellermeister, Schreiber, Priester usw.) oder das Ärzteteam.151 Im kleineren Maßstab reproduziert sich diese Personalhierarchie in den abhängigen Häusern. Zur Kennzeichnung der Arbeit, die die führenden Beamten, besonders die Deputati, verrichten, verwendet Ghilini gerne den Begriff »administratio« (italienisch »administratione« oder »governo«); das gesamte Feld der auf der Verwaltung lastenden Aufgaben heißt gelegentlich »provincia«.152 Diese antikisierende ›geografische‹ Metapher leitet über zu der zweiten, der räumlichen Form der Spezialisierung, die das Verhältnis von Zentrum zu Peripherie und die Zuständigkeit bestimmter Häuser für bestimmte Kategorien von Bedürftigkeit regelt. Um die Rolle des Zentrums einsichtig zu machen, bedient sich der humanistisch bewanderte Ghilini auf seine Weise der organologischen Metaphorik: Wie in einem natürlichen Körper, dessen Glieder über einen zentralen Apparat der Nahrungsaufnahme versorgt werden, sei auch hier die Zent149 Gilinus, Fundationis, v. a. Kap. 4 – 5 (Geschichte und Verfall der neun inkorporierten Hospitäler), Kap. 9 (Beschreibung des Gebäudes), Kap. 10 – 12 (Wahl der Deputati); zu den anderen loca pia s. Kap. 39 – 57. – Die Kapitelzählung bezieht sich hier und im Folgenden in der Regel auf die lat. Fassung; in der ital. Fassung ist sie meist um eine Einheit niedriger. Da die Blattzählung nur in der vorderen Hälfte der Quaternionen durchgeführt ist (a I, a II usw.), zitiere ich nach den Nummern der relativ kurzen Kapitel und ersetze die römischen durch arabische Zahlen. 150 Gilinus, Fundationis, Kap. 14 – 32, 35. 151 Der Ausdruck »Team« ist angebracht, denn es handelt sich um eine kooperierende Gruppe von vier »phisici« und vier »chirurgi«, denen ein fünfter, nur für Syphiliskranke zuständiger »chirurgus« beigesellt ist: Gilinus, Fundationis, Kap. 22 (lateinische Fassung, wo die »neue Krankheit« Syphilis und weitere Hautkrankheiten ausführlich beschrieben werden); die italienische Fassung ist erheblich kürzer (Kap. 21). – »Architriclinus« und »sescalco« ebd., Kap. 27 bzw. 26. 152 Gilinus, Fundationis, Kap. 13 (Beginn), Kap. 24 (letztes Drittel, das ›Feld‹ der Sorge um die Findelkinder), Kap. 32 (Beginn: Größe der »administrationis provintia«).

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Die Mailänder Hospitalreform und das Ospedale Maggiore

rale für die Zubereitung der Medikamente und die Beschaffung der Lebensmittel für die Insassen aller abhängigen Häuser zuständig.153 Dieser Organismus oder dieses System hat, wie Ghilini elegant formuliert, ein sehr breites Spektrum von Bedürftigkeit zu versorgen: Es sollen dort »die Beschwernisse jener erleichtert werden, denen zum Überleben allein die Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit geblieben ist.«154 Eine so effiziente Definition von Bedürftigkeit und Fürsorge muss man lange suchen. Wie diese Vielzahl möglicher Klienten aufzuteilen ist, wird im Zusammenspiel zwischen dem Ospedale Maggiore und den neun in ihm aufgegangenen städtischen Häusern genau geregelt:155 Die Zentrale nimmt nur Kranke auf, und zwar ausschließlich Männer und Frauen mit akuten, aber theoretisch heilbaren Krankheiten; ausgeschlossen sind chronische Krankheiten und die berüchtigten, als infektiös geltenden, alten und neuen Geißeln Lepra, Pest156 und Syphilis sowie alles, was ähnliche Symptome erzeugt. Lepröse und andere chronisch Hautkranke kommen ins Hospital S. Lazzaro. Für mit chronischen Geschwüren Befallene sowie für Altersschwache ist Platz in den Hospitälern Brolo, S. Dionigi, S. Simpliciano und S. Ambrogio. Geisteskranke, sonstige Kranke und Alte werden nach S. Vincenzo geschickt, während sich im Ospedale del Brolo, neben der schon erwähnten Patientengruppe, vor allem die Syphiliskranken konzentrieren sollen. Die verbleibenden Häuser S. Celso, S. Caterina und Ospedale Nuovo sind ausschließlich für Findelkinder und Frauen zuständig.157 Dieser Überblick über die Verwaltung, die Arbeitsteilung und die räumliche Gliederung des Mailänder Hospitalsystems endet mit einer Dokumentation seiner wirtschaftlichen Situation: Ein eigenes Kapitel gibt Rechenschaft über die Einnahmen und Ausgaben im Jahr 1508. Da die Bilanz negativ ausfällt, will Ghilini damit auch die Bereitschaft zum Spenden anstacheln.158 153 Gilinus, Fundationis, Kap. 13. Diese Passage wurde von G. Albini schon so oft, wenn auch nicht immer korrekt, zitiert (Albini, Sugli ospedali, S. 232; Albini, Citt— e ospedali, S. 105; Albini, La Fundatio, S. 108), dass sie hier nicht wiederholt zu werden braucht. Wenn Ghilini die Haupt-Körper-Relation hier in eine Magen-Glieder-Relation übergehen lässt (was nicht dasselbe ist), dann kannte er wohl deren Quelle, die Fabel von Menenius Agrippa und der Sezession der Plebs, aus Livius’ Ab Urbe condita (II 32). 154 Gilinus, Fundationis, Kap. 5 (Ende): »ut illorum incommoda levarentur quibus ad ducendam vitam in sola dei misericorida spes relicta erat«. In der italienischen Fassung (Kap. 4) entfällt dieser Satz. 155 Gilinus, Fundationis, Kap. 33, 34; zum Verfahren der Aufnahme und Zuweisung der Klienten s. Kap. 36. 156 Für die Pestkranken war seit 1488 ein Lazarett außerhalb der Mauern errichtet worden, das seinen Betrieb aber erst 1513 aufnahm; es unterstand ebenfalls dem Ospedale Maggiore. Gilinus, Fundationis, Kap. 56 (ital.: Kap. 52), widmet ihm einen eigenen Absatz. 157 Zu den Findelkindern s. außerdem Gilinus, Fundationis, Kap. 24. 158 Gilinus, Fundationis, Kap. 38. Die Beurteilung der Jahresbilanz 1508 ist schwierig, weil die Einnahmen in der lateinischen Fassung höher sind als in der italienischen (dort Kap. 37)

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Schon aus dieser letzteren Bemerkung lässt sich folgern, dass die von Ghilini gerne mit den Begriffen »ratio« oder »norma« eingeführte Ordnung – dieses höchst rationale System der Arbeits- und Raumaufteilung – auch deshalb einen so wohlgeordneten Eindruck machen muss, weil der Traktat zum Fundraising eingesetzt werden sollte. Zwar werden die Grunddaten der Hospitalverfassung korrekt sein, doch dass Alltagsleben und Bewirtschaftung der Ressourcen realiter so von statten gingen, wie die Schrift es darstellt, ist mit Sicherheit auszuschließen. Ein erster blinder Fleck verdeckt die materielle Basis der Mailänder Hospitäler : Über den Umgang mit deren riesigen Ländereien sagt Ghilini sehr wenig. Sieht man hingegen die Register durch, die die Versammlungen der Deputati dokumentieren, stellt man rasch fest, dass dies zumindest im 15. Jahrhundert mit Abstand das wichtigste Thema der Sitzungen war.159 Stark beschäftigt waren die Deputati außerdem mit der Expansion des Ospedale Maggiore im Umland – ein ständiger Herd von Konflikten zwischen den Mailänder und den lokalen Eliten, die sich ihre Hospitäler selten kampflos wegnehmen ließen. Ghilinis kurzer Absatz zu diesen Hospitälern »extra urbem« wird der Bedeutung des Problems in keiner Weise gerecht.160 Während sich die Tendenz zur Spezialisierung der Deputati auf bestimmte Aufgaben aus den Versammlungsprotokollen bestätigen lässt, ergibt sich für den Einsatz der Ressourcen ein deutlich abweichendes Bild. Eine Studie,161 die die Register der Versammlungsprotokolle mit der Buchhaltung des Ospedale Maggiore für die gesamte zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts verglichen hat, kommt zu dem Ergebnis, dass die Hospitalleitung ihre Mittel nicht nur für die Versorgung der stationären Insassen, sondern auch für externe Bedürftige einsetzte. Diese Kosten wurden unter den Ausgabentiteln »diverse Almosen«, »Almosen an den Türen der drei Hospitäler« (Brolo, S. Ambrogio, S. Caterina), »Gefangene«, »Verheiratung armer Mädchen« und »Almosen auf herzoglichen Befehl« registriert.162 Besonders die beiden letztgenannten Posten konnten erhebliche Aus-

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und weil die italienische Fassung die Einnahmen teilweise in natura angibt; mit Hilfe der in der Rubrik ›Ausgaben‹ verzeichneten Preise können zwar Geldwerte errechnet werden, aber ein Unsicherheitsfaktor bleibt. Jedenfalls war die Bilanz in der lateinischen Fassung in etwa ausgeglichen (ca. 101.000 lib.), während nach der italienischen Fassung auf der Einnahmeseite mindestens 5000 – 11.000 lib. fehlen. Vgl. die Regesten in Albini/Gazzini, Materiali (1456 – 1498). Die Besitzungen sind erwähnt in Gilinus, Fundationis, Kap. 25 u. 32. Gilinus, Fundationis, Kap. 37. Beispiele: Hospital S. Gerardo in Monza, für das ein Kompromiss gefunden wurde (Gazzini, L’esempio di una »quasi-citt—«); Ospedale Nifontano in Varese, über das das Ospedale Maggiore keinen Einfluss gewann (Lucioni, Carit— e assistenza a Varese, S. 94 – 97); ferner Pecchiai, L’Ospedale maggiore, S. 182 – 191. Ferrari, L’Ospedale Maggiore. Auf diesen instruktiven Beitrag stützen sich die folgenden Absätze. Ferrari, L’Ospedale Maggiore, S. 264 (meine Übersetzung der Titel ist frei).

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gaben verursachen: Mitgiften für zu verheiratende Mädchen (die meist aus dem eigenen Kinder-Nachwuchs kamen) waren traditionell ein gewichtiger Kostenfaktor, und die Pensionen, die der Herzog dem Hospital für den Unterhalt verarmter adliger Klienten aufbürdete, konnten Dimensionen erreichen, die selbst die gewiss nicht regierungsfernen Deputati zum Protest veranlassten.163 In der Aufstellung von Ghilini zum Jahr 1508 sind diese Kosten nur zum Teil extra ausgewiesen; ein anderer Teil scheint sich in Positionen wie »Ausgaben für Getreide« und Ähnlichem zu verbergen.164 Dass die Kinderabteilung (Findelkinder und Waisen) kostspielig war, geht sowohl aus Ghilinis Traktat als auch aus den Quellen zur Buchhaltung hervor. Nach den Angaben des gelehrten Deputato betreute das Ospedale Maggiore im Jahr 1508 immerhin 1000 Kinder unter vier Jahren, die bei – zu bezahlenden – Ammen untergebracht waren, danach aber wieder in die dafür vorgesehenen Häuser des Hospitalsystems zurückkehrten und dort so lange blieben, bis sie einen Beruf ausüben, heiraten oder ins Kloster eintreten konnten. Weitere Säuglinge wurden direkt im Hospital versorgt. Für deren Aufnahme war, wie wir aus den Registern der Deputati erfahren, auch nach der Reform immer noch das Ospedale del Brolo zuständig, eine Funktion, die von Ghilini in seiner Darstellung der Zuständigkeiten der einzelnen Häuser verschwiegen wird.165 Er räumt dem Problem der Kinder und Jugendlichen zwar insgesamt einigen Platz in seiner Abhandlung ein, gibt aber doch zu erkennen, dass seine eigentliche Leitkategorie für die Beschreibung der Kernaufgaben des Mailänder Hospitalsystems die Opposition ›Krankheit/Gesundheit‹ (»aegritudo« und »valitudo«) ist; was nicht in diese Kategorie passt, übergeht er oder lagert er in die anderen loca pia aus. Über die erwachsenen Klienten sagen die Quellen zum Hospitalalltag zumindest bis ins frühe 16. Jahrhundert relativ wenig. Einige Registereinträge bezeugen die Präsenz von Pfründnern, meist gesunden Langzeitinsassen, die im Tausch gegen eine Stiftung aufgenommen wurden; Ghilini erwähnt sie allenfalls en passant.166 Bei der Aufnahme der Kranken und Schwachen kann das umständliche Verfahren, das Ghilini wie auch frühere Beschlüsse der Deputati 163 Ferrari, L’Ospedale Maggiore, S. 278 – 281. Zu den anderen Personenkategorien, die mit Almosen versorgt wurden, und den verteilten Geldern und Gütern s. ebd., S. 270 – 273 (diverse Almosen), S. 276 – 278 (Mitgiften), S. 281 f. (Gefangene). 164 Gilinus, Fundationis, Kap. 38. Den Betrag für »elemosinae nomine principum decreto« gibt er jedoch gesondert an; er war mit 745 lib. im Jahr 1508 eher niedrig. 165 Gilinus, Fundationis, Kap. 34; die Zahl 1000 ebd., Kap. 24 u. 38. Ferrari, L’Ospedale Maggiore, S. 274 f. 166 Ferrari, L’Ospedale Maggiore, S. 270. Eine Anspielung in Gilinus, Fundationis, Kap. 9, wo die Gebäude des Ospedale Maggiore beschrieben werden: »ubi hospites extra aegrorum numerum excipiuntur« ([mit Bezug auf einen Teil der Gebäude, die die Kreuzanlage umranden,] »wo die Gäste, die nicht zu den Kranken zählen, aufgenommen werden«).

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vorsehen (schriftliche Erlaubnis eines Deputato nach Konsultation eines Arztes), kaum ständig eingehalten worden sein. Schriftliche Spuren hat es jedenfalls nur wenige hinterlassen, was bei einer Kapazität von mindestens 2000 Patienten an seiner realen Umsetzung zweifeln lässt.167 In welchem Maß den Kranken die von Ghilini verschiedentlich behauptete Behandlung zur »Bekämpfung der Krankheiten und zur Unterstützung der Körper mit Nahrung«168 tatsächlich zuteil wurde und wie die immerhin vier Ärzte und vier Chirurgen, über die allein das Zentralhaus verfügte, tatsächlich arbeiteten, geht aus den Quellen des 15. Jahrhunderts kaum hervor. Durch Analysen dieser Art ist die neuere Forschung zu dem Ergebnis gelangt, dass auch nach der großen Reform keine Rede davon sein könne, dass die Mailänder Hospitäler sich auf Kranke spezialisiert hätten.169 Zwar erreichte die Reform unstrittig organisatorische Verbesserungen, doch nach wie vor herrschte der Anspruch, ein umfassendes Spektrum von Bedürftigen mit sehr vielfältigen Maßnahmen zu versorgen. Daher seien die Unterschiede zwischen den reformierten Renaissancehospitälern und den traditionellen multifunktionalen Hospitälern geringer, als jene (vor allem medizingeschichtlich orientierten) Historiker annehmen, die in Fällen wie Mailand eine Tendenz zur Medikalisierung und den Prototyp des modernen Krankenhauses erkennen wollen. Eher als eine Verdrängung der Armen durch die Kranken sei eine allmähliche Überlagerung zu beobachten. Ein Indiz für das Fortleben des traditionellen, umfassenden Konzepts unspezifischer Bedürftigkeit sei überdies der Befund, dass die Klienten in den Mailänder Quellen auch um 1500 noch überwiegend als pauperes oder poveri adressiert wurden.170 Dieser Revision des Modernisierungsparadigmas ist sicherlich beizupflichten. Trotzdem verdient das Problem einen genaueren Blick. Die Terminologie zur Bezeichnung der Klienten funktioniert nicht nach der Logik einer zeitlichen Abfolge homogener Gebrauchsweisen (nach dem Muster : pauper steht für ein breites Spektrum von Bedürftigkeit und wurde später – aber wann? – von infirmus im Sinn von ›körperlich krank‹ abgelöst). Vielmehr benutzen dieselben Diskursteilnehmer je nach Kontext, Reichweite und Zielsetzung ihrer Äußerung verschiedene Termini. Dass das Wort pauper in allgemeinen Aussagen über Hospitäler und ihre Klientel dominiert, hängt zunächst damit zusammen, dass 167 Zum Verfahren Gilinus, Fundationis, Kap. 36, u. Ferrari, L’Ospedale Maggiore, S. 268 f. Die Zahl 2000 bei Gilinus, Fundationis, Kap. 38. 168 Zum Beispiel Gilinus, Fundationis, Kap. 30: »ad levandos morbos iuvandaque cibis corpora«. 169 Das ist der Tenor der Studien von Ferrari, L’Ospedale Maggiore; Albini, Sugli ospedali, S. 234 – 236; Albini, La gestione, S. 267 f. 170 Ferrari, L’Ospedale Maggiore, S. 268. Eines von vielen Beispielen für die hier kritisierte Medikalisierungs- und Modernisierungsthese sind die Arbeiten von G. Cosmacini.

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es im 15. Jahrhundert generell die Signatur des ›würdigen‹ Bedürftigen geworden war.171 Da die Institution Hospital in diesen Prozess des Aussiebens der ›Würdigen‹ direkt involviert war, hatte das Wort pauper in jeder Diskussion über Hospitäler einen Startvorteil: Schließlich ging es dabei ja um Menschen, die die Hilfe der Hospitäler prinzipiell verdienten, folglich um pauperes im Sinn von Hilfswürdigen; ob diese krank, alt, halb verhungert oder anders bedürftig waren, brauchte auf dieser allgemeinen Ebene nicht unterschieden zu werden.172 Hinzu kommt, dass immer dann, wenn eine religiöse Saite mitschwang – und das war bei der Rede über Hospitäler grundsätzlich der Fall – das Wort pauper wegen seiner biblischen Verankerung besondere Attraktivität besaß. Anders verhält es sich, wenn man sich wie Ghilini mit ›Organisationslehre‹ befasst und daher auf die Unterscheidung von Funktionen und Räumen achten muss. Sieht man sich den Traktat daraufhin an, so stellt man fest, dass das mit Abstand häufigste Wort zur Bezeichnung der Klienten aeger mit seiner Ableitung aegritudo oder dem sinnverwandten morbus ist. Gewiss verwendet Ghilini auch pauper, dem er allerdings inops und inopia vorzieht; Letzteres wird des öfteren mit aeger kombiniert, so dass die bekannte, umfassende Formel »pauperes (et) infirmi« im neuen Gewand als »inopes (atque) aegri« wiederkehrt (selten: »egeni atque aegri«).173 Doch in der Mehrzahl der Fälle steht ›krank‹ allein. Die italienische Fassung bietet einen teils ärmeren, teils reichhaltigeren Wortschatz als die lateinische. Pauper, egenus und inops werden mit povero übersetzt, inopia hingegen mit povert—, inopia und inhabilit—;174 für aeger steht infirmo, für aegritudo und morbus einheitlich egritudine (selten: male). Auffälligerweise setzt die italienische Fassung an Stellen, in denen die lateinische sich mit einem einzigen Wort begnügt (pauper, inops oder aeger), hin und wieder die Formeln »poveri et infirmi« oder »poveri miserabili« ein: Offenbar waren diese in der Volkssprache so gut eingeführt, dass sie sich wie von selbst aufdrängten. Die Terminologie in Ghilinis Schrift berücksichtigt mithin nicht

171 Zu dieser von der historischen Armutsforschung herausgearbeiteten Entwicklung, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, s. die Literatur oben, Einleitung, Anm. 4, u. die in Kapitel II – IV genannten Spezialstudien (Albini, Geremek, Jörg, Ludyga, Schulz, Voltmer). 172 Ein Beispiel in Gilinus, Fundationis, Kap. 6 (gegen Ende): »receptique in ea [im neuen Großhospital] inopes in alias postea hospitales domos distribuerentur pro aegritudinum genere« (Hervorhebungen Th. F). Hier wird »arm« (»inops«) als unspezifischer Oberbegriff für die Hospitalklientel gebraucht, doch eigentlich handelt es sich um Kranke. 173 Diese Ergebnisse stützen sich auf die Auswertung des ganzen Traktats. »Egeni atque aegri« in Gilinus, Fundationis, Kap. 34 (am Beginn). 174 Das Wort »inhabilit—« (oder das Adjektiv »inhabile«) ist eine Nuance, die die italienische Fassung dem lateinischen Vokabular für die Hospitalklienten hinzufügt (belegt u. a. in Gilinus, Fundationis, ital. Fassung Kap. 4 u. 23); es bezeichnet in etwa die Unfähigkeit, sich selbst zu versorgen.

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nur den jeweiligen Kontext, sondern auch das Lesepublikum und ist daher besonders komplex. Nicht zu bestreiten ist, dass Ghilini das Problem von Krankheit und Heilung auch in seiner Wortwahl in den Mittelpunkt rückt (und in der lateinischen Fassung durch medizinische Erläuterungen noch vertieft). Doch bedeutet das nicht, dass er den Sinn des Hospitals auf die Sorge für den Körper beschränken möchte. Dagegen spricht zum einen die ausführliche Beschreibung der Aufgaben der Priester, die die Seelsorge für die Kranken sicherzustellen haben. Zum anderen schwelgt Ghilini ausgiebig im religiösen und kirchenrechtlichen Vokabular, das die Armen- und Krankenfürsorge seit jeher dominierte: Zwar verwendet er auch das neutralere, klassische Wort beneficentia, doch sind hospitalitas, misericordia und pietas sowie ihre italienischen Entsprechungen für ihn selbstverständliche Topoi, auf die er schon deshalb nicht verzichten kann, weil er mit ihnen die Notwendigkeit der Reform begründet.175 Alles in allem gewinnt man den Eindruck, das Gian Giacomo Ghilini einerseits zwar dezidiert daran festhält, dass ein Hospital den christlichen Auftrag zu erfüllen hat, sämtliche Phänomene von Not zu lindern. Doch da er andererseits die Hospitäler seiner Stadt als in sich differenzierten Organismus konzipiert, verteilt er die Funktionen auf eine Weise, die eine Spezialisierung auf Krankheiten (neben anderen Spezialisierungen innerhalb des Systems) als wünschenswert und rational erscheinen lässt. In die Tat umgesetzt wurde diese Differenzierung vorerst nur in Ansätzen, doch sie war mit der Mailänder Hospitalreform zumindest denkbar geworden. Und dies, wie die analoge Festlegung auf heilbare Kranke in den Statuten der Großhospitäler von Pavia und Lodi zeigt,176 nicht erst in Ghilinis Zeit, sondern schon um die Mitte des 15. Jahrhunderts.

Reformtraditionen Auf einer zweiten Ebene ist Ghilinis Traktat auch als Auseinandersetzung mit dem Konzept ›Reform‹ zu lesen. Aus dem Abstand von 50 Jahren Reformgeschichte (1458 – 1508) blickt er auf die Anfänge des Ospedale Maggiore zurück und holt weit aus. Zu den Verdiensten der Stadt Mailand, die von Gott insgesamt gut behandelt worden sei, gehören unter anderen ihre von den Erzbischöfen gegründeten Hospitäler. Deren Zweck war es, jenen, die auf Hilfe angewiesen 175 Gilinus, Fundationis, Kap. 30 (Priester); Kap. 53, ital. 47 (beneficentia). Hospitalitas, misericordia und pietas kommen oft, aber nicht nur, in den Kap. 3 – 6 vor. – Eher selten findet sich hingegen das Wort caritas, das nicht nur christliche Liebe, sondern auch Elternliebe bedeuten kann (ebd., Kap. 24 u. 30). 176 S. oben, Anm. 140, sowie Cremascoli/Donnini, Gli Statuti, Teil II Kap. 36 S. 158.

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sind, zu Ehren Gottes beizustehen. Aber wie es bei den Menschen nun einmal geht, sei dieses anfänglich sehr engagiert verfolgte Ziel im Lauf der Zeit aus dem Blick geraten. Von Habsucht und Wollust angestachelt, haben die Rektoren durch die Verpfründung ihrer Stellen es geschafft, Vetternwirtschaft und Veruntreuung so weit zu treiben, dass trotz ursprünglich reicher Dotierung für die Armen nichts mehr blieb; jegliche »pietas« war ausgerottet, die »hospitalitatis ratio« erloschen. Da kam Francesco Sforza und »die Reform nahm ihren Beginn«.177 In Anknüpfung an vorausgegangene Reformversuche, die Ghilini nicht verschweigt, aber nur ganz kurz andeutet, und mit Hilfe des Predigers Michele da Carcano habe der Fürst die Initiative ergriffen. Nach Beratung mit allen wichtigen Kräften der Stadt sei man zu der Auffassung gelangt, dass das beste Mittel, um die »hospitalitas zurückzuholen«, die Gründung eines zentralen Großhospitals sei, dem die anderen angegliedert würden und dessen Leitung ein ehrenamtlicher, zeitlich begrenzter, mehrheitlich aus dem Laienadel rekrutierter Verwaltungsrat übernehmen solle. Gesagt, getan. Im Weiteren schreibt Ghilini das Verdienst an der Durchführung dieser reformatio fast ausschließlich Francesco Sforza zu, um sich anschließend dem Gebäude des Ospedale Maggiore und den einzelnen Ämtern und Funktionen zuzuwenden, von denen wir bereits gehört haben.178 Ein Reformtext, der das Narrativ von den guten Anfängen über den Verfall zur Reforminitiative und -debatte in geradezu klassischer Weise vorführt! Da es sich jedoch um eine Bestandsaufnahme aus der Rückschau handelt, muss die Durchführung der Reform nicht in die Zukunft projiziert, sondern kann als Erfolgsbericht dargestellt werden. Ghilinis Text bewegt sich somit auf mehreren Zeitebenen. Die Reformerzählung bildet einen narrativen Kern mit drei Zeitphasen (ferne Vergangenheit, nahe Vergangenheit, Gegenwart), der 1508 aber insgesamt schon Vergangenheit ist. Dieser Kern wird nun in eine weitere Erzählung eingelagert, die eine exakt 50 Jahre alte Vergangenheit evoziert, in der die Reform durchgesetzt wurde. Auf historische Genauigkeit kam es hier nicht an: Dass Francesco Sforza der Urheber der Reform war und der Prediger Michele da Carcano ihm dabei half, leuchtete 1508 offenbar ein, obwohl es so nicht korrekt ist. Wie auch immer : Es folgten die Jahre der Aufbauarbeit, deren Spuren Ghilini nur hin und wieder andeutet.179 Seine eigene Gegenwart hingegen ist 177 Gilinus, Fundationis, Kap. 3 – 6, Zitate in Kap. 5 u. 6 (»Unde reformatio initium ceperit«). 178 Gilinus, Fundationis, Kap. 6 (»revocari hospitalitas posset«); Kap. 7 (»reformationis auctor«). Ab Kap. 8 die Beschreibung des Bauwerks. Es sei daran erinnert, dass Ghilinis Frontispiz (s. Einbandbild) das komplette Ospedale Maggiore mit zwei kreuzförmigen Anlagen und Zentralhof zeigt, obwohl Filarete nie erwähnt wird und die Beschreibung sich auf den realen Zustand von 1508 beschränkt, als nur die rechte Kreuzanlage existierte. 179 Schlaglichter auf Entwicklungen während der vergangenen 50 Jahre finden sich verschiedentlich: Gilinus, Fundationis, z. B. Kap. 22 (Einstellung eines weiteren Chirurgen),

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über weite Strecken präsent, nämlich überall dort, wo die Verfassung des Ospedale Maggiore beschrieben wird, explizit im Kapitel über die Jahresbilanz 1508 (oder im Anhang, der die Namen der Deputati desselben Jahres festhält).180 Wenn die erste Erzählung eine reine Reformerzählung ist, dann ist die sie inkludierende zweite eine Erzählung der Reform nach der Reform: ein Narrativ, das eine Reformtradition begründen und vor allem für die Zukunft verfügbar halten soll. Dieser eigentliche Clou des Traktats erklärt auch dessen Changieren zwischen einer deskriptiven und einer normativen Perspektive. Eine solche Ambivalenz wird von Beginn an deklariert, wenn Ghilini in seinem Widmungsbrief an die Kollegen das ganze Unternehmen damit rechtfertigt, dass es bisher weder eine Gründungsgeschichte noch eine Regel gebe: »Ihr habt von mir verlangt, dass ich den Ursprung des Ospedale Maggiore und die Norm, die seiner Verwaltung wie durch ein unverletzliches Gesetz vorgegeben ist, erforschen und schriftlich festhalten möge.«181 Die normative Färbung schimmert in zahlreichen Formulierungen durch, zum Beispiel an den Stellen, an denen Ghilini festhält, was die Deputati machen müssen.182 Sie ist aber auch an der Wortwahl zu erkennen, insbesondere an den Begriffen norma, forma und ratio. Vor allem ratio gehört zu Ghilinis bevorzugten Vokabeln. Er verwendet sie in vielen Bedeutungen, von der konkreten ›Abrechnung‹ (»rationem reddere«) zur abstrakteren ›Überlegung‹ oder ›Idee‹,183 besonders häufig aber im Sinn von ›Ordnung‹, ›Verfahren‹, ›Regel‹, ›Norm‹ oder ›Logik einer Norm‹. Dass diese Deutung zutrifft, beweist auch die italienische Fassung, die das lateinische ratio mehrfach mit ordine, forma oder norma wiedergibt.184 Mit anderen Worten: Ghilinis Traktat übernimmt die Funktion der bis dahin fehlenden Statuten.

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Kap. 34 (Syphiliskranke im Brolo), Kap. 37 (Inkorporation von Häusern in der Diözese), Kap. 56 (Bau des Lazaretts). Gilinus, Fundationis, nach Kap. 58. Gilinus, Fundationis, Kap. 2 (Widmung): »Petiistis a me ut hospitalis magni mediolanensis originem normamque eius administrationi veluti lege quadam inviolabili praefixam perquirere ac litteris mandare velim.« Das Fehlen einer Geschichte und einer Regel wird in der italienischen Fassung noch deutlicher hervorgehoben (Kap. 1): »Me avete ricercato che, non trovandose fin a questo tempo notata in scripto la fundatione del hospitale grande de Milano, al governo del quale si chiamano deputati, et la norma sotto la quale À governato insiemi cum li altri hospitali annexi …« (Hervorhebungen Th. F.). Gilinus, Fundationis, Kap. 36 (letzter Abs.). Gilinus, Fundationis, Kap. 34 (»rationem reddere«). Kap. 32 (Ende): Ein Deputato, der sich mit Landwirtschaft auskennt, besucht jedes Jahr mit einem Schreiber und dem Architekten die Besitzungen. Dabei kommt es vor, dass diese »in rem presentem profecti novas persaepe rationes inveniunt aut inductis aquis aut alio modo fructuosiores pauperibus faciendi possessiones« (Hervorhebung Th. F.; dass die »zur Anschauung des Objekts Gereisten sehr oft neue Ideen erfinden, wie man entweder durch Bewässerung oder auf andere Weise die Besitzungen für die Armen fruchtbarer machen kann«). Beispiele: Gilinus, Fundationis: Mehrfach »rationem inire« (eine Ordnung festlegen): Kap. 6, 13, 34 (ital. »forma« oder »ordine«). Ital. Übersetzung »forma« für »ratio« außer-

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In seinem letzten Kapitel (»Dass die Verbesserung nicht vernachlässigt wird, wenn in der Zwischenzeit etwas aus der Ordnung geraten sollte«) deklariert Ghilini offen, dass er seine Schrift als Anregung zu künftigen Reformanstrengungen versteht und gibt den kommenden Verwaltern eine Art Metaphysik der Reform auf den Weg: Da es nämlich inzwischen vielfach vorkam, dass irgendein notwendiger Teil der Verwaltung vernachlässigt wird, muss die Sorgfalt derer, die in der Verwaltung nachfolgen, einspringen und tut dies normalerweise auch; so geschah es in diesem Jahr 1508. Denn wenn [… es folgen einige konkrete Vorkommnisse …] etwas unrichtig oder nachlässig gemacht wird […], dann ist der Nachlässigkeit mit neuen Erlassen der Oberen begegnet worden. Diese Mahnung hielten wir hier für angebracht, damit – weil es nicht geschehen kann, dass unterdessen etwas wegen Nachlässigkeit oder auch wegen der Zeitläufte außerhalb der korrekten Norm des Hospitals behandelt wird – die Nachfolger sich daran erinnern, niemals davon abzulassen, nach Kräften darauf hinzuarbeiten, dass, soweit möglich, die Verwaltung des Hospitals, auch wenn sie manchmal eine Veränderung hinnimmt, in die frühere Form und Aufrichtigkeit zurückgebracht wird. Es ist nämlich nicht weniger lobenswert, das weise und nützlich Geschaffene zu schützen oder es, wenn es in einen schlechteren Zustand verfallen ist, zur früheren rechten Form zurückzuführen, als es von Grund auf [neu] zu erfinden und gut einzurichten.185

Das ist zunächst eine Anleitung zum ›Qualitätsmanagement‹: Der Vorstand hat ständig zu prüfen, was auf den unteren Ebenen passiert. Sollte dort aus welchen Gründen auch immer (›menschliches Versagen‹, Zeitumstände) etwas »außerhalb der korrekten Norm des Hospitals« vor sich gehen, dann muss er geeignete Maßnahmen treffen. Zwar sind Veränderungen nicht zu vermeiden, aber Richtschnur bleibt die ursprünglich approbierte Ordnung. Diese mit klugen Eingriffen (»correctio«, »novis decretis«) gegen den Zahn der Zeit und die Nachlässigkeit der Menschen zu verteidigen (»restituere«, »redigere«), ist nach Ghilini ebenso verdienstvoll, wie die Neugründung einer Institution. In politidem in Kap. 30 u. 37, Übersetzung »norma« in Kap. 31, 33. Der Ausdruck »ratio atque norma« in Kap. 30 (die ital. Fassung zieht beides zu »forma« zusammen, Kap. 29). 185 Gilinus, Fundationis, Kap. 58: »Ne correctio pretereatur si quid interdum everti in ordinibus contigerit. […] Itaque quoniam interdum variis casibus evenit ut eius administrationis pars aliqua quae necessaria sit negligatur, eorum qui in administratione succedunt succurrere diligentia et debet et solet; ita hoc anno contigit qui post mille ac quingentos a virginis partu octavus est. Nam cum […] quaedam perperam aut negligenter fierent […], novis decretis superiorum negligentiae occursum est; quod hic monendum duximus, ut cum fieri non possit quin interdum aliquid sive per negligentiam, sive etiam quia ita tempora ferant, praeter rectam hospitalis normam geratur, meminerint qui sequuntur nunquam omittendum esse quin totis viribus agatur, ut, cum fieri potest, administratio hospitalis etiam si quando mutationem accipit, ad pristinam tamen formam atque synceritatem restituatur. Neque enim minor laus est sapienter atque utiliter facta tueri, aut cum in deterius dilapsa sunt in pristinam rectam formam redigere quam ea a principio invenire ac bene constituere.«

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sche Begriffe übersetzt, liefe dieses grundsätzliche Lob des Reformierens darauf hinaus, konstituierende Gewalt und konstituierte Gewalt als gleich wichtig zu betrachten. Die Ambivalenz des Reformdenkens tritt hier sehr schön hervor : Das zu Beginn der Schrift ausgebrachte Hoch auf Francesco Sforza, der mit dem Ospedale Maggiore etwas Neues geschaffen hat (aber zugleich Reformer war), mündet in ein Plädoyer dafür, dieses Werk in der Zukunft durch ständige Rückbesinnung auf seine ursprüngliche Verfassung zu bewahren. Diese Restitutionsarbeit soll freilich auf »novis decretis« basieren. Nach Ghilini ist ein guter Verwalter zwangsläufig auch ein Reformer : Er versteht es, die Zukunft durch Erinnerung (»meminerint«: dazu dient die Geschichte der »fundatio«) an die Vergangenheit zu binden und die Vergangenheit durch Innovation in die Zukunft zu überführen. Wie in diesem Schlusskapitel noch einmal klar wird, ist auch administratio ein Schlüsselbegriff des Traktats; das Wort kommt allein in dieser Passage dreimal vor und ist auch sonst anzutreffen. Es verweist sowohl auf die allgemeine, abstrakte Verwaltungstätigkeit als auch auf spezielle Gebiete und Interventionen des Managements (»eius administrationis pars aliqua«). Gleichzeitig aber bezeichnet es eine Institution, die tendenziell personifiziert wird: Die Verwaltung »accipit«, sie korrigiert sich selbst, sie hat eine »forma« wie auch das Ospedale Maggiore eine Form (nämlich einen Baukörper) hat, sie perpetuiert sich, sie besetzt ein Feld (»provintia«)186 – kurz, sie handelt und verhält sich beinahe so, als ob sie unabhängig von denen, die sie tragen (den Deputati), gedacht würde. Es wird im Lauf dieses Buches noch öfter zu beobachten sein, dass das 15. und 16. Jahrhundert an die administratio steigende Ansprüche der Professionalität stellte; die arbeitsteilige Organisation in Mailand bestätigt diesen Trend, selbst wenn die Deputati ausdrücklich ehrenamtlich tätig waren (und deshalb über ausreichende Eigenmittel verfügen mussten). In Ghilinis Abhandlung zeigt die Administration darüber hinaus Züge eines sich verselbständigenden bürokratischen Organs: Sie ist das denkende Haupt (oder der zuteilende Magen) eines Hospitalkörpers.187 Ein Paradox von Ghilinis Text liegt in der Tatsache, dass er die von ihm beschworene »korrekte Norm« für die Verwaltung des großen Hospitalkomplexes erst selber schafft. Wann immer er, über die Begriffe ratio oder norma, die Logik von bestimmten Arrangements erklärt, macht er deutlich, dass dies auch in Zukunft so gehandhabt werden soll. Gründungsgeschichte und Beschreibung der Verfassung werden zu einer normativ zu verstehenden Deskription verflochten, in der die origo und ihre Vorgeschichte den außerrechtlichen Rahmen aufspannen (hospitalitas, misericordia usw.), während die Darstellung der 186 Gilinus, Fundationis, in der Reihenfolge wie oben: Kap. 58, 10, 11 u. 32. 187 Vgl. oben, Einleitung, Anm. 54.

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Ämter die Funktion der positiven Normgebung übernimmt. Aus dieser Spannung erklärt sich wohl auch die oben zitierte, auffällige Wendung vom »unverletzlichen Gesetz«, das der Verwaltung vorgegeben sei:188 Diesem von den unantastbaren christlichen Werten gespeisten Gesetz wurde durch den Gründungsvorgang unter Francesco Sforza erneut Geltung verschafft, und daran hatte sich jede Verwaltung des Ospedale Maggiore zu halten. Es sollte weitere 50 Jahre dauern, bis das Hospital einen ›normalen‹ Statutenapparat bekam. Im Jahr 1558 brachten die Deputati ein Heft zum Druck,189 das in 37 Kapiteln vornehmlich die verschiedenen Ämter erklärt. Wie das Prooemium zeigt, hatten sie die Lektion ihres Vorgängers Ghilini gelernt. Es ist gewiss kein Zufall, dass sie ihr Werk exakt 50 Jahre nach Ghilinis Fundatio vorlegten. Wie sie selbst sagen, »wurde seit 50 Jahren keine Ordnung und sichere Regel aufgeschrieben«, auf die die Verwaltung des Hospitals sich stützen könne.190 Damit kann nur die Abhandlung von 1508 gemeint sein, obwohl diese den Statutenautoren von 1558 ganz offensichtlich nicht genügte. Anlass ihrer Arbeit war nämlich weniger das Jubiläum als vielmehr die Tatsache, dass viel »Unordnung und Konfusion« entstanden sei und zwar deswegen, weil die »alten Anordnungen« in Vergessenheit geraten seien. Stattdessen, so heißt es weiter, hatten sich allerlei Gewohnheiten festgesetzt, die aber keine Rechtssicherheit brachten, wodurch dem Hospital Schaden entstand. Dagegen vorzugehen, scheiterte daran, dass weder die Deputati noch die nachgeordneten Amtsträger über die rechte Norm genau Bescheid wussten, und wenn die Deputati einmal etwas verordneten, kam diese Anordnung nach Ende ihrer Amtszeit sofort wieder außer Übung. Die Konsequenz, die sie aus diesem Nachdenken über die Fallstricke der Rechtsfortbildung zogen, war der Beschluss, »solchen Störungen abzuhelfen, indem sie eine klare und sichere Form von Anordnungen für diese Verwaltung schriftlich niederlegten«, die für ihre Nachfolger und das leitende Personal als »Information, Norm und Regel für alles« dienen könne.191 Die aus dem Kreis der Deputati ernannte Kommission stellt fest, dass die bei der Gründung 1456 (Grundsteinlegung) getroffenen Festlegungen zwar für die damalige Zeit völlig angemessen, aber für die Gegenwart viel zu allgemein gehalten seien. Es habe sich eben viel geändert, die Zahl der Kranken und Armen sei erheblich gewachsen, die Unzuverlässigkeit der Sitten und die Bosheit der 188 S. oben, Anm. 181. 189 ASMi, Ordini 1558, Prooemium f. 3r–4v. S. auch Pecchiai, L’Ospedale maggiore, S. 177 – 181, u. Prosdocimi, Il diritto ecclesiastico, S. 216. 190 ASMi, Ordini 1558, f. 3r : »per non esser mai da cinquanta anni in qua hauta in scritto una forma et certa regola«. 191 Zitate in ASMi, Ordini 1558, f. 3r–v : »moltitudine di disordini et confusioni«; »gli ordini antichi«; »provedere — questi tai inconvenienti, con dar’ et mettere in scritto una chiara et certa forma di ordini per tal governo«; »informatione, norma, et regola del tutto«.

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Menschen tun ein Übriges. Deshalb wolle man diese alten Anordnungen erneuern und zugleich »vielen Dingen eine neue Form im Allgemeinen und im Besonderen geben, sich dabei aber nie von jener heiligen und klugen ersten Ordnung entfernen«.192 Das Prooemium endet mit einem kurzen Bericht über die Verabschiedung der Statuten und mit Ermahnungen zu ihrer künftigen Nutzung. Ein Schlussabsatz liefert die theologische Begründung für die Arbeit der Deputati: Sie fühlen sich ausschließlich vor Gott, nicht vor weltlichen Herren verantwortlich. Auf seine Gnade bauen sie, weil er ihre Dienste an den Ärmsten als Dienst an sich selbst angenommen hat, so dass sie trotz der prinzipiell ungenügenden Verdienstlichkeit ihrer Werke auf himmlischen Lohn hoffen dürfen. Göttliche Hilfe konnte nicht schaden, denn wie die Kommission ohne Eingebung von oben das Problem lösen wollte, einerseits von der guten alten Ordnung keine Ahnung mehr zu haben, sich andererseits aber möglichst eng an sie halten zu wollen, bleibt ihr Geheimnis. Wenn man den Vergessens-Topos ernst nimmt, wird man ihn wohl so erklären müssen, dass 1558 seit längerem keine brauchbaren detaillierten Regelungen mehr bekannt waren; offenbar kannte man nur Ghilinis Schrift, die aber nicht als zielführende Handlungsanleitung verstanden wurde, und suchte vergeblich nach einem älteren Statutentext. Die »erste Ordnung«, an die man sich trotz allen Neuerungsbedarfs zu halten vornahm, waren wahrscheinlich die von Pius II. 1458 diktierten Regeln, und diese waren in der Tat unzureichend. Ghilini hat trotz allem seine Ermahnung nicht umsonst formuliert, denn seine Nachfolger verhalten sich so, wie er es gewünscht hat: Da die »korrekte Norm« aus verschiedenen Gründen nicht mehr beachtet wurde, gehen die Deputati mit »novis decretis« gegen die Missstände vor, folgen dabei aber nach Möglichkeit der ursprünglichen Ordnung. So nehmen sie die Fackel des stets reformbereiten Verwalters auf, die Ghilini neu entzündet hatte. Sie werden sie ihrerseits weiterreichen und damit zur Weiterbildung der Reformtradition des Ospedale Maggiore beitragen: Gegen 1606 wurde eine kleine Geschichte und Beschreibung des Hospitals verfasst,193 und 1642, als erweiterte Reformstatuten in den Druck gingen, wurde diesen eine kurze Geschichte der Gründung des Ospedale Maggiore – einschließlich Vorgeschichte ab 1448 – inseriert. Ein neues Kapitel schlugen die gelehrten Hospitalgeschichten des 18. und 19. Jahrhunderts auf.194 192 ASMi, Ordini 1558, f. 4r : »dar’insieme nuova forma — molte cose in universale et in particolare, non si scostando perý mai da quel santo et prudente instituto primiero«. 193 Pecchiai, Gli albori, S. 505, Edition S. 569 – 573. 194 ASMi, Ordini riformati 1642, pp. 145 ff.: Breve Compendium fundationis Hospitalis Magni … Es handelt sich wohl um denselben Text, den Pecchiai handschriftlich im AOM aufgefunden und aus dem Lateinischen ins Italienische übersetzt hat (Pecchiai, Gli albori,

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Die Mailänder Hospitalreform und das Ospedale Maggiore

Ergebnisse

Die Mailänder Debatten um die Hospitalreform zeichnen sich dadurch aus, dass sie differenzierte Reformnarrative entwickeln und immer wieder auf die Körpermetaphorik rekurrieren. Auf der Ebene der anvisierten bzw. real umgesetzten Reformmaßnahmen gibt Mailand immer dann, wenn über Kontrolle und Verwaltung von Hospitälern gestritten wird, gute Einblicke in die Bruchlinien zwischen der kirchlichen und der weltlichen Interessensphäre. Eine Besonderheit des Falls liegt darin, dass die Hospitaldiskussion ab 1450 in den Bann eines neuen, zentralen Bauwerks gerät. Den weitesten Bogen schlägt die Reformerzählung in der Abhandlung von Gian Giacomo Ghilini: Er breitet alle vier Phasen des Reform-Plots quasi ›schulmäßig‹ aus, von den guten Anfängen (I) über den Niedergang (II) und die Reform (III) bis zum Ausblick in eine bessere Zukunft (IV), die allerdings zur Zeit der Abfassung des Traktats selbst schon Vergangenheit ist.195 Dadurch kann Ghilini eine weitere Erzählung anlagern, die eine Reformtradition begründet und diese ihrerseits in die Zukunft projiziert. Wo das Textgenre es zulässt, können in solche Reformerzählungen historische Mikronarrative (so in Ghilinis Traktat) oder Exempla aus der biblischen oder alten Geschichte inseriert werden (so im Prolog der Statuten des Ospedale Maggiore von Lodi196). Anders gewichtet sind die Reformnarrative in den Dekreten der Erzbischöfe. Enrico Rampini konzentriert sich 1448 auf die Phasen II (schlechtes Wirtschaften der religiös geführten Hospitäler, Diagnose), III (Reformmaßnahmen) und IV (zu erwartende Wirkungen) des Reformnarrativs, erinnert hingegen nur punktuell an die fernere Vergangenheit. Dafür reichert er seine Argumentation mit einem positiven Gegenbeispiel an (die gute Bilanz der laikal geführten Wohlfahrtseinrichtungen) und reflektiert seine eigene Position als Reforminitiator. Ähnlich betont sein Nachfolger Giovanni Visconti 1453, wie vorher bereits die Regierung der Repubblica Ambrosiana, vor allem die Missstände der jüngsten Zeit, um daraus direkt Reformschritte abzuleiten. Wie am Beispiel Cremona zu sehen, kann sogar auf Kritik am Ist-Zustand weitgehend verzichtet und alles auf die Karte der positiven Reformziele gesetzt werden.197 Wieder anders begründet Herzog Francesco Sforza gegenüber dem Erzbischof und dem Papst seine Neuinterpretation der Reform. Bei ihm treten einerseits normative (Hilfe für die mit Christus identifizierten Armen, die Würde S. 505, Übers. S. 573 – 576). Zu den Hospitalgeschichten des 18. u. 19. Jh.s s. ebd., S. 505 – 508. 195 Vgl. oben, Einleitung, Anm. 38. Zu Ghilini oben, Anm. 177 ff. Vergleichbar, aber natürlich kürzer, das Narrativ im Reformdekret des Bischofs von Lodi (oben, Anm. 142 – 145). 196 S. oben, Anm. 140, u. Cremascoli/Donnini, Gli Statuti, S. 44 – 60. 197 S. oben, Anm. 46 ff., 65, 82; zu Cremona Text nach Anm. 135.

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Ergebnisse

eines Hospitals als frommes Werk), andererseits autobiografische Gesichtspunkte (Dank für seine Erfolge, sein Seelenheil) hervor. Außerdem setzt er häufig organologische oder Körpermetaphern ein, um seine Reformidee zu plausibilisieren, was von Papst Pius II. in seiner Bestätigungsbulle von 1458 übernommen wird;198 der vom Herzog initiierte, von den Vorbildern Florenz und Siena inspirierte Neubau des Ospedale Maggiore stellt der Öffentlichkeit materialiter Reformziele wie funktionale Diversifizierung oder Rationalisierung vor Augen, Ziele, die sprachlich mit organologischen Bildern zu veranschaulichen wären.199 Dass gerade das Fürstenpaar so ausgiebig auf diese Metaphorik zurückgreift (Ghilini wird sie modifiziert übernehmen), hängt auch damit zusammen, dass es sich in seiner Stifterrolle inszenieren möchte: So wie die Stadt und ihr Territorium im Herzog ihr Haupt haben, so soll auch das neue Hospitalsystem von einem Haupt regiert werden. Sieht man die rechtlichen Argumente durch, so bestätigt die Mailänder Diskussion die bereits in den juristischen Texten festgestellte Prominenz des Topos ›Stifterwille‹. Freilich lässt sein Gebrauch in situ verschiedene Facetten erkennen. Enrico Rampini hält das Seelenheil der alten Stifter durch den Niedergang für gefährdet, so dass die Reform deren Willen gerade restituieren würde. Durch die Argumente der Gegner in die Defensive gedrängt, beschwichtigt Francesco Sforza 1457 mögliche Einwände Papst Calixts III. mit der Behauptung, der Wille der Stifter werde durch die Reform keineswegs beeinträchtigt, da es sich ja nur um eine Umwidmung zu Gunsten eines anderen, größeren Hospitals handele.200 Zudem setzt seine eigene Rolle als Stifter eines verdienstlichen Werks, des Ospedale Maggiore, den Rechten der früheren Stifter einen neuen, aber ebenso berechtigten Stifterwillen entgegen. Auf jeden Fall ist es ratsam, den Papst zu bitten, alle auf das Stifter-Argument zielenden rechtlichen Gegengründe zu entkräften (aber selbst hier finden sich Ausnahmen: Cremona schafft die Reform auch ohne Papst). Hin und wieder, aber insgesamt selten, berufen die Bischöfe sich auf Quia contingit, um ihr Eingreifen abzusichern. Häufiger ist jedoch der Appell an überpositive Normen: allen voran die auch von den Juristen betonte Pflicht zur hospitalitas zu Gunsten der Armen Christi, manchmal gestützt auf die entsprechenden Bibelstellen. Die Nutznießer heißen in Fällen, in denen die Rechtfertigung der Reforminitiativen auf dem Spiel steht, vorwiegend pauperes. Hingegen verschiebt sich in Texten, die sich mit der Organisation der neu organisierten Hospitäler befassen (bei Ghilini oder in den Statuten der neuen

198 S. oben, Anm. 77, 91 ff., 96 – 102, 113. 199 S. oben, Anm. 123 ff. 200 S. oben, Text nach Anm. 101.

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Die Mailänder Hospitalreform und das Ospedale Maggiore

Hospitäler von Pavia und Lodi)201 der Schwerpunkt sichtlich auf den Aspekt des Krankseins (aegri oder infirmi); dies geht einher mit der zumindest theoretisch – wenn auch noch wenig in der Praxis – auf die Therapie körperlicher Krankheiten ausgerichteten Aufgabenstellung der lombardischen Ospedali Maggiori und einer entsprechenden Professionalisierung des medizinischen Personals. Parallel dazu wird in Mailand (von Ghilini) die Notwendigkeit einer ebenso professionellen, das heißt effizienten, rationalen, unbestechlichen, ständig reformfähigen Verwaltung der Hospitalwelt herausgestellt. Schließlich sind die Mailänder Zeugnisse ein Beleg dafür, dass der Kampf zwischen den kirchlichen und den weltlichen Obrigkeiten um die Kontrolle der Hospitäler nicht nur ein wichtiges Thema der Reform ist, sondern im wirklichen Leben mit unscharfen Lösungen endet. Zwar bewirkt die Reform der 1440er und 1450er Jahre einen Rückzug kirchlicher Instanzen (der religiösen Kommunitäten, letztlich auch des Erzbischofs) aus den Hospitälern und einen Machtzugewinn der kommunalen Elite und des Herzogshofs, doch bleibt der Erzbischof über die Wahl der Deputati indirekt präsent und außerdem bekommt die Reform erst durch die Zustimmung des Papstes Rechtskraft. Eine Tendenz zur Verlagerung von Kompetenzen (nämlich Trägerschaft, Kontrollrechte, alltägliche Verwaltung, Verteilung der Ressourcen) auf laikale Instanzen ist als Ergebnis der Mailänder Hospitalreform somit unbestreitbar, doch ist diese Tendenz nicht so eindeutig und unumkehrbar, wie die ältere Forschung behauptet.

201 S. oben, Anm. 140, 176.

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III.

Das Hôtel-Dieu von Paris

1.

Quellen

Im dritten Buch seines Romans Notre-Dame de Paris (1831) widmet Victor Hugo der spätmittelalterlichen französischen Hauptstadt eine wehmütige und zugleich gegenwartskritische Beschreibung von großer Detailgenauigkeit. Aus der Vogelschau, von den Türmen der Kathedrale aus, imaginiert er einen Rundblick, der auch beim Hospital von Notre-Dame kurz innehält: »An der Südseite des Platzes hockte das griesgrämige, verwitterte Hútel-Dieu, dessen Dach mit Blattern und Warzen bedeckt schien.« Wenige Jahrzehnte nach der Veröffentlichung des Romans wurden die Reste der blatterigen Gemäuer abgebrochen und das Hútel-Dieu auf der Nordseite der Ile de la Cit¦ als modernes Krankenhaus neu errichtet. Im Jahr 1482 hingegen, als die Erzählung von Quasimodo, Esmeralda, dem Archidiakon Claude Frollo und dem gescheiterten Dichter Pierre Gringoire einsetzt, lag es noch auf der Südseite der Insel am linken SeineArm, am Vorplatz (parvis) der Kathedrale Notre-Dame unweit von deren Westfassade: ein für mittelalterliche Maßstäbe riesiger Gebäudekomplex, der schon damals, lange bevor er im 17. Jahrhundert über den Petit-Pont und zwei neu errichtete Brücken auf das gegenüberliegende linke Flussufer ausgriff, selbst für sein Personal schwer zu überschauen war.1 Gut siebzig Jahre vor Victor Hugo hatten die Autoren der Encyclop¦die um Denis Diderot das Pariser Hútel-Dieu in einem knappen Artikel als Inbegriff der überholten, schmutzigen, uneffizienten, in ihrer Dysfunktionalität für die Gesellschaft geradezu bedrohlichen Fürsorgeanstalt aus längst vergangenen Zeiten 1 Hugo, Notre-Dame, S. 152, Übers. nach der deutschen Ausgabe von 1990, S. 146. Zur Lage des alten Hútel-Dieu s. unten, Plan 4 u. den Detailplan in: Lorentz/Sandron, Atlas, S. 180; den beträchtlich erweiterten Bau des 17. Jh.s zeigt die Planskizze in Fosseyeux, L’Hútel-Dieu, S. 415. – Das mittelalterliche Wort Hútel-Dieu (Domus Dei) bezeichnet nicht ein bestimmtes Hospital, sondern in der Regel den Typ des großen, kirchlichen Hospitals, von denen es in Frankreich viele gab und auch in Paris mehr als eines. Die Kurzform Hútel-Dieu steht im Folgenden aber für das Hútel-Dieu de Paris oder Hospital von Notre-Dame.

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Das Hôtel-Dieu von Paris

charakterisiert (»das erschreckendste von allen unseren Hospitälern«). Generationen hätten es zu reformieren versucht, doch stets ohne Erfolg: »Es ist nach wie vor eine Art ständig klaffender Abgrund, in dem die Leben der Menschen mitsamt den Almosen der privaten Schenker verschwinden.«2 Sicher ist, dass die Gebäude des Hútel-Dieu um die Mitte des 18. Jahrhunderts in einem wenig erbaulichen Zustand waren. Ein Brand hatte sie 1737 beschädigt, ein noch verheerenderes Feuer sollte sie 1772 teilweise zerstören. Zwar wurde das größte Pariser Hospital rasch restauriert und überstand auch die Revolution; die Reparaturen betrafen jedoch nur die Bauten des 17. Jahrhunderts am linken SeineUfer, während der alte Komplex in der Cit¦ nach 1772 Stück für Stück beseitigt wurde. Seinen wenige hundert Meter entfernten, bis heute bestehenden neuen Sitz erhielt das Hútel-Dieu im Zuge des Umbaus der Hauptstadt im Second Empire. Die Diagnose der Unreformierbarkeit, die die Autoren der Encyclop¦die dem Hútel-Dieu ausstellten, wurde von anderen aufgeklärten Sachverständigen des 18. Jahrhunderts nicht immer in dieser Schärfe geteilt. Aber einig waren sich viele Wortführer über die Notwendigkeit einer radikalen Modernisierung.3 Dass sämtliche »Reformprojekte« in der langen Geschichte des Hauses »niemals ausgeführt werden konnten«, wie die Enzyklopädisten sagen, lässt sich dennoch nicht behaupten. Auch das Pariser Hútel-Dieu kann in eine Reformgeschichte eingeschrieben werden, die im Frankreich des 16.–18. Jahrhunderts im Zeichen zunehmender Bestrebungen der Monarchie stand, mit Hilfe neuer religiöser Orden große zentralisierte Hospitäler zu schaffen und das gesamte System der institutionellen Fürsorge auf eine arbeitsteilige Versorgung spezieller, auch zwangsweise eingewiesener bedürftiger oder kranker Bevölkerungsgruppen auszurichten.4 Die Quellen zu diesem Hospital geben in seltener Eindringlichkeit Auskunft darüber, wie schwierig es war, eine spätmittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Fürsorgeeinrichtung zu reformieren, die im Kreuzungspunkt widerstreitender Interessen stand. Die Aussagekraft der Quellen ist angesichts der historischen Bedeutung des Pariser Hútel-Dieu kein Zufall. Aus diesem Grund könnte man 2 Encyclop¦die 8, S. 319 f.: »le plus effrayant de tous nos húpitaux« heißt es dort gleich im ersten Satz. Und am Ende des Artikels: »On a propos¦ en diff¦rens tems des projets de r¦forme qui n’ont jamais p˜ s’ex¦cuter, et il est rest¦ comme un goufre toujours ouvert, o¾ les vies des hommes avec les aumúnes des particuliers vont se perdre.« 3 Tenon, M¦moires, S. 7 – 27 (Vorwort) und v. a. die vierte M¦moire; Seitenangaben nach der englischen Übersetzung von D. Weiner, die ich wegen ihrer besseren Zugänglichkeit benutzt habe; zur Diskussion um die Hospitalreform im vorrevolutionären Frankreich, vor allem nach dem Brand von 1772, s. Weiners Einleitung ebd., S. VII – XXIX. Ferner MacHugh, Establishing Medical Men. 4 Überblick bei Dissard, La R¦forme; Imbert, Le droit hospitalier de l’Ancien R¦gime; Hickey, Institutional Care.

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Quellen

sogar noch reicheres Material erwarten, als tatsächlich erhalten ist. Schwere Verluste verursachte ein Brand während der Kämpfe um die Pariser Commune 1871, dem etwa drei Viertel der damals bereits vereinigten Hospitalarchive der Stadt zum Opfer fielen; die Reste bilden den immer noch bedeutenden alten Kern der heutigen Archives de l’Assistance publique in Paris, und in ihm ist der Fonds des Hútel-Dieu der größte Bestand.5 Auf Grund dieser Ereignisse bietet das Pariser Hútel-Dieu von den Archivalien, auf die die historische Hospitalforschung in den einheitlich organisierten öffentlichen Archiven Frankreichs idealerweise zurückgreifen könnte,6 nur noch einen Teil. Ernest Coyecque, der sich um die Erschließung dieser Quellen besonders verdient gemacht hat, gibt in der Einleitung zu seiner einschlägigen Monografie von 1891 einen Überblick.7 Unterscheidet man die Dokumente, die vom Personal des Hauses selbst geschrieben oder zumindest von Anfang an in seinem Archiv aufbewahrt wurden, von jenen Texten, die von externen, aber am Hútel-Dieu interessierten Institutionen produziert wurden, so sind in der ersten Gruppe vor allem die Rechnungsbücher (ab 1364),8 sonstige Akten zur Besitzverwaltung sowie Urkunden (drei Chartularien des 13. Jahrhunderts,9 frühneuzeitliche Testamente und Schenkungen10) zu nennen. So interessant diese Quellen für eine Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Hospitals auch wären: Für unsere Zwecke sind sie nicht zentral. Bei den Rechnungsbüchern ist zu beachten, dass sie ab 1505, als die Verwaltung der Temporalia des Hútel-Dieu an die Kommune Paris gelangte, von deren Vertretern und nicht mehr vom inneren Personal geführt wurden. Außerdem hat das kommunale Gremium (Bureau de l’Hútel-Dieu), dem seit 1505 die Freuden und Lasten der Hospitalverwaltung oblagen, eine Serie von Versammlungs- und Beschlussprotokollen (d¦lib¦rations) hinterlassen, die mit dem

5 Bordier/Brièle, Les archives hospitaliÀres, S. 6 f.; Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, S. 5. Einen erschöpfenden Überblick über die Geschichte der Inventare des Hútel-Dieu-Archivs (seit 1591) sowie der späteren AAP bietet Candille, Catalogue, S. 369 – 552; zu den Beständen der AAP nach dem Brand s. ebd., Tabelle nach S. 476. 6 Gutton/Imbert, Guide du chercheur 1, S. 95 – 134, 138 – 149. 7 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, S. 6 – 15. S. ferner Fosseyeux, L’Hútel-Dieu, Pr¦face u. Quellenverzeichnis. 8 Auszüge sind ediert in: Brièle/Möring, Collection 3 u. 4. Hauptsächlich auf diesem Bestand beruht die neueste Monografie zum Pariser Hútel-Dieu: Jéhanno, Sustenter, Überblick S. 22 – 30. Die Serie befindet sich in den AAP, Einzelstücke in den AN, H 3633 – 3666 (Signaturen nach Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, S. 17). 9 Aufbewahrt in den AAP und zusammen mit weiteren urkundlichen Zeugnissen (auch aus den AN) und einem Urbar des späten 13. Jh.s ediert in: Brièle/Coyecque, Les archives de l’Hútel-Dieu. 10 Ebenfalls in den AAP, Teiledition in Brièle/Möring, Collection 4.

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Das Hôtel-Dieu von Paris

Jahr 1531 einsetzt.11 Ob man das kommunale Bureau, dessen Mitarbeiter sich häufig im Haus aufhielten, dennoch als externe Instanz bezeichnen kann, wäre zu diskutieren; dafür spricht, wie sich zeigen wird, die Geschichte der Beziehungen zwischen ihm und dem Personal des Hospitals. Auf jeden Fall gehört in die zweite Gruppe, jene der von außen produzierten Texte, die wichtigste Quelle für die Reformdiskussionen um das Hútel-Dieu: die d¦lib¦rations des Domkapitels von Notre-Dame. Da das Hospital schon früh der Pariser Kathedrale, neben der es lag, unterstellt war, widmeten die Kanoniker seiner Kontrolle einen – je nach Bedarf zuweilen beträchtlichen – Teil ihrer Energien. Die Serie der Versammlungsprotokolle, in der die Beschlüsse und manchmal auch Einzelheiten der vorausgehenden Debatten festgehalten wurden, ist ab 1326 erhalten; Coyecque hat 1889 sämtliche das Hútel-Dieu betreffenden Einträge aus diesen Registern (bis zum Jahr 1539) transkribiert und entweder im (fast) vollen Wortlaut oder als Regesten zum Druck gebracht.12 Hinzu kommt ein Bestand von weiteren Akten, die die Kanoniker im Zuge ihrer Kontrollaktivitäten haben anfertigen lassen: insbesondere Untersuchungen von unerfreulichen Vorkommnissen mit Zeugenverhören sowie Aufzeichnungen zu sonstigen Angelegenheiten, die die im Hútel-Dieu tätige religiöse Männer- und Frauenkommunität betrafen.13 Eine weitere von einer externen Institution produzierte Serie ist hier ebenfalls zu nennen: der umfangreiche Bestand des Parlement von Paris. Dieses mit dem Kathedralkapitel, aber auch mit dessen Gegnern im Hútel-Dieu und mit der Pariser Kommunalführung personell vielfältig vernetzte höchste Gericht im Königreich14 hat sich seit dem späten 15. Jahrhundert immer häufiger in die Kämpfe um Reformen im Hútel-Dieu eingeschaltet. Zahlreiche einschlägige Fakten sind deshalb bezeugt, weil es eine Entscheidung (arrÞt) einer der Kammern des Parlement gegeben hat. Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde das Parlement die eigentliche Schaltzentrale für das Hútel-Dieu und andere Pariser Hospitäler. Die über 10.000 Bände Register, die es bis 1789 hat schreiben lassen, 11 Unvollständige Auszüge ediert in Brièle/Möring, Collection 1 u. 2. Die Serie befindet sich in den AAP. 12 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2. Ein später wieder gefundener Band ist ausgewertet in Coyecque, L’Hútel-Dieu 1512 — 1515. Die Register mit den d¦liberations des Kapitels von NotreDame sind in den AN aufbewahrt, Signatur LL 105 ff. (nicht mehr LL 208 ff., wie noch zu Coyecques Zeiten). – Von der Qualität der an der Ecole des Chartes entstandenen Arbeit konnte ich mich durch Stichproben in Paris überzeugen. Ohne Coyecques Editionen hätte dieses Kapitel nicht geschrieben werden können. 13 Von diesem Bestand hat Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, S. 289 – 394, eine Auswahl in einem Anhang »Documents« publiziert. Überwiegend handelt es sich um Dokumente aus AN, L 591 – 595 (so die neuere Signatur ; nicht mehr L 533 – 537). 14 Zur Frühgeschichte des Parlement von Paris: Aubert, Le parlement; Autrand, Naissance; bis 1789: Shennan, The Parlement. Zu einem Teilbestand der Parlement-Register aus den Jahren 1376 – 1596 s. Clemencet/François, Lettres (mit Regesten).

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Das Hôtel-Dieu und andere Pariser Hospitäler im 15. Jahrhundert

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stellen freilich einen Bestand dar, an den man sich nur auf Grund einer von Kennern bzw. interessierten Institutionen getroffenen Vorauswahl heranwagen kann.15 Die Quellen, auf die die folgende Untersuchung sich hauptsächlich stützt, sind die von Coyecque transkribierten bzw. resümierten Versammlungs- und Beschlussprotokolle der Kanoniker von Notre-Dame, die ebenfalls von Coyecque edierten und durch eigene Nachlesen ergänzten Dokumente aus den Archives Nationales sowie andere edierte Zeugnisse. Der Schwerpunkt liegt auf den Reformdebatten in den Jahren kurz vor und um 1500 sowie auf der Zeit zwischen 1530 und 1540.

2.

Das Hôtel-Dieu und andere Pariser Hospitäler im 15. Jahrhundert

Paris und seine Hospitäler Die wirtschaftliche Lage der französischen Hauptstadt war in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts schwierig, phasenweise desolat. Selbst wenn man die bestürzenden Schilderungen, die das Journal des anonymen Pariser Bourgeois und andere Autoren von den Auswirkungen mancher Hungerkrisen auf die Stadtbevölkerung geben,16 als übertrieben oder nicht repräsentativ einstuft, ist der Gesamteindruck einer außergewöhnlich mühseligen Epoche der Stadtgeschichte kaum zu widerlegen. Die Ursachen – in erster Linie die Folgen des Hundertjährigen Krieges, der seit 1416 immer näher an Paris heranrückte, bis die Stadt 1436 vom französischen König den Engländern wieder abgenommen werden konnte – sind bekannt. Für eine Metropole mit auch in dieser Zeit wohl immer noch 100.000 Einwohnern und einer ummauerten Fläche von etwa 2,5 km Durchmesser17 potenzierten sich Versorgungsengpässe, egal ob durch 15 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, S. 289 ff., Anhang »Documents«, hat einige der dort edierten Texte aus einer der Serien der Parlement-Register (AN, Serie X u. Unterserien) entnommen, von denen ein Teil freilich auch als Abschrift in den Akten des Kapitels von Notre-Dame (AN, L 591 ff.) überliefert ist. Mit welchen Hilfsmitteln er die Registereinträge gefunden hat, gibt er nicht an. Zur tonangebenden Rolle des Parlement seit dem 17. Jh. s. Fosseyeux, L’HútelDieu, S. 1 – 3, 42 – 45, der seinerseits zahlreiche Bände aus der Serie X ausgewertet hat. 16 Tuetey, Journal 1405 – 1449, mit präzisen Angaben über Lebensmittelpreise (am schlimmsten die Jahre 1418 – 1421, S. 116 – 151, v. a. 146, 150). Guillebert de Metz, La Description, S. 236: Bei der »mortalit¦« von 1418 seien 30.000 Menschen allein im HútelDieu gestorben, eine mit Sicherheit stark übertriebene Zahl (vgl. Jéhanno, Sustenter, S. 170 – 178). 17 Lorentz/Sandron, Atlas, S. 68 f.; Favier, Paris. Deux mille ans, S. 37 – 39; Favier, Paris au XVe siÀcle, S. 175 – 197; Babelon, Paris au XVIe siÀcle, S. 159 – 166 (Einwohnerzahlen 16.

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Das Hôtel-Dieu von Paris

Mensch oder Natur hervorgerufen, rasch zu Dimensionen, denen keine spätmittelalterliche Kommune oder wohltätige Institution gewachsen war.18 In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts besserten sich die Bedingungen zwar auf der einen Seite dadurch, dass große militärische Aktionen seltener wurden und die Hauptstadt kaum noch unmittelbar bedrohten, auf der anderen Seite jedoch war Nordfrankreich nicht weniger als andere europäische Regionen von den strukturellen Schwierigkeiten vor allem der Landbevölkerung betroffen. Die Folgen – Landflucht, Migration schlecht ausgebildeter Menschen vom Land in die Städte, Anwachsen des Anteils bedürftiger Stadtbewohner, daher verstärkte Effekte der immer wieder auftretenden Produktionseinbrüche und Hungerkrisen – überforderten nicht nur die Pariser Wohlfahrtseinrichtungen wie eh und je.19 Die Möglichkeiten der kommunalen Regierung von Paris zu eigenständigem Handeln waren angesichts der Tatsache, dass die Stadt Residenzort des Königs und Sitz zentraler königlicher Institutionen war, insgesamt begrenzt, wenn auch nicht inexistent. Eine offizielle Bestätigung ihrer Freiheiten hatten die Bürger von Paris vom König nie erhalten, doch bildeten sich seit dem späten 12. Jahrhundert königlich anerkannte kommunale Institutionen; da diese auch für die Reformgeschichte des Hútel-Dieu Bedeutung erlangten, seien sie kurz vorgestellt. In seiner voll entwickelten Form setzte sich das im Vorläuferbau des Hútel de Ville tagende Bureau de la Ville aus dem Vorsteher der Kaufleute (Pr¦vút des marchands), vier Schöffen (Echevins), 16 Vorstehern der Stadtviertel und einigen bezahlten Funktionären zusammen; ihm assistierte ein 24-köpfiges Gremium von Stadträten. Abgesehen von den bezahlten Funktionären waren die anderen Mitglieder auf Zeit gewählt. In sozialer Hinsicht repräsentierten das Bureau de la Ville und der Rat ausschließlich die Elite der Pariser Bürgerschaft; Kooptationsmechanismen bei der Auswahl der Kandidaten und der Einfluss des Königs sorgten dafür, dass dies so blieb. Die Kompetenzen der Kommunalregierung erstreckten sich auf die Erhebung der eigenen und dem König zu leistenden Steuern, auf die Versorgung sowie das Bau- und Verkehrsrecht. Die wichtigsten Gerichts- und Polizeifunktionen waren hingegen beim königlichen Jh.). Vor der Pest von 1348 hatte die Stadt um die 200.000 Einwohner, eine Größe, die sie ab etwa 1500 wieder erreichte. Die unter Karl V. um 1380 errichteten Stadtmauern umschlossen am rechten Seine-Ufer einen Halbkreis von 2,5 km Durchmesser ; in Nord-Süd-Richtung dehnte sich die Stadt etwa ebenso lang aus. 18 Von einer besonderen Notlage des Hútel-Dieu ist auch in den d¦lib¦rations des Kapitels von Notre-Dame zu den Jahren 1418, 1421, 1422, 1424 u. 1437 die Rede (Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 366 S. 58, 419 S. 64, 428 f. S. 65 f., 444 S. 67, 469 S. 71, 654 f. S. 98, 660 S. 101, 666 S. 102). S. auch Jéhanno, Sustenter, S. 113 – 115, 119 – 126, u. zum Kontext Favier, Paris au XVe siÀcle, S. 296 – 298. 19 Generell zur Krise der französischen Hospitäler im 15. Jh. Mollat, Dans la perspective; zum sozialgeschichtlichen Kontext der Pariser Armen- und Krankenfürsorge immer noch Geremek, Les marginaux, S. 189 – 237.

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Das Hôtel-Dieu und andere Pariser Hospitäler im 15. Jahrhundert

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Stadtvorstand (Pr¦vút de Paris) und seinen sergents im Ch–telet sowie beim Parlement konzentriert; deshalb und wegen der Auslagerung des militärischen Schutzes der Hauptstadt an königliche Gouverneure blieb die Autonomie der Kommune Paris gegenüber der Monarchie, von gelegentlichen Rebellionen abgesehen, immer beschränkt.20 In und nahe bei Paris operierten in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts etwa 20 Hospitäler – nicht eingeschlossen sind in diese Zahl die außerhalb der Mauern, zum Teil auch in einiger Entfernung gelegenen Leproserien und die Häuser, die ›reumütige‹ Frauen aufnahmen.21 Es handelt sich um eine Mischung von kirchlichen Institutionen – davon die älteste das dem Domkapitel von Notre-Dame unterstehende Hútel-Dieu –, Hospitälern spezialisierter Orden, Zunfthospitälern, (zahlreichen) privaten und (seltenen) königlichen Gründungen. Einige von ihnen, vor allem die an der Nord-Süd-Hauptachse (rue St-Denis) gelegenen Häuser, nahmen vorwiegend durchziehende Fremde oder Pilger auf. Andere konzentrierten sich auf besondere körperliche Defekte oder lebenszyklisch bedingte Phasen der Hilfsbedürftigkeit: zum Beispiel das von Ludwig IX. in der Nähe des Louvre gestiftete Hospital der Quinze-Vingts (der »Dreihundert«) auf Blinde, die sich am rechten Seine-Ufer aufreihenden, nach 1350 gegründeten Hospitäler St-Eloi, St-Esprit und Petit-St-Antoine auf Waisenkinder. Die bedeutenderen Hospitäler, insbesondere das Hútel-Dieu, wurden von religiösen Kommunitäten betreut, andere von Oblaten oder Semireligiosen, die kleineren von Hospitalaren, die von den Patronen ernannt oder vom Bischof von Paris eingesetzt wurden.

Organisation und Verwaltung des Hôtel-Dieu Das Hospital der Pariser Kathedrale ist vielleicht schon im 7. Jahrhundert entstanden, im 9. Jahrhundert sicher bezeugt und seit dem 12. Jahrhundert gut 20 Diefendorf, Paris City Councillors, S. 3 – 29; Favier, Paris. Deux mille ans, S. 551 – 562. Zur Lage der 16 Viertel s. Lorentz/Sandron, Atlas, S. 189. 21 Die Zahl von etwa 20 basiert auf der Auswertung von Visitationsberichten ab 1351 durch Le Grand, Maisons-Dieu, Teil I, Nr. XXX u. LVII, und auf den Ergänzungen ebd., Teil II. Vgl. auch unten, Plan 4, der allerdings keine zeitliche Differenzierung leistet und daher auch Häuser zeigt, die im späteren 15. Jh. nicht mehr existierten. Die in Lorentz/Sandron, Atlas, S. 180, angegebene Zahl von »une soixantaine d’¦tablissements — la fin du Moyen ffge« ist daher gewiss zu hoch (jedenfalls wenn man Leproserien, Reuerinnen-Konvente und weiter entfernt liegende Hospitäler herausrechnet). Bordier/Brièle, Les archives hospitaliÀres, S. 6 f., berichten, dass die AAP bis zum Brand von 1871 die Fonds von 29 Pariser Hospitälern besaßen, darunter allerdings auch frühneuzeitliche Gründungen. S. auch Candille, Catalogue, Tabelle nach S. 476. – Zum Blindenhospital der Quinze-Vingts s. O’Tool, Disability.

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dokumentiert.22 Im Frühmittelalter muss es in unmittelbarer Nachbarschaft zur merowingischen Kathedrale gelegen haben, doch ist sein genauer Standort nicht bekannt. Für den in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts begonnenen Neubau wählte man einen Platz an der Südseite des parvis von Notre-Dame. Seinen Kern bildeten eine Kapelle und ein auf den Fluss zulaufender Saalbau. Es folgten im 13. Jahrhundert drei weitere, sich parallel zum Seine-Ufer nach Osten und Westen erstreckende Säle, deren letzter mit einer Kapelle am Petit-Pont abschloss, flankiert von Räumen für die Religiosen und Wirtschaftsgebäuden.23 Spätmittelalterliche Renovierungen änderten an diesem Baubestand nichts Wesentliches. Die letzte Erweiterung auf der Insel wurde, nach jahrelangen Diskussionen um alternative Möglichkeiten des Ausbaus, 1531 durch eine Stiftung des früheren französischen Kanzlers und Papstlegaten Antoine Duprat ermöglicht. Neue Räumlichkeiten konnten danach nur noch durch Expansion auf das gegenüberliegende linke Seine-Ufer geschaffen werden; dies wurde im 17. Jahrhundert realisiert und führte zu einem durch zwei neue Brücken mit der Insel verbundenen, vierstöckigen Komplex, dessen Größe die ohnehin mächtigen alten Baulichkeiten noch in den Schatten stellte.24 Bleiben wir auf der Ile de la Cit¦, das heißt beim Bauzustand des 15./16. Jahrhunderts, und fragen nach den Menschen, die das alte Hútel-Dieu nutzten, bewohnten, überwachten und in ihm arbeiteten. Neben den kranken und bedürftigen Insassen ist die wichtigste Gruppe die Kommunität der Religiosen; mit ihr stand und fiel der Hospitalbetrieb. Bereits die frühesten Statuten25 des HútelDieu, gegen 1220 im Anschluss an eine entsprechende Anordnung des IV. Laterankonzils (1215) vom Pariser Domkapitel erlassen, legten die Zusammensetzung der Hospitalgemeinschaft fest: 30 Laienbrüder, vier Priester und vier Kleriker sollten die männliche, 25 Schwestern die weibliche Komponente bilden; den Schwestern stand eine magistra (später Priorin) vor, den Männern ein von 22 Zur Frühgeschichte Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, S. 21 – 24; über die mittelalterliche Baugeschichte ebd., S. 159 – 170, Ergänzung bei Chevalier, L’Hútel-Dieu, S. 143; zusammenfassender Überblick bei Jéhanno, Un húpital. 23 Zur Lage der Gebäudeteile s. den Detailplan in Lorentz/Sandron, Atlas, S. 180 (die Säle Nr. 2 u. 3 wurden dort vertauscht). – Die alte Kapelle war dem hl. Christoph, die zweite der hl. Agnes geweiht; als ganzes stand das Hútel-Dieu unter dem Schutz Johannes’ des Täufers. 24 Kurze biografische Skizze über Antoine Duprat bei Rousselet-Pimont, Le chancelier, S. 12; Lalanne, Journal 1515 – 1536, S. 429. Zur Baudiskussion im 16. Jh. s. auch unten, Anm. 140. Zu den Bauten des 17. Jh.s am besten Fosseyeux, L’Hútel-Dieu, S. 211 – 276, mit Plan S. 415. Nach der Beschreibung von Tenon, M¦moires, S. 135 – 138, war dieser vierstöckige Teil am linken Ufer mit einer Bettenzahl von 944 (im Vergleich zu 208 Betten in den mittelalterlichen Gebäuden auf der Insel und 76 auf einer der Brücken) das »eigentliche« Hútel-Dieu geworden. 25 Ediert von Le Grand, Statuts, S. 43 – 53. Zu den Hospitalkongregationen mit Augustinusregel s. Dinet-Lecomte, Les sœurs hospitaliÀres, S. 101 – 107 (mit frühneuzeitlichem Schwerpunkt).

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der gesamten Kommunität normalerweise aus den eigenen Reihen zu wählender magister, der zugleich die Gesamtleitung des Hútel-Dieu innehatte, allerdings der Oberaufsicht des Domkapitels unterstand. Die Religiosen leisteten Profess auf die Augustinusregel und versprachen, die drei evangelischen Räte Keuschheit, persönliche Armut und Gehorsam zu befolgen. Die 1220 als Obergrenze festgelegte Größe der Gemeinschaft änderte sich im Lauf der Zeit. Während die Zahl der Brüder sank, stieg der Anteil der Frauen, denen die eigentliche Pflegearbeit oblag, deutlich an. Bei einer Visitation des Hospitals am 28. Dezember 1482 stellten die Kanoniker fest, dass einem Häuflein von nur vier fratres (hinzu kamen allerdings zwei weitere, offenbar besoldete Priester, ein Laienbruder, ein Chorknabe und ein clerc) 40 sorores, 14 Schülerinnen (filles oder filles blanches) und acht Novizinnen (Schwestern »en chapperon«) gegenüberstanden.26 Im Jahr 1505 holten die Kanoniker, um den Lebenswandel der Augustinerinnen zu reformieren, zusätzlich immerhin 30 – 35 Franziskaner-Terziarinnen ins Hútel-Dieu.27 Zwölf Jahre später – die Terziarinnen hatten das Haus längst wieder verlassen – nahmen an der Wahl der Priorin nur insgesamt 34 männliche und weibliche Religiosen teil, doch dürfte das kaum den Gesamtstand widerspiegeln: Sicherlich fehlten hier die filles blanches und die Novizinnen.28 Reformstatuten des Jahres 1535 legten neue Zahlen fest: Neun Brüder, möglichst Priester, sollten es von nun an sein, dazu sechs Laienbrüder oder »convers« sowie vier besoldete Priester eigens zur Betreuung der Kranken. Bei den Frauen wurde die Sollstärke auf 40 Schwestern und 40 filles blanches erhöht. Im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts stieg der Frauenanteil weiter an, während die Zahl der Männer sich nicht in der vorgesehenen Höhe halten ließ; stattdessen wurden mehr besoldete Kapläne eingestellt.29 Diese Zahlen führen schon mitten in die Reformgeschichte des Hútel-Dieu. Begnügen wir uns vorerst mit der Beobachtung, dass trotz der zunehmenden Vergrößerung des weiblichen religiösen Personals dessen Arbeitskraft oder -wille nie ausreichte, um die Pflege der Insassen und die anderen Aufgaben allein zu schultern. Deshalb wurden mehr und mehr männliche und weibliche 26 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1310 S. 192 – 195. An der wenige Monate zuvor durchgeführten Wahl des Magisters hatten dagegen nur 18 Schwestern teilgenommen (ebd., Nr. 1297 S. 189). – Vgl. auch Jéhanno, Sustenter, S. 150 – 157 mit Anhängen 3 (S. 661 – 692, Schwestern) u. 4 (S. 693 – 707, Brüder), wo die aus den d¦lib¦rations, den Rechnungsbüchern und anderen Dokumenten erhebbaren Namen und Daten für den Zeitraum 1329 – 1535 in alfabetischer Reihenfolge zusammengestellt sind. 27 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1608 S. 270 (zu den Vorgängen s. unten, Anm. 119 ff.). 28 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1869 f. S. 337. 29 Jéhanno, L’alimentation, S. 137 f., 145, 147 (Edition der Statuten von 1535, Kap. 27, 29, 74, 86). Zu den späteren Zahlen: Fosseyeux, L’Hútel-Dieu, S. 22; Dinet-Lecomte, Les sœurs hospitaliÀres, S. 204 ff.

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Dienstboten eingestellt, sei es für Transport- und Handwerksarbeiten, sei es in den Krankensälen.30 Somit arbeiteten im Hútel-Dieu in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts einige wenige männliche augustinische Religiosen, phasenweise auch Laienbrüder, eine Handvoll besoldeter Kapläne und Chorknaben; mehrere Dutzend Augustinerinnen, eine größere Gruppe von Schülerinnen (noch ohne Profess) und Novizinnen (nach einer ersten Stufe der Profess); Dutzende bezahlter Dienstboten, außerdem einige inoffzielle, freiwillige Helfer und Helferinnen, das heißt Rekonvaleszenten, die sich partout nicht vertreiben lassen wollten und für manche Religiosen und Angestellte willkommene Handlanger waren.31 Ob die qualifizierteren Stellen (Bäckerei, Küche, Verwaltung) mit weltlichem oder religiösem Personal besetzt werden sollten, war je nach Umständen umstritten; hoch qualifiziertes medizinisches Personal – physici und Chirurgen mit Universitätsabschluss – wurde erst seit dem 16. Jahrhundert beschäftigt.32 Die Institution, von der das Hútel-Dieu in allen weltlichen und geistlichen Belangen abhing, war das Kapitel der Kanoniker von Notre-Dame, das sich diese seine Alleinzuständigkeit schon 1006 vom Bischof von Paris hatte verbriefen lassen.33 Die Kanoniker stammten im 15. Jahrhundert nicht aus dem Hochadel, sondern vor allem aus Familien, die auch im Parlement oder im Hútel de Ville gut vertreten waren. Sie gegen ihren Willen zu etwas zu zwingen, war selbst für den König schwierig. In Frage gestellt wurde die Durchsetzungskraft des Kapitels eher durch innere Differenzen. Seit dem 14. und noch im 16. Jahrhundert hatte das Kapitel 51 Vollmitglieder, die sich freilich nur selten vollzählig versammelten.34 In einer so großen Gruppe von gut situierten, ehrgeizigen Männern

30 In dem schon zitierten Visitationsprotokoll von 1482 (Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1310) werden 24 solche Funktionen genannt (aber ohne Verwaltung), davon acht in der Außenstelle »Pressoir«. Ein Ablassbrief von ca. 1550 (Faksimile in Brièle/Möring, Collection 3, am Ende des Bandes) spricht in der Einleitung, in der die Leistungen des Hútel-Dieu vorgestellt werden, von 160 (»huict vingtz«) Dienern, evtl. unter Einschluss einiger besoldeter Kleriker. 31 Zu dieser informellen Dienerschaft, die sich aus Rekonvaleszenten rekrutierte, aber von externen ›Schmarotzern‹ (»maraudi«) nur schwer zu unterscheiden war, s. unten, Anm. 49, 111, 127, 138. 32 Belege für die Präsenz oder Konsultation von externen Ärzten gibt es aber schon ab dem 14. Jh.: Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, S. 97 – 100. Ein Arzt als Pfründner : s. unten, Anm. 48. Ferner Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 796 S. 123 (1449 Feb. 19, Dispense vom Fasten für die Kranken »secundum consilium medicorum et cirurgicorum«). Zu den internen Ärzten s. unten, Anm. 178. 33 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, S. 25. 34 Die Zahl von acht Dignitären und 43 Kanonikern wurde 1367 festgelegt: Gane, Le chapitre, S. 20. Beispiel für eine Gesamtaufstellung aller (hier aber nur 50) Kanoniker zu Beginn eines Registerbandes: AN, LL 139 (a. 1534), p. 1: acht Dignitäre, 37 Priester und fünf Diakone. – Soziale Zusammensetzung: für das 14. Jh. s. ausführlich Gane, Le chapitre, S. 95 – 161; das

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konnten Interessenkonflikte bei wichtigen Fragen nicht ausbleiben; wie sich zeigen wird, entzündeten sich derlei Konflikte auch am Hútel-Dieu. Die Leitung der Tagesgeschäfte, sofern sie die Angelegenheiten der männlichen Religiosen und die Gesamtaufgaben des Hauses betrafen, oblag dem Magister ; dazu gehörten auch der Einkauf der Konsumgüter und die Überwachung der Einnahmen. Die Rechnungen, die er – unterstützt von einem bursarius – darüber aufzustellen hatte, waren getrennt von der Buchhaltung der Priorin, die für den weiblichen Teil der Kommunität und die Armen- und Krankenpflege zuständig war.35 Notre-Dame delegierte die Kontrolle dieser Rechnungen und sämtlicher anderer Angelegenheiten des Hútel-Dieu an eine Kommission von zwei, manchmal mehr, Kanonikern, die als Provisoren oder Visitatoren bezeichnet wurden. Diese hielten ein- oder zweimal jährlich (an Pfingsten und am 28. Dezember) im Haus ein »capitulum generale« ab, das in den d¦lib¦rations des Kapitels protokolliert wurde. Sie bzw. das Kapitel hatten insbesondere die Disziplinargewalt über die Religiosen und nutzten zu diesem Zweck die Kerkerräume, die sich sowohl im Hútel-Dieu als auch in Notre-Dame befanden;36 sie nahmen ihnen die Profess ab,37 bestätigten und vereidigten den von der Kommunität gewählten Magister bzw. die Priorin oder ernannten diese gleich selbst. Bei allen wichtigeren Entscheidungen – nicht nur in religiösen Dingen wie etwa päpstlichen Ablässen,38 sondern auch bei Gütertransfers39 – musste der Magister die Provisoren oder das Kapitel konsultieren. Neben dem Domkapitel wirkten auch externe Kräfte auf das größte Hospital der Stadt ein. Hier wäre zunächst der für jede mittelalterliche karitative Einrichtung lebenswichtige Kreis der Wohltäter zu nennen: Im Fall des Hútel-Dieu ist dieser Kreis, abgesehen von den Stiftungen der Königsfamilie und der Kanoniker selbst, bei den Hofbeamten, im Stadtadel und im Großbürgertum von Paris, aber auch bei kleineren Leuten zu suchen.40 Die Sorge, dass die Stifter dem

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Beispiel der Familie Ruz¦ (um 1500) bei Le Gall, Les moines, S. 86, u. unten, Anm. 112, 115 f. Jéhanno, Sustenter, S. 22 – 30. Eines der wiederkehrenden Themen in den d¦lib¦rations: z. B. Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 82 S. 14 (1369 Apr. 23: Fall einer 14 Jahre lang inhaftierten, dann frei gelassenen Schwester); Nr. 924 S. 138 (1455 Jan. 27, Verhaftung eines Religiosen); weitere Beispiele unten, Anm. 135, 185. Zu den Generalkapiteln im Hútel-Dieu s. Gane, Le chapitre, S. 50, u. in der Praxis Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, passim. Häufige Einträge dazu besonders in den d¦lib¦rations vor 1450, aber auch später noch ein wichtiger Prüfstein für die Gewalt des Kapitels in spiritualibus (z. B. Coyecque, L’HútelDieu 2, Nr. 233 S. 42 f., 1407 zwischen Aug. 16 u. 30: unter den Kanonikern hier auch der »cancellarius« Jean Gerson). Zum Beispiel Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1286 f. S. 187 (1482 März 16). Zum Beispiel Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1254 S. 181 (1479 Dez. 15). Schenkungen bis 1300 in: Brièle/Coyecque, Les archives de l’Hútel-Dieu. Legate der ersten Hälfte des 16. Jh.s, meist von Frauen: Coyecque, Recueil, Nr. 442, 575, 1928 (mit 3638), 2437, 2631, 3612, 3670, 4618, 4859, 4923, 4925, 4956, 5349, 5575. »Dons et legs« ab dem 17. Jh.:

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Empfänger ihrer Gaben das Vertrauen entziehen könnten, die Furcht vor Skandalen sowie offene Kritik aus diesem Milieu gehörten zu den Hauptantriebsfedern für Verbesserungsmaßnahmen und Reformbemühungen des Domkapitels. Mit den Wohltätern überschnitten sich die Instanzen, die auf Grund ihrer politischen Position die Verhältnisse im Hospital beeinflussen konnten. Das sind an erster Stelle der König und interessierte Protagonisten am Hof. Schon im 14. Jahrhundert sind solche Eingriffe bezeugt: Karl V. sprach im November 1369, als ein Konflikt zwischen fratres und sorores das Hútel-Dieu zu lähmen drohte, davon, dass das Haus durch die Kanoniker reformiert werden müsse, und verbat dem Pr¦vút de Paris, sich einzumischen.41 Später – aber das ist bereits Teil der Reformdebatten um 1500 – unterstützte der Hof die Interventionen von Kommune und Parlement. Während eine weitere, große Gruppe von externen Mitarbeitern, nämlich die auf den Ländereien des Hospitals tätigen Pächter und Tagelöhner, trotz ihrer fundamentalen wirtschaftlichen Bedeutung für dessen Versorgung hier nicht weiter behandelt werden können, seien am Ende dieses Rundgangs diejenigen thematisiert, um die sich eigentlich alles drehte: die »pauperes et infirmi«, »pauvres malades«, die bedürftigen und/oder kranken Klienten des Hútel-Dieu. In der häufig verwendeten Doppelformel »pauvres malades« verlagerte sich zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert der Schwerpunkt nach und nach auf das zweite Element, also von der unspezifischen, auch religiös konnotierten Bedürftigkeit auf das Merkmal des Krankseins. Freilich bleibt das anfänglich oft allein gebrauchte Element »pauvres« auch im 16. Jahrhundert noch in vielen Texten präsent. Christine J¦hanno verweist auf Unterschiede zwischen dem Usus in Zeugnissen pragmatischer Schriftlichkeit wie den Rechnungsbüchern, die zur Bezeichnung der Klienten das Wort »malades« vorziehen, und der Diktion in den normativen Texten, in denen der Aspekt der Armut betont wird.42 Die überwiegend lateinischen d¦lib¦rations des Kapitels bestätigen diese Beobachtung dann, wenn man sie den normativen Zeugnissen zurechnet; in ihnen überwiegt die Bezeichnung »pauper«, manchmal auch »pauperes infirmi«, Brièle/Möring, Collection 4, S. 62 ff.. Beispiele aus dem Spätmittelalter erläutert Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, S. 92 Anm. 3, S. 133 – 135, 166 – 168; zu den Almosensammlungen im ganzen Königreich ebd., S. 135 – 142. Jéhanno, Sustenter, S. 600 f., berechnet den Durchschnittsanteil der Geldzuwendungen (»charit¦«: Schenkungen, Legate, Almosen, Nachlässe der im Hospital Verstorbenen) am jährlichen Gesamteinkommen des Hospitals im 15. Jh. mit immerhin 36 %; ein tendenzieller Rückgang von Schenkungen und Legaten wurde teilweise durch Almosensammlungen mit Ablassangeboten ausgeglichen. Charakterisierung aller in den Rechnungsbüchern des Magisters nachweisbaren Wohltäter ebd., S. 616 – 633 u. Anhang 13 (S. 811 – 841, fast 2000 Namen). 41 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 90 S. 16: Da das Hútel-Dieu, schreibt der König dem Pr¦vút de Paris, »en voie de destruction« sei, soll es »estre par eulx [die Kanoniker] reform¦«, weshalb Letztere den Brief nur zu gern in ihre d¦lib¦rations kopieren ließen. 42 Jéhanno, Sustenter, S. 131 – 140.

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während »infirmi« ohne »pauper« ab dem Ende des 15. Jahrhunderts für die an einer bestimmten Krankheit, nämlich der Syphilis, Leidenden reserviert ist. Dass aber auch in den normativen Texten das Pendel allmählich in Richtung einer Bevorzugung der Bezeichnung »malade« ausschlug, zeigen die 1535 für das Hútel-Dieu erlassenen (französischen) Statuten.43 Dahinter verbirgt sich nicht nur ein terminologischer, sondern auch ein sachlicher Wandel: Während es im 13. Jahrhundert außer Frage stand, dass Notleidende aller Art auch ohne auffälligen Krankheitsbefund aufgenommen wurden, verschob sich im Laufe des 15. Jahrhunderts die Zielsetzung allmählich auf das Heilen von körperlichen Gebrechen. Selbstzeugnisse von seiten der Klienten sind selten, wenn auch nicht völlig inexistent, denn zumindest im 16. Jahrhundert melden sie sich hin und wieder in Zeugenbefragungen zu Wort. In den Rechnungsbüchern hingegen erscheinen sie vor allem als Konsumenten von Lebensmitteln, Medikamenten und Brennholz. Die nach 1500 zunehmenden Klagen der Kranken und Religiosen über zu kleine Essens- und Weinportionen verzerren, nach neuen Forschungen, die Realität: Man starb im Hútel-Dieu an allem Möglichen, aber in aller Regel nicht an Hunger.44 Genaue Zahlen der Insassen zu ermitteln, ist für die Zeit vor dem 17. Jahrhundert auch mit Hilfe der Rechnungsbücher nicht möglich. Gut bezeugt ist aber die Tatsache, dass viele Betten von mehreren Patienten belegt waren. Das war selbst noch zu Jacques Tenons Zeiten, um 1780, der Fall (er berichtet von bis zu sechs Menschen in den größeren Betten), und für das 16. Jahrhundert gibt es Zeugnisse, die gar von 14 oder 15 Kranken pro Bett sprechen.45 Eine derartige Überfüllung ist wohl nur ausnahmsweise und kaum für alle Betten denkbar (vielleicht bezog sie sich auf kleine Kinder) und setzt eine Art Schichtbetrieb voraus, wie ihn auch Tenon noch beobachtet hat. Bis zu drei Patienten in den größeren Betten dürften indes normal gewesen sein. Legt man für die mittelalterlichen Gebäude (vor 1500) eine Bettenzahl von maximal 300 zu Grunde, so könnte nach diesem Schlüssel die Zahl der pro Tag zu versorgenden Insassen auf bis zu 900 gestiegen sein, in Ausnahmejahren auch höher.46 Ver43 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, passim (Auswertung aller dort transkribierten Einträge). Statuten 1535: Jéhanno, L’Alimentation, S. 134, 137, 139, 144, 149 – 156, 158 – 161 (Kap. 11, 27, 37, 63, 95, 99, 104, 105, 109, 116, 119, 120, 121, 127, 135, 138, 153 – 168). Mit der, freilich nicht ausschließlichen, Präferenz für »malades« wurde auch die Unterscheidung zwischen kranken Religiosen (die ihr eigenes Infirmarium hatten: ebd., S. 145, 154, Kap. 71 – 72, 122 – 124) und kranken Klienten hinfällig: Alle sind jetzt einfach Kranke. 44 Jéhanno, L’alimentation, S. 121 f. 45 Zu Tenon s. oben, Anm. 24. 15.–16. Jh.: Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1408 S. 208 (1494 März 8): Schwerkranke sollen allein in einem Bett liegen. Weitere Zahlen unten, Anm. 136, 138. 46 S. die Angaben in Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, S. 73 – 75; nach einer von Jéhanno, Un grand húpital, S. 228 referierten Archivnotiz waren es in der Zeit König Ludwigs XI. 303 Betten.

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einzelte Angaben bestätigen, dass es im 15. Jahrhundert um die 500, nach dem Bau der salle du L¦gat um die 700 waren; doch gab es auch Zeiten, in denen das Hospital erheblich weniger Klienten beherbergte.47 Unter diesen Umständen darf man die durchschnittlichen Nutzer des spätmittelalterlichen Hútel-Dieu, sofern sie nicht als Pfründner Sonderkonditionen genossen,48 mit Fug und Recht als arme Teufel bezeichnen. Das Spektrum ihrer Mängel und Gebrechen war denkbar breit. Es umfasste Entkräftung in Folge von Armut ebenso wie Verletzungen und alle Arten von Krankheiten, von solchen, die (zu Recht oder Unrecht) als ansteckend galten, bis hin zu Geisteskrankheiten; es schloss Schwangerschaft ebenso wie Altersschwäche ein. Zu den Klienten gehörten auch Findelkinder und Waisen, insbesondere dann, wenn die Mütter bei der Geburt verstarben, was nicht selten vorkam, und die Neugeborenen überlebten, was seltener, aber hin und wieder eben doch vorkam. Neben den Kranken und Gebrechlichen harrte im Hútel-Dieu, wie oben schon erwähnt, auch mancher Rekonvaleszent aus. Dazu kamen außerdem gesunde Bettler, die nach 1500 zwar nicht mehr offiziell aufgenommen wurden, sich aber einschlichen. Gegen diese »marauds« wurde von manchen Religiosen und den Kanonikern im 16. Jahrhundert mehrfach Klage erhoben. Da manche von ihnen ähnliche Funktionen erfüllten wie die als inoffizielle Handlanger fungierenden Rekonvaleszenten, hatte ein Teil des Stammpersonals kein Interesse daran, sie zu vertreiben. Es war offenbar schon für die Zeitgenossen schwierig, diese »pauperes validi« trennscharf von den geheilten Patienten zu unterscheiden. Eine praktische Folge dieser begrifflichen Unsicherheit war, dass der Küchenchef nie genau wusste, wieviele Portionen er täglich zuzubereiten hatte.49

47 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, S. 75 f. Ferner : Der schon zitierte Ablassbrief von circa 1550 (oben, Anm. 30) spricht von »600 bis 700 Armen«. Ähnlich Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 2168 S. 403 f. (1537 Dez. 28): 680 »infirmi«, eine gut beherrschbare Größenordnung. S. auch Jéhanno, Sustenter, S. 165 – 170. 48 Beispiele für Verträge mit Pfründnern in Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, S. 60 – 62, mit Verweis u. a. auf Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 360 S. 57 (1418 Jan. 10: Bericht über einen Pfründnervertrag mit einem »cirurgicus«). Coyecque (Bd. 1, S. 54 – 57) u. Jéhanno, Sustenter, S. 158 – 160, unterscheiden diese »pensionnaires« genau von den seit dem 13. Jh. bezeugten Familiaren (Oblaten, donn¦s) und Laienbrüdern (s. oben, Anm. 26, 29). Doch je nach individuellem Vertrag beteiligten sich auch die Pfründner an der Arbeit im Hospital, wie z. B. der eben genannte Chirurg; die Unterschiede zwischen all diesen Formen der freiwilligen, zumindest partiell auch religiös motivierten Annäherung an das Hospital sind daher eher graduell. 49 S. die Belege unten, Anm. 111, 127, 138. »Pauperes validi« (synonym für »maraudi«): Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1602 S. 266 – 268 (1504 Dec. 28); Verteilungsprobleme des Küchenchefs: Nr. 2022, S. 365 (1527 Feb. 24).

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Positive Stimmen zum Hôtel-Dieu Doch damit sind wir schon bei den Symptomen für die Mängel und Schwächen des größten Pariser Hospitals, gegen die vereinzelt schon im 14. Jahrhundert und seit etwa 1480 immer häufiger Reformer vorgingen. All diese kritischen Äußerungen sollten freilich nicht vergessen lassen, dass das Hútel-Dieu auch Fürsprecher hatte: Neben Historiografen und Dichtern,50 die es freundlich erwähnten oder in den höchsten Tönen lobten, meldeten sich Sachkenner zu Wort, die zwar Reformbedarf sahen, diesen aber mit großem Wohlwollen für die im Hospital arbeitenden Religiosen formulierten. Ein solcher war Jean (oder Jehan) Henry, Kanoniker von Notre-Dame, der den weiblichen Religiosen des Hútel-Dieu 1482 eine Schrift mit dem Titel Livre de vie active widmete. Diese allegorische Abhandlung hat schon wegen der Miniaturen in der ältesten Handschrift eine gewisse Berühmtheit erlangt.51 Der Autor, der ein bedeutendes Mitglied des Kapitels war – als Kantor einer der Dignitäre, Provisor des Hútel-Dieu, außerdem königlicher Rat, zeitweise Präsident der Chambre des enquÞtes im Pariser Parlement und mit weiteren Pfründen im Königreich ausgestattet –, verfügte über reiche Erfahrungen als Ratgeber religiöser Frauen. Da seine Texte sich immer um die bestmögliche Gestaltung der Lebensform seiner Adressatinnen drehen, kann man ihn geradezu als Protagonisten der Reform von Frauenklöstern bezeichnen. An seiner Kunst der Allegorese ließ er Frauen aus verschiedenen Orden teilhaben. Der Äbtissin von Fontevraud ist der Livre de reformation utile et profitable pour toutes religieuses zugedacht, Plädoyer und Anleitung für die Reform des alten Frauenklosters Chaise-Dieu-du-Theil (D¦p. Eure) unter der Obhut der Nonnen von Fontevraud. Das Reformprogramm wird dem Autor im Traum von einer Personifikation der »prudence« diktiert.52 Ein weiteres Buch 50 Guillebert de Metz, La description (1434), Kap. XXI S. 159, Kap. XXVIII S. 223; Antoine Astesan, Paris (1451), S. 540, vv. 180 – 193; Valerandus de Varanis, De Domo Parisiensi Carmen (um 1500). 51 AAP, Hs. ohne Signatur. Kommentar, Transkription von ausgewählten Passagen mit Faksimiles des Textes und der Miniaturen bei: Candille, Etude du Livre. Saunier, La trame, S. 204 Anm. 13, kündigte 2004 eine Edition des Livre de vie active an, die bislang nicht erschienen ist. – Reproduktionen der bekanntesten Miniatur (in der Hs. auf f. 77r), die einen Krankensaal des Hútel-Dieu mit vier Schwestern als personifizierten Kardinaltugenden, einigen Novizinnen und filles blanches darstellt, u. a. in Candille, Etude du Livre, S. 57; Lorentz/Sandron, Atlas, S. 180. Ein Autorenbild (f. 2v) bei Candille, Etude du Livre, S. 46; Miniatur mit Außenansicht des Hútel-Dieu ebd., S. 45, u. Mullally, Guide, S. 100 f. 52 Jean Henry, Livre de reformation, f. a IIIv (Beginn des Traums), f. b Vr–f IIIIr (Hoffnung auf eine neue Generation von Nonnen, Mittel und Wege der Reform); vgl. auch oben, Einleitung, Anm. 47. – Die Angaben zu Jean Henrys Ämtern finden sich sowohl im Prolog des Livre de vie active (Candille, Etude du Livre, S. 20, Faksimile; zu Biografie und Werk ebd., S. 4 – 11) als auch im Livre de reformation, f. a IIr ; Todesjahr hier fälschlich 1473 (2. Feb.) statt 1483,

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des Kanonikers richtet sich an eine ihm bekannte Novizin der Kongregation von Fontevraud, die zum neuen Reformkonvent von Chaise-Dieu gehörte.53 Für die Klarissen von Aigueperse (D¦p. Puy-de-Dúme) hingegen schrieb er einen Livre du Jardin de contemplation, in dem er auch den Unterschied zwischen Kontemplation und vita activa erklärt; Hauptbeispiel für das verdienstliche, aber dem kontemplativen letztlich unterlegene aktive Leben ist das Engagement für ein Hospital, wie es die hl. Elisabeth vorgelebt habe.54 In diesen Kontext gehören seine Betrachtungen über die Lebensform der Pariser Hospitalschwestern, die er im Jahr 1482 niederschrieb. Es war ein schwieriges Jahr für Paris: Hungernde Landbewohner strömten in die Stadt und ins Hútel-Dieu, wo die meisten jedoch starben, wie ein Chronist berichtet; zwar war dort durch großzügige Spenden der Bürger eigentlich genug Nahrung vorhanden, doch waren die Notleidenden schon so des Essens entwöhnt, dass sie nichts mehr aufnehmen konnten.55 Jean Henrys Buch reflektiert diese Ereignisse nicht. Es bietet vielmehr ein Modell, mit dem das religiöse Leben der sorores einer vierstufigen allegorischen Deutung unterzogen werden kann. Sollten die Schwestern diese Lesart ihrer Existenz tatsächlich begriffen und es geschafft haben, dem von ihrem Mentor gezeichneten Idealbild zu folgen, dürften am Ende der Lektüre sämtliche Zweifel über ihre Verdienste und ihr künftiges Seelenheil ausgeräumt gewesen sein. Denn das Hútel-Dieu wird nur im ersten der vier Teile als Hospital betrachtet, das die körperlichen Werke der Barmherzigkeit leistet; im zweiten steht es als sichtbares Zeichen für die Kirche, im dritten für die Seele und im vierten für das Paradies. Aber schon der erste Teil fasst seinen Gegenstand allegorisch: »mis¦ricorde«, »ausmonne« (Almosen), »piti¦« und »povret¦« sind als Personifikationen gedacht, im Fluss Seine, der die Insel umgibt, fließt »saine eau de gr–ce« (»gesundes Wasser der Gnade«); die Türen des Hútel-Dieu bestehen aus Olivenholz, das »piti¦« bedeutet; der Glaube bildet das Fundament, Hoffnung die also 1484 nach dem modernen Kalender. In den d¦lib¦rations von Notre-Dame ist er erstmals 1459 nachzuweisen (Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 981 S. 146, allerdings müssten hier auch die Belege für »cantor« ohne Namen geprüft werden). Zu seiner Rolle im Pariser Klerus s. auch Bonnard, Histoire 1, S. 442 f. – Zu den Ordensreformen in Nordfrankreich zwischen spätem 15. und 16. Jh. s. Le Gall, Les moines, für den Jean Henry einer der Referenzautoren ist (S. 37 f., 113 f., 239, 390 f., 526 u. ad indicem). Zur französischen geistlichen Literatur in diesem Kontext Hasenohr, Aspects, hier S. 37 f. Der Livre de reformation ist der Äbtissin Marie de Bretagne gewidmet, die 1467 – 1477 amtierte. 53 Jean Henry, Le livre dinstruction, Datierung unklar, jedenfalls nach dem Livre de reformation. Hasenohr, Aspects, S. 38 u. 50, erwähnt weitere Schriften für die Chaise-Dieu und andere Empfänger. 54 Jean Henry, Livre du Jardin de contemplation, hier f. g VIIIv–h Ir, f. l VIr–m IIIIv. Das Entstehungsjahr dieser 1516 gedruckten Schrift liegt zwischen 1468 und 1484 (Hasenohr, Aspects, S. 34). 55 Mandrot, Journal Chronique scandaleuse 2, S. 112.

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hohen Mauern, Liebe das Dach des Hauses. Im zweiten Teil werden aus den zuvor körperlich Kranken sündige Schäflein der Kirche (»malades de maladie spirituelle«). Im dritten Teil verwandeln sich die vier Säle des Hospitals in vier Abteilungen der Seele – Vernunft, Begehren, Zorn (also Gefühl?) und Wille –, denen die jeweils geeignete Tugend als Oberschwester vorgesetzt ist: »prudence«, »attrempence« (temperantia), »force« und »justice«. Im vierten, kürzesten Teil versinnbildlicht das Dormitorium der Schwestern die Ecclesia triumphans, also das Paradies, in das alle, »die tugendhaft und heilig im Haus Gottes gearbeitet haben«, eingehen werden; den sorores wird sogar der Status der »vierges martirs« und damit der höchste Rang unter den Heiligen versprochen.56 Halten wir fest, dass Jean Henry die Insassen des Hútel-Dieu sowohl als »povres malades« wie auch – je nach Kontext – nur als »povres« oder nur als »malades« bezeichnet und dass er durchaus eine realistische Vorstellung von der Pflegearbeit hat.57 Hier kommt es freilich eher darauf an, die Reformziele hinter dieser wohlwollenden Darstellung des Lebens der Schwestern vom Hútel-Dieu zu erkennen. Anders als Jean Henrys explizit reformerische Schrift für die Äbtissin von Fontevraud thematisiert diese Abhandlung keine Missstände. Dafür aber hängt sie die Ideale, an denen die vita activa der Frauen sich ausrichten soll, derart hoch, dass der Text einen ständigen Antrieb zur Verbesserung der Verhältnisse unterschwellig mittransportiert. Gerade die Tatsache, dass wie aus dem Nichts hervorgezauberte und wieder verschwindende Personifikationen die Wortführer sind, macht es für die Leserinnen schwierig, den stets entweichenden Horizont dieser Ideale durch reale Verbesserungen einzuholen. Wenn zum Beispiel im ersten Teil des Livre die Figur der »mis¦ricorde« nicht nur »ausmonne«, sondern gleichzeitig auch sämtliche religiösen Frauen des HútelDieu zu ihren Töchtern erklärt, verlangt sie von diesen nichts Geringeres, als ihr Haus zu öffnen »für alle armen Kranken, welcher Provenienz auch immer, bekannte oder unbekannte, die dorthin kommen, [und] sie mit Lebensmitteln zu versorgen, zu nähren, zu speisen und zu beherbergen.«58 Wie sollte das in der Praxis einzuhalten sein? Die vierteilige Konstruktion legt zudem nahe, dass Jean

56 Dieses Resümee basiert auf dem Prolog, den Candille, Etude du Livre, S. 20 – 24, fast ganz transkribiert (vollständig nur im Faksimile), Zitate zu Teil I S. 20 f., zu Teil II S. 21, zu Teil III S. 23 f., zu Teil IV S. 24, 26 (mit Anm. 36). Die in Teil III behandelten vier Kardinaltugenden prudentia, temperantia, fortitudo und iustitia sind dieselben, die in der oben, Anm. 51, genannten Miniatur (f. 77r) als ›reale‹ Oberschwestern gezeichnet wurden. 57 Eine Auswahl von »realistischen« Passagen bei Candille, Etude du Livre, S. 33 f. 58 Candille, Etude du Livre, S. 29 (u. Faksimile S. 28): »Semblablement, ceste religieuse isle, qui est ce piteux et charitable collÀge de mes religieuses et ausmoniÀres filles, est ouvert — tous povres malades de quelque nacion que ilz soient, congnus et incongnus, qui en iceluy viennent eux avitailler, pestre et estre aliment¦s et herberg¦s.«

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Henry die Potenzierung der institutionellen Leistungen (Teile I und II) mit Normen für das individuelle Verhalten (Teile III und IV) verknüpfen wollte. Die Spannungen im Hútel-Dieu verschärften sich gegen Ende des 15. Jahrhunderts in einer Weise, dass eine freundliche Ermunterung zur ständigen Selbstreform, wie sie Jean Henry den Schwestern in allegorischer Verschlüsselung mitgegeben hatte, nur noch schwer denkbar gewesen wäre. Dennoch blieben auch dann die Meinungen der Zeitgenossen geteilt. Zwei Stimmen zeigen, dass eine Reform wesentlich weniger dringlich erscheinen konnte, als die dominierende Auffassung behauptete, ja dass die Hospitalschwestern immer noch als leuchtende Exempel christlicher Nächstenliebe wahrgenommen werden konnten; die letztere – enthusiastische – Sicht vertritt der schon genannte Humanist Valerandus de Varanis,59 die erstere – reformskeptische – der volkssprachliche Dichter Pierre Gringore. Gringore publizierte 1505 ein französisches Gedicht über die politischen und kirchlichen Zustände seiner Gegenwart:60 Les folles entreprises, von der Intention her vergleichbar mit Sebastian Brants Narrenschiff, ist ein moralisch (wenn auch nicht poetisch) ambitionierter Text, der die zeitgeschichtlichen Absurditäten aufs Korn nimmt, indem er die »verrückten Unternehmungen« verschiedener sozialer Gruppen und Akteure, vielfach des Klerus, Revue passieren lässt. Als Wurzel dieser »entreprises« sieht Gringore die Todsünde des »orgueil« (superbia), und »entrepreneur« heißt bei ihm jeder, der sich durch derlei überheblichen, unsinnigen, ja der Rebellion Luzifers vergleichbaren Aktionismus hervortut. Eine solche Unternehmung ist auch die Reform des Hútel-Dieu, von der ein eigener Abschnitt des Poems handelt. Der Dichter weiß offensichtlich, dass das Kapitel von Notre-Dame 1505 die widerborstigen augustinischen Schwestern durch franziskanische Terziarinnen ersetzen wollte. Seine erste Bemerkung zu diesem Casus ist vage und belässt es bei einer generellen Reformskepsis: Reform zu machen, / ich will nicht wirklich sagen, / dass das gut oder schlecht getan sei, / ich lasse die Unterscheidungen sein; / aber die Bindungen alten Herkommens / sollte man, ohne das zu missbrauchen, / ein bisschen entschuldigen, / wenn es die weibliche Gewohnheit betrifft; / wer das Alte abschaffen will, / erweist sich nicht als weiser Mann.61

59 S. oben, Anm. 50. 60 Gringore, Les folles entreprises. Der historische Pierre Gringore (zu ihm Le Gall, Les moines, S. 500 – 503) dürfte Namengeber der Figur des Dichters Pierre Gringoire (sic!) in Hugos Notre-Dame de Paris sein. 61 Gringore, Les folles entreprises, S. 74 f.: »De faire reformation, / je ne vueil pas dire en effect / que se soit ou bien ou mal fait, / j’en laisse les distinctions; / toutesfois les restrinctions / de vieillesse, sans se abuser, / s’i doivent ung peu excuser, / touchant le feminin usaige; / qui l’ancien veult recuser / ne se monstre pas homme saige.« Die Editoren setzen das Semikolon

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Einen kurzen Exkurs darüber, dass es verwerflich sei, seinen bewährten Dienern Undankbarkeit zu erweisen, indem man sie durch neue, fremde Diener ersetzt, wendet Gringore auf religiöse Kommunitäten an: Gewiss müsse man diese visitieren und kontrollieren, aber ohne der Versuchung übertriebener Reformlust zu verfallen. Nun spielt er konkret auf das Hútel-Dieu an: Man muss die Krankheiten / der armen schwachen Kranken kurieren, / der Hinfälligen, die durch Krankheit geschwächt sind;/ dafür sind die Hospitäler gemacht. / Und wenn die, die dafür arbeiten, / sie zu reinigen und zu pflegen, / für sich selbst / ein paar Güter in ihrer Wohnung haben wollen, / darf man sich darüber nicht zu sehr beschweren, / bei ihrem Tod bleibt ja alles im Haus.62

Auf diese Apologie des den augustinischen Religiosen eigentlich verbotenen Privatbesitzes folgt ein weiterer Exkurs: Eine Fabel über Hündinnen soll zeigen, wie ungerecht es ist, hergebrachte Rechte zu usurpieren, und leitet zu einer direkten Stellungnahme zu den Vorgängen im Hútel-Dieu über : Wenn man sich gegenwärtig bemüht, / die einfachen Frauchen aus ihrer Bleibe zu vertreiben, / dann sind diese wie die armen Hündinnen, / die vertrieben und um ihren Stand gebracht wurden, / um dort andere Hündinnen einzuquartieren, / die viele Hunde haben, die uns beißen werden.63

Das Verfasser-Ich räumt zwar ein, die Vorwürfe an die Frauen nicht beurteilen zu können; doch in jedem Fall hätte man sie bessern können, ohne sie wie Hündinnen zu verletzen. Denn, so fordert er, Mit der Weiblichkeit muss man Verständnis haben, / weiß man doch, dass sie sehr schwankend ist. / Ich glaube nicht, dass die Spaltung / in guter Absicht vollzogen wurde; / aber den einen gefällt sie, die anderen sind unzufrieden. / Ob das gut oder schlecht ist, will ich nicht weiter diskutieren.64 nach »excuser« statt nach »usaige«, womit der Verweis auf die »weibliche Gewohnheit« in den letzten Satz rücken würde (»wer, wie die Frauen es zu tun pflegen, das Alte abschaffen will …«); sie halten aber auch die hier gewählte Lösung für denkbar, die mir wegen der später folgenden Bezüge auf die Schwestern des Hútel-Dieu eher zuzutreffen scheint. 62 Gringore, Les folles entreprises, S. 77: »On doit medeciner les maulx / des povres malades enfermes, /caducz, par maladie mal fermes; / pour ce sont faitz les hospitaux. / Et se ceulx qui prennent travaux / — les nettoyer et curer, / pour leur cas veullent procurer / quelque substance en leur demeure, / on n’en doit point trop murmurer, / quant ilz meurent tout y demeure.« 63 Gringore, Les folles entreprises, S. 78: »Se au temps present de chasser on s’efforce / de leur logis les simples famelettes, / ilz sont ainsi comme povres chiennettes / qui sont chass¦es et gett¦es de leur estre / pour y loger d’autres chiennes et mettre /qui sont plaines de chiens qui nous mordront.« 64 Gringore, Les folles entreprises, S. 79: »Du feminin fault estre pitoyable, / car on congnoist qu’il est fort variable. / Je ne croy pas que la division / n’ait est¦ faicte — bonne intencion; / mais aux ungs plaist, autres ne sont contens. / Soit bien, soit mal, j’en laisse les contemps.« Anders als die Editoren beziehe ich »division« auf die Spaltung der Frauenkommunität, nicht auf die Übergabe der Verwaltung des Hútel-Dieu an die Kommune Paris.

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Wenn Gringore hier die widersprüchlichen Reaktionen, die auf die Aufspaltung der Kommunität (in eine Gruppe von eingesessenen Schwestern und eine neue Gruppe von Franziskaner-Terziarinnen) folgten, nicht kommentieren will, so gibt er diese Zurückhaltung im nächsten Abschnitt seines Gedichts rasch wieder auf. Denn aus der Kritik an der Reform des Hútel-Dieu leitet er eine Generalkritik an der Reform bewährter kirchlicher Institutionen ab. Große Teile der auf die zitierten Passagen folgenden Verse sind den schlechten Eigenschaften aller Reformer gewidmet: Unter Rekurs auf allegorische Figuren diagnostiziert er bei ihnen Bigotterie, Heuchelei, Gewinnsucht, Machtgier und Eitelkeit.65 Unter diesen Umständen kann die Schlussfolgerung nur lauten: Wenn Reformen von solchen Leuten betrieben werden, dann lasse man besser die Finger davon. Ob Pierre Gringore persönliche Gründe hatte, die Sache der Frauenkommunität des Hospitals zu unterstützen, ist nicht bekannt. Gewiss aber können wir festhalten, dass in einer Zeit, in der die Reform von Orden und Hospitälern auch in Frankreich ein hochaktuelles Thema war,66 eine grundsätzlich reformskeptische, aber neutral verpackte Argumentation zur Verfügung stand und genutzt wurde. Wer sich solcher Argumente bedient, der muss die Schwierigkeiten, die sich im Alltag einer Institution und aus dem Handeln ihres Personals ergeben, ausblenden (wie es Valerandus de Varanis tat) oder herunterspielen (die Haltung von Gringore: »man darf sich darüber nicht zu sehr beschweren«, »die einfachen Frauchen« usw.). Und doch sind die Indizien für ernsthafte Herausforderungen und Konflikte gerade in den Jahren um 1500 nicht zu übersehen.

Konflikte und Herausforderungen Selbstverständlich hat ein Großhospital häufig mit individuellem Fehlverhalten zu kämpfen, doch Vorkommnisse dieser Art interessieren hier nur dann, wenn sie Symptom für wiederkehrende, strukturelle Konflikte sind. Solche strukturellen Konflikte entzündeten sich typischerweise zwischen verschiedenen Komponenten des Personals, insbesondere zwischen der Frauenkommunität und den Brüdern oder zwischen den Religiosen und dem Leitungspersonal (Magister, Priorin, bursarius); oder aber zwischen der Kommunität bzw. einzelnen Religiosen einerseits und dem Kapitel von Notre-Dame andererseits. Spannungsreich war auch das Verhältnis zwischen den Insassen und dem Per65 Das Thema wird entwickelt in Kapiteln über die Bigotten und über die Personifikation der Heuchelei oder des leeren Geredes (»Papelardise«), die als Leitfigur aller Reformer auftritt (Gringore, Les folles entreprises, S. 79 ff., S. 100 – 126). 66 Neben Le Gall, Les moines, s. auch Chevalier, R¦forme et r¦formes, und Hasenohr, Aspects.

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sonal sowie zwischen der Führung des Hútel-Dieu (Kapitel, Magister) und externen Kräften wie der Kommune Paris, dem Parlement oder dem Pariser Klerus. Bei internem Streit versuchte das Kapitel, Entscheidungen auf Grund seiner Disziplinargewalt durchzusetzen, was allerdings nicht immer gelang. Wir beschränken uns hier zunächst auf Konflikte innerhalb des Personals sowie zwischen den Religiosen und dem Kapitel. Die anderen Konfliktebenen werden im Zusammenhang mit den Reformdebatten des 16. Jahrhunderts zur Sprache kommen. Ein frühes Beispiel für Spannungen zwischen den Schwestern und den Brüdern, hier insbesondere der Priorin und dem Magister, wurde bereits erwähnt.67 Es ging dabei um finanzielle Interessen der Frauen und der Priorin – die ja eigenständig Rechnung legte – gegenüber dem Magister und den männlichen Religiosen sowie darum, ob der Magister oder eher die Priorin die Alltagsdisziplin der Schwestern kontrollieren durfte. Dieser Streit konnte nicht intern geregelt werden. Er zog zwischen 1368 und 1370 immer weitere Kreise, drohte in einen stadtweiten Skandal auszuarten und führte schließlich zur Absetzung der Priorin und des Magisters durch eine Reformkommission des Kapitels, deren Bildung vom König verlangt worden war. Auch das Parlement von Paris wurde tätig, und schließlich entschied Papst Gregor XI., an den die Priorin appelliert hatte, 1373 endgültig, dass deren Absetzung rechtens war.68 Ein so schwerer interner Streit, der den König gar um die Existenz des Hospitals fürchten ließ und mehrfach die Forderung nach »reformatio« (auch »in capite et membris«) provozierte, kam in den Jahrzehnten danach – zumindest nach Ausweis der d¦lib¦rations von Notre-Dame – nicht mehr vor. Erstmals 1449 wurde der Ton wieder schärfer, als das Kapitel diverse Ungehörigkeiten von Seiten der Religiosen beklagte, daneben aber auch die Männer ermahnte, die Frauen »amicabiliter« zu behandeln.69 Da auch später immer wieder Auseinandersetzungen zwischen den weiblichen und den männlichen Religiosen bzw. ihren Repräsentanten zu verzeichnen sind,70 kann man festhalten, dass der Geschlechterkampf eine Grundkonstante im Leben des Pariser Hútel-Dieu darstellte. Noch auffälliger ist allerdings eine andere Bruchstelle: diejenige, an der die Interessen der Religiosen (oder eines Teils von ihnen) mit denen der Kanoniker 67 S. oben, Anm. 41. 68 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 79, 80, 84, 90, 92 – 98, 100 – 105, 108 – 109, 118 – 119, 123, 129, 132 (S. 12 – 32, 1368 Dez. 13 – 1371 Mai 1, danach Lücke in den Registern bis 1392); die Wendung »pro evitando scandello in villa Parisiensi inter clericos et laycos laboranti« in Nr. 93 S. 20 (1370 Jan. 9); aus Nr. 94 S. 21 (1370 Jan. 14) erhellt die Uneinigkeit der Kanoniker in dieser Sache; in Nr. 101 S. 23 (1370 Jan. 28) die Formel »refformacionem Domus Dei […] tam in capite quam in membris«. Die Bulle Gregors XI. findet sich in AN, L 591 n. 1 (Datierung 1373 Okt. 11 nach dem dort angegebenen 3. Pontifikatsjahr). 69 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 815 S. 125 (1449 Okt. 27). 70 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1244 f. S. 179 f. (1479 Apr. 19, Mai 5).

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(oder eines Teils von ihnen) zusammenstießen. Spannungen dieser Art gab es zwar auch im 14. und früheren 15. Jahrhundert schon,71 doch sie steigerten sich nach 1450 erheblich. Sie ließen sich oft nicht mehr auf dem ›Dienstweg‹ lösen, sondern drangen nach außen und komplizierten sich durch die Intervention externer Instanzen. Sie sind teils Begleiterscheinung, teils aber auch Ursache der um 1500 intensivierten Reformbemühungen im Hútel-Dieu. So ist in den 1460er Jahren von (nicht näher erläuterten) Unzulänglichkeiten in der Verwaltungsarbeit des Magisters die Rede, die sogar dazu führten, dass das Kapitel erstmals mit der Kommune Paris über das Hospital verhandeln musste. Dann wieder beanspruchten die Religiosen das Recht, ihren Magister ohne Absprache mit den Kanonikern wählen zu dürfen.72 Seit den 1470er Jahren verdichten sich in den Sitzungsprotokollen des Domkapitels Notizen über disziplinarische Verstöße der Religiosen.73 Schließlich riefen am 28. Dezember 1482 acht visitierende Kanoniker unter Leitung des Kantors, Jean Henry, den Magister Johannes Fabri (Jean Le FÀvre) mit drei Brüdern sowie die Priorin Johanna l’Asseline mit allen Schwestern zu einem großen Generalkapitel zusammen. Vorher wurde das gesamte Haus besichtigt, auch die Kammern der Religiosen, wo sich Privatbesitz fand. Der Mann, der im selben Jahr in seinem Livre de vie active den Schwestern bei vorbildlichem Betragen das Paradies verheißen hatte, sah sich nun veranlasst, einen realistischen Kompromissvorschlag zu machen: Aller Privatbesitz musste offiziell verzeichnet, durfte aber angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage des Hútel-Dieu weiterhin individuell, aber nur im Haus, genutzt werden.74 Einige Jahre lang scheint diese Lösung funktioniert zu haben, doch ab 1490 häuften sich wieder Klagen über »Defekte«. Der Konflikt zwischen der Hospitalkommunität und dem Kapitel erhielt nun eine Symbolfigur, den Magister Jean Le FÀvre. Mit ihm und der ihn unterstützenden Gruppe der Religiosen 71 Neben dem Streit von 1368 ff. (s. oben) sind einzelne Vergehen von Religiosen (z. B. Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 533 S. 80 f., 1428 Okt. 8) zu nennen oder das Dauerproblem der Verteilung der päpstlichen Ablässe (z. B. ebd., Nr. 770 – 771 S. 119 f., 1447 Nov. 10 – 16). Die Bewirtschaftung der Ablässe führte wiederholt zu Reibungen nicht nur zwischen der Kommunität des Hútel-Dieu und dem Domkapitel, sondern auch zwischen Letzterem und dem Pariser Pfarrklerus (u. a. ebd., Nr. 1219 S. 175 f., 1478 März 5). 72 Verhandlungen mit der Kommune Paris: Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1010 S. 149 (1461 März 21, u. bereits Nr. 1006 S. 148, 1460 Aug. 26); Nr. 1064 S. 157 f. (1465 Dez. 20). Magisterwahl: ebd., Nr. 1080 f. S. 160 f. (1467 Juli 27 u. 29). 73 Hier nur die Nummern ausgewählter Einträge in Coyecque, L’Hútel-Dieu 2 (a. 1474 – 1482): Nr. 1166, 1179 – 1182, 1185, 1187 – 1190, 1244, 1263 (S. 182, 1480 Juni 27: »insolenciis et iniuriis in Domo Dei«), 1264 f., 1267, 1296, 1306 (S. 191, 1482 Ok. 14: eine Kanonikerkommission soll reformieren). 74 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1310 S. 192 – 195; zu dem an das lateinische Versammlungsprotokoll angehängten französischen Überblick über den Personalstand und die Ämter s. oben, Anm. 26.

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(offensichtlich die Mehrheit, auch bei den Frauen) ließen die Kanoniker es 1497 zum offenen Bruch kommen.75 Bevor wir die in dieser sich zuspitzenden Lage von den Parteien ausgetauschten Argumente näher untersuchen, sei die Entwicklung des Hospitals im 15. Jahrhundert aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Denn das Problem waren nicht nur Konflikte um Rechte und Pflichten zwischen den am Hútel-Dieu beteiligten Personen und Institutionen. Zu einer wachsenden Diskrepanz zwischen den Erwartungen an die Leistungen und der Wahrnehmung der Realität duch die Verantwortlichen führten auch Herausforderungen, die das Haus von außen in Bedrängnis brachten. Zu diesen Herausforderungen gehört zum einen die immer wieder kritische wirtschaftliche Lage. Die schwierigste Phase waren ohne Zweifel die ersten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts; es ist gut möglich, dass die relativ geringe Zahl von inneren Konflikten, die in jener Zeit Spuren in den Quellen hinterlassen haben, auch auf den damals besonders hohen äußeren Druck zurückzuführen ist.76 Doch an solchen Phasen erhöhten Drucks durch Kriege, Nahrungsengpässe und Epidemien mangelte es auch in der zweiten Jahrhunderthälfte nicht.77 Die auffälligste Herausforderung, mit der Paris und viele andere europäischen Städte seit den letzten Jahren vor 1500 konfrontiert wurden, war indes die als neu wahrgenommene und zumindest in ihrer epidemischen Ausbreitung tatsächlich neuartige Syphilis. In den französischen Quellen zum Hútel-Dieu heißt diese Seuche »grosse v¦role«, dann auch »maladie de Naples«, in den lateinischen »morbus boterosus« oder »neapolitanus«.78 Das größte Hospital der Stadt musste sich rasch mit solchen Patienten befassen und war von Beginn an in die Diskussion um Gegenmaßnahmen involviert. Der erste Hilferuf des Domkapitels erging im November 1496. Da viele Menschen, die an diesem »morbo boteroso, galice ›de la grosse verole‹, currente«, einer »species lepre«, erkrankt und hoch infektiös seien, ins Hútel-Dieu kommen, müsse man zusammen mit der Hospitalleitung sofort bei der Kommune intervenieren, damit ein isoliertes Haus außerhalb der Stadt gebaut 75 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1374 S. 203 (1490 Juni 2: »certi deffectus« werden beklagt); Nr. 1393 S. 205 (1492 Dez. 29), 1404 S. 206 – 208 (1494 Jan. 1, Versammlung »super debato et differencia ortis inter ipsos religiosos et religiosas occasione aperture certarum serarum«, also wegen der Schlösser, die manche Religiosen an ihren Kammern angebracht hatten und die der Magister eigenmächtig hatte öffnen lassen); Nr. 1408 S. 208 (1494 März 8), 1425 S. 211 (1496 Juni 29, das Kapitel arbeitet »in reformacione dicte Domus Dei«). Zum Streit mit dem Magister Jean Le FÀvre (ebd., Nr. 1450 ff.) s. unten, Anm. 90 ff. 76 Vgl. dazu oben, Anm. 16 – 18. 77 Vor allem die Guerre du Bien public, 1465 – 1466 (erwähnt in Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1064 S. 157, 1465 Dez. 20). Mandrot, Journal Chronique scandaleuse 1, S. 165, zu 1466: Seuche mit 40.000 Toten; ebd. 2, S. 112, zu 1482 (s. oben, Anm. 55). 78 Vgl. auch unten, Kap. IV, Anm. 41 – 43, 47, Text nach Anm. 79, Anm. 170 f. Belege für die Bezeichnungen der Krankheit in den folgenden Anm.

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Das Hôtel-Dieu von Paris

werde.79 Ein weiteres Mal mussten die Kanoniker somit auf die Kommunalverwaltung zugehen, um Unterstützung für ein Problem zu bekommen, dessen sie nicht allein Herr wurden. Die Verhandlungen zogen sich hin, finanzielle Schwierigkeiten verhinderten ein sofortiges Handeln. Unterdessen zimmerten die Kranken sich Hütten auf einem freien Gelände an der Ostspitze der Ile de la Cit¦, worauf die Kanoniker drohten, sich an das Parlement zu wenden, sollten nicht schnell geeignete Häuser und Zelte außerhalb der Stadt errichtet werden. Schließlich erklärten sie sich auf Anfrage der Kommune bereit, 100 lib. (turonenses) beizusteuern; außerdem sollte noch im Januar 1497 eine Prozession veranstaltet werden, von der man sich Hilfe gegen Überschwemmungen und gegen die offenbar nicht therapierbare Seuche (»circa quam fisici seu medici remedia exhibere non possunt«) erhoffte.80 Eine dauerhafte Lösung für eine separate Unterbringung und Versorgung der Syphilispatienten konnte in Paris, anders als zum Beispiel in Straßburg oder in italienischen Städten, lange nicht gefunden werden. Im März 1497 hauste ein Teil von ihnen beim Kloster St-Germain-des-Pr¦s, weshalb der Pr¦vút de Paris dem Kapitel von Notre-Dame und allen Pfarreien der Stadt eine Sondersteuer auferlegte. Zu dieser Zeit trat ein Arzt auf, der behauptete, die Krankheit heilen zu können, bei Erfolg allerdings eine ›Fallpauschale‹ von einem Gold-scutum verlangte. Ein Jahr später drängten sich die Syphilispatienten immer noch im HútelDieu, und auch 1504 war man nicht weitergekommen.81 1508 wurde eine größere Versammlung von Pariser Regular- und Pfarrgeistlichen einberufen, denn das kommunale Gremium, das mittlerweile das Hútel-Dieu verwaltete, die königliche Chambre des Comptes und das Parlement forderten vom Klerus einen finanziellen Beitrag, damit die Syphiliskranken an einen anderen Ort verlegt werden konnten. Dies lehnten die Versammelten mit dem Hinweis ab, dass Krankenpflege doch die genuine Aufgabe des Hospitals sei. Sogar die Kanoniker von Notre-Dame pflichteten dem bei: Schließlich habe man diese Kranken auch früher schon im Hútel-Dieu versorgt, sollten die neuen Verwalter doch zusehen, wie sie zurechtkamen.82 Der Vorschlag der kommunalen Verwalter des Hútel79 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1428 S. 212 (1496 Nov. 4). 80 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1429 – 1431 S. 212 – 214 (1496 Nov. 7 – Dez. 14); Nr. 1433 – 1438 S. 214 f. (1496 Dez. 30 – 1497 Jan. 11). Das Zitat in Nr. 1435. 81 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1442, 1444 – 1446 S. 216 f. (1497 März 7 – Apr. 3), 1454 S. 221 (1497 Juli 7); Nr. 1495 S. 238 (1498 Mai 18), 1599 S. 265 (1504 Dez. 13). – Eine Zahlung des Kapitels an einen Heiler wurde zu 1497 Aug. 22 in die Rechnungen der Priorin eingetragen (Brièle/Möring, Collection 3, S. 89). Ein erster Beschluss des Parlement zu den »malades de la grosse v¦role« erging am 6. März 1497 (Bonnardot, Registres Bureau de la Ville 1, S. 146 f. Anm.). 82 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1733 – 1737, 1739, 1741 S. 310 – 313 (1508 Feb. 28 – Apr. 4); das Protokoll der Versammlung in Nr. 1737. Schon am 17. Februar hatte das Bureau de la Ville eine Versammlung vorwiegend weltlicher Funktionäre organisiert, die von 180 Sy-

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Das Hôtel-Dieu und andere Pariser Hospitäler im 15. Jahrhundert

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Dieu, eine neue Seinebrücke zu errichten, um die »mallades contagieux« (also wohl auch Syphilitiker) dort getrennt unterzubringen, konnte sich nicht durchsetzen.83 Im Jahr 1519 sollte mit königlicher Unterstützung ein Hospital für ansteckende Krankheiten beim Kloster St-Germain-des-Pr¦s gebaut werden, was die Mönche mit einem arrÞt des Parlement 1520 verhinderten. 1525 war das Problem noch immer ungelöst, denn ein ins Parlement eingebrachtes Reformprojekt sah vor, die »verollez« endlich getrennt unterzubringen, statt sie im Hútel-Dieu die anderen Insassen anstecken zu lassen.84 Auch später noch war das Hútel-Dieu zumindest wirtschaftlich für die Syphiliskranken zuständig, wenn auch die Behandlung inzwischen an andere Institutionen ausgelagert worden war. Ein regelrechtes Hospital »des Incurables« entstand in Paris erst im 17. Jahrhundert.85 Die »maladie de Naples« war, so viel wird man aus ihren Erwähnungen in den Quellen des Hútel-Dieu schließen dürfen, zweifellos ein gravierendes Problem für die Organisation des Hauses. Doch ist in ihr der Anlass für die nach 1500 unternommenen Reformversuche zu erblicken? Bei aller Auffälligkeit des Phänomens sollten seine Auswirkungen nicht übertrieben werden. Dies ist zum einen daran zu erkennen, dass andere Epidemien mit wesentlich höherer Mortalität, die alle paar Jahre über die Stadt hereinbrachen, in denselben Quellen nur sehr selten genannt werden. Bei ihnen hatte bereits ein Gewöhnungseffekt eingesetzt, der sich im Übrigen auch für die Syphilis schon ab etwa 1510 beobachten lässt, denn seitdem ist auch von dieser, 1496 noch ›neuen‹ Krankheit nur noch sporadisch die Rede. Zum anderen ist die Quantität der von Syphilis befallenen Männer und Frauen nicht zu vergleichen mit der Menge der Opfer von stark philiskranken im Hútel-Dieu berichtet; zwei getrennte Unterkünfte für Männer und Frauen sollten errichtet, die Mittel durch Spenden der Gläubigen und Beiträge der kirchlichen Institutionen beschafft, stadtfremde Kranke ausgewiesen werden (Bonnardot, Registres Bureau de la Ville 1, Nr. 236 S. 146 f.) – Entlassung von zwei Syphilispatienten aus dem HútelDieu mit kleiner Geldhilfe im Rechnungsjahr 1508 – 1509: Brièle/Möring, Collection 3, S. 142. 83 Bonnardot, Registres Bureau de la Ville 1, Nr. 337 – 339 S. 226 – 227 (1515 Nov. 20), Nr. 352 S. 233 – 235 (1516 Juni 4). 84 Lalanne, Journal 1515 – 1536, S. 84; Le Gall, Les moines, S. 399. Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. XXII S. 334 (1525 Juli 1), s. dazu auch unten, Anm. 136. 85 Brièle/Möring, Collection 3, S. 264, a. 1537, u. 338, a. 1569; Brièle/Möring, Collection 1, S. 5, a. 1561. Le Grand, Maisons-Dieu, Teil II, S. 67 f.: Das Parlement ordnet an (1536 März 3), dass Kranke mit »v¦rolle, maladies que l’on dit de Saint-Main, Saint-Fiacre et autres de cette qualit¦ contagieuse pour estre pansez et medicamentez« ins Hospital St-Eustache verlegt werden (zu den Bezeichnungen der Syphilis nach den hll. Maginus, Fiacrius u. a. vgl. Dormeier, Santi patroni; die sonst verbreitete Benennung nach Hiob fehlt in den Quellen zum Hútel-Dieu). Le Grand, Maisons-Dieu, Teil II, S. 77 – 79, erwähnt einen weiteren solchen Versuch des Parlement im Jahr 1559. Vgl. auch (mit etwas abweichenden Daten) Fosseyeux, L’Hútel-Dieu, S. 277. – Zur ebenfalls schwierigen Unterbringung von »mallades pestiferez« im Dez. 1531 vgl. einen Beschluss der Kommune in Tuetey, Registres Bureau de la Ville 2, Nr. 177 S. 135.

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Das Hôtel-Dieu von Paris

infektiösen Seuchen. Die Krankheit hat die Zeitgenossen eine Weile lang beeindruckt, weil sie besonders auffällige, zunächst an die Lepra erinnernde Symptome erzeugte und weil sie keine sozialen Unterschiede machte (dies hingegen glaubte man seit dem späten 15. Jahrhundert von der Schwarzen Pest annehmen zu können). Aber dieser Eindruck verblasste nach und nach. Rein quantitativ war die Belastung des Hútel-Dieu durch die auch im 16. Jahrhundert andauernden, teils besonders schweren Hungersnöte sowie durch andere Epidemien erheblich höher. Es ist daher alles in allem nicht wahrscheinlich, dass der Beginn ernsthafter Reformanstrengungen um 1500 durch das Aufkommen der Syphilis zu erklären ist. Gewiss verstärkte der durch die Krankheit ausgelöste Alarm die Bereitschaft der Kanoniker, mit der Kommune Paris über die Probleme des Hútel-Dieu zu verhandeln; aber auch dieser Weg war um 1500 nicht mehr neu.

3.

Reformdebatten (I): Domkapitel vs. Religiosen, Domkapitel vs. Kommune

Ein Prozess vor dem Parlement (1498) Stellen wir die bisher gesammelten Hinweise auf die Reformdiskussion um das Pariser Hútel-Dieu in ihren terminologischen Kontext. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts war der Begriff reformatio in der langen Geschichte des Hospitals ein alter Bekannter : Er wurde seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts von übergeordneten oder externen Verantwortlichen in die Debatte geworfen, wenn diese (das Kapitel oder der König) den Betrieb in gravierender Weise beeinträchtigt sahen. Er war außerdem fester Bestandteil der Debatten um die Neuausrichtung religiöser Orden (Jean Henry), aber zugleich auch Objekt von Kritik und Spott (Gringore). Auch in Politik und Recht hatte der Reformbegriff in Frankreich eine lange Tradition, die sich seit dem 13. Jahrhundert aus zentralen Gesetzgebungsinitiativen entwickelt hatte, den »ordonnances de r¦formation«.86 Nach dem Ende des Hundertjährigen Krieges wurde der Begriff zwar nur noch vorsichtig verwendet, doch schuf die königliche Kanzlei parallel dazu die »gesetzgeberische Technik« der r¦formation: Deren Funktion bestand darin, die innovativen Energien der immer aktiveren königlichen Legislation zu verschleiern, indem man durch eine bewusst restaurative Attitüde die Spannung zwischen Innovation und Rückkehr zu den guten alten Zeiten unentschieden 86 Der Name »ordonnance de r¦formation« ist seit dem 15. Jh. bezeugt: Gauvard, Ordonnance de r¦forme; Gouron, Royal ordonnances. Zur abnehmenden Häufigkeit des Terminus reformatio im 15. Jh. s. Contamine, Vocabulaire politique.

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Reformdebatten (I): Domkapitel vs. Religiosen, Domkapitel vs. Kommune

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ließ. Die Reform-Ordonanzen behaupten zwar, »die Dinge zu den ursprünglichen Regeln und Einrichtungen zurückzuführen« und bloß »eine Aktualisierung des Rechts zu sein«, setzen zugleich aber neue Maßnahmen in Kraft.87 Indes ist das Wirken einer Reformintention nicht ausschließlich an den tatsächlichen Gebrauch des Wortes reformatio oder verwandter Wörter gebunden: Wie der Livre de vie active des Hútel-Dieu-Provisors Jean Henry zeigt, können Reformanleitungen auch in ein ganz anderes sprachliches Gewand gekleidet sein.88 Es ist nicht zu übersehen, dass sich gegen Ende des 15. Jahrhunderts die Schwierigkeiten im Hútel-Dieu und die Spannungen zwischen den interessierten Gruppen, vor allem der Kommunität und dem Kapitel, verdichteten. In dieser Phase stieg die Frequenz, mit der die vom Kapitel produzierten Texte auf die Wortfamilie reformatio rekurrieren, in auffälliger Weise an. Dass die damit begründeten Maßnahmen nicht nur bei vielen Religiosen, sondern auch in Teilen der Pariser Gesellschaft auf Widerstand stießen, ist der Nährboden für die sich nun entspinnenden Reformdebatten. Ein Indiz für dieses Konfliktpotenzial ist die Tatsache, dass sich entgegen aller Kritik am Verhalten der Religiosen und ihrer Führung gerade auf dem Höhepunkt der Spannungen, um 1500, Stimmen vernehmen lassen, die die Arbeit des Hospitals und seines Personals loben oder zumindest die Notwendigkeit einer radikalen Reform bestreiten (Pierre Gringore). Ein weiteres Indiz dafür, dass dessen Ruf nicht so schlecht war, ist die Tatsache, dass im ganzen 15. und auch im 16. Jahrhundert andere Hospitäler bei den Pariser Kanonikern um Übersendung der Statuten des Hútel-Dieu und/oder um Personal nachsuchten und dass das Hútel-Dieu gegen 1500 im ganzen Königreich mit Erfolg Spenden einsammeln ließ, wodurch seine wirtschaftliche Lage sich im Vergleich zum frühen 15. Jahrhundert eher besserte.89 Dieses 87 Rousselet-Pimont, Le chancelier et la loi, S. 180 – 203; Zitate S. 180: »r¦former est r¦duire les choses aux premiÀres rÀgles et institutions« (ein Satz des 16. Jh.s, aber aus zweiter Hand zitiert), u. S. 193: »La r¦formation est une mise — jour du droit.« 88 Während der Vorbreitung der von Jean Henry geleiteten Visitation des Hospitals (1482 Dez. 28, s. oben, Anm. 74) ist aber auch wörtlich von »refformanda« die Rede: Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1306 S. 191 (1482 Okt. 14). 89 Bitten um Statuten oder Personen: Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 338 S. 55 (1417 Feb. 8, Domus Dei von Blois); Nr. 1126 S. 165 (1471 Jan. 28, Domus Dei von La Rochelle); Nr. 1999 S. 358 f. (1525 Juni 2, Domus Dei von Pontoise); Nr. 2059 S. 376 f. (1531 Jan. 27, Orl¦ans); Nr. 2067 – 2069 S. 378 f. (1531 Juli 7 – 19, Meaux). Nicht immer wurden diese Anfragen bewilligt. Ebd., Nr. 1448 S. 218 (1497 Mai 29) ist ein Sonderfall, weil hier der Bischof von Paris dem bursarius des Hútel-Dieu, Laurentius l’Aisn¦, eine Stelle im Pariser Hospital SteCatherine anbot, was das Domkapitel aber ablehnte, weil man auf den Mann nicht verzichten könne. Ältere Übernahmen der Statuten des Hútel-Dieu erwähnen: Le Grand, MaisonsDieu, Teil II, S. 147; Saunier, La trame, S. 209 (die Folgerung ebd., S. 205, dass die – nach Le Grand, Maisons-Dieu, Teil I – 1351 vom bischöflichen Visitator besuchten Hospitäler allesamt ipso facto auch dem Kapitel von Notre-Dame und damit dem Hútel-Dieu von Paris unterstanden, ist ein Missverständnis). – Zu den Spendenkampagnen (»quÞtes«) und der wirtschaftlichen Lage im 15. Jh. s. Jéhanno, Un grand húpital, S. 242 – 246.

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Das Hôtel-Dieu von Paris

Faktum muss in Erinnerung behalten werden, wenn wir uns an die Lektüre der Dokumente machen, die von der wachsenden Unzufriedenheit der Kanoniker von Notre-Dame mit den Leistungen ihres Hospitals zeugen; die geballten Anklagen der Reformer könnten sonst leicht zu einem einseitigen Urteil führen. Die Amtszeit des Magisters Jean Le FÀvre war die kritische Phase, in der die Spannungen zwischen der Kommunität des Hútel-Dieu und dem Kapitel zum Ausbruch kamen. Le FÀvre war 1482 von den männlichen und weiblichen Religiosen gewählt worden, führte sein Amt spätestens seit 1490 allerdings unter wachsenden Schwierigkeiten.90 Bis 1497 hatte sich sein Verhältnis zum Domkapitel so verschlechtert, dass er einen Prozess vor dem Parlement von Paris anstrengte und gleichzeitig versuchte, wenn auch erfolglos, ein königliches Schreiben zu seinen Gunsten zu erwirken. In dem Verfahren im Parlement ging es zunächst darum, dass das Kapitel Konfessoren in das Hútel-Dieu entsandt hatte, mit denen der Magister und die Mehrheit der Kommunität nicht einverstanden waren (traditionell war es Aufgabe des Magisters und der anderen männlichen Religiosen mit Priesterweihe, den Schwestern und Insassen die Beichte abzunehmen). Von seiten der Kanoniker wurde hingegen die Rechnungslegung des Magisters beanstandet.91 In einem arrÞt vom 19. Juni 1497 befahl das Parlement Le FÀvre, binnen drei Monaten seine Rechnungen zur Prüfung vorzulegen. Der Magister lenkte daraufhin ein und schickte dem Kapitel eine Supplik, in der er seine treuen Dienste hervorhob und die Mängel seiner Rechnungsführung damit erklärte, dass er und seine Gehilfen leider keine Experten in diesen Dingen seien; er werde aber, wenn man ihn wieder in Gnaden aufnehme, alles korrigieren.92 Das Kapitel – das heißt jene Mitglieder, die den Kurs der Provisoren des Hútel-Dieu stützten – ließ sich nicht erweichen. Schon vorher hatte es dem bursarius – jenem Laurent L’Aisn¦, dem zwei Monate zuvor untersagt worden war, in das Hospital Ste-Catherine zu wechseln – die Alleinverantwortung über die Abrechnungen übertragen. Le FÀvre wurde am 11. Juli abgesetzt und in den Kerker des Kapitels eingewiesen, der Kanoniker Aymery, einer der Provisoren, übernahm bis zur Ernennung eines neuen Magisters die Verwaltung. Gegen 90 Wahl: Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1298 S. 189 f. (1482 Aug. 17). Zu den Schwierigkeiten in den 1490er Jahren s. oben, Anm. 75. 91 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1450 S. 218 f. (1497 Juni 16). – S. zur Affäre Le FÀvre auch Frank, Tradition and Reform. Zur gesamten Phase 1497 – 1505 s. die Überblicke bei Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, S. 176 – 181, u. Chevalier, L’Hútel-Dieu, S. 147 – 166. Le FÀvre, immerhin licenci¦ en droit, hatte später bis zu seinem Tod 1515 ein Verwaltungsamt im Kloster St-Martin-des-Champs inne (Le Gall, Les moines, S. 287; s. auch unten, Anm. 109, 131). Hinweise zu seiner Familie bei Massoni, La coll¦giale, S. 557. 92 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1452 S. 220: »non cognoissant fait et stille de comptes, les ait fait faire par clers et autres non expers en ce« (»da er Sache und Stil der Rechnungen nicht kenne, habe er sie von Klerikern und anderen machen lassen, die darin nicht erfahren sind«).

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Reformdebatten (I): Domkapitel vs. Religiosen, Domkapitel vs. Kommune

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diese Maßnahmen protestierten die Religiosen, während Le FÀvre an das Parlement und den Heiligen Stuhl appellierte.93 Als eine Abordnung der Kanoniker dem Hútel-Dieu den Stand der Dinge mitteilte, brach eine regelrechte Rebellion aus, an der auch einige pauperes und Bedienstete teilnahmen, so dass die Domherren schleunigst das Weite suchten. Wenig später beschuldigten die zum Magister haltenden Schwestern und Brüder den bursarius, mit den Kanonikern zu kollaborieren und den Magister verraten zu haben. Mit Messern und Knüppeln bewaffnet, belagerten sie ihn in seiner Kammer ; er kam zwar davon, starb aber am 23. Juli an den Folgen seiner Todesängste, wie es hieß.94 Das Parlement hatte unterdessen das Verfahren mit Hilfe einer speziellen Untersuchungskommission wieder aufgenommen; es hob die Haft des Magisters auf, doch blieb er vom Amt suspendiert und sollte dem Kapitel zur Strafe für seine mangelhaften Abrechnungen 1000 livres tournois zahlen. Im September setzten die Kanoniker einen neuen Magister ein, Martin Gr¦vin (Grevin, Gervain), der jedoch auf den Widerstand eines Teils der Religiosen und auf einen Gegen-Magister stieß. Mehrfach intervenierte der Königshof mit Ermahnungen an die Religiosen und ermunterte das Domkapitel, die Reform des Hútel-Dieu voranzutreiben, ja notfalls die Schwestern durch andere, willigere zu ersetzen.95 Der Streit verhärtete sich, als die Religiosen dem Parlement weitere Klagepunkte nachreichten, so dass die Kanoniker sich am 20. März 1498 einigermaßen ratlos fragten, »was in der Angelegenheit des Hútel-Dieu von Paris und seiner Brüder und Schwestern zu tun sei« und mit welchem guten Mittel der Frieden und die Einheit zwischen dem Magister, den Brüdern und den Schwestern gesichert, die armen Kranken im Haus mit größerer Liebe behandelt und das Lärmen sowohl der besagten Brüder und Schwestern wie auch des Volkes dieser Stadt verhindert werden könnten.96 93 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1455 S. 221 f. (1497 Juli 11), 1456 S. 222 f. (1497 Juli 12). Zu Laurent L’Aisn¦ s. oben, Anm. 89. Wahrscheinlich hängt die Verweigerung seiner Freigabe mit dieser besonderen Verantwortung zusammen. 94 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1457 S. 223 (1497 Juli 23). Die Rebellion vom 11. Juli und die Vorgänge um den bursarius werden von elf im Auftrag des Kapitels verhörten Zeugen geschildert (Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. Nr. IX S. 304 – 307, 1497 Juli 27, Auszüge, zu ergänzen durch AN, L 594, Nr. 1): fünf Schwestern und ein Bruder des Hútel-Dieu (wahrscheinlich Gegner des Magisters Le FÀvre oder neutral), drei verheiratete Frauen und zwei junge Männer. 95 Parlement: Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. Nr. VIII S. 303 f. (1497 Juli 19), Nr. X S. 307 (1497 Aug. 25, Regest). Neuer Magister : Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1461 S. 224 – 226 (1497 Sept. 13). Zu Gr¦vin, Doktor der Theologie und später Regularkanoniker im Kloster Livry, s. Le Gall, Les moines, S. 50. Widerstand gegen ihn: Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1463 S. 226 f. (1497 Okt. 4), 1469 S. 228 f. (1497 Okt. 25). Briefe des Königs: ebd., Nr. 1468 S. 227 f. (1497 Okt. 25), 1470 S. 229 f. (1497 Okt. 25), 1474 S. 231 (1497 Dez. 1), 1481 S. 234 (1498 Jan. 22); Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. Nr. XI S. 307 – 310 (1497 Nov. 30). 96 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1486 S. 235 (1498 März 20): »… quid et qualiter agendum

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Das Hôtel-Dieu von Paris

Am selben Tag fanden die Plädoyers der Parteien statt und zwei Wochen später gab das Parlement seine Entscheidung bekannt.97 Das von ihm gefundene »gute Mittel« war eine Kompromisslösung: Das Urteil machte den Religiosen einige Zugeständnisse im Hinblick auf die Disziplin (die gelockerte Regelung des Privatbesitzes von 1482 blieb bestehen). Es bestätigte jedoch die Absetzung Le FÀvres und dessen Bußzahlung von 1000 lib. Allerdings verlangte es auch, dass das Kapitel dessen umstrittenen Nachfolger, Martin Gr¦vin, durch einen neutralen Kandidaten ersetzte und den Kanoniker Aymery (oder Emery), der den Schwestern besonders verhasst war, als Provisor abberief. Gr¦vin gab sein Amt am 11. April zurück.98 Die Plädoyers des Vertreters der Religiosen (Brinon) und des Sprechers der Kanoniker (Refuge) sind erhalten99 und verdienen eine genauere Analyse. Brinon hatte das erste Wort. Seine vom Notar des Parlement protokollierte, wenn auch nicht wörtlich wiedergegebene Rede trägt folgende Argumente vor: (1) Geschichte und Verfassung des Hútel-Dieu: Es handelt sich, so der Prokurator, um eine königliche Gründung, die durch die Schenkungen der Bürger von Paris groß geworden sei. Ihr Magister werde seit jeher von der Kommunität der Religiosen gewählt und sei allein für Verwaltung wie innere Disziplin zuständig, wie auch die Statuten zeigen (gemeint sind die Statuten des 13. Jahrhunderts). Das Domkapitel habe nur einige durch Gewohnheit eingespielte Aufsichtsrechte, für die es Provisoren abordne; unter diesen seien bedeutende Persönlichkeiten gewesen, wie zum Beispiel Jean Henry, doch seien diese nie so weit gegangen, Religiosen zu verhaften und die volle Jurisdiktion zu beanspruchen. (2) Unfähigkeit des vom Kapitel ernannten neuen Magisters: Nachdem die »commissaires« (des Parlement) den verhafteten Jean Le FÀvre zunächst durch einen neuen Magister aus der Kommunität ersetzt hatten, ernannten die Kaesset in facto Domus Dei Parisiensis necnon fratrum et sororum eiusdem, pro quo facta est ad hodie convocacio ad advisandum aliquod bonum medium pro pace et unione inter magistrum et fratres et sorores ejusdem Domus ponenda et ut pauperes infirmi in eadem Domo existentes cum majori caritate tractari possint, et ad obviandum clamoribus tam dictorum fratrum et sororum quam populi hujus ville«. – Zur Verschärfung des Konflikts s. ebd., Nr. 1477 – 1480 S. 232 – 234 (1498 Jan. 8 – 19), 1484 S. 234 f. (1498 Feb. 26), 1485 S. 235 (1498 März 17), sowie die Intervention einer Kommission des Parlement, die die Religiosen am 30. Nov. 1497 zu Wohlverhalten mahnte (Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. XI, S. 307 – 310). 97 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. Nr. XIII S. 321 – 323 (1498 Apr. 4), nach den Registern des Parlement; s. aber auch drei für das Kapitel gefertigte Abschriften in AN, L 591, Nr. 5, 5bis, 5ter ; Einsetzung eines neuen Magisters ebd., Nr. 6 (1498 »avant Pasque«, also eigentlich 1499, vor März 31, aber gemeint ist 1498, vor Apr. 15). 98 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1490 S. 236 (1498 Apr. 11). S. auch Chevalier, L’Hútel-Dieu, S. 156. 99 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. Nr. XII S. 310 – 321 (1498 März 20), Auszüge nach einem Register des Parlement. S. auch Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1487 S. 235 (1498 März 20).

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Reformdebatten (I): Domkapitel vs. Religiosen, Domkapitel vs. Kommune

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noniker den eigentlichen Nachfolger, Martin Gr¦vin. Dieser sei ungeeignet, weil »er nicht vom Orden der Religiosen, sondern Laie, weltlich, unwissend und unerfahren ist, und dass es nicht seine Sache ist, eine solche Verwaltung zu führen, hat er klar gezeigt«.100 Als Beichtvater tauge er nicht, weil er den Mädchen skandalöse Fragen gestellt und durch weitere Faux-Pas jegliches Vertrauen der Religiosen verspielt habe. (3) Fehlverhalten der Provisoren: Zu ihnen, besonders zum Kanoniker Emery, ist das Verhältnis der Religiosen zerrüttet. Erstens haben sie Funktionsstellen wie die Bäckerei oder die Küche eigenmächtig mit fremden Kräften besetzt; zweitens gestatten sie ihrem Magister, Güter des Hútel-Dieu zu veräußern, und haben selbst Güter entfremdet; drittens behandeln sie selbst und ihr neues Personal die »povres« schlecht; viertens verbreiten sie in der Stadt hässliche Gerüchte über die Schwestern. Und schließlich habe Emery eine Schwester wegen eines angeblichen Verstoßes derart gewalttätig zur Rechenschaft gezogen, dass sie verletzt worden sei. Die Folgerungen101 aus all diesen Vergehen sind dreistufig und lauten: (a) In jedem Fall Entschädigung der verletzten Schwester und Bestrafung des Provisors Emery ; (b) wenn das Kapitel seine Missetaten zugibt, dann solle es von der Verwaltung des Hútel-Dieu entbunden und in dieser Funktion durch vier Pariser Bürger ersetzt werden; (c) wenn es sie nicht zugibt, dann müsse es wenigstens die Provisoren sowie das von diesen neu eingestellte Dienstpersonal ablösen, neue Provisoren zusammen mit Pariser Bürgern bestellen und alle Geschädigten wieder in die Rechte einsetzen, die sie vor der Absetzung des Jean Le FÀvre hatten. Der Kanoniker Refuge, Sprecher der Provisoren und des Kapitels, antwortete auf diesen Angriff gelassen.102 Die gesamten Klagen seien, so befand er, ein Vorwand, denn sie dienten nur dem einen Ziel, den Magister Le FÀvre zu rehabilitieren; dieser sei jedoch durch drei arrÞts des Parlement verurteilt worden, eine Wiedereinsetzung folglich ausgeschlossen. Nur kurz geht er auf die gegnerische Darstellung der Geschichte und Verfassung des Hútel-Dieu ein: Seit über 200 Jahren sei es dem Kapitel unterstellt, die Kommunität schulde neben dem Magister auch den Provisoren Gehorsam. Auf die Erwähnung von Jean Henry als Modell eines – aus Sicht der Religiosen – guten Provisors reagiert er nicht. Den größten Teil der Verteidigungsrede nimmt die Widerlegung der konkreten Vorwürfe der Religiosen an das Kapitel, den Magister Gr¦vin und die 100 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. Nr. XII S. 311: »maistre Martin Gervain, qui n’est de l’ordre des religieux, mais lay, seculier, ignare et inexpert et n’est son fait d’avoir telle administration, l’a bien monstr¦.« 101 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. Nr. XII S. 313. 102 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. Nr. XII S. 314 – 319.

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Provisoren ein. Auf dieser Ebene ist die Argumentation doppelgleisig, sowohl offensiv als auch defensiv. In der Defensive erklärt Refuge Vorgänge, die die Gegenseite als Misshandlung von Schwestern angeprangert hatte, auf eine Weise, die das Verhalten der Provisoren, auch das des Kollegen Emery, rechtfertigen; auch sei Gr¦vin, der neue Magister, unzweifelhaft ein guter Mann und die Einstellung von neuem Personal eine notwendige Maßnahme. In der Offensive legt er ausführlich die Mängel dar, die die Provisoren seit ihrem Amtsantritt im Verhalten der männlichen und weiblichen Religiosen sowie des abgesetzten Magisters Le FÀvre feststellen mussten. Die Monita reichen von der Vernachlässigung des Dienstes an den »povres« und der Präsenz von Unbefugten im Haus über die schlechte Rechnungsführung des Le FÀvre bis zur Rebellion der Religiosen, deren Klagen in einem anderen Verfahren im Übrigen schon längst vom Parlement zurückgewiesen worden seien. Während das Kapitel, anders als die Gegenseite unterstelle, keinerlei materiellen Gewinn aus dem Hútel-Dieu ziehe, vielmehr nichts als Ärger mit ihm habe (den es zum Wohl der Armen aber in Kauf nehme), schrecken die Religiosen nicht davor zurück, sich persönlich zu bereichern. Auch dieser, ironisch als »bonne charit¦« bezeichnete, manifeste Verstoß gegen die Augustinusregel wird mit Beobachtungen aus der jüngsten Vergangenheit belegt. All dies mündet in eine generelle Überlegung: Wenn man einen Orden verbessern oder reformieren will, gibt es immer erstaunlichen Widerstand. Nun, wer bei sich selbst nicht gut ist, kann unmöglich gut zu den Armen sein. Unter den Religiosen ist weder Gehorsam noch Armut; was die Keuschheit betrifft, würden sie [die Frauen] diese wohl wahren wollen, aber wie ihr Leben, ihre Freiheit und ihr Umgang zeigen, halten sie ihre Regel nicht ein, und es heißt ja, dass »es ein größeres Wunder als die Auferweckung eines Toten ist, wenn männliche und weibliche Religiosen miteinander umgehen, ohne zu sündigen«, wie der hl. Bernhard sagt. Er [Refuge] fügt hinzu, dass – wenn man sich da nicht vorsieht und sie so gewähren lässt – jedes Jahr mangels Fürsorge mehr als 300 Arme sterben, die eigentlich gesund werden könnten.103

Dieses aus loci und (angeblich) empirischen Beobachtungen zusammengesetzte Argument kombiniert zwei Beweisebenen. Die eine setzt beim zweiten Satz an (»Nun, wer bei sich selbst nicht gut ist«). Es handelt sich um einen unvollständigen Syllogismus, also ein Enthymem, in dem nicht die generelle Ausgangsthese 103 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. Nr. XII S. 318: »— faire bien ou reformer quelque religion, y a tousjours merveilleuse resistance; or il est impossible estre bon aux povres qui n’est bon apud se; n’y a entre les religieux obeissance ne povret¦; de chastet¦, croit qu’elles la voudroient garder, mais — veoir leur vie et libert¦ et communication, ne gardent leur regle et si dit que ›religiosos et religiosas semel [simul?] sine peccato communicare est pocius miraculosum quam mortuum suscitare‹, comme dit saint Bernard; dit que s’il n’y a provision et de les laisser ainsi, par faulte de penser, mourront tous les ans plus de trois cens povres qui deveront garir.« Das Bernhard-Zitat erinnert sinngemäß an Bernardus Claraevallensis, Sermones in Cantica, Nr. LXV (De clandestinis haereticis), col. 1091B.

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bewiesen werden soll, sondern diese es ermöglicht, eine nicht ausdrücklich formulierte Schlussfolgerung zu ziehen. Ausgangsthese ist die Feststellung, dass wer sich selbst nicht gut verhält, auch zu anderen nicht gut sein kann, und das heißt hier : nicht für die Armen- und Krankenfürsorge und damit die Arbeit im Hútel-Dieu taugt. Die Religiosen verhalten sich nicht gut, denn sie verstoßen offensichtlich gegen zwei ihrer drei Ordensgelübde (was die gesamte Rede an zahlreichen Beispielen zeigt) und wahrscheinlich auch gegen das dritte (wie ihre Lebensweise im Verbund mit dem Bernhard-Zitat nahelegt). Ergo – siehe Ausgangsthese – genügen sie den Anforderungen nicht, und die fatalen Folgen dieser Tatsache lassen sich sogar empirisch beziffern: auf mindestens 300 Todesopfer im Jahr. Wenn diese Schlussfolgerung zutrifft, dann muss etwas getan, muss die Leistung der Religiosen verbessert werden. Dies leitet zur anderen Beweisebene über, die sich am ersten Satz festmachen lässt (»Wenn man einen Orden verbessern oder reformieren will«): Der locus communis von der Konflikthaltigkeit jeder Reform dürfte dem seit langem an königliche ordonnances de r¦formation gewöhnten Parlement plausibel gewesen sein und brauchte somit nicht weiter bewiesen zu werden. Er leistet hier etwas anderes: Zum einen erinnert er in Verbindung mit der Schlussfolgerung, dass die Religiosen den an sie gerichteten Erwartungen nicht gerecht werden, an die unabweisbare Notwendigkeit einer Reform im Hútel-Dieu; was das Enthymem nur andeutet, indem es individuelle mit institutioneller Besserung verknüpft und damit implizit auf den christlichen Reform-Plot verweist, geschieht hier explizit, indem der ganze Komplex auf den Namen »reformer« getauft wird. Zum anderen erklärt er den Lärm, den das Vorgehen des Kapitels erzeugt hat, zur natürlichen Begleiterscheinung eben dieser Reform und insinuiert damit zugleich, dass diese bereits in Angriff genommen wurde. Das Kapitel und seine Provisoren lassen keinerlei Zweifel an ihrer führenden Rolle im Hútel-Dieu erkennen. Auf die Forderung der Gegner, die Verwaltung den Bürgern von Paris zu überlassen, geht Refuge mit keinem Wort ein. Vielmehr spitzt er seine Ausführungen auf drei relativ eng umrissene Vorschläge für das Urteil zu: (a) Es müsse definitiv klar sein, dass Le FÀvre nicht ins Hútel-Dieu zurückkehren wird, denn erst dann könne wieder Frieden einkehren; (b) den Religiosen solle befohlen werden, ihre Pflichten gegenüber den Insassen zu erfüllen; (c) ein gewisser Laurens le Blanc, der ihm als Anführer der Rebellion gilt, solle Hausverbot erhalten. Ungeachtet der Vertrautheit des Provisors mit den rhetorischen Mitteln der Reform hat seine Rede als Gerichtsrede ihre Schwächen. Brinon, der Vertreter der Kläger, dem das Recht auf eine Replik104 eingeräumt wurde, macht sich dies zunutze. Sein Vorredner habe das Thema weitgehend verfehlt, denn um den 104 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. Nr. XII S. 319 – 321.

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früheren Magister Le FÀvre gehe es bei der zu verhandelnden Klage überhaupt nicht. Aus diesem Grund und wegen der zahlreichen Gegenvorwürfe, die er ebenfalls nicht mit dem laufenden Verfahren in Zusammenhang bringen könne, halte er weite Teile der Verteidigung für gescheitert. Soweit er die von Refuge ins Feld geführten Umstände als triftig betrachtet, versucht er sie zu widerlegen. Seine Rekonstruktion der Geschichte des HútelDieu präzisiert Brinon mit einem genauen Datum: Seit 1342 seien die Magister von den Religiosen gewählt, vom Kapitel aber nur bestätigt oder beauftragt (»commis«) worden, und gewählte Amtsträger seien nicht ohne weiteres absetzbar. Sie sollen aus der Kommunität stammen und der Augustinusregel verpflichtet sein. Bei Gr¦vin, dessen mangelnde Eignung durch neue Indizien belegt wird, sei das nicht der Fall. Zur Beurteilung der Arbeit der Schwestern müsse man wissen, dass sie keine »vie contemplative, mais active, comme Marthe« führen. Diese indirekte Anspielung auf Jean Henry und seinen Livre de vie active dient dazu, die häufigen Aufenthalte der Schwestern außer Haus zu rechtfertigen. Besonders detailliert ist Brinons Replik auf die Vorhaltungen der Kanoniker hinsichtlich der Leistungsfähigkeit des Hútel-Dieu. Seit 100 Jahren sei kein Skandal vorgekommen, vielmehr gebe es »auf der Erde kein schöneres HútelDieu und nirgendwo werden die Armen besser oder so gut betreut wie dort«. In 14 Jahren seien infolge der guten Pflege mehr als 17.000 »povres« geheilt entlassen worden, und von denen könne man Vor- und Nachnamen nennen!105 Falls die Probleme mit dem neuen Magister und Personal nicht behoben würden, falls die Eingriffe in die bewährte Lebensform der Kommunität nicht enden sollten, dann würde das Haus zerstört; gegen diese »nouvelletez entreprinses« (»unternommenen Neuerungen«) müsse das Parlement dringend einschreiten, wobei der Redner gegen das Wort entreprendre eine ähnliche Abneigung spüren lässt, wie sie wenig später Pierre Gringore den »folles entreprises« aller Reformer entgegenbringen sollte. Kurz, die Klägerseite bitte das Gericht, einen Magister aus ihrem Orden zu bestellen, den von Refuge inkriminierten Le Blanc, seit 15 Jahren Prokurator des Hauses, auf seinem Posten zu belassen und gegen den gewalttätigen Kanoniker Emery vorzugehen. Das zwei Wochen später publizierte, oben bereits resümierte Urteil106 gab den Kanonikern zwar in wichtigen Punkten Recht, insbesondere in der Sache Le FÀvre, erkannte aber auch manche Klagen der Religiosen an. Hervorzuheben ist zudem, dass das Parlement beide Parteien davor warnte, sich seinem Beschluss 105 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. Nr. XII S. 320: »n’y a Hostel-Dieu sur la terre plus belle ne o¾ les povres soient mieux ne si bien traittez qu’il ont est¦ leans«. Von einer Registrierung der Insassen, auf die diese Aussage schließen lässt, hat sich aus dieser Zeit nichts erhalten. 106 S. oben, Anm. 97.

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zu widersetzen; dem Kapitel drohte es, ihm in diesem Fall die Aufsicht über die Temporalia des Hútel-Dieu zu entziehen. Die von den Religiosen gefordete Lösung, die Kommune Paris in die Verwaltung einzubeziehen, war somit zumindest als Möglichkeit auch im obersten Gericht des Königreichs angekommen. Drei Punkte aus dieser Debatte seien nochmals herausgegriffen, bevor wir uns den nächsten Stationen der Reform des Hútel-Dieu zuwenden: (1) Die beiden Parteien gehen in unterschiedlicher Weise mit der Zeit um. Die Kommunität der Religiosen setzt stärker auf die Geschichte des Hauses, auf seit langem bewährte Gewohnheiten oder auf das Vorbild früherer Autoritäten (Jean Henry). Im Gegensatz dazu stehen ›schlechte‹ Neuerungen. Besonders in der Replik auf die Kanoniker ist das ein durchgehendes Argumentationsmuster. Mehrfach fällt dort der Hinweis, dass bestimmte Rechte und Verhaltensweisen »seit hundert Jahren« (oder gar seit 1342) eingespielt seien. Derartige Bräuche haben für den Sprecher Brinon selbst dann Gewicht, wenn es ein gegenteiliges Statut geben sollte: Dieses sei dann eben »per contrarium usum« außer Kraft. Anders der Vertreter des Kapitels: Zwar weiß auch er um den Wert einer langen Tradition von Rechten, setzt aber viel stärker auf die Beobachtung aktueller Missstände und vergleicht diese mit geltenden Normen: Dazu gehören die Statuten des Hútel-Dieu107 wie auch die Augustinusregel. Somit steht ein Festhalten an historisch gewachsenen, sich allmählich verändernden Rechten gegen den Anspruch, je nach aktuellem Bedarf neue Normen setzen oder alten Normen neue Geltung verschaffen zu können; während in diesem ›normenzentrierten‹ Konzept die historische Zeit ausgeklammert scheint, ist sie im Gegenentwurf das Medium, das den Status quo rechtfertigt. (2) Auf das Wortfeld ›Reform‹ – das heißt auf die Wörter reformare (bzw. reformatio) oder auf semantisch verwandte Vokabeln wie faire bien, corriger usw. – rekurrieren ausschließlich die Kanoniker und der Königshof; Letzterer verwendet »reformation« geradezu als Formel, die alles, was aus königlicher Sicht im Hútel-Dieu nunmehr dringend zu geschehen habe, auf den Punkt bringen soll. Im Sprachgebrauch der Religiosen kommt es hingegen nicht oder allenfalls im negativen Kleid der »nouvelletez« vor. (3) administratio: Das Wort bedeutet hier ›Verwaltung‹ sowohl in Bezug auf die persönliche Verwaltungsarbeit eines Amtsinhabers (wie die »administration« der Magister Gr¦vin oder Le F¦vre) als auch im abstrakten Sinn des 107 Der Provisor Refuge beruft sich zweimal (Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. Nr. XII S. 317 f.) auf die Statuten von 1220, speziell auf die Vorschrift, dass Religiosen mit Privatbesitz wie Exkommunizierte bestattet und dass schwere Vergehen wie Diebstahl mit der Vertreibung aus dem Haus bestraft werden (Le Grand, Statuts d’Hútels-Dieu, S. 51 f. Nr. 62 f.). Brinon beruft sich einmal auf diese letztere Vorschrift, legt sie aber zu Gunsten seiner Mandanten restriktiv aus (Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. Nr. XII S. 311). – »Contrarium usum«: ebd., S. 320.

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transpersonalen Managements einer Institution. Auffällig in der hier referierten Debatte ist die Tatsache, dass der Gebrauch des Wortes eng mit dem Ideal der Professionalität verbunden wird. Man braucht Verwalter mit entsprechenden Qualifikationen: Für deren Fehlen muss Le FÀvre sich entschuldigen, der bursarius Laurent l’Aisn¦ ist wegen seiner Fachkenntnisse für das Hútel-Dieu unverzichtbar, Gr¦vin wird unter anderem als schlechter Verwalter denunziert; sein ›Laientum‹ scheint hier nicht nur auf die Tatsache bezogen, dass er kein Religiose war (aber offensichtlich die Priesterweihe besaß!), sondern auch auf seine angeblich mangelnde Verwaltungserfahrung – ein ›Laie‹ im modernen Sinn des Dilettanten. Am Ende des 15. Jahrhunderts wusste man in Paris (wie vorher bereits in Mailand), dass die Verwaltung einer komplexen Institution mehr erforderte als einfach die Delegation eines Vertrauten durch den Machthaber : Gefragt waren Expertise, Fachwissen, professionelle Qualitäten, Fähigkeit zur Personalführung.

Reform der Hospitalkommunität (1505) Statt eines regulären Magisters übernahmen zwei Kanoniker von Notre-Dame ab 20. April 1498 vorläufig diese Funktion; der König bestätigte den jüngsten Bescheid (also das Urteil vom 4. April), den das Parlement in Sachen »reformacionis Domus Dei Parisiensis« hatte ergehen lassen.108 Es dauerte mehrere Jahre, bis wieder ein Magister gefunden war : Erst 1503, mit gewissem Erfolg sogar erst ab Januar 1504,109 präsentierte das Kapitel einen Kandidaten, den es gegen den Widerstand mancher Schwestern dann auch durchsetzte: Nicolaus NoÚl, Priester und magister artium, war diesen Frauen einerseits zu jung, andererseits lehnten sie es ab, dass der Magister sich zugleich als ihr Konfessor betätigte. Die Kanoniker bestanden auf ihrer Entscheidung, zumal der neue Magister drei Priester mitgebracht hatte, die mangels einer ausreichenden Zahl von fratres die religiöse Betreuung der Kommunität und der Insassen sicherstellen sollten. In den Jahren nach 1498 kamen widersprüchliche Signale aus dem HútelDieu. Zwar wurde bei manchen Generalkapiteln festgestellt, dass alles »in angemessenem Zustand« sei, doch ließen sich Klagen über schlechte Ernährung 108 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1491 f. S. 236 – 238, 1494 S. 238 (1498 Mai 2). 109 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1533 S. 244 (1503 Feb. 20), 1544 S. 247 f. (1504 Jan. 12). – Ab 1515 (Coyecque, L’Hútel-Dieu 1512, Nr. 48, 53, 77) ist wieder ein fr. Johannes Fabri als Magister nachzuweisen, der 1516 starb (Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1854, 1856) und durch fr. Guillelmus Stine ersetzt wurde. Auch wenn Coyecque, ebd., Register, S. 423, alle Belege für »Fabri / le Fevre (Johannes)« einer einzigen Person zuordnet, kann es sich nicht um den 1498 abgesetzten Magister handeln (s. auch oben, Anm. 91). Beide Namensbestandteile sind sehr häufig.

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der Insassen und andere »defectus« nicht verbergen, über die sich die Kanoniker aber nur mit Mühe einig wurden.110 Einer dieser Mängel war die Präsenz von »maraudis«, Männern und Frauen, die weder als offiziell zu versorgende Klienten (»pauvres malades«) gelten konnten noch zum Personal gehörten, sich aber dennoch in größerer Zahl im Hútel-Dieu aufhielten und ernährten.111 Da diese Gäste bei den Bediensteten des Hospitals aber nicht so unbeliebt wie bei den Kanonikern waren, stieß ihre Vertreibung auf Schwierigkeiten. Im Jahr 1504 stiegen die Spannungen erneut auf den Siedepunkt. Neben Ärger mit einzelnen sorores und der Priorin drohte nun auch eine finanzielle Krise. Nicht nur hatte sich das Hútel-Dieu jahrelang bei seinen Lieferanten verschuldet; es musste auch eine neue päpstliche Ablassbulle bezahlen, für die der Bankier, der die Bulle in Rom vorfinanziert hatte, immerhin 2800 Dukaten verlangte. Der gerade erst eingesetzte Magister trug sich mit Rücktrittsabsichten. Im Sommer starb die Priorin, für die man nur schwer eine Nachfolgerin fand, so dass man das Amt schließlich der Subpriorin kommissarisch anvertraute. Auch die beiden Provisoren, die Kanoniker Iohannes de Lailly und Gaillardus Ruz¦, waren amtsmüde. Sommer und Herbst vergingen mit gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen Kommunität und Kapitel, Verhandlungen mit dem Bankier und Notverkäufen von Gütern.112 Als weitere Notmaßnahme setzte das Kapitel aus seinen Reihen einen »Superintendenten« ein, der die Geschäfte des Hospitals führen sollte und den Spielraum des (letztlich doch nicht zurückgetretenen) Magisters weiter einengte. Zu dieser undankbaren Aufgabe erklärte sich der Kanoniker Iohannes Gaignon bereit, aus »Mitleid« (»compacione«) mit den Armen und dem HútelDieu: war das Haus doch »sowohl wegen der schlechten Verwaltungsarbeit und Nachlässigkeit seiner Beamten als auch wegen der Bosheit der Zeiten und der

110 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1513 S. 241 (1501 Juni 26); 1518 – 1520 S. 242 (1501 Aug. 26 – 28). »In competente statu« hingegen in Nr. 1503 S. 240 (1500 Dez. 28) u. 1528 S. 243 (1502 Mai 13). 111 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1523 S. 243 (1501 Dez. 28); ebenso ein Jahr später (Nr. 1531 S. 244). Am 22. April 1504 (Nr. 1555 S. 251 f.) berichtet ein Glöckner der Kathedrale, sein Bruder sei beim Versuch, »maraudos et maraudas« aus der Kirche und vom parvis zu vertreiben, von zwei Dienern des Hútel-Dieu verprügelt worden. 112 Hier nur die wichtigsten Einträge aus den Versammlungsprotokollen des Kapitels (das spannungsreiche Jahr 1504 ist in Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, S. 247 – 268, reich dokumentiert), insbesondere zum Schuldenproblem: Nr. 1559 f. S. 252 f. (1504 Juni 27 u. Juli 1), Eintreffen der Bulle; Nr. 1563 S. 253 f. (1504 Juli 8), Forderung des Bankiers; Nr. 1576 – 1579 S. 258 f. (1504 Sept. 25 – Okt. 2), Maßnahmen zur Deckung des Geldbedarfs, Liste der Gläubiger und Schuldner ; Nr. 1583 S. 259 f. (1504 Okt. 11), Auszahlung von 1200 lib.; Nr. 1586 S. 260 f. (1504 Okt. 17), Krisensitzung des Kapitels, Ratenzahlung an den Bankier; Nr. 1591 f. S. 262 (1504 Okt. 30 u. 31), vorerst Einigung mit dem Bankier. – Zur Familie des Kanonikers Ruz¦ s. oben, Anm. 34.

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Knappheit der Ressourcen für seine vielen Gläubiger ein Ärgernis« geworden.113 Aus einer nachträglich registrierten, vollständigeren Aufzeichnung über Gaignons Ernennung wird deutlich, dass das Kapitel sich der Bedrohlichkeit der Lage sehr wohl bewusst war. Gaignon begründete seine Opferbereitschaft nämlich damit, »dass er, bevor das genannte Haus verloren gehe und in laikale oder andere Hände als die des Pariser Kapitels gerate, wie es die vorigen Provisoren wollten und erstrebten, lieber diese Last mit dem Ziel der Bewahrung des Hauses auf sich nehme.«114 Dieser Passus ist auch deshalb wichtig, weil er belegt, dass die Kanoniker über das Vorgehen uneins waren. Offenbar gab es unter ihnen eine Gruppe, die sich mit der Lösung, die Aufsicht über die Temporalia des Hospitals abzugeben, durchaus anfreunden konnte. Seit den Prozessen mit den Religiosen in den Jahren 1497 – 1498 stand diese Alternative im Raum, und das Parlement hatte sie auch im Januar 1504 noch einmal angedroht.115 Hatte Gaignon mit den »vorigen Provisoren« Lailly und Ruz¦ gemeint, die doch eigentlich zurückgetreten waren? Möglicherweise waren ja gerade solche Meinungsverschiedenheiten der Grund für ihren Rücktritt gewesen. Doch als im November, da die Zustände im HútelDieu immer höhere Wellen schlugen, das Kapitel eine größere Reformkommission ernannte, die die Missstände frontal angehen sollte, waren die beiden Ex-Provisoren wieder im Spiel. »Angesichts des Geschreis, das sich, wie berichtet wurde, in der Stadt und bei hochgestellten Personen über die schlechte Leitung und Verwaltung des HútelDieu von Paris erhoben hat«, beauftragte das Kapitel eine siebenköpfige Kommission – bestehend aus dem Kanzler, den Kanonikern Lailly, Ruz¦ (trotz mehrfacher Rücktritte), Allegrin, Claustre und Morillon sowie dem Pönitentiar – mit der Visitation des Hospitals: Sie bekam die »Vollmacht und Fähigkeit, in demselben zu reformieren, zu korrigieren, zu ordnen und sonst zu tun und vorzugehen, wie es ihnen für dessen Nutzen zuträglich scheint«.116 Die Zeit 113 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1589 S. 261 f. (1504 Okt. 26): »Domus Dei Parisiensis, que tam propter ministrorum ejusdem malam administracionem et negligenciam quam temporis maliciam et rerum penuriam multis creditoribus obnoxia remansit« (Coyecques Korrektur »penuria[ru]m« ist überflüssig). 114 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1595 S. 263 f.: »dixit prefatus Gaignon quod, antequam dicta Domus deperderetur et in laicas aut extraneas manus quam capituli Parisiensis deveniret, sicuti ultimi provisores volebant et aspirabant, libenter id onus pro conservatione dicte Domus assumeret«. 115 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, S. 247 Anm. 1 (1504 Jan. 10). 116 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1597 S. 264 (1504 Nov. 22): »Audito clamore qui fit, prout relatum est, per villam et inter magnas personas de malo regimine et administracione Domus Dei Parisiensis …« Vervollständigung der Kommission eine Woche später (Nr. 1598 S. 264 f.), mit Aufgabenbeschreibung: »cum plenaria potestate et facultate reformandi, corrigendi, ordinandi et alias faciendi in eadem Domo et procedendi prout eis visum fuerit expedire pro utilitate illius«.

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drängte, denn kurz danach schaltete sich wieder einmal der Königshof ein: Königliche Gesandte forderten vom Kapitel die Bildung eben einer solchen Kommission mit Sondervollmachten, weil sie darin das einzige Mittel sahen, um die Meinungsverschiedenheiten im Kapitel zu umgehen; mit ergebenem Dank konnte der Dekan den Gesandten antworten, dass man genau das gerade getan hatte.117 Das Generalkapitel vom 28. Dezember 1504 war die erste Gelegenheit für die Kommissare, den Religiosen ihr Programm einzuschärfen. Sie ließen zur Einstimmung einen Dominikaner-Theologen predigen und befragten danach jeden einzelnen frater und jede Schwester, ob sie der Reformkommission gehorchen wollten. Nachdem dies bejaht wurde, wies der Kanzler die Kommunität auf einige wichtige Punkte in der Augustinusregel und in den Statuten hin, die kaum beachtet würden: Der Magister hat wöchentlich Versammlungen der Religiosen einzuberufen, um die Disziplin zu verbessern; Bettler und »gesunde Arme« (»pauperes validi«) sind hinauszuwerfen; die Rechnungsbücher muss er ordentlich führen, Ablässe korrekt bewirtschaften. Auch die Schwestern werden an die Grundregeln guten Verhaltens erinnert, vor allem daran, »dass sie künftig die Armen mit Liebe behandeln« und nicht öffentlich streiten. Alle Religiosen müssen binnen acht Tagen dem Magister privaten Besitz anzeigen.118 Die Ermahnungen der Kanoniker, die erneut auf der Validität der alten Statuten des Hútel-Dieu insistierten und sich gegen »schlechte Gewohnheiten« (»malis consuetudinibus«) verwahrten, behoben die Spannungen nicht. Diese entluden sich in den ersten Monaten des Jahres 1505, in denen sich ein Bruch vollzog, der sich auch in einem veränderten Horizont unserer Quellen widerspiegelt. Von nun an fand die Reform des Hútel-Dieu auf zwei verschiedenen Ebenen statt: Die Aufsicht über die zeitlichen Belange wurde an die Kommune Paris abgegeben, während das Kapitel sich weiterhin um die Verbesserung des geistlichen Lebens kümmerte, und das hieß vor allem: um die Gemeinschaft der Religiosen. Dieser letztere Aspekt steht seitdem in den Versammlungsprotokollen der Kanoniker im Mittelpunkt; über die Verwaltung der Temporalia hingegen berichten nun, neben den Rechnungsbüchern im Archiv des Hospitals, die Aufzeichnungen der Kommune. Getrennt marschieren, vereint aufeinander einschlagen – so könnte man die neuen Konflikte, die sich an der Separierung der geistlichen von der weltlichen Ebene entzündeten, in Abwandlung eines bekannten militärgeschichtlichen 117 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1600 S. 265 f. (1504 Dez. 19). Etwas später wird das Kapitel im Auftrag des Königs vom Admiraldus Francie über innere Konflikte in Sachen Hútel-Dieu befragt, verneint aber die Existenz solcher Konflikte (Nr. 1605 S. 268 f., 1505 Apr. 18). 118 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1602 S. 266 – 268 (1504 Dez. 28): »ut a cetero pauperes cum caritate […] tractarent« (S. 268, nach »caritate« bei Coyecque eine seiner zahlreichen kleineren Auslassungen, die ich nicht im Einzelnen dokumentiert habe).

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Mottos beschreiben. Bleiben wir zunächst bei den Spiritualia. Hier wagte die Reformfraktion unter den Kanonikern eine kühne Lösung, die letztlich jedoch am Widerstand der Religiosen und ihrer Unterstützer scheiterte. Der offenbar seit Längerem vorbereitete Schritt bestand darin, einen Teil der widerborstigen Augustinerinnen aus disziplinarischen Gründen vom Hútel-Dieu in andere Hospitäler zu versetzen und dem Rest eine große Gruppe von Schwestern aus einem anderen Orden, nämlich 30 franziskanische Terziarinnen (sorores grisee oder sœurs grises), zur Seite zu stellen. Über die Vorgeschichte dieser einschneidenden Reform der Hospital-Kommunität erfahren wir wenig. In den Quellen des Hútel-Dieu und der Kathdrale ist sie erst im Mai 1505 zu fassen: Zu dieser Zeit mussten die Initiatoren bereits zugeben, dass die Sache nicht so einfach war, denn angesichts der feindlichen Stimmung, die ihnen im HútelDieu entgegenschlug, hatten sich viele Terziarinnen krank gemeldet oder waren gestorben. Dies berichten die Provisoren in zwei auf ihren Wunsch einberufenen Sitzungen des Kapitels am 9. und 10. Mai.119 Eine etwas frühere Spur findet sich in einem Brief des Königs an die Kommune Paris (11. April): Dort wird der Vorgang so dargestellt, dass sich die Franziskaner »eingemischt« und die von den Kanonikern begonnene »refformation« behindert hätten;120 das trifft so nicht zu, denn nach Darstellung der Provisoren hatten sie selbst Reformspezialisten aus anderen Orden, die ihnen vom Papstlegaten in Frankreich (dem Kardinal Georges d’Amboise) genannt worden waren, um Beistand gebeten. Die Serie von Registereinträgen,121 die jene im Mai und Juni 1505 geführten Diskussionen dokumentiert, ist von hohem Interesse: nicht nur, weil sie noch einmal die Spaltung des Domkapitels verdeutlicht, sondern auch, weil sie die Topoi, Argumente und Zweifel der Reformfraktion konzentriert vorführt. Ziel der Provisoren war, sich bei ihren Kollegen abzusichern und sie zu einer Entscheidung darüber zu bewegen, was nun tun sei. Sollte man die Reform rückgängig machen, die Terziarinnen wieder entlassen und die strafversetzten alten Schwestern zurückholen? War nicht alles auf Geheiß des Königs genau vorbereitet, waren die sorores grisee nicht von allen konsultierten externen Fachleuten als besonders geeignet gelobt worden? Doch die neuen seien von den verblie119 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1608 S. 270 (1505 Mai 9) u. ausführlich Nr. 1609 S. 270 – 274 (Mai 10); an dieser Sitzung nahmen nur vier Dignitäre und 15 Kanoniker teil. – Zu den Hospitalaktivitäten der Drittordensschwestern in Nordfrankreich und der heutigen Wallonie s. Saunier, La trame hospitaliÀre, S. 207 f. u. Karte S. 216. 120 Dieser königliche Brief wird in einer Versammlung der Kommunalführung am 16. April erwähnt (Bonnardot, Registres Bureau de la Ville 1, Nr. 184 f. S. 104 – 106, 1505 Apr. 5 u. 16). Da er vom Admiraldus Francie, sieur de Graville, überbracht worden war, handelt es sich wohl um dasselbe Schreiben wie oben, Anm. 117. 121 Neben den beiden oben in Anm. 119 genannten Protokollen geben weiteren Aufschluss über diese Phase Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1612, 1613, 1615 u. 1618 (1505 Mai 24 – Juni 4).

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benen alten Schwestern und den Bediensteten des Hútel-Dieu so übel, ja gewaltsam behandelt worden, dass man sie dieser Tortur nicht länger aussetzen könne. Hinzu kam, dass die Provisoren von manchen Kollegen offen kritisiert und in ihrer Arbeit behindert wurden. Die anwesenden Kanoniker konstatierten auf diesen Bericht hin, dass sie seit mehr als 25 Jahren ständig Streit zu erdulden haben auf Grund der unreligiösen, unmenschlichen, unverschämten, lasterhaften Verhaltensweisen und verdammten Bräuche der männlichen und weiblichen Religiosen des Hútel-Dieu, die sie schon sehr oft mit großer Sorgfalt zu bessern und abzustellen versuchten; und dass sie damit viele bedeutende Männer aus ihrem Kapitel beauftragt haben, nämlich den verstorbenen magister Jean Henry […], danach die magistri und Domkanoniker Nicolaus de Hacqueville und Petrus de Refuge […] sowie viele andere.122

Doch wegen der »Sturheit, Feindseligkeit und eingefahrenen Bosheit der Brüder und Schwestern«123 im Verein mit der Unterstützung, die diese von wichtigen Pariser Familien erhalten, sei alles vergeblich gewesen. Die Domherren konstatierten ferner, dass sie in dieser Angelegenheit nicht zu geschlossenem Handeln fähig seien, da die Religiosen zu viele Verbündete im Kapitel haben. Deshalb sprach die Versammlung (an der diese Verbündeten nicht teilnahmen) ihren Provisioren ausdrücklich das Vertrauen aus und gab ihnen für die Zukunft alle Vollmachten, außer der, die Güter des Hútel-Dieu zu veräußern: Macht weiter so, wie ihr es für richtig haltet – so lautete die tröstliche Botschaft der Kollegen. Mit einer Warnung allerdings: Man werde den Admiraldus Francie bitten, das Parlement über die Reformanstrengungen des Kapitels zu informieren; man tue was man könne, doch falls das nicht genüge, dann sei man froh, wenn das Parlement sich der Sache selbst annehmen wolle. Die Reformer setzen in dieser Diskussion schärfere Werkzeuge gegen die Reformgegner ein, als sie es bis dahin getan hatten. Die enumeratio der schlechten Eigenschaften, die den Widersachern zugeschrieben werden, wird länger, die Verortung dieser Eigenschaften im Feld des moralisch Verworfenen wird schon durch die Häufung von Wörtern mit der negierenden Vorsilbe in überdeutlich. Auffällig ist außerdem, dass es nun die Reformer sind, die sich der 122 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1609 S. 273: »quod, a viginti quinque annis et ulterius, continuo passi sunt multas querellas racione irreligiositatum, inhumanitatum, insolenciarum, viciorum et damnatarum consuetudinum religiosorum et religiosarum dicte Domus Dei, quas sepissime corrigere et extirpare cum summa diligencia nisi sunt, et ad hoc plurimos graves viros de eorum capitulo commiserunt, videlicet defunctum magistrum Johannem Henry […], postea magistros Nicolaum de Hacqueville et Petrum de Refuge, ecclesie canonicos […] et successive alios plurimos«. »Magister« ist hier als akademischer Titel zu verstehen. 123 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1609 S. 273: »obstantibus duricia, adversitate et inveterata malignitate religiosorum et religiosarum«.

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Das Hôtel-Dieu von Paris

Erinnerung an den 1498 noch von den Religiosen als Modellfigur beanspruchten Jean Henry bemächtigen: Sie machen den geistlichen Ratgeber der Schwestern zu einer Autorität der Reform und konstruieren eine Tradition von Reformversuchen, indem sie ihm weitere wohlmeinende Reformer zur Seite stellen. Henry steht hier nicht mehr für ein harmonisches Verhältnis zwischen Kapitel und Kommunität, sondern ist eines von vielen Beispielen für das Scheitern aller Reformbemühungen – und dass das sogar einer Autorität wie ihm geschah, lässt ermessen, wie unverbesserlich die Religiosen sind. Diese Verweise auf frühere Reformer und die vorher erwähnte Konsultation von externen Fachleuten sprechen dafür, dass in den Kreis der Experten, auf die sich alle Teilnehmer an der Debatte so gerne beriefen, mittlerweile auch die Figur des ›Reformexperten‹ aufgenommen worden war. Dies bestätigt auch das Protokoll einer zwei Wochen später abgehaltenen Sitzung, in der die vom Kapitel bestätigten Provisoren in einer Denkschrift erneut Rechenschaft über ihre Tätigkeit geben und Vorschläge für das weitere Vorgehen machen. Sie erinnern daran, dass sie die Franziskaner-Terziarinnen erst auf Zureden einiger »in reformacionibus expertissimorum« Kollegen ins Hútel-Dieu berufen hatten. Nach ihrer Vorstellung ist der Weg mit den besten Erfolgsaussichten, die sorores grisee als künftige weibliche Kommunität zu etablieren. Die alten Augustinerinnen sollen nur noch dann toleriert (oder die strafversetzten zurückgerufen) werden, wenn sie sich verpflichten, den neuen Schwestern zu gehorchen; alle neu aufgenommenen Schwestern tragen den Habit der Terziarinnen, deren Obere auch die Aufsicht über die neu geformte Kommunität ausüben. Allerdings ist, weil diese Oberen der Franziskanerobservanz angehören, mit Kompetenzstreitigkeiten zu rechnen. Abhilfe verspricht eine Klausel, nach der als Beichtväter keine Mitglieder des Franziskanerordens, sondern nur Weltpriester ins Hútel-Dieu entsandt werden dürfen. Außerdem behält das Domkapitel die höchste Aufsicht, führt jährlich zwei Visistationen durch und hat das Recht, »im Fall von Nachlässigkeit oder Fehlentwicklung« (»in casu negligencie aut difformacionis)« einzugreifen.124 Die anderen Kanoniker waren über diese Lösung nicht sehr glücklich, hätten es vielmehr bevorzugt, wenn der alte augustinische Habit und die Jurisdiktion des Kapitels »tam in spiritualibus quam temporalibus« beibehalten worden wären; aber wenn es nicht anders gehe, stimme man zum Wohl der Reform und der Armen den Vorschlägen der Provisoren zu.125 In einer weiteren Sitzung wird 124 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1612 S. 274 – 276 (1505 Mai 24). Spannungen mit den Franziskanern zeigten sich schon in dem oben, Anm. 117, 120, erwähnten Brief des Königs von 1505 Apr. 11. – Im Vergleich zum 10. Mai (oben, Anm. 119) wuchs die Teilnehmerzahl: Am 24. Mai versammelten sich sechs Dignitäre mit 26, am 26. Mai (s. nächste Anm.) mit 25 Kanonikern (so nach der Hs. AN, LL 129, p. 217 f.). 125 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1613 S. 276 f. (1505 Mai 26), 1614 f. S. 277 (Mai 28).

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Reformdebatten (I): Domkapitel vs. Religiosen, Domkapitel vs. Kommune

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die Haltung des Kapitels noch einmal in vier Punkten präzisiert: Die Reform basiere (1) auf der Vertreibung der Reformgegner in der Kommunität und (2) auf deren Ersetzung durch »exemplarische Personen, die reformiert und geübt sind in der hospitalitas und der liebevollen Behandlung der Armen«, und das treffe auf die Terziarinnen zu. Gegenüber der »caritas« und Gutwilligkeit dieser Personen sei (3) deren Habit von sekundärer Bedeutung, die Provisoren sollen darüber entscheiden; was (4) die Oberaufsicht betrifft, wolle man erst den Gang der Reform abwarten, dann werde man sich mit den Oberen der Terziarinnen schon einigen. Wenige Tage später wurde der Magister Nicolaus NoÚl, der »der Reform nicht nützlich« war, durch einen neuen Leiter ersetzt.126 Alles in allem lässt sich die Argumentation der Reformer wie folgt charakterisieren: Die Zielsetzung wird klar hierarchisiert – an oberster Stelle steht »reformacio«. Zur inhaltlichen Füllung wird dieser Begriff mit der axiomatischen Grundfunktion jedes Hospitalbetriebs verbunden, caritas und hospitalitas zu Gunsten der bedürftigen Insassen. Die Besetzung dieser Schlüsselbegriffe wird unterstützt durch eine geradezu empörte Darstellung des Verhaltens der Gegner sowie durch die Umdeutung der jüngeren Geschichte des Hútel-Dieu zu einer Reformtradition (schon Jean Henry hat es vergeblich versucht …). Untergeordnet sind, zumindest in der Außendarstellung, die Aufsichtsrechte des Kapitels – es überrascht nicht, dass es über diesen Punkt auch innerhalb der Reformfraktion Meinungsverschiedenheiten gab.

Übergabe der Temporalia an die Kommune Paris (1505) Fast zur selben Zeit, als das Kapitel von Notre-Dame über die geistliche Reform der Religiosengemeinschaft seines Hospitals diskutierte, wurden die Weichen auch auf der Ebene der weltlichen Angelegenheiten umgestellt. Am 4. April 1505 kamen einige Vertreter des Kapitels ins Hútel de Ville, um vor einer Versammlung von Notablen der Bürgerschaft über die bekannten Gravamina zu klagen: Es sei zu voll im Hútel-Dieu (zu viele von der neapolitanischen Krankheit Befallene, zu viele gesunde Personen, die krank spielten), man brauche ein neues Haus. Vor allem aber beantragten die Kanoniker, dass die Bürger Repräsen126 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1617 f. S. 277 – 279 (1505 Juni 3 u. 4): »personarum exemplarium, reformatarum et in hospitalitate et caritativa tractacione pauperum exercitarum« (S. 278). S. auch noch Nr. 1620 S. 279 f. (1505 Juni 6 – 7), Bericht über die Reform an den Bischof von Paris und den König. Neuer Magister (Judocus de Custodia): Nr. 1621 S. 280 f. (1505 Juni 14), denn Nicolaus »non erat utilis reformacioni«. Aber auch der neue Mann erwies sich rasch als Fehlgriff (Nr. 1622 S. 281 f., 1505 Juni 23), was erklären könnte, dass Nicolaus doch noch bis zum 24. Dezember im Amt blieb (Nr. 1655 S. 294; s. vorher auch Nr. 1636 S. 291, 1653 S. 293).

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Das Hôtel-Dieu von Paris

tanten wählen sollten, »um die Leitung und Verwaltung der Temporalia des Hútel-Dieu zu übernehmen, und sie sagten, dass sie nicht sehr erfahren und keine guten Kaufleute seien, um die Güter zu bewirtschaften«.127 Damit wurde die – offensichtlich ebenfalls schon seit Längerem geplante – Übergabe der administrativen Geschäfte an eine von der Kommune benannte Bürgerkommission eingeleitet. Diese laikale Seite der Gesamtreform hat in den kommunalen Quellen direktere Spuren hinterlassen als in den Registern der Kanoniker von Notre-Dame. Die Bürger entsandten sofort eine Abordnung in das Hospital, die von den üblen Zuständen dort und der traurigen Lage der »malades« berichtete. Man beschloss, sechs oder acht Aufseher über die Güter einzusetzen und dies möglichst einvernehmlich, auch unter Einbeziehung des Parlement, zu formalisieren. In der Zwischenzeit traf der königliche Brief ein, der alle Beteiligten zu weiteren Reformschritten aufforderte. Am 2. Mai 1505 etablierte das Parlement definitiv acht kommunale »commissaires ».128 Die an den Anfang dieses arrÞt gestellte Diagnose der Situation im Hútel-Dieu ist hart. Das Parlement konstatiert eine »schlechte Ordnung sowohl im spirituellen als auch im weltlichen Bereich und ebenso im Hinblick auf die armen Kranken, von denen es heißt, dass sie nicht so, wie es sich gehört, aufgenommen und behandelt werden«. Nachdem man sich länger mit dem Problem befasst und dem Domkapitel schon mit Entzug seiner Rechte gedroht, nachdem auch der König über den Admiral de France eingegriffen habe, sei man nun informiert worden, dass die Bürger von Paris die Verwaltung in ihre Hände nehmen wollen. Das Parlement bestätigt diese Lösung und legt die Kompetenzen der kommunalen Hospitalpfleger fest. Die angeordneten Maßnahmen sind detailliert, beziehen sich jedoch ausschließlich auf die Organisation des künftig »Bureau de l’Hútel-Dieu« genannten Achtergremiums (Wahl durch den Pr¦vút des Marchands und die Echevins, Vereidigung vor dem Parlement) und auf die Verwaltung der materiellen Ressourcen des Hospitals einschließlich der Einkünfte aus Ablässen und Sammlungen. Sie sehen insbesondere die Auflösung aller Sonderetats und die Schaffung eines ›Globalhaushalts‹ vor, der von der kommunalen Pflegerkommission 127 Bonnardot, Registres Bureau de la Ville 1, Nr. 183 S. 103 f. (die fingierten Kranken, wohl die oben genannten »maraudi«, heißen hier »fors et valides contrefaisans les malades«). Der zweite Antrag schlug vor, »de adviser et eslire aucuns notables bourgois de lad(ite) Ville pour avoir le gouvernement et administracion du temporel dud(it) Hostel Dieu, en disant qu’ils n’estoient pas fort expers ne bons negociateurs pour gouverner les biens«. 128 Neben dem in der vorigen Anm. genannten Eintrag s. Bonnardot, Registres Bureau de la Ville 1, Nr. 184 f. S. 104 – 106 (1505 Apr. 5 u. 16) u. den arrÞt des Parlement vom 2. Mai, der aus den Registern des Parlement sowohl in jene des Bureau de la Ville (Nr. 187 S. 108 – 110) als auch in den ersten Band der neuen Serie von Rechnungsbüchern kopiert wurde, die die kommunale Hútel-Dieu-Kommission ab 1505 anlegte (gedruckt in: Brièle/Möring, Collection 3, S. 93 – 95).

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Reformdebatten (I): Domkapitel vs. Religiosen, Domkapitel vs. Kommune

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(im Beisein von Vertretern des Parlement und des Domkapitels) regelmäßig kontrolliert wird. Damit die Bürger die notwendige generelle Bestandsaufnahme durchführen können, müssen die Kanoniker ihnen die notwendigen Unterlagen überlassen; das gilt insbesondere für die Rechnungen aus der Ära des Magisters Le FÀvre. Auch für die Versorgung der Religiosen ist von nun an die Bürgerkommission zuständig. Sollte es Streit zwischen ihr und dem Domkapitel geben, reserviert das Parlement sich die Rolle des Schiedsgerichts.129 Diese Kräfteverschiebung passt so schön in die Großerzählung von der Kommunalisierung der Hospitäler, dass die Forschung allein mit ihr die Reform des Hútel-Dieu identifiziert und die gleichzeitig angestoßene, vom Kapitel betriebene Reform der Religiosen darüber vernachlässigt. Als Reformtexte sind die technisch-bürokratischen Anordnungen des Parlement wie auch die Akten des Bureau de l’Hútel-Dieu freilich von geringerem Interesse als die Debatten um die Religiosen, denen wir uns im Folgenden wieder zuwenden werden. Halten wir vorerst zwei Punkte fest: (1) Die Bourgeois von Paris bezeichnen die Insassen des Hospitals vorzugsweise als »malades«, während die Kanoniker weiterhin meist von »pauvres« sprechen. (2) Es besteht eine Diskrepanz in der Definition der Rechte, die der Kommune 1505 übertragen wurden: Handelte es sich lediglich um ein ›Outsourcing‹ der Verwaltungsarbeit an Fachleute, wie das Domkapitel es sah, das sich auch weiterhin als oberste Instanz in der geistlichen und weltlichen Jurisdiktion betrachtete? Oder besaßen das Parlement und das von ihm legitimierte bürgerliche Bureau de l’Hútel-Dieu seit 1505 die volle Gewalt über alle Temporalia?130 Im Sprachgebrauch des Kapitels überwiegen 129 S. vorige Anm. Das Zitat in Bonnardot, Registres Bureau de la Ville 1, Nr. 187 S. 108 (= Brièle/Möring, Collection 3, S. 93): »mauvais ordre tant au spirituel que temporel; et mesmement en ce qui concerne les pauvres malades que l’en dit n’y estre receuz et traictez comme il appartient«. 130 Das Parlement hatte den Kanonikern schon 1498 (Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. XIII S. 323, s. oben, Anm. 97 u. 106) gedroht, es würde ihnen »ihre zeitliche Herrschaft nehmen« (»prinse de leur temporel«). Das Kapitel fürchtete selbst, man könne das Hútel-Dieu an die Laien »verlieren« (Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1595, s. oben Anm. 114), und hätte lieber die ganze Gewalt »tam in spiritualibus quam temporalibus« behalten (Nr. 1613, s. oben Anm. 125). In seinem Gesuch an die Kommune formulierte es am 4. April 1505 vorsichtig, dass es nur »le gouvernement et administracion du temporel« (Bonnardot, Registres Bureau de la Ville 1, Nr. 183 S. 104, s. oben Anm. 127) abzutreten beabsichtige, während das Parlement am 2. Mai daran erinnerte, dass es das Kapitel schon lange vor der »privacion de la supperiorit¦ et administration« gewarnt habe (ebd., Nr. 187 S. 108 = Brièle/Möring, Collection 3, S. 93). Die bürgerlichen Hospitalpfleger heißen bei den Kanonikern »deputati de Villa pro temporalitate Domus« (z. B. Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1622 S. 281 f., 1505 Juni 23) oder häufiger »commissi [bzw. ähnlicher Ausdruck] ad regimen temporalitatis« (z. B. ebd., Nr. 1630 S. 284, Juli 14), später oft »gubernatores temporalitatis Domus Dei Parisiensis« (z. B. ebd., Nr. 1949 S. 350 f., 1521 Feb. 21). Das Kapitel ernannte am 17. April 1505 einen neuen Magister auf Vorschlag der »mercatorum Ville deputatorum ad regimen temporalitatis Domus Dei Parisiensis« (ebd., Nr. 1673 S. 298). Meine Bemerkung in Frank,

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Das Hôtel-Dieu von Paris

jedenfalls Formulierungen, die die bloße Verwaltungsfunktion der Pfleger betonen (»regimen«, »gubernatio«, »administratio temporalitatis«), von weltlicher iurisdictio war nicht die Rede. Konsens bestand zunächst nur über die Tatsache, dass die Jurisdiktion über die Spiritualia, und damit die Aufsicht über die Religiosen, beim Domkapitel verblieb. Wo jedoch die Grenze zwischen beiden Sphären zu ziehen war, musste sich in der Praxis erst noch erweisen. Die folgenden Jahre standen im Zeichen des Streits zwischen den neuen laikalen Verwaltern, die angesichts der mangelhaften Rechnungsführung die Hände über dem Kopf zusammenschlugen, und dem Kapitel von Notre-Dame, das die Verantwortung für diese Unordnung dem früheren Magister Le FÀvre zuschob und nur widerwillig mit den Bürgern zusammenarbeitete.131 Die Religiosen hingegen glaubten in den kommunalen Pflegern neue Verbündete gegen die Kanoniker gefunden zu haben und setzten den Kampf gegen ihre geistlichen Aufseher und die neuen Schwestern aus dem Dritten Orden des hl. Franziskus mehr oder weniger offen fort. Durch königliche Vermittlung einigten sich die Domherren zunächst mit den Franziskanerobservanten, die als Obere der Terziarinnen fungierten. Der Generalvikar der Franziskaner hatte an König Ludwig XII. den Entwurf einer Abmachung gesandt, mit der die Stellung der Schwestern im Hútel-Dieu und gegenüber dem Kapitel geregelt werden sollte. Der Text präzisiert die Vorschläge, die die Provisoren des Kapitels schon im Mai gemacht hatten.132 Der König drängte die Kanoniker, diesem Vertrag zuzustimmen. Die insgesamt sechs Paragrafen belassen dem Kapitel die Oberhoheit über die Kommunität, beschränken deren konkrete Ausübung jedoch auf wenige Momente: Es stimmt der Profess der Novizinnen zu, lässt sich die Konfessoren und den franziskanischen Visitator präsentieren, visitiert selbst das Haus wegen der armen Kranken und der Kontrolle der Güterverwaltung zweimal im Jahr und greift disziplinarisch nur bei Nachlässigkeit der Franziskaner ein, die das Leben der Kommunität ansonsten eigenständig kontrollieren. Der König fügt hinzu, dass die volle Jurisdiktion des Kapitels über die Religiosen insbesondere dann wirksam werden Tradition and Reform, Anm. 44, dass die Kommune 1505 die volle weltliche Jurisdiktion erhalten habe, ist zu differenzieren: Darüber bestand keine Einigkeit. 131 Zahlreiche Belege dafür in Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, v. a. Nr. 1632, 1658 (wo fr. Jean Le FÀvre an der Aufklärung beteiligt wird, der frühere Magister?), 1666, 1696, 1744, 1763, 1774, 1809, 1832 (1505 Juli 31 – 1511 Dez. 17). Dieser Streit wurde erst 1515 durch einen zäh ausgehandelten Kompromiss gelöst, s. Coyecque, L’Hútel-Dieu 1512, Nr. 49 u. passim bis Nr. 77 (1515 März 3 – Dez. 17); er brach aber schon 1517 erneut aus (Coyecque, L’HútelDieu 2, Nr. 1873, 1876, 1885, 1889, 1893, 1895, 1899, 1900 usw., 1517 Juni 22 – Dez. 16; Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. XVII S. 327, 1517 Okt. 7; ebd., S. 183). – Zu den Spannungen zwischen Domkapitel und Bureau de l’Hútel-Dieu wegen der Unterbringung der Syphiliskranken s. oben, Anm. 82. 132 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1635 S. 287 – 291 (1505 Aug. 4, inserierte Briefe des Königs von Juli 28 u. 30). Vgl. oben, Text bei Anm. 126.

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Reformdebatten (II): Das Hôtel-Dieu und Saint-Victor

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soll, wenn eine »difformit¦« von den Observanten nicht verbessert würde, und dass der Orden stets eine ausreichende Zahl von Schwestern zur Verfügung stellen müsse. Trotz des auch in diesem Dokument hochgehaltenen Reformanspruchs (Stichwort »difformit¦«) verlief das Experiment mit den Franziskaner-Terziarinnen letztlich im Sand, wahrscheinlich wegen des Widerstands der augustinischen Religiosen und ihrer Verbündeten. Zuletzt hört man von ihnen im Jahr 1510, als im Streit mit den Laienpflegern um die Abrechnungen auf eine Zahlung »für die grauen Schwestern, die zur Zeit der Reform in das Haus geführt worden waren«, hingewiesen wurde.133 Zu diesem Zeitpunkt war die Präsenz der Drittordensdamen, ja selbst die Reform an sich, offensichtlich schon Vergangenheit. Bei der Wahl einer neuen Priorin im Mai 1517 waren die jetzt insgesamt 34 augustinischen Religiosen (davon zwei Männer) jedenfalls wieder unter sich.134

4.

Reformdebatten (II): Das Hôtel-Dieu und Saint-Victor

Neue Spannungen Abgesehen vom Streit um die Buchhaltung, trug das Auslaufen des franziskanischen Experiments zur Beruhigung der Lage bei. Die Kanoniker gingen gegen disziplinarische Verstöße vor, doch es dauerte bis in die 1520er Jahre, bis wieder Klagen über Systemfehler aufkamen.135 Zu dieser Zeit hatte sich das Zweckbündnis zwischen den Religiosen und dem Bureau de l’Hútel-Dieu bereits aufgelöst. Im Sommer 1525 unternahm Jean BriÅonnet, Mitglied des Parlement und Präsident der Chambre des Comptes, einen Vorstoß, der darauf abzielte, zur Entlastung des aus allen Nähten platzenden Hútel-Dieu (12 – 15 Patienten pro Bett!) die gesamte Pariser Hospitallandschaft nach dem Vorbild von S. Spirito in Rom, Siena, Florenz, Lucca und Mailand umzugestalten: die Kranken besser (nämlich durch zentrale Koordination) zu verteilen und die verschiedenen Krankheitsfälle sowie Männer und Frauen säuberlich voneinander zu trennen.136 Das Parlement lehnte es unter Verweis auf die Zuständigkeit des Bischofs ab, sich mit einem so weitgehenden Plan zu befassen. Es unterstützte aber weiterhin 133 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1809 S. 327 (1510 Feb. 19): »misia facta pro sororibus griseis in eadem Domo, tempore reformacionis illius, adductis«. 134 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1869 f. S. 337 (1517 Mai 27 u. 29). 135 Einkerkerung von sorores: Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 1688 f. S. 301 (1506 Juli 1 u. 2), 1711 S. 305 (1507 Feb. 15). Klagen wegen »defectibus«: ebd., Nr. 1966 S. 353 (1522 Okt. 27), 1979 S. 355 (1523 Juni 25). 136 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. XXII S. 334 (1525 Juli 1).

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Das Hôtel-Dieu von Paris

Reformen im Hútel-Dieu, weil die Klagen über das Verhalten der Kommunität sich verdichteten. Diese Klagen haben sich in einer dichten Serie von Untersuchungen mit Zeugenverhören niedergeschlagen, die einen lebhaften Eindruck vom Alltag im Hútel-Dieu vermitteln.137 Nach dem Winter-Generalkapitel von 1530 befragten die Kanoniker, die als Provisoren des Hospitals fungierten, die Priorin, fünf Schwestern und einen Diener drei Tage lang über solche Vorgänge.138 Neben einzelnen Vergehen waren die Hauptthemen: die Präsenz von mindestens 80 unbefugten Personen im Haus (für die Kanoniker »maraudi«, für die meisten Schwestern Hilfspersonal), verbotene Kontakte zwischen Schwestern und männlichem Personal, Veruntreuungen besonders aus Mitteln der Altkleiderkammer (»poullerie«), eventueller Privatbesitz der Schwestern. Diese verteidigten sich damit, dass die Laienverwalter ihnen nicht genügend Mittel zur Verfügung stellten und die Insassen zu anspruchsvoll seien. Konsequenzen hatten die festgestellten Unregelmäßigkeiten vorerst nicht. Doch im Jahr 1531 war wieder offen von Reform die Rede: Eine Bitte des Domkapitels von Orl¦ans, einige Brüder und Schwestern aus Paris dorthin zu schicken, schlugen die Pariser Kanoniker nicht nur wegen des großen Andrangs von Armen ab, sondern vor allem »weil es gerade darum geht, einige Mängel im Hútel-Dieu von Paris zu reformieren«.139 Bis zum Jahr 1535 hatten sich die verschiedenen am Hútel-Dieu interessierten Gruppen wieder so ineinander verbissen, dass das Parlement sich einmal mehr gehalten fühlte, den Gordischen Knoten mit Hilfe eines neuen Vorschlags zu lösen. Die Religiosen verteidigten sich einerseits gegen die disziplinarischen Vorhaltungen der Reformfraktion des Domkapitels und klagten andererseits im Parlement gegen die kommunalen Verwalter der Temporalia, weil diese die traditionell aus der Kommunität besetzten Funktionsstellen mit externen Laien 137 Indizien für Schwierigkeiten sind neben den Zeugenbefragungen (v. a. im Karton AN, L 594; ausgewählte Fälle partiell ediert von Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. IX, XXV, XXVI, XXIX, XXXI, XXXVII, XXXIX) auch die Registereinträge von Notre-Dame, v. a. die jetzt immer ausführlicher protokollierten Generalkapitel im Hútel-Dieu mit Ermahnungen an die Religiosen, die pauperes gut (»caritative«) zu versorgen und Skandale zu vermeiden: Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 2007 S. 360 (1525 Dec. 28); Nr. 2013 S. 362 f., 2020 S. 363 f. (1526 Mai 23, Dez. 28); Nr. 2022 S. 365 – 367, 2027 S. 367 f. (1527 Feb. 24, Dez. 28); Nr. 2031 S. 369 (1528 Juni 3), 2050 S. 374 f. (1529 Mai 19), 2058 S. 376 (1530 Dez. 28). 138 Teiledition in Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. XXV S. 337 – 343 (1530 Dez. 28 – 30), vollständig in AN, L 594, Nr. 2, f. 1r–10r. In dieser Befragung finden sich die Aussagen, dass 1600 Kranke im Haus seien und bis zu 14 Kranke ein Bett nutzten (Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, S. 338, 340; AN, L 594, f. 1v, 3v); 1529 – 1530 grassierte eine europaweite Hungersnot. – Einblick in Probleme mit dem Keuschheitsgebot gibt ein Verhör von drei filles blanches am 23. Feb. 1533 (Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. XXVI S. 343 – 345; AN, L 594, Nr. 3). 139 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 2059 S. 377 (1531 Jan. 27): »attento precipue quod super nonnullis defectibus in eadem Domo Dei Parisiensi reformandis causa agitur«. Die Beschwerden setzten sich fort: ebd., Nr. 2064 S. 378 (1531 Mai 31).

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besetzten. Die Bürgerkommission stand ihrerseits mit den Kanonikern nicht nur wegen der nie definitiv geklärten Frage der Abrechnungen auf Kriegsfuß, sondern auch weil diese sich seit Längerem weigerten, ein benachbartes Haus der Domfabrik für den Ausbau des Hospitals zu verkaufen.140 Auf Druck des Parlement und des Könighofs setzte das Kapitel von NotreDame wieder einmal eine Reformkommission ein,141 die im März 1535 eine metapherngesättigte, aber umso pessimistischere Einschätzung vorlegte: Die Prüfung des Hospitals habe gezeigt, »dass von der Fußsohle bis zum Scheitel nichts Gesundes gefunden wurde und das Gold sich längst in Schlacke verwandelt hat; die Nächstenliebe ist eingeschlafen, die Frömmigkeit ist schlaff, die guten Sitten fehlen und das regelkonforme Leben hinkt.« Man habe die Statuten und die Erlasse des Kapitels sowie die Professformeln der Religiosen verglichen und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass »das genannte Hútel-Dieu an Haupt und Gliedern zu reformieren ist«.142 Unmittelbare Konsequenz aus dieser Diagnose war die Absetzung des amtierenden Magisters, der Priorin und ihrer Vertreterin und ihre Substitution durch einen externen Theologen bzw. zwei Schwestern aus dem Haus. Als die Spannungen sich im Laufe des Jahres intensivierten, verweigerten die Religiosen den Kommissaren den Gehorsam, weshalb diese wiederholt zurücktreten wollten, aber vom (in sich gespaltenen) Kapitel stets zur Weiterarbeit aufgefordert wurden.143 Da der frühere Magister gegen seine Absetzung klagte, fürchtete die Reformfraktion, »dass auf Antrag der Laienverwalter dem Kapitel wegen Vernachlässigung von Maßnahmen die geistliche Aufsicht über das Haus ganz weggenommen wird«.144 140 Den Prozess der Religiosen gegen die Bürgerverwalter wegen der Funktionsstellen übernahmen dann die Kanoniker : Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. XXVII S. 345 – 351 (1534, Okt. 16 – 1535 Mar. 27). Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 2090 S. 384, 2093 – 2096 S. 385 f., 2098 f. S. 386 f., 2102 S. 387 (1534 Feb. 20 – Juni 17), 2109 S. 388 f. (1535 Jan. 8). – Streit um das Haus der Domfabrik: ebd., Nr. 2036 S. 370 f. (1528 Sept. 28), 2043 S. 372 (1529 Feb. 12), aber auch schon früher; Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. XXIV S. 337 (1528 Dez. 11). 141 Reformkommission: Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 2110 S. 389 (1535 Jan. 11), 2112 S. 390 (1535 Feb. 5). Die als Kommissare fungierenden Kanoniker sind (die Namen gibt das in der nächsten Anm. zitierte Dokument): der Archidiakon Ludovicus du Bellay, der Poenitentiar Jacobus Merlin und Johannes Bertoul, Doktoren der Theologie. 142 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. XXVIII S. 352 (nach dem Archiv des Hútel-Dieu in den AAP; weitere Abschrift in AN, L 591, Nr. 10): »quod a planta pedis usque ad verticem capitis non inveniebatur sanitas et quod jam aurum conversum est in scoriam, et resorguit [sic! für resopivit oder resorduit? (ist verächtlich geworden)] charitas, languet devotio, deficient mores boni, et vita regularis claudicat«. Weiter unten: »Domum Dei prememoratam in capite et membris reformandam fore«. S. auch Chevalier, L’Hútel-Dieu, S. 207 – 209. 143 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 2116, 2118, 2119 S. 391 f. (1535 Jul. 2 – 19) u. der in der nächsten Anm. zitierte Registereintrag. 144 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 2121 S. 394 (1535 Juli 30): »quod ad clamorem provisorum laicorum omnimoda auctoritas spiritualitatis ipsius Domus capitulo aufferetur ob negligenciam providendi«. Ähnlich auch ebd., Nr. 2129 S. 396 (1535 Sept. 3).

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Die Befürchtung war nicht unberechtigt, denn inzwischen hatte das Parlement seinen neuen Lösungsvorschlag in Form einer verbindlichen Anordnung publik gemacht: Am 13. September 1535 wurde bekannt, dass das Parlement angesichts der Verzögerungen, mit denen das Domkapitel bis dahin zu Werke gegangen waren, eine neue Reformkommission ernannt hatte: Ihr gehörten neben zwei Kanonikern – den bisherigen Kommissaren Merlin und Bertoul – als »Ratgeber« der Abt des Pariser Regularkanonikerklosters St-Victor und der Prior des St-Victor assoziierten Klosters St-Lazare (St-Ladre) an.145 Das Engagement des ebenfalls nach der Augustinusregel lebenden Ordens von St-Victor stellte das Kapitel von Notre-Dame vor Herausforderungen, deren Echo auch an den Hof König Franz’ I. und bis an die römische Kurie drang. Denn letztlich wäre dies darauf hinausgelaufen, die geistliche Jurisdiktion über die Hospitalkommunität auf die Viktoriner zu übertragen. Die Initiatoren hofften, die Religiosen des Hútel-Dieu durch den Einsatz vorbildlicher Mitbrüder und Oberer aus St-Victor reformieren (und teilweise durch Viktorinerinnen ersetzen) zu können. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Am hinhaltenden Widerstand des Domkapitels und an der Aufsässigkeit der Hospitalkommunität scheiterte auch dieser Versuch nach wenigen Jahren.146

Erste Diskussionen um eine Beteiligung von St-Victor Die Abtei St-Victor, eine der bekannstesten und ehrwürdigsten religiösen Institutionen von Paris, hatte sich 1513 – nach längerem Vorlauf und nicht ohne Widerstände – der Windesheimer Reformkongregation angeschlossen.147 Zwei Jahre später, 1515, erhielt sie neue Statuten und wurde als Zentrum der »zweiten Viktoriner-Kongregation« auch Schauplatz von deren erstem Generalkapitel. Zwei Kanoniker von Notre-Dame nahmen diese Reformstatuten von St-Victor genau unter die Lupe und versahen ihre Exzerpte mit Randnotizen.148 Exakt zu 145 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 2131 S. 396 (1535 Sept. 13); s. auch die Abschriften des arrÞt in AN, L. 591, Nr. 12, 13 u. 15. Nach einer von Coyecque gedruckten Notiz des 18. Jh.s eröffnen Kopien der Bevollmächtigung Merlins und Bertouls durch das Kapitel und des entsprechenden arrÞt des Parlement das 1535 neu verfasste Statutenbuch; in der Edition der Statuten von Jéhanno, L’alimentation hospitaliÀre, fehlen diese Dokumente. 146 Bonnard, Histoire 2, S. 18 – 21; Chevalier, L’Hútel-Dieu, S. 206 – 234. 147 Zur Ausbreitung der Windesheimer Kongregation im Raum Paris s. Le Gall, Les moines, S. 40 f., der sich u. a. auf Bonnard, Histoire 1, S. 441 – 470, u. 2, S. 1 – 17, stützt. Zur allgemeinen Geschichte der Kongregation und ihren frühen Beziehungen zu St-Victor s. Lorenz, Zu Spiritualität und Theologie; Jocqué, St-Victor. 148 AN, L 592, Nr. 1bis, Heft aus vier Pergamentblättern (beschrieben f. 1r–4r). Auf die Haupthand (Leser A), die die Exzerpte geschrieben hat, geht auch der größte Teil der Randnotizen zurück; eine zweite Hand (Leser B) fügte weitere Bemerkungen ein. – Die

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datieren sind diese Kommentare nicht, da die einzige Zeitangabe im Text sich auf die Verabschiedung der Statuten von St-Victor am 1. August 1515 bezieht. In Frage käme ein Zeitraum zwischen diesem Terminus post quem und den 1530er Jahren, als das Engagement von St-Victor im Hútel-Dieu Realität wurde; vereinzelte Indizien im Text sprechen für das Jahr 1535.149 Die Kanoniker wollten die Frage beantworten, ob die Normen, nach denen die Viktoriner und deren weiblicher Zweig lebten, mit denen der Religiosengemeinschaft des Hútel-Dieu und den spezifischen Bedürfnissen eines Hospitals vereinbar waren. Zwar war die gemeinsame Grundlage für beide Gruppen die Augustinusregel, doch da dieser sehr allgemein gehaltene Text nicht ohne präzisierende Zusatzbestimmungen verwendbar war, mussten auch diese überprüft werden: Das waren auf der einen Seite die Reformstatuten von St-Viktor, auf der anderen Seite die alten Statuten des Hútel-Dieu von circa 1220, die Privilegien des Kapitels von NotreDame und das allgemeine Kirchenrecht. Der erste der beiden Kommentatoren (Leser A) achtet mehr auf die Privilegien des Domkapitels, auf die Statuten des Hútel-Dieu und auf praktische Widersprüche, während der zweite (Leser B) die Belege aus dem Kirchenrecht beisteuert und vor allem kanonistisch argumentiert. Die Themen, die sie besonders interessieren, sind (1) Wahl und Kompetenzen des Oberen (des Abtes oder der Leiter der einzelnen Häuser in der Kongregation von St-Victor, des Magisters im Hútel-Dieu), (2) Profess und Rechtsstellung der Religiosen, (3) liturgische Vorschriften und (4) praktische Probleme. Hinter ihrer Argumentation steht immer die Frage, welche Folgen es hätte, wenn die Statuten von StVictor auf das Hútel-Dieu angewandt würden. Ad (1): Die Wahl des Abtes oblag den einzelnen viktorinischen Konventen und wurde, da St-Victor nicht exemt war, vom Bischof von Paris bestätigt.150 Wollte man dies auf das Hútel-Dieu übertragen, wäre das Kapitel von NotreDame aus dem ganzen Verfahren ausgeschlossen: »contra privilegium et capitulum insignis ecclesie parisiensis«, vermerkt Leser A am Rand dazu. Dass der Obere eines Konvents seinen Kanonikern oder fratres erlauben konnte, eine Pfründe anzunehmen, sei hingegen »contra statuta Domus Dei …«151 Gegen Konstitutionen der Viktoriner von 1515 sind nicht ediert. Bemerkungen zu einigen Handschriften in der Edition der Consuetudines des 12. Jh.s: Jocqué/Milis, Liber, S. LII. 149 AN, L 592, Nr. 1bis, f. 1r : »Collecta ex libris institutionum regularium canonicorum sub congregatione sancti Victoris reformatorum anno domini Millesimo quingentesimo quinto decimo kalen(dis) augusti.« Indizien für die Datierung unten, Anm. 154; die Frühdatierung in Frank, Tradition and Reform, Anm. 46, ist entsprechend zu korrigieren. 150 AN, L 592, Nr. 1bis, f. 1r, Exzerpt aus Kap. I (De electione) der Konstitutionen (1515) von StVictor. Die Kapitel- und Buchangaben sind hier und im Folgenden aus den Exzerpten des Hútel-Dieu übernommen. Zum Gehorsamseid der Äbte an die Bischöfe s. Bonnard, Histoire 1, S. 442 – 444. 151 AN, L 592, Nr. 1bis, f. 1r, Exzerpt aus demselben Kap. I. Die Notiz (Hand A) geht mit »et« und einigen unleserlichen Wörtern noch weiter.

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dieselben Rechte – die Privilegien von Notre-Dame oder die Statuten des Hospitals oder beide zusammen – verstoße es, wenn der Abt den Religiosen die Beichte abnehmen und die untergeordneten Ämter besetzen dürfe und bei der Ämtervergabe oder gar bei der Veräußerung von Gütern nur gehalten sei, einige ältere fratres zu Rate zu ziehen.152 Ad (2): Ausführlich vergleichen die beiden Gutachter die Professformel der Kongregation von St-Victor mit derjenigen des Hútel-Dieu. Beide werden wörtlich zitiert. Die Formel der Viktoriner beginnt »Ich Bruder N. verspreche, wenn Gott hilft, dauernde Keuschheit, Verzicht auf Eigentum und Gehorsam …«,153 während die Religiosen des Hútel-Dieu vor dem Kapitel von Notre-Dame das folgende Gelübde abgeben: »Ich Bruder [N.] gelobe und verspreche Gott, der hl. Jungfrau Maria und allen Heiligen Armut, Keuschheit, Gehorsam und den geistlichen Dienst an den Schwestern, Mädchen und Armen an allen Tagen meines Lebens im Hútel-Dieu von Paris …«154 Die Unterschiede zwischen diesen beiden Formeln scheinen unseren Lesern einen etwas ausführlicheren Kommentar wert zu sein, in dem B seine kanonistischen Kenntnisse zur Geltung bringt. Er merkt zur Formel der Viktoriner an: Im spanischen Konzil, nach dem Konzil von Chalkedon, und im Kanon »Nona actione« (Decr. Grat. C. 16 q. 7 c. 22) wird verboten, Menschen, die in der Profess ungleich sind, zusammenzubringen, und so auch im göttlichen Gesetz, wenn Mose sagt »du sollst 152 AN, L 592, Nr. 1bis, f. 1v, 2r, Exzerpte aus Kap. II (De abate) u. einem Kap. »De procuratore«. Zum Thema Beichte unterschlagen die Kommentatoren, dass schon in den Statuten des Hútel-Dieu von ca. 1220 in einer Liste möglicher Konfessoren auch der Abt von St-Victor genannt worden war (Le Grand, Statuts, S. 52 Kap. 68). 153 AN, L 592, Nr. 1bis, f. 2v, Exzerpte aus Kap. II des zweiten Teils der Konstitutionen (1515) von St-Victor : »Ego frater N. promitto Deo auxiliante perpetuam continentiam, carentiam proprii et obedientiam tibi pater (sic!) et successoribus tuis canonice instituendis secundum regulam beati Augustini et secundum constitutiones capituli nostri generalis …« 154 AN, L 592, Nr. 1bis, f. 2v : »Ego fr(ater) voveo ac promitto Deo, beate Marie virgini et omnibus sanctis paupertatem, castitatem, obedientiam et servire in divinis sororibus, filiabus et pauperibus omnibus diebus vite mee in domo Dei parisiensi, secundum regulam sancti Augustini accomodatam statui nostro et statuta reformationis auctoritate vestra facte (sic!) ad honorem Dei et beatissime Marie virginis, sanctorum Iohannis baptiste et Augustini patronorum nostrorum.« Die Quelle der Professformel des Hútel-Dieu ist nicht bekannt, doch zeigt ein Vergleich mit der französischen Formel, die in den Reformstatuten von 1535 überliefert ist (Jéhanno, L’alimentation, S. 139 Kap. 37 für die Männer, ähnlich S. 149 Kap. 95 für die Frauen), dass die soeben zitierte Professformel entweder aus der lateinischen Fassung dieser Statuten stammt oder auf dieselbe Quelle zurückgeht. Den offenen Bezug des Possessivpronomens »auctoritate vestra« klärt der Text von 1535, wo es nach »l’hostel Dieu de Paris« zusätzlich heißt: »ou ailleurs s’il m’est enjoinct par vous mes superieurs« (»oder anderswo, wenn es mir durch Euch, meine Oberen, befohlen wird«). Deshalb – v. a. wegen des Verweises auf »statuta reformationis« – ist der Kommentar in AN, L 592, Nr. 1bis, wahrscheinlich parallel zur Abfassung der Reformstatuten von 1535 entstanden (vgl. unten, Anm. 166 ff.). Vgl. auch das oben, Anm. 142, zitierte Dokument vom März 1535: Vielleicht sind Leser A und B mit den Kanonikern Merlin und Bertoul identisch?

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nicht Rind und Esel zusammen an den Pflug spannen« (Dt 22,10), das heißt: Stecke nicht Männer mit unterschiedlicher Profess zusammen. Denn diejenigen, deren Ausbildungen und Gelöbnisse unterschiedlich sind, können nicht zusammenhalten und -kommen. Diese hier [die Viktoriner] geloben nicht, sondern versprechen, [nicht] zu tun, was auch Laien zu tun verboten ist (Decr. Grat. Dist. 44, Kapitel unklar), da es ja heißt, dass er nicht in Geiz verfallen soll oder in Missbrauch des Eigentums; siehe auch ebenda »Non satis« und das Kapitel »Non vult« (Decr. Grat. Dist. 86 c. 14 und 15). Sie beziehen ihre Einkünfte und leisten die Profess deshalb unter Bedingungen, nämlich »wenn Gott hilft« etc.: Wenn Gott helfen sollte, dann versprechen sie, es zu erfüllen, andernfalls sind sie nicht dazu verpflichtet (X 3.35.2).155

Am Rand der von den Religiosen des Hútel-Dieu geprochenen Professformel setzen die beiden Kanoniker ihren Kommentar wie folgt fort: (Hand A) Allgemeine und zum Glauben gehörige Bedingungen, die sich von selbst verstehen und, sofern sie angeführt werden, jenes Gelübde entkräften, werden [in dieser Formel des Hútel-Dieu] nicht angeführt. (Hand B) 22 q. 2, »Ne quis« (Decr. Grat. C. 22 q. 2 c. 14) und Kapitel 2 »De res(criptis)« vorne (X 1.3.2) und Kapitel 2 »De cler (icis) [coniugatis?]« (X 3.3.2?); das Kapitel »In electionibus« (VI 1.6.2) und der Urteilsspruch des Papstes sagen: »Gelübde/Wahlstimmen unter Bedingungen missbilligen wir«, weil sie keine sichere Zustimmung ausdrücken.156

155 AN, L 592, Nr. 1bis, f. 2v, am Rand (Hand B): »In consilio hispalensi iuxta calsedonense consilium et in canone ›In nona actione‹, 16 q. 7 disp(ar)es in professione sociare, etiam in lege divina prohibetur, dicente Moyse: ›ne arabis in bove et asino‹, id est homines diverse professionis simul non sociabis. Nam coherere et convergi non possunt quibus studia et vota sunt diversa. Non vovent, sed promittunt [non] facere quod laicis prohibetur ne faciant, 44. di., sicut h(abetu)r ne in avaritiam incidat aut in abusum proprii; 86 di. ›Non satis‹ et c. ›Non vult‹ ibidem. Recipiunt reditus suos et ideo con (sic!) conditionibus professiones faciunt, scilicet ›Deo auxiliante‹ etc.: si Deus auxiliaverit, promittunt facere, alias non ten(entur); r(ubrica) ›Monachi‹ ›de statu monachorum‹ in an(te).« – Zur Erläuterung: Der ganze erste Teil (bis »sunt diversa«) folgt teils wörtlich dem genannten Kapitel aus Gratians C. XVI, wo auch Dt 22,10 korrekter zitiert ist (»non arabis in bove simul et asino«); freilich handelt dieser Kanon vom Verbot, kirchliche Verwaltungsämter an Laien zu geben, nicht von verschiedenen Religiosen. Auf welches Kapitel von Dist. 44 hier angespielt wird, ist nicht klar, vielleicht auf Gratians Schlusszusammenfassung. Die Quelle des Spruches über den Geiz ist nicht feststellbar ; c. 14 in Dist. 86 verlangt Freigebigkeit gegenüber den Bedürftigen, dies aber (nach c. 15, das korrekt mit »Dominus non vult« beginnt) in vernünftigen Maßen. Die Dekretale »Monachi« verbietet Religiosen u. a. die Annahme von Privateigentum. Die genannten Stellen in Friedberg, Corpus 1, col. 806 f., 156 – 160, 300 f., und Corpus 2, col. 596 f. 156 AN, L 592, Nr. 1bis, f. 2v, am Rand (Hand A): »conditiones generales et fideles que de per se intelliguntur et apposite vitiant votum illum non apponuntur.« Hand B: »22 q. 2. ›Ne quis‹ et c. 2 ›De res.‹ in an(te) et c. 2 ›De cler. [coniugatis? Wort oder Wörter nicht lesbar]‹; c. ›In electionibus‹ ac sententia summi pontificis est dicens: ›vota conditionalia reprobamus‹ quia certum consensum non exprimunt.« – Erläuterung: Das zitierte Kapitel aus Gratians C. XXII befasst sich mit mehr oder weniger verbotenen Stufen der Lüge (aus Augustinus’ Psalmenkommentar). Für die erste genannte Dekretale kommt am ehesten der Titel »De rescriptis« in Frage, dessen c. 2 die Wahrheitsbedingung in päpstlichen Reskripten präzi-

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Leser A hebt damit hervor, dass man dieser Professformel nicht vorwerfen kann, sie schränke ihr Versprechen durch Konditionen ein, wie es hingegen bei »jenem Gelübde«, nämlich dem der Viktoriner, angeblich der Fall ist; sein Kollege trägt Belege aus dem Kirchenrecht nach. Dass die Profess für sie ein entscheidender Punkt ist, lässt bereits eine Anmerkung zur Wahl des Oberen erkennen: Wenn die Viktoriner gehalten sind, vor jedem neuen Abt ihre bei der Profess geleisteten Versprechen zu wiederholen, so zeige das doch, merkt Hand A an, »dass ihre Professleistungen keine Gelübde sind, denn Letztere werden niemals wiederholt«.157 In ihrem Vergleich der beiden Professformeln begnügen sich die beiden Kanoniker nicht damit, die Unvereinbarkeit der beiden religiösen Gruppen rechtlich zu begründen, sondern greifen die Ordensgelübde der Viktoriner grundsätzlich an: Deren Selbstverpflichtung geht ihnen, was die Fundamentalnorm der Armut angeht, nicht weit genug; es scheint ihnen daher kein Zufall zu sein, dass sie unter die kirchenrechtlich bedenkliche Kautel »wenn Gott hilft« gestellt ist, wodurch sie weniger verlässlich wirkt als die der Religiosen des Hútel-Dieu. Allerdings ist die kanonistische Argumentation von Leser B nicht sehr solide: Von der Gratian-Stelle (C. 16 q. 7 c. 22) mit dem Vers aus dem Deuteronomium und von der Dekretale »Monachi« abgesehen, sind seine Allegationen vage bis unverständlich, und wo er sich auf eine scheinbar besonders einschlägige Norm beruft – die Dekretale aus dem Liber Sextus – trifft diese den Nagel nur für den Fall auf den Kopf, dass man über den Doppelsinn des Wortes votum großzügig hinwegsieht. Weitere Vorschriften, die auf den von den beiden Kritikern abgelehnten m¦nage — trois zwischen St-Victor, den Religiosen und dem Domkapitel nicht zu passen scheinen, handeln von der Bestrafung schwerer Vergehen der Religiosen und von dem Verbot, wegen interner Probleme Hilfe von außenstehenden, einflussreichen Personen zu erbitten. Eigentlich hatte die Reformfraktion im Kapitel von Notre-Dame ja gerade mit diesem letzteren Phänomen leidige Erfahrungen gemacht – es sei nur an ihre Klagen über die mächtigen Verbündeten der Religiosen in der Stadt Paris erinnert. Doch da die beiden Kommentatoren offenbar fürchten, dass dieser Paragraf auf das Domkapitel selbst angewandt und als »außenstehende« Personen vor allem die Kanoniker exkludiert werden könnten, sieht Leser A darin eine »totale Enteignung der Oberen des Hútel-Dieu [also des Kapitels] und ihrer Rechte«. Was die Gestaltung der Strafen angeht, ist siert. Die zweite Dekretale, für die außer in c. 2 des Titels »De clericis coniugatis« im Liber Extra keine anderen sinnvollen Bezüge zum Thema zu finden sind, könnte hier deshalb allegiert worden sein, weil sie von einem Gelübde (aber vom Keuschheitsgelübde!) handelt. Das Zitat aus dem Liber Sextus, wo Papst Innocenz IV. von »vota« im Sinn von Wahlstimmen spricht (»vota conditionalia […] in electionibus«), ist eine Paraphrase. Die genannten Stellen in Friedberg, Corpus 1, col. 871, und Corpus 2, col. 16 f., 457(?), 946. 157 AN, L 592, Nr. 1bis, f. 1r, am Rand (Hand A): »constant professiones eorum non esse vota que nunquam iterantur«.

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es für ihn schlicht unsinnig, dass ein abtrünniger frater unter anderem mit dem Verlust seines »Stimmrechts im Kapitel« bedroht wird, denn: »Keiner der Brüder des Hútel-Dieu wird sich auf das Kapitel von Notre-Dame beziehen.«158 Ad (3): Es kommt hinzu, dass auch die liturgischen Pflichten der Regularkanoniker von St-Victor nicht zur Arbeit eines Hospitalreligiosen passten: Von diesem kann man nicht verlangen, Nokturn und Matutin zu singen, und er braucht wegen seines Dienstes an den Schwestern und den Armen eine viel größere Bewegungsfreiheit als die mönchsähnlich lebenden Viktoriner.159 Ad (4): Das leitet zu weiteren praktischen Problemen über, wie zum Beispiel dem, dass Viktoriner-Häuser in der Einsamkeit liegen sollen, was Leser A mit der knappen Bemerkung abtut, dass das Hútel-Dieu zu so beschaulicher Isolierung wohl kaum in der Lage sei.160 Die beiden Gutachter des Domkapitels kommen in ihrem Kommentar zur Verträglichkeit der Statuten von St-Victor mit dem Rechtsstatus des Hútel-Dieu zu durchgehend negativen Ergebnissen. Sie argumenierten überwiegend mit den Privilegien von Notre-Dame und mit den seit langem geltenden Statuten des Hospitals (zum Beispiel in Bezug auf Wahl und Funktionen des Oberen oder auf das Disziplinarrecht). Auf positive Sätze des Kirchenrechts und überpositive Normen (»in lege divina« – Mose) greifen sie insbesondere dort zurück, wo sie die Andersartigkeit der beiden Gemeinschaften anhand des Vergleichs ihrer Professformeln zu erweisen suchen und dabei die Solidität des viktorinischen Gelübdes überhaupt in Zweifel ziehen. Wenn schon die Profess, der Ausgangspunkt jeden religiösen Lebens, in verschiedene Richtungen weist, dann folgt daraus eine grundsätzliche, unheilbare Differenz. Die praktischen Schwierigkeiten (Liturgie, Hospitalfunktion), auf die die Gutachter zusätzlich hinweisen, mögen dieses Hauptargument stützen; ihr eher willkürliches Hantieren mit kanonistischen Allegationen würde einem juristischen Gegengutachten allerdings zahlreiche Ansatzpunkte bieten. Es ist nicht bekannt, ob das Domkapitel versucht hat, mit diesem Text tatsächlich an die Öffentlichkeit zu treten. Doch in jedem Fall sind die dort gesammelten Argumente symptomatisch für die inzwischen sehr ambivalente Haltung der Kanoniker in Sachen Hospitalreform. Seit das Parlement die Re158 AN, L 592, Nr. 1bis, f. 3r, Exzerpt aus Kap. II (De congregando capitulo) des ersten Buches, dazu am Rand (Hand A): »Superiorum domus Dei et iurium eorum omnimoda privatio«. Ebd.: Exzerpt aus Kap. VII (De gravioribus culpis), Buch II, zweiter Teil: im zitierten Statutentext »… voceque capitulari carebit«; dazu am Rand: »Nullus fratrum religiosorum domus Dei ad parisiense capitulum recurret.« 159 AN, L 592, Nr. 1bis, f. 3v, Exzerpte aus Kap. III (De horis dicendis) u. aus Kap. IX (De silentio et labore) des dritten Teils. 160 AN, L 592, Nr. 1bis, f. 3v, Exzerpte aus Kap. VIII, Buch I, dazu am Rand (Hand A): »contra incapacitatem Domus Dei«.

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forminitiative mehr und mehr in die eigene Hand genommen hatte und die kommunale Verwaltungskommission allenthalben Veränderungen einforderte, hatte das Kapitel seine Politik neu ausgerichtet: Es war von seiner um 1500 noch lautstark gegen die Hospitalkommunität vorgetragenen Forderung nach einer Reform abgekommen und tendierte nun, in den Jahren um 1530, nach den ermüdenden Streitereien mit den Laienverwaltern um Kosten und Abrechnungen, eher dazu, weitere Reformen zu bremsen; dies hatte sogar zur Folge, dass es sich den Religiosen wieder annäherte, trotz aller durch den Kampf um die Disziplin erzeugten Spannungen.161 Den Kanonikern war klar, dass sie bei weiteren Reformen ihre Aufsichtsrechte über das Hútel-Dieu vollends einbüßen könnten.

Die Reformstatuten von 1535 Das wichtigste Produkt der vom Parlement gewünschten viktorinischen Reform ist ein neues Statutenbuch für das Hútel-Dieu. Von der Notwendigkeit einer solchen Neuredaktion war seit 1534 die Rede, doch dürften die Beschlüsse vom September 1535 Anlass gegeben haben, die Niederschrift zu beschleunigen.162 Die beiden Reformvikare des Kapitels, der Pönitentiar Merlin und Bertoul, gingen ihre Aufgabe systematisch an: Zunächst befragten sie zwölf Tage lang eine repräsentative Auswahl von Angehörigen des Hútel-Dieu.163 Neben dem Prior hörten sie vier Brüder, elf Schwestern einschließlich der Priorin, acht weibliche und männliche Kranke, fünf männliche Angestellte, sieben zusätzlich eingestellte Kapläne, zehn Chorknaben (»pueri novicii«), zwei filles blanches – insgesamt 48 Personen. Sie fragten sowohl nach teils schon bekannten, da von anderen denunzierten individuellen Vergehen (Gewalttätigkeiten, Schwangerschaften der sorores, Veruntreuungen und vieles mehr) als auch nach generellen Missständen zum Beispiel bei den Essensrationen oder bei der Versorgung der Kranken. Die Kranken selbst klagten viel mehr über das Essen und die »maraudi« als über die Behandlung durch die Schwestern. Das Fehlen eines Arztes wurde hingegen nicht von ihnen, sondern von den Schwestern bemängelt. Der Prior, der vom Kapitel erst im Vorjahr eingesetzte Doktor der Theologie Johannes Mailly, gab offen zu, dass er bei den Religiosen kaum Gehorsam fand. Es fällt auf, dass nach seinen Angaben nur einer der vier männlichen Religiosen die Priesterweihe hatte, obwohl das teils lateinische, teils französische Unter161 Vgl. zu diesem Kurswechsel auch Chevalier, L’Hútel-Dieu, S. 200 f. 162 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 2098 S. 386 (1534 Apr. 13) u. oben, Anm. 145. 163 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. XXIX S. 353 – 364 (1535 Okt. 4 – 15); vgl. AN, L 594, Nr. 4 (32 ungezählte Blätter). Coyecques Wiedergabe des langen Verhörprotokolls ist sehr lückenhaft, seine Auswahlkriterien sind unklar.

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suchungsprotokoll drei von ihnen als »presbiter« oder »prestre« bezeichnet. Die liturgische Arbeit lastete allerdings vorwiegend auf den zusätzlich beschäftigten Kaplänen, von denen manche in puncto Missgunst den Vergleich mit den Religiosen nicht zu scheuen brauchten. Nur wenige Befragte mahnten eine Reform an oder gebrauchten das Wort »reformation«:164 Die meisten konzentrierten sich darauf, ihre Sünden zu entschuldigen. Es ging bei dieser Befragung nicht um disziplinarische Einzelmaßnahmen, sondern darum, Informationen für die Statutenredaktion zu sammeln. Die Mitwirkung des Viktorinerordens war von nun an Tatsache; zwar blieben die neuen Ratgeber der Befragung zunächst fern, doch stieß der Abt von St-Victor während der Vernehmung des Magisters hinzu.165 Auch in ihrer Präambel zu der im Herbst 1535 verabschiedeten neuen Satzung erwähnen die beiden Autoren, die sich hier als Theologen bezeichnenden Kanoniker Merlin und Bertoul, die Beratung durch den Abt, den Prior von St-Lazare, aber auch durch zwei von den Laienverwaltern und mehrere andere, nicht namentlich genannte Persönlichkeiten, »die in den Geschäften der geistlichen und weltlichen Sphäre erfahren und bewandert sind«.166 Das Ergebnis war eine explizit als Reformtext deklarierte Neuregelung. Sie soll im Folgenden genauer untersucht werden. Die beiden Statutenverfasser gehen sofort in medias res und legen ihr Reformziel programmatisch dar. »Wir verkünden«, schreiben sie, dass das Hútel-Dieu von uns an Haupt und Gliedern reformiert werden muss und wird, damit in Zukunft die Armen, die dort sind und Tag für Tag dorthin strömen, mit Liebe und Mitleid aufgenommen und sorgfältig, mild und freundschaftlich behandelt, ernährt und unterhalten werden; und damit sie mit den für sie und ihre Notlage passenden und angemessenen Lebensmitteln sowie mit allen anderen ihrer Genesung notwendigen und geschuldeten Dingen versorgt werden, und zwar in perfekter, reiner und vollständiger Liebe ohne Täuschung und so, dass die gebotene hospitalitas und die mitleidige und löbliche Absicht der Wohltäter dort gewahrt werden.167 164 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. XXIX S. 354 (fr. Claudius Paris soll schlecht von der »reformation« geprochen haben), S. 359 (für sr. Alis Lanbine ist das Verhalten der filles blanches das dringendste Problem »— reformer«). 165 Vermerk in AN, L 594, Nr. 4, 1. Faszikel, Bl. [2r] (nicht bei Coyecque). 166 Jéhanno, L’alimentation hospitaliÀre, S. 131: »experts et usitez en affaires de spiritualit¦ et temporalit¦«. Die sechs namentlich Genannten unterschreiben die Satzung (ebd., S. 162). – Das Pergamentheft aus dem Archiv des Hútel-Dieu (in den AAP), das den französischen Text enthält, hat keine Datierungshinweise. Die zunächst lateinische Niederschrift muss zwischen 15. Oktober und Ende 1535 erfolgt sein; beim Generalkapitel des Hútel-Dieu am 28. Dezember wurden der Bericht der Reformkommission verlesen und die lateinischen Statuten einem Notar zur Übersetzung ins Französische und zur Weitergabe an die Religiosen überreicht (Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 2132 S. 397). 167 Jéhanno, L’alimentation hospitaliÀre, S. 131: »Nous […] prononÅons que led(it) hostel Dieu doit estre et sera par nous refform¦ en chefz et en membres affin que pour l’avenir les paouvres qui sont en icelluy et qui y affluent de jour en jour y soient receuz en charit¦ et

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Selten ist das Idealprogramm einer spätmittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Hospitalreform so komprimiert formuliert worden wie hier. Die Schlüsselwörter aus dem Wortfeld hospitalitas ergießen sich hochdosiert auf Leser und Hörer, also auf die Kommunität der Religiosen: Nächstenliebe, Mitleid, Freundschaft, authentische Gefühle der Solidarität sind der Antrieb, Sorgfalt und das individuell Angemessene sollen herrschen, und so wird man auch den Absichten der Stifter gerecht. Diesem für die Zukunft entworfenen Reformziel, aber auch den guten Anfängen steht die traurige Realität der Gegenwart entgegen, wie sie bei der eigens erwähnten Visitation des Hútel-Dieu vom Oktober 1535 zutage getreten war. »Der gute anfängliche Samen« wurde durch Missachtung der Regel, Laster und schlechte Gewohnheiten fast zerstört, der Dienst an Gott und die Liebe zu den kranken Armen aufgegeben: ein riesiger Schaden für die Kranken, das Seelenheil, die Ehre Gottes und für die guten Absichten der Wohltäter.168 Damit sich dies zum Besseren wendet, damit die wahre Verehrung Gottes und das Mitleid, die Güte und Liebe zu den armen menschlichen Geschöpfen von jetzt an wieder in Blüte und Kraft gebracht, wiederhergestellt und wieder vervollständigt und in der Folge zusammengehalten werden; damit in Zukunft der Gottesdienst andächtiger und frommer als üblich gefeiert, damit die Absichten der lebenden und toten Wohltäter eingehalten […] und die kranken Armen liebevoll mit allem Notwendigen versorgt werden, haben wir angeordnet und ordnen wir an, dass die Brüder, Schwestern und Töchter des Hútel-Dieu von nun an unter der Regel leben werden und leben müssen und sich dem Leben und den Gebräuchen der männlichen und weiblichen Religiosen des reformierten Ordens der Regularkanoniker des hl. Augustinus anzupassen haben, soweit es das Erfordernis der hospitalitas erlauben und dulden kann.169

Noch einmal werden die Topoi des schon vorher formulierten Reformideals wiederholt, frei von protestantischen Anfechtungen (die im Paris der 1530er Jahre durchaus präsent waren), aber dafür mit einer erneuten Erinnerung an die compassion et traict¦s, nourriz et entretenuz songneusement, doulcement et amyablement et que a iceulx soit pourveu de vivres convenables et opportuns a leurs personnes et indigence et de toutes autres choses necessaires et duysantes a recouvrer leur sant¦ en parfaicte, pure et entiere charit¦ sans fiction et en sorte que deue hospitalitt¦ et la pitoiable et louable intencion des bienfaicteurs y soit gardee.« 168 Jéhanno, L’alimentation hospitaliÀre, S. 131 f.: »la bonne et premiere semence«. 169 Jéhanno, L’alimentation hospitaliÀre, S. 132: »affin que le vray honneur, service et devotion envers Dieu et la compassion, benignit¦ et charit¦ envers le paouvres creatures humaines soit reduicte, reparee et reintegree derechef en sa fleur et vigueur et cy aprÀs consequamment soit conservee ensemble, que pour l’avenir le service divin soit celebr¦ plus reveramment et plus religieusement qu’il n’a acoustum¦ et que l’intencion des bienfaicteurs vivans et trespassez soit tenue […] et qu’il soit pourveu charitablement de toutes choses necessaires aux paouvres mallades nous avons decret¦ et ordonn¦, decretons et ordonnons, que les freres, seurs et filles d’icelluy hostel Dieu viveront et seront tenuz vivre doresnavant soubz observance reguliere et soy conformer a la vie et meurs des religieux et religieuses de l’ordre et refformation des chanoynes regulliers de monseigneur sainct Augustin autant que l’estat de l’hospitalitt¦ le pourra permettre et souffrir.«

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Stifterabsichten. Mit der Überleitung zu den beschlossenen Maßnahmen vervollständigt sich ein Reformnarrativ, das nun explizit an die Vergangenheit (an den »guten anfänglichen Samen«) anschließt. Der gottgefällige Liebesdienst am bedürftigen Nächsten soll wieder zur Blüte gebracht werden. Drei Verben mit der charakteristischen Vorsilbe »re-« folgen aufeinander : »reduicte, reparee et reintegree«. Doch der Rückblick auf die Vergangenheit ist keine unidirektionale Rückkehr, vielmehr ist für die Zeitstruktur dieses Reformtexts eine Kopräsenz zweier Zeithorizonte charakteristisch: Die in den »re«-Wörtern aufscheinende restaurative Komponente der Reform hat ein starkes Gegengewicht in einem omnipräsenten Bezug auf die Zukunft. Die beschworenen guten Anfänge und hehren Absichten früherer Stifter werden mehrfach evoziert, aber nicht konkretisiert; eine eindringliche Erzählung über die früheren goldenen Zeiten fehlt, die Reformer begnügen sich mit einem zwar metaphernreichen, aber flachen Mikronarrativ über den Niedergang, an den die negative Gegenwartsdiagnose anschließt. Die Satzung des 13. Jahrhunderts ist als Palimpsest präsent: Sie wurde vor der Herstellung der Neufassung eigens ins Französische übersetzt, manche Kapitel wurden stillschweigend übernommen; doch ausdrücklich genannt wird sie kaum.170 Viel stärker tritt 1535 der Zukunftshorizont hervor : Künftig, so heißt es immer wieder, soll und wird sich alles bessern; entsprechend sind fast alle der anschließenden 174 Kapitel im Futur formuliert. Sehr schön kristallisiert sich diese Ambivalenz in der Formel »lebende und tote Wohltäter« heraus: Die an die Anfänge gemahnenden toten bilden mit den lebenden, also künftigen Stiftern eine Einheit, in der Vergangenheit und Zukunft sich ineinander spiegeln. Auch die Mittel, mit denen Besserung erreicht werden soll, sind keineswegs vergangenheitsbezogen: Eine neue vita religiosa soll eingeführt werden, und zwar so, dass acht Victoriner ins Hútel-Dieu ziehen, um der dortigen Kommunität zu zeigen, wie reformiertes Leben in der Praxis aussieht. Die Einführung der Windesheimer Konstitutionen in St-Victor (1513/1515) war die Basis dafür, dass diese Kanonikerkongregation 1535 als schlechthin »reformiert« bezeichnet werden konnte, als »ordre et refformation des chanoynes regulliers de monseigneur sainct Augustin«; das genügte, damit alle Leser verstanden, wer hier gemeint war, auch wenn der Abt von St-Victor, Jean Bordier, der die neue Satzung des Hútel-Dieu hinter Merlin und Bertoul unterschrieb, sich 1513 nur nach langem Zögern von der Notwendigkeit der Windesheimer Reform hatte überzeugen lassen.171 Ein Vorbehalt aus der oben referierten Diskussion um die 170 Ausnahme: Jéhanno, L’alimentation hospitaliÀre, S. 147 Kap. 86: »les statutz anciens«. Zur Übersetzung, der die Überlieferung der alten Satzung überhaupt zu verdanken ist, und den Zitaten s. ebd., S. 111 f. 171 Zur Reform von St-Victor und der Rolle des Jean Bordier s. oben, Anm. 147. Zu Bordier (†

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Kompatibilität der beiden Lebensformen wird in die neue Satzung übernommen: Die als lebende Exempel auftretenden Regularkanoniker sollen beachten, dass wegen der besonderen Funktionen eines Hospitals nicht alle Gebräuche von St-Victor zur Nachahmung im Hútel-Dieu geeignet sind. Die Hospitalkommunität ist jedoch verpflichtet, den reformierten und reformierenden Brüdern in allen Fragen, die die Augustinusregel und die neuen Statuten betreffen, zu gehorchen. Die beiden von Domkapitel und Parlement bevollmächtigten Kanoniker behalten sich allerdings die Strafgewalt über renitente Religiosen vor. Die Umsetzung der in der Präambel proklamierten Reform entfaltet der Statutentext in fünf Teilen. Deren erster regelt »l’honneur et observance du service divin« und fixiert detailreich Aufbewahrung und Einsatz von liturgischem Gerät, Hostien, Paramenten und Kerzen, Art und Zahl der Messen, die kanonischen Horen, Anniversare und Aufgaben der Priester.172 Der zweite Teil legt die Kompetenzen des Kapitels von Notre-Dame im Hútel-Dieu fest. Diese Kompetenzen – Aufnahme neuer Religiosen, Ernennung des Magisters und der Priorin, Rechnungsprüfung, Einstellung von vier zusätzlichen Priestern – werden ohne Erwähnung der neuen Partnerschaft mit St-Victor dargestellt.173 Ein Hinweis darauf verbirgt sich allenfalls in der öfters wiederkehrenden Formel, dass das Kapitel für diese Aufgaben zwei bis drei »proviseurs et visiteurs« delegiert; traditionell wurden damit Kanoniker von Notre-Dame betraut, aber die Formel ist auch auf externe Visitatoren anwendbar. Der dritte Teil befasst sich mit den männlichen Religiosen und punktuell auch mit den vier zusätzlichen Kaplänen: Künftig sollen es immerhin neun Brüder sein, möglichst alle mit Priesterweihe. Ihre Professformeln werden wörtlich festgehalten, die Gebetsinitien lateinisch. Dieser Teil enthält viele Vorschriften, die den Brüdern ihre schon oft monierten Fehltritte austreiben sollen: kein Privatbesitz, bescheidenes, sittsames, regeltreues Verhalten, Beachtung der Kleiderordnung, die sich »mit der Zeit« den Gepflogenheiten der Viktoriner anpassen soll. Den neun Priesterbrüdern werden sechs Laienbrüder (»convers« oder »donnez«) beigesellt, deren Aufgaben aber von den kommunalen Laienverwaltern zuzuteilen sind.174 Analog zum dritten richtet der vierte und längste Teil sich an die Frauen, nach Aristoteles das mitleidigere Geschlecht. Den 40 Vollschwestern (einschließlich Novizinnen) sollen 40 filles blanches zur Seite 1543 Nov. 16) s. auch die Notiz in Vones-Liebenstein/Seifert, Necrologium abbatiae, S. 309. Für den Hinweis auf diese (gedruckte und digitale) Edition danke ich Björn Gebert, Darmstadt. 172 Jéhanno, L’alimentation hospitaliÀre, S. 132 – 136 Kap. 1 – 19. 173 Jéhanno, L’alimentation hospitaliÀre, S. 136 – 138 Kap. 20 – 28. 174 Jéhanno, L’alimentation hospitaliÀre, S. 138 – 147 Kap. 29 – 85. Anpassung an die Viktoriner (»religieux refformez«) erwähnt in Kap. 41 (»ilz changeront par les temps en la maniere de l’eglise de Paris et des chanoynes reguliers de la refformation«), 43, 55 f., 62, 65. Laienbrüder : Kap. 58, 74.

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stehen; ihre Professformeln werden ins Französische übersetzt. Auch hier werden viele in den Vorjahren vergeblich bekämpfte Missbräuche in Maßregeln für die Zukunft umformuliert, insbesondere zur Trennung der Geschlechter, zum Verbot von Privatbesitz oder zu der lästigen Neigung vieler Schwestern, in ihren Kammern Haustiere zu halten. Die beliebten externen Pflegedienste werden stark eingeschränkt, ebenso die Präsenz weiblichen Laienpersonals, außer im Kreißsaal. Stellenweise wird auf das Vorbild von »religieuses refformees« verwiesen, auch wenn nicht klar ist, ob und wann der Abt von St-Victor Frauen aus seiner Kongregation ins Hútel-Dieu zu schicken beabsichtigte.175 Der fünfte und letzte Teil ist dem »service des mallades« gewidmet. Die Kranken – in diesem Teil fast immer als »mallades«, nur selten als »paouvres mallades« und nie bloß als »paouvres« bezeichnet – sollen je nach Zustand und Krankheit getrennt, geistlich betreut, ausreichend ernährt und nicht vorschnell entlassen werden. Festgeschrieben wird jetzt erstmals die Präsenz eines Arztes und eines Chirurgen im Dienst der Kranken, des Personals und der Schwestern. Drei Schlusskapitel ermahnen zu liebevoller Behandlung der Kranken und verlangen Gedenkmessen und Gebete für verstorbene Religiosen.176 Trotz der Anleihen aus dem Vorläufertext des 13. Jahrhunderts trifft es nicht zu, dass die Reformstatuten von 1535 bloß eine erweiterte Reaktivierung der älteren Satzung sind und damit zugleich den restaurativen Charakter dieses Reformversuchs bezeugen.177 Dafür bieten sie zu viel Neues. Selbst wenn einige auch im 16. Jahrhundert noch aktuelle Punkte – vor allem Fragen der Disziplin, denn daran hatte sich seit 1220 wenig geändert – aus dem früheren Text übernommen wurden, kann man ohne weiteres von einem Neuansatz sprechen. Ob dieser Neuansatz tatsächlich realisiert wurde, ist eine andere Frage. Doch dass die Statutare von 1535 ihren Text als Zäsur verstanden wissen wollten, zeigt schon ihre Präambel. Neu sind zahlreiche Änderungen und Präzisierungen im Detail, etwa die veränderte Zusammensetzung der Kommunität, das Design der Verwaltungsämter, die erheblich aufwändigere Versorgung der Insassen, eine zunehmende Aufmerksamkeit für körperliche Krankheiten als Grund für eine Aufnahme ins Hútel-Dieu. Neu ist die Bestellung eines Arztes und eines Chirurgen, ferner die feste Einrichtung einer Apotheke.178 Ein Neuanfang ist vor allem die Kooperation mit St-Victor. 175 Jéhanno, L’alimentation hospitaliÀre, S. 147 – 158 Kap. 86 – 152. Aristoteles in Kap. 86, externe Pflege in Kap. 127, Erwähnung von refomierten Kanonissen in Kap. 115, 130. 176 Jéhanno, L’alimentation hospitaliÀre, S. 158 – 161 Kap. 153 – 171, Schlusskapitel S. 161 f. Kap. 172 – 174 (»souveraine et affectueuse charit¦«). 177 So Jéhanno, L’alimentation hospitaliÀre, S. 111 f. 178 Brièle/Möring, Collection 1, S. 1 – 5: Regesten von 1531 – 1562, die diverse Verträge des Bureau de l’Hútel-Dieu mit Ärzten enthalten, ab 1536 Nov. 22 (S. 2); ein arrÞt des Parlement vom 30. September 1536 hatte die Laiengouverneure aufgefordert, einen Arzt einzustellen

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Da der Text jedoch Ergebnis eines Kompromisses ist, der teils erzwungen, teils zwischen den drei Hauptakteuren (Notre-Dame, St-Victor, Bureau de l’Hútel-Dieu) ausgehandelt wurde, hat er auch die Funktion, ungelöste Spannungen zu verbergen. Das sublime Eingangsfanal der Reformideale, mit denen jeder sich identifizieren musste, überdeckt möglicherweise die Tatsache, dass die Rechte und Pflichten der beiden verantwortlichen religiösen Institutionen noch keineswegs klar voneinander abgegrenzt waren. Die Debatten und Aktionen der folgenden Jahre sollten dies an den Tag bringen.

St-Victor im Hôtel-Dieu: eine Episode Zunächst einmal geschah nach der offziellen Einführung der neuen Statuten am 28. Dezember 1535 kaum etwas. Der Winter verging, doch von dem in der Präambel der Statuten angekündigten Fähnlein der acht aufrechten Viktoriner war im Hútel-Dieu nichts zu bemerken. Am 6. April 1536 forderte das Parlement fünf Äbte und Prioren der Kongregation von St-Victor nachdrücklich auf, ihrer Verpflichtung nachzukommen und die vorgesehenen (männlichen und weiblichen) Religiosen zu entsenden. Vorerst hielt man es für besser, die beiden Teilkommunitäten – die neuen, »reformierten« und die alten Religiosen – voneinander zu trennen. Die Reformierten sollten ausschließlich ihren eigenen (viktorinischen) Oberen unterstellt sein; das Kapitel von Notre-Dame sollte einem Bruder aus der Gruppe der Reformierten die Disziplinargewalt über alle Religiosen verleihen, die sich allerdings nur auf Verstöße gegen Regel und Statuten erstreckte (»correction et superintendence reguliere«), während allgemeine Vergehen der »jurisdiction ordinaire« des Kapitels vorbehalten blieben. Das hieß, dass das Kapitel künftig keine freie Hand bei der Wahl des Magisters mehr hatte.179 Hier ist der entscheidende Streitpunkt der kommenden Jahre angesprochen: die Aufteilung der Jurisdiktion über die Religiosen zwischen St-Victor und Notre-Dame. Das Parlement sah sich in der Folge immer wieder zu Machtworten veranlasst, ohne dadurch den Konflikt definitiv lösen zu können. Im Mai 1536 forderte es die Kanoniker von Notre-Dame auf, die »peres reformateurs« nicht zu behindern, und beschied in einem weiteren arrÞt, auf welche Weise umstrittene Paragrafen in den Reformstatuten, an denen das Domkapitel inzwi(Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, S. 371 Dok. XXXIII). AN, L 592, Nr. 3: ärztliche ›Entlassungsbescheinigungen‹ ab 1540. S. auch McHugh, Establishing Medical Men, S. 213, 218. 179 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. XXXII S. 370 f. (nach den Registern des Parlement, Abschrift auch in AN, L 591, Nr. 16). Wahrscheinlich hängt mit der räumlichen Trennung der beiden Gruppen der Neubau eines Klausurbereichs im Hospital zusammen, der am 10. Mai 1536 aber noch in Planung war (Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 2139 S. 398). S. zu den folgenden Jahren bis 1539 auch Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, S. 195 – 199.

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schen wieder Änderungen vorgenommen hatte, auszulegen seien: Es dehnte dabei die Kompetenzen der Viktoriner zu Lasten jener des Kapitels aus, sei es bei der Bestrafung und Strafversetzung von Religiosen, sei es bei der Ernennung der Beichtväter oder der Besetzung von Funktionsstellen.180 Als im September 1536 noch immer keine Viktoriner im Hútel-Dieu waren, befahl das Parlement allen drei um die Macht streitenden Institutionen, die »reformation«, die es längst zu seiner eigenen Sache gemacht hatte, sofort zu vollenden: Binnen drei Tagen mussten St-Victor und die anderen viktorinischen Häuser die verlangten Religiosen entsenden; das Kapitel musste einem dieser Religiosen die Disziplinargewalt und den Viktorinern das volle Visitationsrecht übertragen; den kommunalen Laienverwaltern wurde eine vom Parlement ernannte Kontrollkommission zur Seite gestellt (in der die Domkanoniker einen Sitz hatten), die nicht nur die Rechnungen prüfen, sondern auch die Zustände im Haus begutachten würde. Die Bürgerverwaltung wurde zudem aufgefordert, endlich einen Arzt und einen Apotheker einzustellen.181 In diesem Erlass wurde auch die Frage angesprochen, wie die Religiosen des Hútel-Dieu sich künftig kleiden sollten; nach Meinung des Parlement war – da die Religiosen von nun an ihre Profess nicht mehr vor dem Domkapitel, sondern im Hútel-Dieu und das heißt vor den viktorinischen Oberen leisten sollten – auch der Habit nach und nach dem der reformierten Regularkanoniker anzupassen. Der Habit war das Symbol, an dem sichtbar wurde, wer die Kommunität kontrollierte, St-Victor oder das Kapitel von Notre-Dame; für die alten Religiosen des Hútel-Dieu war er das Merkmal, das über Annahme oder Ablehnung der Reform, Unterwerfung oder Widerstand, entschied. Wenige Tage nach der Anordnung des Parlement erteilte das Kapitel dem Viktoriner fr. Antoine de la Fontaine die Vollmacht (das »Vikariat«, wie es in den Quellen heißt), die Kommunität zu reformieren, setzte ihn also de facto als neuen Magister ein.182 Antoine hatte freilich Mühe, sich bei den alten Religiosen durchzusetzen, wie das Parlement konstatierte, als es ein paar Monate später den Abt von St-Victor und den Prior von St-Lazare und damit möglichst gewichtige Autoritäten zu Visitatoren des Hútel-Dieu ernannte.183 Dennoch kam die Reform nicht voran. Die Religiosen verlangten Änderungen an den Reformstatuten, da einige Vorschriften nicht mit ihrem »Dienst an den Armen« vereinbar seien. Das 180 AN, L 591, Nr. 19 f. (1536 Mai 10 u. 31, nicht bei Coyecque). 181 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. XXXIII S. 371 – 374 (1536 Sept. 30). Vorbesprechung in Notre-Dame: Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 2146 S. 399 (Sept. 28). 182 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 2147 S. 399 (1536 Oct. 4). Zu Antoine de la Fontaine s. Vones-Liebenstein/Seifert, Necrologium abbatiae, S. 109 († 1539 Feb. 16); Bonnard, Histoire 2, S. 19 f. Das Parlement ordnete sofort die Strafversetzung ungehorsamer Religiosen an (AN, L 591, Nr. 22, 1536 Okt. 7). 183 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. XXXIV S. 375 f. (1537 März 12).

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Parlement beauftragte die Viererkommission für die Reform – die beiden viktorinischen Visitatoren und die Domkanoniker Merlin und Bertoul –, im HútelDieu nach dem Rechten zu sehen.184 Denn in der Zwischenzeit hatten sich an der Kleiderfrage ernste Konflikte mit einem Teil der bisherigen Religiosen entzündet. Im Sommer 1537 wurden einige Brüder vom neuen Magister in Kerkerhaft genommen, während das Kapitel mit dem Magister und St-Victor um den Habit neu aufzunehmender Religiosen, um entsprechende Statutenänderungen und die Deutung einzelner Statutenparagrafen stritt.185 Am 6. November entlud sich der Ärger in einem Tumult, den die beiden Visitatoren – der Abt von St-Victor, Jean Bordier, und der Prior von St-Lazare – in den Tagen danach durch Befragung von Zeugen und Beschuldigten zu klären versuchten.186 Das Verhör folgt einem vorbereiteten Fragenkatalog und lässt erkennen, dass nicht alle alten Religiosen gegen den viktorinischen Magister und die Reform eingestellt waren. So benannte die Priorin, von der Antoine de la Fontaine gelobt wurde, als Verantwortliche einige Schwestern, filles blanches und den Priesterbruder Pierre Bernard, bei dessen Verhaftung es zu dem Aufstand gekommen sei. »Müssen wir«, so klagten die Gegner der Reform, »derart leiden wegen dieser Mönche, dieser Heuchler, die uns unter der Maske ihrer Heuchelei so viel Böses tun?« Beleidigungen und Fäuste flogen. »Heuchler« war mit das freundlichste Wort, das die viktorinischen Religiosen zu hören bekamen, die nach Ansicht ihrer Gegner »nicht zum Reformieren, sondern zum Deformieren« gekommen seien. Sie, die Brüder und Schwestern der alten Kommunität, seien dem neuen Magister nicht unterworfen und nicht verpflichtet, den von diesem gewünschten Habit zu tragen. Eine Zeugin war von einer der rebellischen Schülerinnen als »bösartiges Reformluder« (»meschante villainne refformaterresse«) beschimpft und geschlagen worden. Eine etwas besonnenere Reformgegnerin gab als Grund für den Streit an: »Die von der Reform wollen sie zwingen, den Habit zu tragen, der durch die Verfasser der Statuten angeordnet wurde, während die anderen Religiosen, die schon vor der Reform da waren, sagen, dass sie ihre Reform für sich behalten sollen …«187 Das 184 Probleme mit den Statuten: Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 2149 S. 400 (1537 Juni 15); Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Dok. XXXVI S. 376 (1537 Juli 12). – Anordnung einer Visitation: Kurzregest ebd., Dok. XXXV S. 376, vgl. AN, L 591, Nr. 22bis (1537 Jun. 25). 185 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 2152 – 2157 S. 400 f. (1537 Juli 18 – Sept. 19); ebd., Nr. 2158 – 2165 S. 401 – 403 (1537 Sept. 26 – Nov. 9). 186 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Nr. XXXVII S. 377 – 383 (Teildedition des umfangreichen Pergamenthefts AN, L 594, Nr. 8). 187 Zitate: Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Nr. XXXVII S. 379: »Faut-il que nous souffrons tant pour telz moynes, telz ypocrittes, et que soubz umbre de leur ypocrisie nous ayons tant de mal!« Ebd., S. 380: »[Pierre Bernard] disoet qu’ilz n’estient pas venuz pour refformer, mais pour soy defformer …« Ebd., S. 381: »meschante villainne refformaterresse«; »car ceulx de la reformation les veullent contraindre — prendre les habitz ordonnez par ceulx qui ont faictz

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waren keine sehr durchdachten Argumente, doch ist bei derart aufgewühlten Leidenschaften eine profunde antireformistische Reflexion auch kaum zu erwarten. Bezeichnend ist, dass die von den französischen Ordensreformern um 1500 entwickelte Opposition von r¦form¦ und d¦form¦ sich derart gefestigt, aber zugleich auch verselbständigt hatte, dass sie einfach umgedreht werden konnte: In den Augen der Reformgegner sind die wahren ›Deformatoren‹ die heuchlerischen Reformer.188 Am 17. Dezember 1537 publizierte das Parlement eine Verordnung zur Wiederherstellung der Disziplin.189 Die Repräsentanten der betroffenen Institutionen (die Domherren Merlin und Bertoul, der Abt von St-Victor und der Prior von St-Lazare, zwei kommunale Verwalter), der Magister (hier »prieur« genannt), jedoch nicht die Reformgegner unter den Religiosen waren gehört worden; jeder schob die Verantwortung auf die anderen. Angeordnet wurde, das Hútel-Dieu von den beiden Reformkommissaren des Kapitels sowie den beiden viktorinischen Oberen visitieren zu lassen, alle Unbotmäßigen zu bestrafen und rebellische Religiosen zu versetzen. Damit dies durchzusetzen war, sollte ein Beauftragter des Parlement als Vertreter des weltlichen Arms mitgehen. Vergehen galten damit nicht mehr nur als gegen die Regel oder Statuten und gegen das allgemeine Recht (»delict commun«), sondern zusätzlich als gegen den König gerichtet. Für die Einhaltung der Reformstatuten durch die Religiosen wurden strenge Maßstäbe angelegt. Aber auch das Handeln des Magisters sollte untersucht werden. Ob auch die alten Religiosen den Habit von St-Victor tragen mussten, sollten die vier Visitatoren zusammen mit einem Universitätstheologen entscheiden; ihr Beschluss war verbindlich. Auch dieses Machtwort genügte nicht, denn der Streit um den Habit und der Kleinkrieg zwischen dem Kapitel und den viktorinischen Brüdern im HútelDieu um Beaufsichtigung und Aufnahme der Religiosen setzten sich 1538 fort.190 Schließlich erbat auf Bitten der Viktoriner der König eine Entscheidung von Papst Paul III. Dieser befahl im Juli 1539, dass die Kommunität die Disziplinargewalt der von König und Parlement berufenen Viktoriner anzuerkennen

les statutz, et les aultres religieux precedens la reformation disent qu’ils gardent bien lad. reformation …« – Strafversetzung der vier Hauptübeltäter, u. a. Pierre Bernard, durch Merlin und Bertoul: AN, L 591, Nr. 25, Faszikel am Ende des Konvoluts, signiert mit den Nummern »23« und »112« und der Jahreszahl »1537« (aber 1538 Feb. 22). 188 Die Ordensreformer konstruierten »d¦formation« als das perhorreszierte Gegenteil von »r¦formation«, dem guten religiösen Leben schlechthin: Le Gall, Les moines, S. 112 – 115, 221 – 266. 189 Coyecque, L’Hútel-Dieu 1, Nr. XXXVIII S. 383 – 388. 190 Coyecque, L’Hútel-Dieu 2, Nr. 2187 S. 406 f. (1538 Oct. 2), 2191 S. 407 (Nov. 4); s. auch AN, L 591, Nr. 26 (Nov. 22). Spannungen beim Generalkapitel im Hútel-Dieu: Nr. 2194 S. 408 f. (1538 Dez. 28 – 29), 2196 S. 410 (1539 Jan. 5).

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und auch deren Habit zu tragen habe.191 Das Kapitel von Notre-Dame gab sich damit jedoch nicht geschlagen, sondern appellierte an den Papst mit der Begründung, man habe ihn über die Fakten nicht genau informiert. Tatsächlich war der Einfluss der Kanoniker in Rom groß genug, um eine Revokation der Bulle zu erreichen: Paul III. beauftragte mit einem Mandat vom 20. Mai 1540 zwei französische Kleriker, die Exekution der Bulle zurückzunehmen und erst die Sachlage zu untersuchen.192 Danach einigten sich das Kapitel und die Kongregation von St-Victor auf einen künftigen Modus vivendi: Im Sommer 1540 schlossen die beiden Institutionen, im Beisein des kommunalen Bureau de l’Hútel-Dieu, einen Vertrag, der den Domkanonikern immerhin die »jurisdiction tant spirituelle que temporelle« zugesteht.193 Das verdient festgehalten zu werden, denn es zeigt, dass das Kapitel – so sehr sein faktischer Zugriff auf das Hospital durch das Wirken von Parlement und Kommune eingeschränkt worden war – sich auch jetzt noch die oberste Aufsicht vorbehielt und darauf bestand, dass die Rechte Dritter nur delegiert sein konnten. Das gilt auch für jene geistlichen Rechte, die es an die Viktoriner abtrat. Notre-Dame akzeptierte jetzt den neuen Habit und es blieb bei der automatischen Bevollmächtigung des von St-Victor ausgesuchten Magisters, der die Disziplinargewalt über alle Religiosen innehatte, aber nur seinen eigenen Oberen verantwortlich war. Funktionsämter sollten intern (also nicht mit Laienkräften von außen) besetzt werden. Der Vertrag sah ferner vor, dass beide Institutionen jeweils zwei Visitatoren ernannten. Um Religiosen strafzuversetzen, war ein Beschluss von mindestens drei dieser vier Visitatoren notwendig. Die Visitatoren hatten zusammen die Kompetenz, die Statuten zu ändern, wobei den Wünschen der Viktoriner Vorrang zukam. Trotz dieser Einigung verebbte das Engagement der Kongregation von StVictor im Hútel-Dieu ziemlich schnell.194 Schon 1544 fand sie keinen neuen Magister mehr, so dass das Kapitel einen der alten Religiosen ernannte; die Wahl fiel ausgerechnet auf einen der beim Tumult vom November 1537 besonders 191 AN, L 591, Nr. 28: Abschrift (1540 Jan. 10) der Bulle vom 18. Juli 1539 durch das Mitglied des Parlement Maurice de Buliond, der auch die Exekution betrieb. 192 AN, L 591, Nr. 32 (Abschrift). S. dazu auch ebd., Nr. 29 u. 31. 193 Partielle, nicht sehr genaue Transkription bei Bonnard, Histoire 2, S. 19 f. Vgl. AN, L 591, Nr. 36. Bestätigung durch das Parlement: ebd., Nr. 37 (Aug. 18). Die Nachricht, dass Antoine de la Fontaine im Februar 1540 im Hútel-Dieu vergiftet wurde (vgl. das Todesdatum oben, Anm. 182) und sein Vertreter und Nachfolger nach einem Giftanschlag das Haus verließ, beruht auf dem nur mit Vorsicht verwertbaren Zeugnis zweier Viktoriner Chronisten, des Zeitgenossen Charles de Mailly und des späteren Jean de Thoulouse (Bonnard, Histoire 2, S. 20). 194 Chevalier, L’Hútel-Dieu, S. 219 – 234. Hingewiesen sei immerhin auf ein noch 1552 dem Hútel-Dieu hinterlassenes Legat eines Kanonikers von St-Victor (Coyecque, Recueil 2, Nr. 6064, 6066).

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Ergebnisse

exponierten Rebellen, der inzwischen wieder nach Paris zurückgekehrt war. Seit 1548 ist von viktorinischen Magistern oder Vikaren keine Rede mehr. Nachdem in den 1550er Jahren alle ehemals strafversetzten alten Religiosen wieder ins Hútel-Dieu zurückgekehrt waren, kann der Versuch des Parlement, die spirituelle Aufsicht über das Hospital vom Kapitel von Notre-Dame auf St-Victor zu verlagern und damit die Kommunität zu reformieren, als gescheitert angesehen werden. Damit war klar, dass die Reform des Hospitals eine Fortsetzungsgeschichte sein würde, die im 17., 18. und 19. Jahrhundert zu neuen Peripetien führen sollte. Schon im Verlauf des 16. Jahrhunderts gelangte sie mehr und mehr ins Visier des königlichen Hofes, dessen Interesse am Pariser Hútel-Dieu seit der Regierung König Ludwigs XII. spürbar wuchs. Diese Einzelinterventionen lagerten sich im Lauf des 16. Jahrhunderts in ein immer dichteres Gewebe systematischer legislativer Eingriffe in die Hospitäler des ganzen Reiches ein. Es ist sehr gut möglich, dass die ›hautnahen‹ Erfahrungen des Hofes mit dem Pariser Hospital als Beispiel und Anlass für generalisierende Gesetzesinitiativen fungierten. Die daraus hervorgehenden Reformordonanzen zur Neuregelung der französischen Hospitäler häufen sich seit der Regierung Franz’ I.195 Wie so viele Ordonanzen, die sich des schonenden, aber »schwachen«196 legislativen Werkzeugs der r¦formation bedienen, wurden auch sie mehrfach wiederholt; sie mündeten im 17. Jahrhundert in eine entschiedene königliche Hospitalreform.197

5.

Ergebnisse

Ähnlich wie in Mailand ist auch im Fall des Hútel-Dieu von Paris das Ringen zwischen kirchlichen Institutionen und weltlichen Obrigkeiten um die Kontrollrechte sowohl Gegenstand als auch Mittel der Reform. Charakteristisch für die Pariser Reformdiskussionen sind zudem, neben der Multiperspektivität der Ansichten, die aus den Quellen des Hútel-Dieu rekonstruiert werden können, ein 195 Franz I.: Isambert u. a., Recueil g¦n¦ral 12, S. 897 – 900 (1545 Jan. 15), S. 920 – 923 (1546 Feb. 26). Die wichtigsten Hospitaledikte im weiteren 16. Jh. sind: Heinrich II., 1553 Feb. 12 (Isambert u. a., Recueil g¦n¦ral 13, S. 355 – 358); Karl IX., Apr. 1561 (Isambert u. a., Recueil g¦n¦ral 14-1, S. 105 – 107); Heinrich III., Mai 1579 (Isambert u. a., Recueil g¦n¦ral 14-2, S. 380 – 463, Ordonnance de Blois, zu den Hospitälern aber nur §§ 65 – 66 S. 398 f.). Vgl. auch Dissard, La R¦forme, S. 41 – 46; Imbert, Le droit hospitalier, S. 16 – 21. 196 So charakterisiert Rousselet-Pimont, Le chancelier et la loi, S. 203, die legislative Technik der Reformordonanz. Vgl. oben, Anm. 87. 197 Dissard, La R¦forme, S. 47 – 71 u. passim; Gutton, Hútels-Dieu; Imbert, Le droit hospitalier, S. 78 – 82, 87 – 90, 98 – 102, betont die bleibende Bedeutung lokaler Initiativen; Hickey, Institutional Care.

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Das Hôtel-Dieu von Paris

intensiver Gebrauch des Leit-Topos reformatio und eine differenzierte Konzeption der für die Reform relevanten Zeitdynamiken. Zunächst zum Topos reformatio: Dieses Wort, seine Ableitungen und volkssprachlichen Entsprechungen, aber auch seine Antonyme werden im Vergleich der hier untersuchten Fälle in Paris am häufigsten in die Diskussion geworfen. Zunächst gebrauchen es die Reformer, und dies schon seit dem 14. Jahrhundert, aber mit besonderer Intensität gegen 1500 und in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit ist ›Reform‹ ein Schlagwort geworden, das nicht mehr nur die Reformer selbst im Munde führen, sondern mit abwertender Intention auch deren Gegner.198 Auf der einen Seite kondensieren Parlement und Königshof in ihm ihre gesamte Politik gegenüber dem Hútel-Dieu, klagt das Kapitel von Notre-Dame über die Unmöglichkeit, die augustinischen Religiosen zu reformieren, gilt die Kongregation von St-Victor als Reformorden tout court. Auf der anderen Seite taugt das Wort aber auch zur Beschimpfung der Reformer (»Reformluder«) und lässt sich die Opposition von reformatio und deformatio, die von Ordensreformern zum Schaden ihrer Gegner (oder Opfer) erfunden worden ist, in die umgekehrte Richtung lenken: Ein Großteil der Munition, welche die Reformer des Hútel-Dieu auf die zu Reformierenden feuern – Vorwürfe wie Ungehorsam, Gewalttätigkeit, Verweltlichung, Verstoß gegen die Klausur, Missachtung von Armut und Keuschheit und Heuchelei –, kann mutatis mutandis an die Absender zurückgeschickt werden. Wenn an den etwa gleichzeitigen französischen Ordensreformen dargelegt wurde, dass reformatio um 1500 ein »dehnbarer Begriff« war,199 der alle möglichen Inhalte aufnehmen konnte, so wird das durch die Debatten um das HútelDieu bestätigt. Dies erklärt sich aus der räumlichen und zeitlichen Nähe der beiden diskursiven Kontexte (die zudem in Wechselwirkung mit der politischjuridischen Bedeutung von reformatio standen), einer Nähe, die auch daher rührt, dass von allen hier untersuchten Fällen das Pariser Hútel-Dieu am stärksten in die Geschichte der religiösen Orden involviert war : Schließlich arbeitete dort eine Kommunität von männlichen und weiblichen augustinischen Vollreligiosen. Wenn diese neu verfasst werden sollte, traten zwangsläufig andere religiöse Instanzen auf den Plan – neben dem Domkapitel auch andere Orden wie die franziskanischen Terziarinnen oder die Kongregation von StVictor. Deshalb kamen im Hútel-Dieu ähnliche Reformtechniken zum Einsatz (reformierte Religiosen als lebende Exempel, Konsultation von externen Reformexperten), wie man sie aus Ordensreformen kennt. Die Vielzahl der am Hútel-Dieu interessierten Akteure erzeugt nicht nur eine große Meinungsvielfalt oder Multiperspektivität, sondern ist auch die Ursache 198 S. oben, Anm. 60 – 65, 86 – 88, 187. 199 Le Gall, Moines, S. 19: Reform als »concept plastique«.

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Ergebnisse

dafür, dass die Konflikte, die kirchliche und weltliche Kräfte um die Kontrolle des Hauses austragen, hier besonders verwickelt sind. Wie für Mailand herrscht auch für Paris traditionell die Forschungsmeinung vor, dass das Hútel-Dieu 1505 kommunalisiert und danach mehr und mehr vom Parlement regiert, alles in allem also der geistlichen Aufsicht entzogen wurde. Abgesehen davon, dass das Parlement zwar eine ›staatliche‹, aber von seiner personellen Zusammensetzung her keine rein laikale Institution ist, hat die erneute Durchsicht der Quellen gezeigt, dass die Verhältnisse erheblich intrikater sind, als die Kommunalisierungs- oder Laisierungsthese annimmt. Die Spannungslinien verlaufen nur selten parallel zur Grenze zwischen der weltlichen und der kirchlichen Sphäre, sondern vielmehr und vor allem innerhalb der kirchlichen Institutionen: in der Kommunität des Hútel-Dieu, zwischen dieser und dem Kapitel von Notre-Dame, innerhalb des Kapitels, zwischen Letzterem und anderen Orden. Diese verschlungenen Fronten zeitigen ebenso verwickelte, oft nur temporäre Bündnisse – und umgekehrt auch Streit – zwischen einzelnen der genannten geistlichen Gruppen und den weltlichen Obrigkeiten: der Kommune Paris, dem Parlement oder dem königlichen Hof. Oder sie führen zu Positionswechseln wie dem des Domkapitels, dessen um 1500 lautstark vorgetragene Forderung nach Reform der Religiosen vorsichtiger Skepsis wich, als 30 Jahre später die Reformkongregation von St-Victor das Regiment übernehmen sollte.200 Hinter all diesen Bewegungen stehen neben echtem Reformwillen bzw. -unwillen gewiss auch klientelare Interessen; um diese zu durchschauen, wären prosopografische Sondierungen erforderlich, die hier nicht zu leisten waren. In jedem Fall zeigen die Pariser Diskussionen, wie hartnäckig um die Abgrenzung der Kontrollrechte am Hútel-Dieu gekämpft wurde, selbst wenn es sich auf lange Sicht für die Kanoniker von Notre-Dame um ein Rückzugsgefecht gehandelt hat. Die Diskutanten bedienen sich teils juristischer, teils anderer rhetorischer Mittel. Im strengen Sinn juristisch argumentieren zum Beispiel die beiden Gutachter des Kapitels, die um 1535 die Kompatibilität der Statuten des HútelDieu mit denen von St-Victor untersuchen und negieren. Eine vierphasige Reformerzählung201 wird nur selten konstruiert: Am ehesten ist das bei dem 1497 – 1498 zwischen Kommunität und Kapitel geführten Prozess der Fall, in dem beide Parteien zwar die jüngeren Ereignisse (Phase II) ins Zentrum rücken, aber auch ihre jeweilige Version der älteren Vergangenheit des Hútel-Dieu (Phase I) zum Besten geben; über die Notwendigkeit der Reform und die zu ergreifenden Maßnahmen (Phase III) besteht natürlich keine Einigkeit. In dieser Auseinandersetzung kommen auch andere für eine gerichtliche Sprechsituation typische, formale Topoi zum Einsatz (Enthymem, Zeugenbeweis). Das reformtypische 200 S. oben, Anm. 148 – 160. 201 S. oben, Einleitung, Anm. 38.

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Das Hôtel-Dieu von Paris

Verfahren der Lagebeurteilung (Diagnose, Übergang zu Phase III) durch Anhörung von Zeugen spielt im Hútel-Dieu generell eine große Rolle und ist dank der günstigen Überlieferung dort besonders gut nachzuweisen.202 Hingegen ist die in Mailand so beliebte Körpermetaphorik in den Pariser Debatten weniger prominent; allenfalls die aus dem Kontext der Kirchenreform importierte Formel »Reform an Haupt und Gliedern« kommt vereinzelt vor. Überhaupt hat die metaphorische Fantasie der Verfasser der mehrheitlich aus Verwaltungs- und Gerichtszusammenhängen stammenden Texte ihre Grenzen. Aufwändiger sind naturgemäß die literarisch ambitionierteren Texte gestaltet, in denen die Figur der Allegorie und fiktive Exempla entweder die Reform (Jean Henry) oder aber die Reformkritik (Gringore) unterstützen sollen. Diese Argumentationsweisen sagen auch etwas darüber aus, wie die Teilnehmer an den Pariser Reformdebatten die Zeitabläufe konzipieren. Ein Indiz dafür ist die Operationalisierung des Rechtsbegriffs der Gewohnheit. Vor Gericht beschreiben die Reformgegner (1498 der Vertreter der Religiosen) einen kontinuierlichen und langen historischen Prozess, in dessen Verlauf sich Gewohnheiten herauskristallisieren, an denen jede Neuverordnung abprallen muss. Demgegenüber verbergen die Reformbefürworter (1498 Teile des Domkapitels) die longue dur¦e der Rechtsfortbildung durch Gewöhnung, indem sie die Missstände der Gegenwart direkt mit neu zu formulierenden oder wiederherzustellenden alten Normen kontrastieren. Sie konstruieren stattdessen eine zeitlich überschaubare Tradition neuerer Reformversuche, deren wiederholtes Scheitern begründen soll, dass nun (1505) der Moment für einschneidende Maßnahmen gekommen ist (hier die Einführung der Terziarinnen).203 Als die Kanoniker sich gegen die (viktorinische) Reform wenden, berufen sie sich zwar ebenfalls auf den Vergleich von positiven und überpositiven Normen und auf das Argument von der ›Natur der Sache‹, aber nun bezeichnenderweise auch auf die Gewohnheiten, nämlich die alten Statuten des Hútel-Dieu und die Privilegien von Notre-Dame. Generell verwenden die Pariser Hospitalreformer viel Energie auf den Übergang zwischen Phase II und III des Reform-Plots, nämlich auf die Diagnose kurz- oder mittelfristig angestauter Defekte, deren logische Konsequenz eine Reform zu sein hat. Auch die Reformstatuten von 1535 legen den Schwerpunkt auf diese gegenwartsnahe Phase sowie auf die für die Zukunft verordneten Verbesserungen (Phase IV), während an die Fernvergangenheit der guten Anfänge und hehren Stifterabsichten nur mit knappen Anspielungen erinnert wird.204 202 S. oben, Anm. 99 – 107 (Prozess 1497 – 1498), 137 f., 163, 186 f. (Befragungen). 203 S. oben, Anm. 121. Zum ambivalenten Wert der Geschichte (als Archiv von Reformtraditionen einerseits und Reservoir korrumpierender Gewohnheiten andererseits) für Ordensreformer s. Le Gall, Moines, S. 254 – 257. 204 S. oben, Anm. 167 – 170.

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IV.

Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

1.

Quellen

Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte des größten Straßburger Hospitals ist weniger gut erforscht als die der Freien Reichsstadt, die es beherbergte. Dabei hat das Große Spital ein reiches Archiv hinterlassen,1 dessen Bestände nach der Übergabe an das Straßburger Stadtarchiv im Jahr 1900 von dessen damaligem Direktor, Otto Winckelmann, ausgewertet wurden. Die Ergebnisse dieser Sichtung publizierte Winckelmann, nachdem er das Elsass 1919 verlassen musste, in einem Quellen- und Geschichtswerk über die karitativen Institutionen der Stadt.2 Diese Edition ist um so wertvoller, als das Straßburger Urkundenbuch3 mit dem Jahr 1400 endet und dem Großen Spital, im Unterschied zu vielen anderen deutschen und französischen Hospitälern, noch keine moderne monografische Studie gewidmet wurde. Da Winckelmann den Schwerpunkt auf die Reformationszeit legt, bleibt das 15. Jahrhundert nach wie vor unterbelichtet – eine Lücke, die auch hier nicht geschlossen werden kann. Dies ist für unsere Zwecke insofern verschmerzbar, als die ergiebigsten Auseinandersetzungen um Reformen im Großen Spital und in der Armenfürsorge überhaupt in die Jahre um 1500 und die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts fallen. Es zeichnen sich drei Phasen ab: erstens die Kritik, mit der der Münsterprediger Johannes Geiler von Kaysersberg mehrfach die Wohlfahrtspolitik des Rates überzog (Ende des 15. und erstes Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts), zweitens die Umwandlung der karitativen Institutionen im Zuge der Reformation (ab den 1520er Jahren) und drittens die Phase der Umsetzung der refor1 Überblick bei Mariotte, Les sources manuscrites, S. 177 – 181. – Die Archives Municipales sind 2001 in Archives de la Ville et de la Communaut¦ Urbaine de Strasbourg (AVCUS) umbenannt worden. Ich verweise nach der Literatur auf einzelne Dokumente aus diesem Archiv, habe es selbst aber nicht benutzt. 2 Winckelmann, Das Fürsorgewesen, 1922, Teil 1: Geschichtliche Übersicht; Teil 2: Urkunden und Aktenstücke. 3 Urkundenbuch der Stadt Straßburg, besonders die Bände 4-2, 5 u. 7.

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Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

matorischen Neuorganisation bis etwa 1550. Auf Zeugnisse aus diesen Phasen werden sich die folgenden Seiten konzentrieren. Neben Predigten und Traktaten Geilers von Kaysersberg sind das insbesondere die von Winckelmann und anderen edierten Denkschriften der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Statuten und Urkunden, dazu begleitend Äußerungen von Straßburger Reformatoren sowie ausgewählte Passagen aus den Stadtchroniken. Ein Problem ist die Überlieferung der Chroniken. Wäre nicht wenigstens die Edition der wichtigsten älteren Geschichtswerke kurz vor 1870 fertig geworden,4 so wären die Schäden, die der Brand der Straßburger Stadtbibliothek während der deutschen Belagerung 1870 verursacht hat, katastrophal. Doch auch so ist die Zerstörung der meisten Chronik-Handschriften ein erheblicher Verlust, insbesondere für die bis dahin nur in geringem Umfang gedruckte, dichte Chronistik des 16. und 17. Jahrhunderts. Es gelang elsässischen Historikern auf Anregung von L¦on Dacheux jedoch, mit Hilfe von anderswo gelagerten Manuskripten sowie von Teilabschriften und Notizen, die Gelehrte des 18. und 19. Jahrhunderts angefertigt hatten, einen Teil des Verlorenen zu rekonstruieren.5 Sowohl diese, teils umfänglichen Fragmente der 1870 zerstörten Chroniken als auch später edierte andere historiografische Aufzeichnungen6 bieten ergänzende Einblicke in die Wahrnehmung des Großen Spitals und der Straßburger Armenfürsorge im 16. Jahrhundert, auch wenn nicht alle für unser Thema ergiebig sind.

2.

Straßburg und seine Hospitäler im 15. Jahrhundert

Stadtverfassung Straßburg gehörte zu den ›Freien Städten‹ im römisch-deutschen Reich. Seit dem 13. Jahrhundert nach und nach von der bischöflichen Herrschaft emanzipiert, wurde die Stadt im 14. und 15. Jahrhundert Schauplatz einer Reihe von teils gewaltsam, teils friedlich durchgesetzen Verfassungsänderungen. In deren Verlauf verdrängten die Zünfte die ursprünglich dominierenden Patrizier, die in 4 Hegel, Chroniken: Straßburg 1 u. 2 (1870 – 1871). Diese beiden Bände des Chronik-Unternehmens enthalten die im 14. und frühen 15. Jh. verfassten Texte von Fritsche Closener und Jakob Twinger von Königshofen. Ferner : Strobel/Schneegans, Code historique (1843) mit einigen späteren Chroniken, von denen die längeren aber nur in Auszügen wiedergegeben sind. 5 Zur Zerstörung der Bibliothek: Foessel/Oberlé, Le rÀgne des notables, S. 177. Die rekonstruierten Chronik-Bruchstücke wurden zunächst im Bulletin de la Soci¦t¦ pour la conservation des monuments historiques d’Alsace und danach separat in der vierbändigen Reihe Fragments d’anciennes chroniques d’Alsace gedruckt (Einzelnachweise unten). 6 Zum Beispiel Gebwiler oder Saladin (Letzterer schreibt aber erst im frühen 17. Jh.).

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Straßburg und seine Hospitäler im 15. Jahrhundert

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Straßburg »Constofler« hießen, mehr und mehr von der Macht.7 Die Sozialgeschichte dieser Zunft- und Patrizieroligarchie ist ähnlich zu beurteilen wie in anderen südwestdeutschen Zunftstädten und braucht hier nicht im Einzelnen dargelegt zu werden. Für unseren Zusammenhang genügt es, in aller Kürze die wichtigsten politischen Institutionen vorzustellen, wie sie sich seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts präsentierten. Die letzte mittelalterliche Verfassungsänderung (1482) reduzierte den Rat von vorher 43 (58 vor 1420) auf 30, zwei Jahre lang amtierende Ratsherren, nämlich zwanzig Zunftmitglieder und zehn Constofler. Die Leitung der städtischen Politik oblag dem zünftigen Ammeister, während die vier patrizischen Stettmeister im Laufe des 15. Jahrhunderts ihre Bedeutung verloren hatten. Politik gemacht wurde aber nicht so sehr im eigentlichen Rat, sondern in drei sich personell überschneidenden kleineren Gremien, die sich im 15. Jahrhundert herausbildeten: Die Kommission der »Einundzwanzig« (XXI) ist seit 1395 bezeugt und nahm an allen Ratssitzungen teil; sie bestand ursprünglich sicherlich aus 21 Mitgliedern, deren Zahl aber bald auf bis zu 32 erhöht wurde. Sie setzte sich aus alten Ratsherren und Alt-Ammeistern zusammen, die dort auf Lebenszeit saßen. Die XXI wurden im Lauf des 15. Jahrhunderts in die beiden »Geheimen Stuben« der »Dreizehn« (XIII) und »Fünfzehn« (XV) geteilt, die für verschiedene Politikfelder zuständig waren: die XIII vornehmlich für Diplomatie und Militär, die XV für Verwaltung und Inneres. Das Verhältnis von Constoflern und Zünften in diesen beiden kleinen Exekutivorganen entsprach dem im größeren Rat. Letzterem, dem eigentlichen Rat, blieb als selbständige Kompetenz nur die Gerichtsbarkeit, die allerdings auch von zahlreichen delegierten und konkurrierenden anderen Gerichten ausgeübt wurde – von städtischen Untergerichten, Zunftgerichten und dem wegen seiner Zuständigkeit für Kreditsachen auch für Laien bedeutenden geistlichen Gericht des bischöflichen Offizialats – und daher ein eher verwirrendes Bild abgibt. Die Zahl der (politischen8) Zünfte wurde 1482 von 28 auf 20 vermindert, die von je fünfzehn Schöffen geleitet wurden. In besonders wichtigen Angelegen7 Zur Verfassungsgeschichte Straßburgs im Spätmittelalter : Hegel, Die Chroniken: Straßburg 1, S. 37 – 47 (Einleitung Hg.), u. 2, S. 921 – 966 (Beilagen); Dollinger, La ville libre; Alioth, Gruppen an der Macht; von Heusinger, Die Zunft, S. 34 – 45 (Zusammenfassung der Verfassungsentwicklung) u. 169 – 212; nur bis 1349 reicht Egawa, Stadtherrschaft. Neueste Überblicke bei Gloor, Politisches Handeln, S. 278 – 294, u. Walter, Informationen, S. 72 – 80. 8 Zur Präzisierung des Verhältnisses von gewerblicher und politischer Zunft s. jetzt v. a. von Heusinger, Die Zunft, S. 90 ff. u. passim, die die vier »Aspekte« der Zünfte (Gewerbe, Bruderschaft, politische Zunft, militärische Funktion) freilich so weit voneinander entkoppelt, dass die Anwendbarkeit eines einheitlichen Zunftbegriffs auf alle vier Aspekte fraglich wird. Trotzdem: Wenn im Folgenden von »Zunft« die Rede ist, sind politische Zünfte im Sinne von Heusingers gemeint.

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Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

heiten konnte diese Gruppe von 300 Zunftschöffen zusammengerufen oder befragt werden. Erheblich kleiner war im späten 15. Jahrhundert die Zahl der Constofler, die sich in ritterlich bzw. bürgerlich lebende Patrizier teilten. In den zahlreichen militärischen Auseinandersetzungen, die die Stadt sich zwischen dem ausgehenden 14. und dem frühen 15. Jahrhundert mit ihren Bischöfen und Teilen des Patriziats lieferte, entschieden sich nicht wenige Constofler dafür, das Bürgerrecht aufzugeben und sich auf ihre Burgen im Umland zurückzuziehen.9 In der Folge bauten die Zünfte auch im Hinblick auf die Rekrutierung des Rates ihren Einfluss immer weiter aus: So wurde 1433 festgelegt, dass zwar die Zunftsitze von den Zünften, und zwar jeweils in eigener Regie, besetzt wurden, die Vertreter der Constofler hingegen vom gesamten abgehenden Rat, also von einer Zunftmehrheit, zu wählen waren.10 Trotz der im 13. Jahrhundert militärisch erzwungenen Preisgabe seiner Stadtherrschaft blieb der Bischof mit seinen Machtpositionen im Hochstift der hartnäckigste politische Rivale der Kommune.11 Mit besonderer Heftigkeit entluden sich diese Spannungen in den Pontifikaten der Bischöfe Friedrich von Blankenheim (1375 – 1393) und Wilhelm von Diest (1394 – 1439). Zugleich zeigen diese Konflikte, dass zumindest in finanzieller Hinsicht die Interessen der Stadt, die als Hauptgläubiger des chronisch überschuldeten Bistums selbst unter Finanzengpässen litt, mit den Interessen der Bischöfe eng verflochten waren. Eine Balance zwischen den jurisdiktionellen und finanziellen Ansprüchen der Bischöfe, den Interessen des hochadligen Domkapitels, den innerstädtischen Parteiungen und den von außen auf diese Kräfte einwirkenden Machtfaktoren12 – benachbarten Städten und Fürsten, dem Reich, Frankreich, Burgund und wegen der Besetzung des Bischofsstuhls häufig auch dem Papst – zu finden, war allenfalls in kurzen Phasen möglich. Im ausgehenden 15. Jahrhundert verschoben sich die Gewichte insofern, als zum einen nach dem Ende der Burgunderkriege 1477 keine größeren militärischen Auseinandersetzungen zu führen waren und es zum anderen Bischof Albrecht (1478 – 1506, aus dem Haus Bayern) gelang, die finanzielle Lage des Bistums gegenüber der Stadt zu verbessern. Die dadurch gestärkte Position des Bischofs fachte das Misstrauen der Straßburger politischen Elite gegenüber ihrem Oberhirten weiter an. Hinzu kam, dass die seit dem 14. Jahrhundert zu 9 Dies war vor allem anlässlich des Dachsteiner Kriegs 1419 – 1422 der Fall; dazu besonders Alioth, Gruppen 1, S. 13 – 20; von Heusinger, Die Zunft, S. 195 – 200. 10 Heusinger, Die Zunft, S. 200. 11 Hierzu nach wie vor am besten Rapp, R¦formes, S. 119 – 129 (zu den Bischöfen Friedrich von Blankenheim und Wilhelm von Diest); 171 – 186, 321 – 393 (zu den Bischöfen Robert von Bayern, Albrecht von Bayern und Wilhelm von Honstein). 12 Als Beispiel s. etwa die außenpolitische Kommunikation Straßburgs in der Zeit der Armagnakenkriege (1439 – 1445): Schmitt, Städtische Gesellschaft.

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Straßburg und seine Hospitäler im 15. Jahrhundert

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beobachtenden Konflikte zwischen Laien und Klerus auf religiösem und jurisdiktionellem Feld bis 1500 kaum gelöst worden waren, sondern sich im Gegenteil fast auf jedem Gebiet vertieft hatten.13 Sei es die Bewirtschaftung der Pfründen, die privilegierte Rechtsstellung der Kleriker und ihres Personals, die Zuständigkeit des bischöflichen Gerichts,14 sei es die moralische Integrität und das pastorale Engagement des Seelsorgeklerus, sei es der Lebenswandel des männlichen und weiblichen Regularklerus: Es gab kaum einen Aspekt klerikalen Lebens, der den Ansprüchen der Laien noch genügt hätte.

Institutionen der Armen- und Krankenfürsorge Die Stadt Straßburg, die nach einer Berechnung des Jahres 1444 etwa 17.00015 und um 1500 wohl nur unwesentlich mehr ständige Einwohner hatte, verfügte über ein nach spätmittelalterlichen Maßstäben beachtliches Ensemble an wohltätigen Institutionen. Die Zuständigkeit für die Aufsicht über diese Einrichtungen, meist Hospitäler, war gegen Ende des 15. Jahrhunderts im Prinzip geklärt. Im Zuge ihrer Politik der Emanzipierung vom Bischof hatte die Kommune Straßburg sich schon lange die Kontrolle über möglichst alles gesichert, was Laien kirchenrechtlich zugänglich war : Münsterfabrik (»Frauenwerk« oder »Frauenhaus«) und Bauhütten der kleineren Kirchen und Klöster, aber auch die wichtigsten Hospitäler waren Sache des Rates; wenigstens auf diesem Feld scheint Frieden zwischen Rat und Bischöfen geherrscht zu haben. Man braucht sich nur die 1444 festgestellte, erhebliche Diskrepanz zwischen den ständigen Einwohnern und der Bevölkerung in Notzeiten vor Augen zu halten, um auch in Straßburg die strukturellen Mängel eines spätmittelalterlichen Fürsorgesystems wiederzufinden: In vielen Situationen waren die vorhandenen Institutionen durch die schiere Größe des Bedarfs völlig überfordert. Zwar war der Armagnakenkrieg, Anlass der Zählung von 1444, ein Ausnahmefall; doch gab es genug andere Faktoren, die die Menge an Hilfsbedürftigen nicht nur periodisch hochschnellen, sondern auf lange Sicht im 15. und 16. Jahrhundert kontinuierlich anwachsen ließen. Die wirtschaftlichen und klimati13 Rapp, R¦formes, zusammenfassend S. 393, im Einzelnen S. 421 – 456. 14 Schuler, »Reformation«, ediert eine vermutlich in den 1440er Jahren ausgearbeitete neue Satzung für das Offizialatsgericht, unter dessen Fehlleistungen vor allem die arme Landbevölkerung zu leiden hatte. 15 Schulz, Handwerksgesellen, S. 28 – 30; von Heusinger, Die Zunft, S. 203. Eigentlich waren mehr als 26.000 Personen erhoben worden, von denen jedoch die Flüchtlinge, die wegen der Armagnaken in die Stadt gekommen waren, abzuziehen sind, so dass sich eine Schätzung von 17.000 ständigen Einwohnern ergibt. S. auch Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 84.

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Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

schen Ursachen dieser allgemeinen sozialgeschichtlichen Entwicklung sind gut erforscht,16 und auch das Straßburger Material bietet eine Fülle von Zeugnissen für die wachsende Misere in der spätmittelalterlichen Land- und Stadtbevölkerung. Bekannt sind die Straßburger Quellen freilich weniger deshalb, weil auch sie Teuerungen, Epidemien, Kriege und deren Auswirkungen auf die Menschen dokumentieren,17 sondern vor allem als Beispiel für den Versuch einer städtischen Obrigkeit, auf die wachsende Zahl von Bedürftigen durch disziplinierende Maßnahmen zu reagieren.18 In und bei Straßburg gab es um 1500 neben Institutionen der offenen Armenpflege (Stiftungen, die Almosen verteilten19) einige kleine Hospitäler sowie das für mittelalterliche Verhältnisse ungewöhnlich aufnahmefähige Große Spital. Von den vor der Stadt gelegenen Leproserien abgesehen, war die Zahl der kleineren Häuser, im Vergleich etwa zu italienischen Städten ähnlicher Größe, eher begrenzt, und die Funktionsfähigkeit dieser kleineren Hospitäler ist um 1500 nicht immer gesichert. Als Beispiel mag das 1311 als private Stiftung entstandene, für zehn bis zwölf arme Dauerinsassen geplante Phynen- oder Barbaraspital genügen. Der Magistrat ließ das dem Bischof unterstellte, vor den Mauern gelegene Haus im Burgunderkrieg 1477 abbrechen und in die Stadt verlegen; mit der ihm vom Rat gezahlten Entschädigung errichtete der Bischof ein neues Barbaraspital.20 Von größerer Bedeutung war die erstmals 1349 bezeugte Elendenherberge, die im 14. Jahrhundert zeitweise von einem zweiten Elendenhospital flankiert wurde. Ihr Zweck war die kurzfristige Aufnahme fremder Bedürftiger, die, auch wenn sie selbst mit ihrem von der Stadt verordneten Status als durchreisende Pilger nicht einverstanden waren und länger bleiben wollten, nach ein bis zwei 16 Jörg, Teure, S. 83 – 96, 118 – 162, zum Krisenjahrzehnt 1430 – 1440. Zur Sozialstruktur Straßburgs und anderer oberrheinischer Städte Schulz, Handwerksgesellen, S. 37 – 46, zur wirtschaftlichen Entwicklung im selben Raum zwischen 15. u. 16. Jh. zusammenfassend ebd., S. 429 – 442; demnach zogen die Agrarpreise nach 1500 bei stagnierenden Löhnen scharf an, mit Hungersnöten 1516 – 1518, 1529 – 1531 u. in den 1570er Jahren. 17 Zum Beispiel Specklin (schrieb gegen 1587), Nr. 2014 S. 433, zur Teuerung des Jahres 1429. Zu den Jahren 1529 – 1530 s. unten, Anm. 155 f. 18 Goldberg, Das Armen- und Krankenwesen (1910), S. 26 – 32; Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 66 – 74; Voltmer, Die Straßburger »Betrügnisse«. Die von Brucker, Strassburger Zunft- und Polizei-Verordnungen, S. 2 – 13 u. S. 133 – 137 gebotenen Abdrucke von Almosen- und Bettelordnungen sind meist falsch datiert und (außer dem kurzen Stück S. 133) durch die Editionen bei Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 38 S. 83 – 87 u. Nr. 43 S. 97 – 104 ersetzt. 19 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 60 – 66; Goldberg, Das Armen- und Krankenwesen (1910), S. 17 – 24. 20 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 27 – 30. Goldberg, Das Armen- und Krankenwesen (1909), S. 254, 269. Hegel, Die Chroniken: Straßburg 2 (Jakob Twinger von Königshofen), S. 739. Von den späteren Chroniken z. B. Specklin, Nr. 2142 S. 464. – Vgl. zu den kleineren Hospitälern auch unten, Anm. 149. – Lage des Barbaraspitals: unten, Plan 5.

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Nächten mit einer kleinen Wegzehrung vor die Tür und vor die Stadttore gesetzt wurden.21 Erstmals 1360 und mehrfach nach der Reformation an größere Standorte, nämlich in aufgelassene Klöster verlegt, nahm die Elendenherberge in manchen Krisenjahren des 16. Jahrhunderts beachtliche Zahlen von Armen auf; aus der Höhe dieser Zahlen lässt sich schließen, dass das Gebot möglichst kurzer Aufenthalte nie gelockert wurde, obwohl vereinzelt auch die Präsenz von Pfründnern in der Elendenherberge bezeugt ist.22 Als weitere hospitalähnliche Institution ist hier – neben dem 1503 gegründeten Hospital für Syphiliskranke, von dem später die Rede sein wird – das um 1400 als selbständige Einrichtung geschaffene, aber erst 1432 mit einem eigenen Sitz ausgestattete Waisen- und Findelhaus zu nennen. Hingegen sind für die 1371 von dem Kaufmann Rulmann Merswin neu ausgestattete Johanniter-Kommende im 15. und 16. Jahrhundert keine Hospitalfunktionen erkennbar.23 Damit kann die Aufzählung abgebrochen werden, denn es geht nicht um eine vollständige Aufstellung aller Straßburger Hospitäler, sondern lediglich darum, den Kontext, in dem das Große Spital um 1500 operierte, zu skizzieren. Die Leiter nicht nur des bischöflichen Phynen-, sondern auch des städtisch kontrollierten Elendenhospitals waren bis um 1500 in aller Regel Kleriker. Selbst das Große Spital, das spätestens in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts (vor 1143) als St. Leonhardsspital in direkter Nachbarschaft des Münsters gegründet wurde, über eine St. Erhardskapelle verfügte und seit 1263 fest in den Händen des Rates war, wurde im ganzen 14. und oft auch noch im 15. Jahrhundert von einem Priester geleitet, ungeachtet der Tatsache, dass erst zwei, dann drei vom Rat bestellte ehrenamtliche Pfleger die oberste Verantwortung hatten. Die Existenz dieser großen Einrichtung erklärt am besten, warum die Stadt nur relativ wenige andere Hospitäler benötigte. Angeblich wegen Raumknappheit wurde das Große Spital während der Hungersnot von 1316 an einen neuen Standort außerhalb der Mauern verlegt. Der dafür notwendige Neubau ließ sich deshalb realisieren, weil der Semireligiose Heinrich von Homburg dem Spital – schon 1315 – sein Vermögen zur Verfügung gestellt hatte und dafür als »Schaffner« dessen Leitung übernahm. Heinrich fand auch einen Interessen21 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 41 – 43; Goldberg, Das Armen- und Krankenwesen (1909), S. 256 – 258. Hegel, Die Chroniken: Straßburg 2 (Jakob Twinger von Königshofen), S. 739. S. auch unten, Anm. 157. – Lage der Elendenherbergen: unten Plan 5. 22 Anmerkungen zur Bewirtschaftung der Ländereien der Elendenherberge nach einer Abrechnung von 1477 bei Rapp/Vogt, A la recherche; dort S. 82, Anm. 23, der Hinweis auf einen Pfründner (a. 1432). 23 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 43 – 49 (Waisenhaus). Bornert, Les MonastÀres 3, S. 294 – 302 (Johanniter). Zum Waisenhaus mehrere Einträge in den so genannten Annalen Sebastian Brants (eigentlich von Jakob Wencker im 18. Jh. zusammengestellte Auszüge aus den Beschlüssen der XXI): »Brant« A, u. a. Nr. 3352 S. 225 (a. 1504), 3407 S. 232 f. (a. 1513), 3412 S. 233 (a. 1514).

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ausgleich zwischen kranken und bedürftigen Spitalinsassen einerseits und gesunden Pfründnern andererseits; Konflikte zwischen den beiden Gruppen, deren jede ihren eigenen Schaffner hatte, sind allerdings auch im weiteren 14. Jahrhundert belegt, so dass der Rat mehrfach intervenieren und die Verteilung der Einnahmen und Ausgaben auf die beiden Gruppen neu festlegen musste. Die Zahl der »Gesunden« wurde dabei auf maximal 50 fixiert, während der Richtwert für die Kranken mit 150 dreimal höher lag. Während eines der Kriege, die Straßburg mit seinen Bischöfen ausfocht, wurden die Gebäude 1392 aus Sicherheitsgründen abgetragen; ein neuer, definitiver Sitz, nun wieder innerhalb der Mauern, öffnete 1398 seine Tore.24 Das seit dem 12. Jahrhundert von Königen und Kaisern, später auch von Päpsten privilegierte Große Spital, das seine Wohltäter mit einem reichen Angebot von Ablässen belohnen konnte, war im 15. Jahrhundert gut in die Stadtgesellschaft integriert: Indiz dafür ist die Tatsache, dass seine Kapellen von mehreren Handwerker- und Gesellenbruderschaften als Oratorien genutzt wurden, dass eine ausreichende Menge an Spenden und Stiftungen einging25 und die vom Rat bestellten Pfleger immer wieder in die internen Abläufe eingriffen; von diesem hohen Interesse der Kommunalführung zeugt eine beachtliche Reihe von Ordnungen und Dienstanweisungen.26 Die aus diesen Quellen rekonstruierbare innere Struktur des Großen Spitals lässt sich für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts wie folgt beschreiben: Die 24 Mit den wichtigsten Belegen aus dem Straßburger Urkundenbuch (zu 1315 v. a. Bd. 2, Nr. 339 S. 283 – 285): Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 5 – 10; Pauly, Peregrinorum, S. 255; Pauly, Hospitäler im Grenzraum, S. 150 – 153; Egawa, Das Hospital. S. auch Reicke, Das deutsche Spital 1, S. 80, 243 f. Alle Chroniken berichten über die Verlegungen, etwa Jakob Twinger von Königshofen (Hegel, Die Chroniken: Straßburg 2, S. 738 f.); die späteren Chroniken rekapitulieren diesen Hergang der Dinge, geben zum Teil aber Auskunft über die weitere Geschichte des dritten Baus in der frühen Neuzeit, etwa: Fragments de diverses vieilles chroniques, Nr. 4331 S. 214 f. (eine Notiz aus dem 18. Jh.). – Lage des letzten Gebäudes: unten Plan 5. 25 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 13. Vom liturgischen Betrieb, der auch den Erfordernissen der Memorialstiftungen diente, zeugen die Ordnungen der Spitalkapläne (dazu mehr unten, Anm. 83 ff.). Über die Höhe der dem Spital zukommenden Legate, Almosen und sonstigen Stiftungen lassen sich auf dem gegenwärtigen Stand der Forschung allerdings keine genaueren Angaben machen. Vgl. die entsprechende Arbeit zur Münsterfabrik von Nohlen, Das Donationsbuch. 26 Editionen eines Teils dieser Ordnungen finden sich bei: Brucker, Strassburger Zunft- und Polizei-Verordnungen, S. 271 – 291 (überliefert in den von Rat erlassenen Stadtordnungen); Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 2 – 5 u. 8, ediert eine Auswahl von Dienstordnungen des 15. und frühen 16. Jh.s nach der Statutensammlung Hs. 112 des Hospitalarchivs in den AVCUS (Resümee des Inhalts weiterer Ordnungen in dieser Handschrift bei Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 13 – 24). Eine Serie von zusätzlichen, mit den von Winckelmann behandelten teils eng verwandten Ordnungen des 15. Jh.s kommentiert und druckt nach einer anderen, Würzburger Hs.: Gabler, Bibliothekskatalog; Gabler, Die Ordnungen; Gabler, Krankenpfleger- und Gesindeordnungen. S. unten, Anm. 76 ff.

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etwa 50 »gesunden« Pfründner und (idealiter) 150 armen Kranken wurden von einer mindestens 40-köpfigen27 Belegschaft administriert und betreut. Die Gesamtleitung lag inzwischen bei einem einzigen Schaffner, nun meist ein verheirateter Laie, dessen Frau seine Arbeit unterstützen sollte; die »Gesunden« hatten keinen eigenen Vorsteher mehr und partizipierten im Vergleich zu den Kranken in zunehmend geringerem Maß an den Ressourcen des Instituts. Mit seinen Hilfsfunktionären versah der Schaffner vor allem die Verwaltung, während der eigentliche Dienst an den kranken Insassen einer Frau unterstand. Diese Spitalmeisterin, die den Status einer Oblatin hatte,28 gebot über mehrere weibliche und männliche Untergebene, deren Zahl schwankte, sich gegen Ende des 15. aber auf mehr als ein Dutzend belief: eine »Küsterin«, Mägde für den Pflegedienst, ferner so genannte Kübelmägde, die für Hygiene und Wäsche zu sorgen hatten, sowie Siechenknechte vornehmlich für die Männer. Während im frühen 15. Jahrhundert eine eigens zu diesem Zweck gegründete Laienbruderschaft Krankenwachen übernommen und außerdem einen oder zwei Siechenknechte finanziert hatte, wurde später das gesamte männliche Pflegepersonal direkt vom Spital angestellt und die Bruderschaft auf die Rolle eines externen Wohltäters beschränkt.29 Das weibliche Personal dürfte ursprünglich auf eine jener Frauenkommunitäten zurückgehen, wie sie in vielen hochmittelalterlichen Hospitälern und hier speziell in einer Beginen- oder Reuerinnengruppe nachweisbar sind, die von Heinrich von Homburg 1316 zum Hospitaldienst angeleitet worden war ; im 15. Jahrhundert jedoch sind die im Großen Spital arbeitenden Frauen Lohnempfängerinnen wie ihre männlichen Kollegen. Die für die wirtschaftlichen Funktionen zuständigen Kräfte (Kellermeister, Bäcker, Köche, Fuhrleute u. a.) und drei Kapläne komplettieren dieses sehr differenzierte Tableau. Ein Arzt fehlte noch: Er wurde erst 1515 eingestellt. Als der Freiburger Drucker und Meistersinger Jörg Kienast während der Hungersnot von 1516 – 1518 Hilfe in Straßburg fand, revanchierte er sich beim Rat mit zwei Lobgedichten:30 Das eine stellt die öffentliche Getreideversorgung heraus, das andere widmet sich den Hospitälern, insbesondere dem Großen 27 Die Zahl bezieht sich auf das im Haus arbeitende Personal, ohne die auf den Ländereien des Spitals beschäftigten Personen. S. hierzu und zum Folgenden Gabler, Krankenpfleger- und Gesindeordnungen, S. 98 f. sowie generell Gablers in Anm. 26 genannte Arbeiten; Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 13 – 27; ebd. 2, Nr. 7 S. 15 f., (Verzeichnis der Spitalschaffner 1316 – 1511, offensichtlich ohne die im 14. Jh. bezeugten eigenen Schaffner der Pfründner). 28 Gabler, Die Ordnungen, S. 58 – 64. 29 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 17 f., 125; ebd. 2, Nr. 1 S. 3 f. (a. 1400); Gabler, Krankenpfleger- und Gesindeordnungen, S. 72 – 75; Frank, Bruderschaften und Hospitäler, S. 180 f. S. auch unten, Anm. 86. 30 Kienast, Lobgesang 1 u. 2; Wiederabdruck des zweiten Gedichts bei Pauly, Hospitäler im Grenzraum, S. 153 – 161.

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Spital, dessen acht Siechen- und zwei Pfründnerstuben der eifrige Dichter einzeln aufzählt (Strophe 5 – 12). Als weitere feste Wohlfahrtseinrichtungen streift er die Elendenherberge, das Haus für Syphiliskranke und das Waisenhaus (Strophe 12 – 13), beginnt sein Lob aber auffälligerweise mit drei von der Kommune offenbar spontan errichteten provisorischen Notunterkünften für obdachlose, auch stadtfremde Bedürftige (Strophe 3 – 4);31 außerdem zählt er die Kirchen und Klöster auf, in welchen die Stadt Almosen und Brotspenden ausgeben ließ (Strophe 14 – 15). Dieses literarische Zeugnis über die karitativen Anstrengungen einer spätmittelalterlichen Stadt mag, wie in Rechnung gestellt wurde,32 unrealistisch sein; es zeigt jedoch recht gut, welche Strukturen einem von außen kommenden ›teilnehmenden‹ Beobachter, der mit den Verhältnissen nicht allzu genau vertraut war, als Pfeiler der Organisation ins Auge fielen. Unrealistisch ist Kienasts für den Rat sehr schmeichelhafte Bestandsaufnahme nicht deshalb, weil sie den Grundcharakter dieses um eine große Einrichtung zentrierten Systems33 verfehlt, sondern weil sie übersieht, dass Straßburg seine Fürsorgepolitik seit langem, nämlich schon seit dem frühen 15. Jahrhundert, zunehmend restriktiv handhabte. Zwar bot die Stadt, neben ihren Hospitälern, den eingesessenen, auf irgendeine Weise anerkannten und integrierten Bedürftigen eine ganze Reihe von regulären Almosenstiftungen und Armenbruderschaften.34 Doch genügte dies nicht für die – aus welchen Gründen auch immer – ständig neu hinzukommenden Armen: für die Opfer von Teuerungen und Hungerkrisen und generell all jene, denen die Landwirtschaft keine sichere Lebensgrundlage mehr bot, für Kriegsflüchtlinge und Opfer von Krankheiten wie der gegen Ende des 15. Jahrhunderts aufkommenden Syphilis. Wie alle weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten des Spätmittelalters lavierte auch der Straßburger Rat zwischen dem christlich-inkludierenden Ideal einer Verteilung der verfügbaren Ressourcen an alle Notleidenden einerseits und einer Politik der differenzierten Wertung von Bedürftigkeit andererseits, die insbe-

31 Vgl. zu diesen Notbauten die Angaben in »Brant« A, Nr. 3441 S. 238 f. (a. 1518). 32 Zuletzt Pauly, Hospitäler im Grenzraum, S. 163; Voltmer, Wie der Wächter, S. 583. 33 Ein Beispiel für das Funktionieren des Systems im ›Normalbetrieb‹ und die Rolle des Großen Spitals darin (Strobel/Schneegans, Code historique, darin Archiv-Chronik, S. 216; die Vorlage, die der Schreiber der Chronikhandschrift um 1568 kopiert hat, wurde kurz nach 1500 verfasst): Als 1494 ein Unfall in der Karmeliterkirche Tote und 16 Verletzte verursachte, »do hatt man ir lipsal im spittal, unnd do gingen die rätt und einundzwantzig ab der pfaltzen zum opffer. Es cost auch die statt 26 pfunt 11 schilling die sie gaben ettlichen zu steür den scherern zu heylen und ettlichen an ihrer narrung.« (»Da brachte man sie zur Pflege ins Spital, und da gingen die Räte und die XXI aus dem Palast zur Messe. Es kostete die Stadt auch 26 Pfund 11 Schilling, die sie [die Räte] teils für die Barbiere ausgaben zur Heilung [der Verletzten] und teils für deren Ernährung.«) 34 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 60 – 66, u. ebd. 2, Nr. 41 S. 93 – 96 (Liste der an Kirchen traditionell ausgegebenen Almosen nach dem Stand von 1523).

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Reformdebatten um 1500

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sondere gesunde, arbeitsfähige Berufsbettler und Fremde mehr und mehr von Hilfeleistungen ausschloss. So ergibt sich ein widersprüchliches Bild: Während die Stadt in Krisenjahren wie 1444 oder 1517 zu durchaus beachtlichen Versorgungsleistungen imstande war, bemühte sie sich andererseits, durch immer strengere Maßregeln dem »Almosenheischen« Einhalt zu gebieten und der vagabundierenden Bettler Herr zu werden. Bettelordnungen und Kontrollmaßnahmen häufen sich seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts; im Bemühen, Kriterien zur Identifizierung falscher Bettler und zu deren Kriminalisierung zu formulieren, war Straßburg sogar Vorreiter in Europa.35 Begrenzte Ressourcen bei wachsendem Bedarf und eine Armutswahrnehmung, die von der Spannung zwischen christlichem Caritas-Gebot und humanistischen Nützlichkeitserwägungen geprägt war – das waren die Koordinaten, zwischen denen die Diskussion um eine mögliche Verbesserung der karitativen Institutionen sich gegen 1500 in Straßburg zuspitzte. Im Zentrum stand bis zur Reformation das Große Spital.

3.

Reformdebatten um 1500: Der Münsterprediger Johannes Geiler von Kaysersberg und seine Kritik an der Wohlfahrtspolitik des Rates

Johannes Geiler von Kaysersberg

Über Johannes Geiler von Kaysersberg (1445 – 1510) ist gerade in jüngerer Zeit so viel geschrieben worden, dass man es kaum wagt, einen bei den Historikern des Spätmittelalters derart beliebten Hauptdarsteller um eine Zugabe zu bitten.36 Über seine Lebensstationen und sein Predigtwerk wird sich kaum Neues sagen 35 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 66 – 74; Fischer, Städtische Armut, S. 161 ff.; Voltmer, Die Straßburger »Betrügnisse«. 36 Schon Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 19 – 21, u. Gabler, Krankenpfleger- und Gesindeordnungen, S. 99 – 101, gehen auf Geilers Vorstellungen zur Armenfürsorge ein; eine Art Führer durch die vorreformatorischen Missstände im Klerus ist der Prediger für Rapp, R¦formes, passim, besonders S. 395 – 467. Erschöpfend die beiden Dissertationen von Israel, Johannes Geiler von Kaysersberg, besonders S. 222 – 241, 356 – 376 (Werkverzeichnis, Predigtverzeichnis), u. Voltmer, Wie der Wächter, besonders S. 537 – 613, 757 – 886 (verdienstvolles chronologisches Verzeichnis der Predigten), 942 – 1014 (Werkverzeichnis: Predigten); außerdem Voltmer, Zwischen polit-theologischen Konzepten, S. 134 f. (Verzeichnis der für Geilers Ideen zur Mildtätigkeit besonders einschlägigen Werke), sowie zahlreiche weitere, bereits genannte und noch zu nennende Beiträge derselben Autorin; s. aber bereits Brady, »You hate us priests«, S. 215 – 227. Ferner Lorentzen, Johannes Bugenhagen, S. 101 – 113; Israel, Sebastian Brant.

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Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

lassen, solange nicht die kritische Edition seiner Werke voranschreitet.37 Seit seiner Berufung zum Münsterprediger (1478) war der Theologe führender Kritiker der kirchlichen und weltlichen Verhältnisse in Straßburg. Das nicht leicht überschaubare Werk deutscher und lateinischer Predigten zeugt von dem Eifer, ja Furor, den er an den Tag legen konnte, wenn er auf einen in seinen Augen religionsfeindlichen, unmoralischen oder ungerechten Sachverhalt stieß. Seine Verdienste um eine umfassende Reform des Klerus, der Klöster und des christlichen Lebens der gesamten Stadt wurden schon von Zeitgenossen hervorgehoben.38 Johannes Geilers Sorge für die Armen und Kranken tritt seit den 1480er Jahren hervor. Seine meist in Predigten geäußerten Ermahnungen sind Ausdruck seiner theologisch begründeten Auffassung von einer wohlgeordneten Stadtgesellschaft. Es geht hier freilich nicht darum, sein »polit-theologisches System«39 zu rekapitulieren und den Platz der Armen- und Krankenfürsorge in diesem »System« zu bestimmen, sondern darum, seine Reform-Rhetorik am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit dem Großen Spital zu beschreiben. Zum Verständnis dieser Auseinandersetzung kommen wir um einige Hinweise zu Geilers Sicht auf Armut, Krankheit und Wohtätigkeit gleichwohl nicht umhin. Sein öffentlicher Aufruf von 1481, mit dem er der hungernden Bevölkerung gestattete, notfalls die Kornspeicher der Reichen gewaltsam zu öffnen, war ein spektakuläres Fanal, das er nach Ermahnung durch den Rat in dieser Radikalität nicht mehr wiederholte. Doch auf die Armenfürsorge kam Johannes Geiler in den Jahren danach immer wieder zu sprechen. Der von seinen Biografen Jakob 37 Sie ist wegen kaum überwindbarer editorischer Schwierigkeiten bei den drei Bänden der zu Lebzeiten gedruckten deutschen Schriften stehen geblieben, s. Geiler von Kaysersberg, Werke (1989 – 1995), Vorwort zu Bd. 3, S. V. Die anderen Werke sind entweder in den Drucken des 16. Jh.s (s. die Verzeichnisse bei Voltmer und Israel, wie Anm. 36) oder (partiell) in den unzureichenden Editionen des 19. Jh.s zu benutzen: Geiler von Kaysersberg, Ausgewählte Schriften; Geiler von Kaysersberg, Die ältesten Schriften. Hilfreich sind zudem die zahlreichen Auszüge bei Voltmer, Wie der Wächter, passim. 38 Neben den Viten von Jakob Wimpfeling und Beatus Rhenanus (s. die Zusammenstellung der Nachrufe bei Israel, Johannes Geiler, S. 390 – 393) besonders der Chronist Maternus Berler (schreibt 1510 – 1515), von dem eine Passage wörtlich zitiert sei (Strobel/Schneegans, Code historique, S. 114): »Er ist gewessen ein vatter aller armen menschen, deren er nye keynnen unbegabt hatt von synem angesicht lassen kummen mitt geld, speysz, tranck, bekleidung, mitt vermannung zu der gedult. Dan alles das, das ubertraff syn leyps narrung der pfrun, gab er armen lutten, welche er offt zu tiesch lud und mitt yn nam das essen, ein rechter ausz teiller, desz woren kilchen schatz, zu welcher spyesz er ze zitten den grosten anmutt hett, gab er den armen.« Später hat der Chronist Daniel Specklin Geilers scharfe Kritik an den kirchlichen Verhältnissen proto-evangelisch umgedeutet: Specklin, Nr. 2164 – 2165, 2167, 2190, S. 469 – 473, 478. Ein breites Echo fand Geiler noch bei Johannes Wencker, der seine Chronik 1636 – 1637 schrieb: Wencker, Nr. 2979, 2994, 3000, 3003, 3015. 39 Diese Formulierung findet sich wiederholt bei Voltmer, »Die fueßs an dem leichnam der christenhait«, passim, sowie ähnlich in mehreren anderen Beiträgen derselben Autorin.

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Reformdebatten um 1500

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Wimpfeling und Beatus Rhenanus nicht von ungefähr postum als »pater pauperum« apostrophierte Prediger beleuchtete das Problem aus drei Perspektiven: zum einen aus Sicht der Armen, Kranken oder allgemein Bedürftigen, denen er das Recht auf Hilfe ohne pedantische Prüfung ihres individuellen Verhaltens und der Ursachen ihrer Bedürftigkeit zusprach, aber auch christliche Demut abverlangte; zum anderen und besonders häufig aus Sicht der einzelnen Almosengeber, die er an ihre Christenpflicht erinnerte, alle über den standesgemäßen Eigenbedarf hinausgehenden Güter für barmherzige Zwecke und damit auch für ihr eigenes Seelenheil einzusetzen; außerdem aus Sicht der städtischen Institutionen, deren Vertretern er einschärfte, dass eine gottgefällige Stadt nicht ohne öffentliche Wohltätigkeit denkbar sei, denn die privaten Almosen allein genügten nicht und mussten richtig verteilt werden.40 Ab 1496, mit der raschen Ausbreitung der Syphilis, intensivierten sich Geilers Interventionen. Die Krankheit wurde nicht nur von Straßburger Zeitgenossen41 als völlig neuartige Gottesstrafe wahrgenommen. Der Prediger forderte von und vor seinem Predigtpublikum mehrfach konkrete Notmaßnahmen zu Gunsten der Erkrankten. Vor allem die Jahr für Jahr zu Dutzenden von außen in die Stadt strömenden Infizierten boten ein beklagenswertes Bild: Ohne Bleibe, hungernd und frierend lagerten sie auf den überdachten Ill-Brücken. Es war ihm von Beginn an klar, dass mit dieser Klientel die Hilfsbereitschaft einzelner Bürger überfordert wäre, und so richteten seine Forderungen sich vornehmlich an die Verantwortlichen in der Stadt und an die Hospitäler : Vor allem musste den Kranken eine geeignete Unterkunft zur Verfügung gestellt werden, ferner Nahrung, Heizung und ärztliche Behandlung. In der Tat gelang es dem Prediger im Winter 1496/1497 durch einen Brief und öffentliche Predigten, den Ammeister und einflussreiche Mitglieder des Kollegiums der XXI wenigstens zur Bereitstellung eines Hauses und zur Übernahme eines Teils der Kosten zu bewegen; ein Teil der Syphiliskranken, wahrscheinlich die in Straßburg ansässigen, war unterdessen im Großen Spital untergekommen.42 40 Voltmer, Wie der Wächter, S. 547 – 553; Voltmer, Zwischen polit-theologischen Konzepten, passim; Voltmer, »Die fueßs an dem leichnam der christenhait«, S. 207, 214 f., 219 f., 226 f., mit ausgiebigen Zitaten aus Geilers Predigten. S. auch oben, Anm. 38, Chronik des Maternus Berler, der das Wort vom »pater pauperum« aufgreift und ins Deutsche übersetzt. 41 Voltmer, Wie der Wächter, S. 555 f.; Voltmer, Praesidium et pater pauperum, S. 422 f., Anm. 40, stellt die Notizen zur Syphilis aus den Straßburger Chroniken zusammen. Zu ergänzen: Archiv-Chronik, in: Strobel/Schneegans, Code historique, S. 131 – 220, hier 216. S. ferner Israel, Sebastian Brant, S. 73 f. (Abbildung eines Einblattdrucks von 1496 mit einem Gedicht von Brant zur »pestilentiale scorra sive mala de Franzos«). Vgl. als eine der genauesten zeitgenössischen Beschreibungen der Symptome die dem Humanisten Francesco Maturanzio zugeschriebene Peruginer Chronik: Fabretti, Cronaca Maturanzio, S. 32 – 37, sowie oben, Kap. III, Anm. 78 – 85. 42 Voltmer, Praesidium et pater pauperum, S. 424 – 436, mit allen Belegen.

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Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

In den darauf folgenden Jahren behalf man sich weiter mit solchen Provisorien, bis der Rat sich 1503 zur Gründung eines dauerhaften »Blatterhauses« mit Männer- und Frauenabteilung verstand. Das war sehr wahrscheinlich auch ein Verdienst des Münsterpredigers, der von seinen Ermahnungen nicht abgelassen hatte. Aber auch nach der Bestellung eines speziellen »Schaffners« für die von der »Franzosen«-Krankheit Geschlagenen und der Eröffnung des Blatterhauses blieben die »Blattern« für ihn ein Thema, das er nun aber nicht nur in Forderungen nach konkreten Hilfsmaßnahmen übersetzte, sondern auch symbolisch deutete (»geistliche« Syphilis als Bild für bestimmte Sünden).43

Kritik am Großen Spital in den 21 Artikeln Zeitlich zwischen seine erste Äußerung zum Problem der Syphilis und 1503 fallen die 21 Artikel. Die in 21 Punkte gegliederte Schrift geht ebenfalls auf die Opfer der neuen Seuche ein und hat damit allem Anschein nach zur Eröffnung des Blatterhauses beigetragen, stellt darüber hinaus aber die umfassendste Zusammenschau seines Reformprogramms für das religiöse und öffentliche Leben Straßburgs dar und wurde auch schon vielfach in diesem Sinne gelesen.44 Im November 1500 ging Geiler in einer Predigt mit dem Rat der Stadt öffentlich ins Gericht: Dessen Politik und Statutengebung verletze auf Feldern wie dem Testierrecht, der öffentlichen Moral (Spiel, Trinkstuben), dem Schutz von Kirchen und Klerus vor rechtlichen Benachteiligungen und vor entwürdigenden Bräuchen, aber auch in der Armen- und Krankenfürsorge kirchliche Interessen und verstoße gegen übergeordnetes Recht, was die Ratsherren unweigerlich in die Hölle bringe. Diese Ankündigung nahmen sich die Beschuldigten so zu Herzen, dass sie von dem Prediger eine Erklärung verlangten. Geiler übermittelte seine Antwort in Form von 21 Artikeln,45 die er Ende Januar 1501 den Ratsherren 43 Voltmer, Praesidium et pater pauperum, S. 440 f. – Straßburg gehört zu den europäischen Städten, die sich am frühesten zu ernsthaften Hilfsmaßnahmen für Syphiliskranke durchringen konnten. Vgl. zu Italien, wo das erste Ospedale »degli Incurabili« ebenfalls 1503 in Genua eröffnet wurde, Malamani, Notizie sul mal francese, S. 17, 20. Zur mühsamen Diskussion in Paris s. oben, Kap. III, Anm. 81 – 85. 44 Die 21 Artikel stehen im Zentrum des Buches von Israel, Johannes Geiler, S. 178 – 267. Daneben auch Voltmer, Wie der Wächter, S. 446 – 450 u. passim bis S. 621. – Für den gesamten Abschnitt über Johannes Geiler greife ich einiges aus meinem Beitrag Frank, Hospitalreformen um 1500, wieder auf. 45 Geiler von Kaysersberg, 21 Artikel, hier Einleitung S. 155 f.; zur Datierung der Übergabe der Schrift s. das Nachwort des Editors, ebd., S. 518 f., zur Vortragsdauer ebd., S. 200. – Die einzelnen Artikel sind zwischen einer halben und fünf Druckseiten lang. Das Wort »artickel« meint bei Geiler nicht nur die 21 Kapitel seiner Abhandlung, sondern auch die jeweils inkriminierte kommunale Verordnung (»statut«, »gesatz«), gegen die die Kapitel protestieren; s. die Formulierung in der Schlussbetrachtung, ebd., S. 197.

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zunächst zwei Stunden lang mündlich vortrug und im März auch schriftlich vorlegte. Einer der längeren Artikel, der zwölfte, ist dem Großen Spital gewidmet. Mit diesem, in fünf Punkte unterteilbaren Artikel müssen wir uns näher befassen. Geiler geht von der Feststellung aus, dass ganz ähnlich, wie es für die Spenden an die Münsterfabrik gelten soll (davon handelt Artikel 11), auch die Almosen, die die Bürger dem Großen Spital und anderen Hospitälern (»gots husernn«) zukommen lassen, ausschließlich für ihren spezifischen Zweck verwendet werden dürfen, nämlich für die Beherbergung von Armen und Kranken.46 (1) Unter diesen hat der Prediger – und das ist sein erster Punkt – die neue Problemgruppe der an Syphilis Erkrankten (»die blotterechten«) besonders im Auge. Sie werden vom Großen Spital wie von anderen karitativen Einrichtungen Straßburgs (insbesondere: der Elendenherberge) abgewiesen und verenden häufig auf der Straße; diese Hartherzigkeit könne weder vor Gott noch der Welt verantwortet werden,47 schließlich seien die genannten Häuser doch gerade für solche Fälle errichtet worden. In anderen Städten sei man da schon viel weiter. Wie wolle man die Bürger dazu bewegen, den Kranken zu helfen, wenn sich schon die Hospitäler weigern, sie auch nur eine Nacht zu beherbergen? (2) Überhaupt ist für Geiler die Steuerung des Zugangs zum Großen Spital ein Ärgernis. Bevorzugt aufgenommen werden Personen, die gute Verbindungen haben, zum Beispiel die Dienerschaft von Mächtigen; normale Bürger dagegen haben keine Chance, einen kranken Knecht dort unterzubringen. Gerade umgekehrt müsste es sein: Wenn schon eine Gruppe bevorzugt werde, dann wäre es gerechter, den armen Bürgern einen Vorteil einzuräumen als den Reichen, die ihre Leute bestens zu Hause versorgen können.48 (3) Der dritte, am ausführlichsten behandelte Punkt49 betrifft die Wirtschaftsführung des Großen Spitals. Leitende Gesichtspunkte sind drei eng miteinander verknüpfte Argumente: (a) Erneut stellt der Prediger die Zweckgebundenheit aller Mittel des Hauses heraus, die für die Ärmsten der Armen und 46 Geiler von Kaysersberg, 21 Artikel, S. 182 – 187; Zitat »gots husernn« S. 182 Z. 27. Vgl. auch Voltmer, Wie der Wächter, S. 588 – 594. 47 Geiler von Kaysersberg, 21 Artikel, S. 183 Z. 5 – 7: »Darumb so ist es ein grosse hertikeit die weder vor got noch der welt verantwurtet mag werden.« In dieser modernen Bedeutung war das Wort »verantworten« im 15. Jh. sonst noch kaum gebräuchlich (Grimm, Deutsches Wörterbuch, s. v.). Vgl. das Adjektiv »pflichtig« bei Geiler von Kaysersberg, 21 Artikel, S. 182 Z. 26. 48 Geiler von Kaysersberg, 21 Artikel, S. 183 Z. 13 – 23 (hier Z. 20 – 22): »sollte aber vorteil sein / so solt der arm burger billicher ein vorteil haben / das man sin siechen ee neme weder des gewaltigenn …« 49 Geiler von Kaysersberg, 21 Artikel, S. 183 Z. 23 – 185 Z. 22. Diesen Punkt greift auch der Chronist Johann Wencker in seiner Kurzzusammenfassung der 21 Artikel heraus, um den zwölften Artikel zu charakterisieren: Wencker, Nr. 2994 S. 145.

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Kranken eingesetzt werden müssen. (b) Damit hängt zusammen, dass er generell großen Wert legt auf die Freiheit der Stifter, ihre Güter nach ihrem Willen zu frommen Zwecken einzusetzen. Das war ohnehin eines der Hauptthemen der 21 Artikel: Besonders die Artikel 2 – 6 argumentieren ausdrücklich und juristisch informiert gegen allerlei Versuche der Kommune, die Testierfreiheit einzuschränken; als mögliche Empfänger frommer Legate werden wiederholt die Armen genannt.50 (c) Um sich weiterhin Zuwendungen aus frommen Legaten zu sichern, müsse das Spital mit seinen Mitteln so umgehen, wie die Öffentlichkeit es erwarte; es habe daher die Extreme übertriebener Sparsamkeit zu Lasten der Armen auf der einen und Verschwendung seiner Ressourcen auf der anderen Seite zu meiden. Die Politik der Spitalleitung laufe diesen Prinzipien jedoch zuwider. So kritisiert Geiler zum einen, dass man Getreide des Spitals in einer Zeit hoher Getreidepreise unter Marktwert verkauft und dadurch den Ärmsten, nämlich den Spitalinsassen, geschadet habe. Zum anderen geize man mit Geld und Vorräten und lasse es deshalb die armen Leute an vielem mangeln. Untermauert werden diese Vorhaltungen mit drei verschiedenen Arten von Belegen: einem Hinweis auf die Vorschriften des kanonischen Rechts zur Verantwortung der Hospitalrektoren für ihre Schützlinge;51 einem Exempel aus einer auch in Straßburg gedruckten Exempla-Sammlung,52 das anhand der Geschichte eines Klosters darlegt, wie nach dem biblischen Prinzip »date et dabitur vobis« (Lk 6,38) Reichtum eben nicht durch Knausern, sondern durch Freigebigkeit entsteht; sowie einem persönlichen Erlebnis, bei dem Geiler Zeuge wurde, wie ein Teil eines von ihm den Kranken gespendeten Betrags vom Spital einbehalten wurde.53 (4) Tadel erfährt auch die Begleitung der Sterbenden.54 Deren religiöse Betreuung sei völlig unzureichend, »unkristlich« auch die Tatsache, dass sie oftmals ohne Beistand verenden müssen. Zur Bekräftigung wird noch einmal der Wesenskern des Hospitals hervorgehoben: Das Spital ist die armen Leute und nicht Zins und Einkünfte, Haus und Mauern. Es steht dann gut um das Spital, wenn für der armen Leute Wohl gesorgt wird, wenn Zins und Einkünfte und alles Gut den Armen reichlich und angemessen aus Barmherzigkeit gereicht werden.

50 Geiler von Kaysersberg, 21 Artikel, S. 164, 166 (3. Artikel), 169 (4. Artikel), 174 f. (5. Artikel). 51 Geiler von Kaysersberg, 21 Artikel, S. 184 Z. 10: zitiert wird die Clementine Quia contingit (Friedberg, Corpus 2, col. 1170 f.). 52 Vermutlich bezieht Geiler sich auf: Speculum exemplorum, gedruckt u. a. in Straßburg 1487, dort distinctio 6, exemplum 43 (s. Geiler von Kaisersberg, 21 Artikel, S. 185 Anm.). 53 Geiler von Kaysersberg, 21 Artikel, S. 185 Z. 15 – 22. 54 Geiler von Kaysersberg, 21 Artikel, S. 185 Z. 22 – 186 Z. 8.

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Es folgt zum zweiten Mal eine präzise Paraphrase aus Quia contingit: Darum sollen, wie der Papst im Rechtsbuch spricht, solche Leute [zu Vorstehern] gewählt werden, die das wissen, wollen und zu tun in der Lage sind. In Clementina Quia contingit, De religiosis domibus.55

(5) Der letzte Kritikpunkt56 ist der Krankenpflege und in Verbindung damit der unsinnigen Heimlichtuerei des Spitals gewidmet. Geiler fordert, dass die Ernährung vernünftigerweise dem Zustand der Patienten angepasst sein müsse, sonst schade sie mehr, als sie nütze. Außerdem solle man wie früher wieder freiwillige Pflegekräfte zulassen, Beginen oder andere »frum lut«. Denn das professionelle Personal verliere durch die Gewöhnung jede Barmherzigkeit, weshalb Umgangston und Hygiene sehr zu wünschen übrig lassen. Den Einwand, dass durch freiwillige Helfer Interna des Betriebs nach außen gelangen könnten, lässt Geiler nicht gelten: Es wäre für den Ruf der Einrichtung besser, wenn die Öffentlichkeit informiert würde, dass dort sauber gearbeitet wird, als alles geheim zu halten. Diese restriktive Informationspolitik, zum Beispiel bezüglich der Erbansprüche, die das Spital gegenüber allen verstorbenen Klienten geltend mache, habe er selbst erlebt, als er einmal 20 Gulden zu verteilen hatte57 und im Zweifel war, ob diese wegen der Erbschaftsregelung vielleicht dem Großen Spital zustünden; seine diesbezügliche Anfrage habe der Schaffner noch immer nicht beantwortet. Wie argumentiert dieser mit dem Ziel konkreter Reformmaßnahmen in einem Hospital sowohl mündlich vorgetragene als auch schriftlich fixierte Text? Ausgangspunkt aller fünf Hauptthemen ist ein empirischer Befund: ausweglose Lage der Blatternkranken (1), ungerechte Aufnahmepolitik (2), kontraproduktive und nicht den Stiftungszwecken entsprechende Wirtschaftsführung (3), nachlässiger Umgang mit Sterbenden (4), schlechte Krankenpflege und noch schlechtere Imagepflege (5). Diese realen Befunde stellt der Text in einen Deutungszusammenhang, dessen Argumentation auf formale wie materiale Topoi 55 Geiler von Kaysersberg, 21 Artikel, S. 186 Z. 1 – 8: »Der spittal ist / die arme lut / und nit zinß und gult / huß / oder muren. / Den stat es wol umb den spittal / so der armen lut woll gewart wurt / so zinß und gult und alles gut den armen richlich und bescheidenlich uß barmhertzikeit dar gereicht wurt. Dorumb sollent als der babst im rechtbuch spricht sollich lut dar zu [zu Vorstehern] erwelt werden / die das wissen ollen / und vermügen zu thun In Cle quia contingit, de religi do« (s. oben, Anm. 51). – Über a, o und u gestelltes e wird hier und künftig als Umlaut wiedergegeben. 56 Geiler von Kaysersberg, 21 Artikel, S. 186 Z. 14 – 187 Z. 7 (Ende des Artikels). 57 Wahrscheinlich war Geiler hier als Vollstrecker eines Testaments aufgetreten. Von einem solchen Fall berichtet er in Artikel 3 u. 4 (Geiler von Kaysersberg, 21 Artikel, S. 164 – 169; s. dazu Israel, Johannes Geiler, S. 201 – 205; Voltmer, Wie der Wächter, S. 479 – 483). Auch in seinem eigenen Testament (1505 Apr. 30) setzt er sich mit möglichen Schwierigkeiten bei der Vollstreckung auseinander : Geiler von Kaysersberg, Die ältesten Schriften, S. 104 – 107.

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zurückgreift. Als formale Topoi58 können der Vergleich und das Argumentieren mit Exempla oder Erfahrungsbeispielen benannt werden: Ähnlich wie mit der Münsterfabrik verhält es sich mit dem Großen Spital, so heißt es zu Beginn des zwölften Artikels; im Vergleich zu anderen Städten behandelt Straßburg die Syphiliskranken schlecht usw. Das bei der Kritik der Wirtschaftsführung (3) und der Öffentlichkeitsarbeit (5) angewandte Verfahren, den empirisch festgestellten Zustand sowohl mit Exempla als auch mit Erfahrungsberichten zu konfrontieren, dient dem Nachweis des Versagens der Spitalleitung und damit indirekt auch des Straßburger Rats, der mit seinen Ordnungen und Pflegern in das Große Spital ja direkt hineinregierte. Materiale Topoi finden sich noch häufiger : Zu ihnen gehören – jetzt von der inhaltlichen Seite betrachtet – das Exemplum und die selbst erlebten Episoden, mit denen Geiler seine Kritik an der Sparpolitik und Verwaltung des Spitals illustriert. Ein materialer Topos ist auch das Argument, etwas entspreche der ›Natur der Sache‹ oder einer ›rationalen Zweckmäßigkeit‹: Natürlich ist das Spital für die Blatternkranken zuständig, wer denn sonst? Natürlich vertragen Sterbende keinen Rinderbraten und stumpfen Menschen durch Gewöhnung ab. Topisch ist ferner der explizite oder implizite Rückgriff auf Gesetzesautoritäten (die Dekretale Quia contingit)59 und Rechtsmaximen wie etwa dieser : Der aus einem korrekt verfassten Testament erkennbare Wille des Testators ist rechtsverbindlich.60 Oder : Rechtlich gesehen ist ein Hospital die Körperschaft seiner Insassen,61 weshalb Geiler im Zusammenhang mit seiner Kritik an der mangelnden Betreuung Sterbender sagen kann: »Der spittal ist die arme lut.« Er verwendet ein ähnliches Bild auch in anderen Predigtzusammenhängen, doch geht es dort mehr um den Gegensatz zwischen (reichen) Klerikern und Armen bzw. zwischen (toten) Bauwerken und lebenden Armen, denen Stiftungswillige ihr Geld zukommen lassen sollten,62 während die Identifikation der Armen mit

58 S. oben, Einleitung, Anm. 49 – 51. 59 In Artikel 12 ist dies die einzige kirchenrechtliche Norm, die zitiert wird; in vielen anderen Artikeln, v. a. denen zum Testierrecht, allegiert Geiler neben kirchenrechtlichen Vorschriften auch Gesetze aus dem römischen Recht mitsamt der Kommentarliteratur. 60 S. dazu oben, Kap. I, Anm. 75, 80, 85 f. und I.7. 61 Dazu einige Belege, die oben, Kap. I, noch nicht angeführt wurden (außer Baldus, Codex, s. dort Anm. 11, u. Franciscus Zabarella, Lectura, s. dort Anm. 111): Imbert, Les húpitaux, S. 109 – 114; Trexler, The Bishop’s Portion, S. 332 – 335; Franciscus Zabarella, Commentaria, f. 125va, zu Quia contingit. Zur Diskussion s. auch Panormitanus, Consilia, Nr. 31 f. 15vb–16ra. Auf Isidors Definition der Stadt, die aus Menschen bestehe, verweist Voltmer, Wie der Wächter, S. 591. 62 Voltmer, Zwischen polit-theologischen Konzepten, S. 111, zitiert eine Predigt über das Almosengeben aus Geilers Postille II (1504/1509, s. zu dieser Predigtzusammenstellung auch Voltmer, Wie der Wächter, S. 996 – 998): »Nitt heissz ich dich das [Almosen] stossen in uns pfaffen und münch / oder kloester / oder kirchen buwen / und die armen menschen lon

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dem Spital im Kontext des zwölften Artikels auf die juristische Diskussion um den korporationsrechtlichen Status von Hospitälern und ihren Insassen anspielt. Das größte Gewicht in Geilers Argumentation hat der Appell an moralische und religiöse, also an über dem positiven Recht – über den Straßburger Stadtstatuten und Einzelverordnungen, ja auch über dem ius commune – stehende Grundsätze. Wo römisches und kanonisches Recht nicht genügen, um das lokale Partikularrecht zu verbessern, bietet sich der Rekurs auf höhere Prinzipien an: menschliche Verantwortung, Gerechtigkeit, Vernunft, Reziprozität der Zuwendungen und christliche Barmherzigkeit. So beruft sich der Prediger für den Umgang mit den Blatternkranken auf die allgemeine menschliche Pflicht; bei der Regelung des Zugangs zum Spital auf Billigkeit oder Gerechtigkeit; in der Verwaltung der Ressourcen – aber auch bei der Zusammenstellung des Speiseplans der Patienten – auf die Vernunft, ferner den biblischen Satz »date et dabitur vobis«; ex negativo nennt er die Vernachlässigung von Sterbenden »unkristlich«. Über alles wacht die höchste christliche Tugend, die Barmherzigkeit, die in den Passagen über die Betreuung der Kranken mehrfach ausdrücklich erwähnt und öfter auch stillschweigend mitgedacht wird, zum Beispiel in der Anspielung auf drei der sechs biblischen Werke der Barmherzigkeit (Mt 25,35 – 36), wenn von nackten, hungrigen und todkranken »blotterechten« die Rede ist. Der materiale Topos der höheren, außerrechtlichen Norm, an der die Realität gemessen wird, ist für den Reformdiskurs von eminenter Bedeutung, denn in ihm spiegelt sich das elementare Verfahren jeder Reform, einen unbefriedigenden Ist-Zustand mit einem besseren Soll-Zustand zu konfrontieren, und er lässt sich bestens mit den eingeführten Reform-Narrativen (Ursprungserzählung, Idealzustand, bedrohliche Zukunft) verknüpfen. Da er Prinzipien enthält, die von allen anerkannt sind, schafft dieser Topos die diskursiven Bedingungen dafür, dass zwischen dem Theologen und der weltlichen Stadtobrigkeit über die Reform einer zwischen Kirche und Welt operierenden Institution – eines Hospitals – verhandelt werden kann. Der Straßburger Münsterprediger zieht in seinem Reform-Plädoyer neben basalen medizinischen, psychologischen und anthropologischen Einsichten vor allem sein theologisches und sein juristisches Wissen heran. Er verbindet seine praktische Theologie mit dem Feld des Rechts in der Weise, dass sich beide Disziplinen sowohl gegenseitig stützen (wenn biblische Topoi die Beachtung von Rechtsnormen stärken oder eine päpstliche Dekretale die »Christlichkeit« der Arbeit im Spital sichert) als auch gegenseitig in Frage stellen (wenn auf Widersprüche zwischen geltenden Rechtsnormen und theologisch begründeten verderben / die do seind lebendige stein / die man uffbuwen solt / als uns gott gebotten hat.« Vgl. unten, Anm. 176, 181.

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Zielen hingewiesen wird). Ein Effekt dieser ›transdisziplinären‹ Herangehensweise besteht darin, dass sie die Grenzen zwischen den beteiligten Wissensfeldern durchlässiger macht. Dies schlägt sich auf der Mikro-Ebene der Semantik einzelner Begriffe und Metaphern nieder, die in dem von Geiler geführten Reformdiskurs neu positioniert werden.

Die Metapher ›Barmherzigkeit‹ in Johannes Geilers Werk Dreh- und Angelpunkt in der Straßburger Debatte von 1500/1501 ist die Metapher ›Barmherzigkeit‹. Für Johannes Geiler ist Barmherzigkeit seit jeher ein zentrales Konzept, das er in seinem gesamten Predigtwerk umkreist.63 Er bringt dringende Fälle von Hilfsbedarf an die Öffentlichkeit und prangert konkrete Verstöße gegen die Pflicht zur Barmherzigkeit an.64 Er stellt Regeln auf, wie die zur Wohltätigkeit grundsätzlich verpflichteten Individuen ihre Almosen verteilen sollen, und gibt systematische theologische Begründungen. Er führt Barmherzigkeit in einer 1495 – 1497 gehaltenen Predigtreihe auf die Früchte des Heiligen Geistes zurück (nach Gal 5,22), generell auf »charitas/liebe«, insbesondere aber auf »bonitas/güte« und »benignitas/gütikeit«. Gütigkeit bewirkt die aktive Realisierung von Werken der Nächstenliebe und unterscheidet sich daher von der nur potenziellen Barmherzigkeit (Güte), einer inneren Haltung, die bei einer bloß innerlich empfundenen Gutwilligkeit stehen bleiben kann.65 Aktive Barmherzigkeit (Gütigkeit) schätzt er weit höher als den bloßen guten 63 Voltmer, Wie der Wächter, S. 568 – 580; Voltmer, Zwischen polit-theologischen Konzepten. S. insbesondere: Geiler von Kaysersberg, Nächstenliebe [gepredigt 1498], S. 397 – 409; Geiler von Kaysersberg, Seelenparadies [gepredigt 1503/1505], S. 288 – 306 (»Von […] barmhertzikeit«), sowie die in den folgenden Anm. genannten Stellen. Zur bibliografischen Erfassung und zum Predigttermin s. Israel, Johannes Geiler, S. 359 Nr. 24, S. 374 (1498 Advent), S. 366 Nr. 80, S. 375; Voltmer, Wie der Wächter, S. 983 f., 1001 f. 64 Schlagend das von Voltmer, Wie der Wächter, S. 587 f., einer Predigt von 1495 entnommene Exemplum aus eigener Erfahrung, das Geiler mit der Samariter-Geschichte kurzschließt. Er berichtet über einen auswärtigen Schwerkranken, den ein Helfer zum Großen Spital gebracht hatte. Dort wurde er unter Verweis auf die Statuten (das Spital sei nur für Einheimische!) abgewiesen und lag im Regen vor dem Tor, bis der Prediger es schaffte, private Helfer zu mobilisieren. 65 So die Unterscheidung in Geiler von Kaysersberg, Das buoch Arbore humana [gepredigt 1495], f. LXVIIva–LXXrb (sechste Frucht des Heiligen Geistes: bonitas); f. LXXva–LXXIIIIra (siebte Frucht: benignitas); die erste Frucht ist charitas (f. LVra). Die in Arbore humana integrierte Predigtserie über die Früchte des Heiligen Geistes ist auch als lateinische Reihe überliefert (in der Sammlung Sermones prestantissimi), daraus die neuhochdt. Übers. in: Geiler von Kaysersberg, Ausgewählte Schriften 1, S. 371 – 447; de Lorenzi übersetzt benignitas mit »Milde« (S. 409: »Die siebente Frucht des h. Geistes ist die Milde«). – Zur bibliografischen Erfassung s. Israel, Johannes Geiler, S. 362 Nr. 54, S. 373; Voltmer, Wie der Wächter, S. 947 – 950, 1004 f.; zum Predigttermin der Früchte-Serie ebd., S. 767 f., 772 f.

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Willen, der sich häufig in schönen Worten erschöpfe; es komme, sagt Geiler, vielmehr auf Taten an. Barmherzigkeit steht auch höher als liturgische Verrichtungen einschließlich der Kommunion: Ohne Barmherzigkeit seien Opfer vor Gott ohne Wert.66 Das wohl wichtigste Argument zur Begründung einer derartigen Wertschätzung der Barmherzigkeit sind zwei durch Mt 25,31 – 46 verbürgte Parallelisierungen: zum einen die Parallelsetzung der göttlichen Barmherzigkeit am Ende der Zeiten und der menschlichen Barmherzigkeit hier und jetzt, zum anderen die Identifizierung der »Geringsten« mit Christus. Unter diesen Voraussetzungen ist die Almosengabe – und zwar ohne dass der Geber über die Berechtigung oder Würdigkeit des einzelnen Empfängers räsonieren soll – nichts weiter als eine kleine Geste der Dankbarkeit für das große Opfer, das Gott der Menschheit gebracht hat. Selbstverständlich ist niemand gehalten, sich für die Armen zu ruinieren, doch hat jeder Christ die Pflicht, bedürftige Mitbürger mit allem, was er für sich selbst, seine Familie und die Aufrechterhaltung seiner Lebensverhältnisse nicht benötigt, zu unterstützen.67 Nicht von ungefähr ist der zwölfte einer der längsten der 21 Artikel, und zudem beleuchtet der sich anschließende dreizehnte Artikel das Thema von einer weiteren Seite, indem er es auf die allgemeine Armenfürsorge ausdehnt. Geiler fragt dort, was mit bettelnden Armen (also solchen, die um 1500 in der Regel nicht in ein Hospital aufgenommen wurden) geschehen solle. Da ein Reichsgesetz fehle, müsse sich jede Kommune um die »synen« kümmern, wobei er mit den »Seinen« nicht allein die Einheimischen, sondern alle in der Stadt präsenten Notleidenden meint. Er schlägt hier, in den an den Rat adressierten Artikeln, jedoch vor, zwischen unwürdigen, das heißt arbeitsfähigen, und arbeitsunfähigen Kandidaten für den Almosenempfang zu unterscheiden.68 Damit kommt er dem von der Stadtführung seit längerem verfolgten Kurs der Eindämmung der Bettelei nach den Kriterien der Arbeitsfähigkeit und der Moral

66 Das gilt vor allem, aber nicht nur, für Geistliche: s. Voltmer, Wie der Wächter, S. 569 Anm. 848. Geiler von Kaysersberg, Seelenparadies, S. 289; Geiler von Kaysersberg, Das buoch Arbore humana, f. LXXvb: »darumb sein das narren, die da meinen gottes barmhertzikeit zu˚ überkummen [erreichen], on das sie dem nechsten barmhertzig seien. Und was sagen wir aber von denen, die nit allein den armen nichts geben, sie nemen das ir, betrieben [betrüben] sie, treiben sie umb, und hoffen dannocht barmhertzikeit zu˚ uberkumen, darum das sie süssiglich reden etwan mit armen lüten, sie hören meß, beichten.« – Die Feststellung von Lorentzen, Johannes Bugenhagen, S. 101 – 113, Geiler habe nur am Rande mit der Wirkung barmherziger Aktionen auf das Seelenheil des Spenders argumentiert, trifft nicht zu. 67 Geiler von Kaysersberg, Das buoch Arbore humana, f. LXXIIrb–LXXIIIIra. 68 Geiler von Kaysersberg, 21 Artikel, S. 187 f. Eigentlich fehlte ein Reichsgesetz zu Armen und Bettlern seit dem Lindauer Reichstag 1497 gerade nicht mehr, s. Ludyga, Obrigkeitliche Armenfürsorge, S. 38 – 47.

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zwar zum Teil entgegen,69 doch entspricht dies nicht exakt seiner in vielen Predigten vorher und nachher geäußerten Position: Bei vielen anderen Gelegenheiten mahnte er sein Predigtpublikum, in Ausübung der Tugend der Barmherzigkeit nicht lange zu fragen, ob ein Empfänger der Hilfe würdig sei, sondern einfach zu geben; freilich ging es dort um individuelle Wohltäter, nicht um öffentlich organisierte Hilfen. Im Prinzip war Geiler jedenfalls der Ansicht, dass der Rat, wolle er eine wahrhaft christliche Stadt schaffen, die Ressourcen so zu verteilen habe, dass für alle Personen in Not gesorgt werde, die sich innerhalb der Mauern aufhielten. Zusammenfassend lässt sich dieses – auf häufig wiederholte, wenn auch immer wieder variierte biblische und patristische Topoi70 gegründete – Konzept von Barmherzigkeit so beschreiben: Sie ist aktiv praktiziertes Geben an bedürftige Empfänger, deren Würdigkeit der Geber nicht zu prüfen hat. Konditionierend ist allein die Lage der Geberseite: Wenn die für das standesgemäße Auskommen des Gebers notwendigen Mittel gedeckt sind, soll Barmherzigkeit geübt werden. Das ist die Pflicht aller Christen. Barmherzigkeit ist die beste Methode, um Gott bzw. Christus nachzuahmen und sich umgekehrt die göttliche Barmherzigkeit zu sichern. Barmherzigkeit ist eine umfassende Lebenseinstellung: nicht nur ein äußerer materieller Akt, sondern eine Tugend, eine innere Haltung aus christlicher Liebe, die das Geben mit dem Vergeben von Beleidigungen verbindet und von dort zu aufrichtiger Fürbitte für die Feinde gelangt, weshalb selbst völlig mittellose Arme barmherzig sein können.71 Weil sie eine solche Innenseite braucht, kann Barmherzigkeit auch falsch (also ohne innere Verankerung) sein, auf Selbsttäuschung oder Verstellung beruhen; es bedarf daher hoher Disziplin, um wahre Barmherzigkeit zu üben, und einer gewissen moraltheologischen Virtuosität, um sie bei anderen zu diagnostizieren.72 Barmherzigkeit zielt folglich zunächst auf individuelles Verhalten und birgt, ähnlich wie reformatio, ein Moment der Christus-Nachahmung in sich. Doch Geiler überträgt die Metapher zumindest indirekt auch auf Institutionen: auf 69 Voltmer, Die Straßburger »Betrügnisse«. 70 Besonders häufig: Joh 3,17 – 18; Mt 25,31 – 46, Werke der Barmherzigkeit; Lk 16,19 – 26, der arme Lazarus (in Arbore humana u. a.); Hosea (in Arbore humana u. a.). Außerdem Jak 2,14 – 17 u. passim; Paulus, 1 Kor 12,12 – 31; Hiob 29,12 u. 16; 31,16 – 22; Salomon, verschiedene Sprüche (s. Register der Bibelstellen in der Edition von G. Bauer : Bd. 1-1-2, S. 781, Bd. 1-1-3, S. 933). Chrysostomos-Zitate: u. a. Arbore humana, f. LXXIIIva; außerdem in der Edition von G. Bauer Bd. 1-1-1, S. 216 f. (Trostspiegel), Bd. 1-1-2, S. 466, 489 f. (Deutsche Predigten), Bd. 1-1-3 (Seelenparadies), passim (s. Register S. 936), u. a. im Kapitel »Barmherzigkeit«. 71 Geiler von Kaysersberg, Seelenparadies, S. 291 – 298; Geiler von Kaysersberg, Eyn geistlich Romfahrt, S. 150. 72 Geiler von Kaysersberg, Seelenparadies, S. 304 – 306; Geiler von Kaysersberg, Ausgewählte Schriften 3, S. 383 – 385 (Schwertscheiden, gepredigt wahrscheinlich 1499, s. Voltmer, Wie der Wächter, S. 1000 f.).

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kirchliche Institutionen zunächst (eine Pfarrei, ein Kloster, andere Kirchen haben die Pflicht der Armenfürsorge), aber auch – wie im zwölften und dreizehnten Artikel – auf den Rat und die von ihm abhängigen städtischen Institutionen wie die Hospitäler. Zwar haben Institutionen kein eigenes Seelenheil zu verteidigen, anders aber ihre Repräsentanten; diese gefährden ihr Seelenheil (das war der Ausgangspunkt der 21 Artikel), wenn sie nicht für eine funktionierende Armen- und Krankenfürsorge in ihrer Kirche, Pfarrei oder Stadt sorgen. Dabei gilt für die Kommune, dass sie genau dort einzugreifen hat, wo private Barmherzigkeit überfordert ist, wie schon an der Syphilis-Frage zu sehen war. Sie muss Großprojekte übernehmen, Konflikte eindämmen (zum Beispiel bei Streit um fromme Legate für Notleidende), die – nach Geiler ausreichend vorhandenen – Ressourcen gerecht verteilen, Missbräuche auf der Empfängerseite verhindern. Die öffentliche Gewalt darf aber auf keinen Fall, etwa durch Bettelverbote, die individuellen Geber daran hindern, Barmherzigkeit zu üben. Geilers Konzept der Barmherzigkeit hat ein viel stärker inkludierendes Potenzial als die Armenfürsorge, wie sie von den kommunalen und vielen kirchlichen Institutionen praktiziert wurde. Gewiss zieht auch seine juristisch gestützte theologische Konzeption Grenzen; sie verlaufen aber anders als die relativ gerade Linie, die nach der vom Rat geübten Praxis einheimische, bedürftige, jedoch nicht bettelnde Kranke vom Rest der Armenwelt trennte und über eine Aufnahme ins Große Spital entschied. Der Münsterprediger schloss eine viel größere Gruppe von Bedürftigen in seine Hilfsmaßnahmen ein und bemühte sich um neue Lösungen für neue Phänomene (Syphilis). Er differenzierte zwischen individuellen und öffentlichen Fürsorgeinitiativen nicht wie der Rat, der individuelle Hilfen für die von ihm Ausgeschlossenen möglichst verhindern wollte, sondern so, dass beide sich ergänzen sollten. Damit betrachtete er einerseits kirchliche und kommunale Institutionen zusammen unter demselben Blickwinkel, nämlich dem der institutionellen öffentlichen Zuständigkeit, trennte sie andererseits jedoch scharf voneinander, indem er sich jede Einmischung des Rates in das Wirtschaften des Klerus verbat. Sein inkludierendes System erzeugte mit anderen Worten komplexere Binnendifferenzierungen als das stärker exkludierende System des Rates. Geiler rief zu einer Kultur der Verantwortlichkeit73 auf, in der die Aufgaben auf alle verteilt wurden. Wie sie zu verteilen waren, wurde über die Metapher der Barmherzigkeit verhandelt: Sie war für ihn der Maßstab, an dem das Handeln der Individuen, der Vertreter der Obrigkeit, ihrer Beamten, der Kirchen und ihres Klerus zu messen war. Gegen die Verschlossenheit des Rates, der die normativen Grundlagen seiner Fürsorgepolitik am liebsten geheim hielt, stellte er sein Konzept einer Bürgeröffentlichkeit, die er über das Medium der Predigt zu beeinflussen wusste. ›Barm73 S. Zitat oben, Anm. 47.

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herzigkeit‹ wurde zum Schlüsselbegriff, über dessen Deutung fundamentale gesellschaftliche Unterscheidungen, nämlich die zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten sowie die zwischen religiöser und menschlicher bzw. kirchlicher und weltlicher Sphäre, neu justiert werden konnten.

Zeugnisse aus dem Großen Spital Das Große Spital und die anderen Straßburger Hospitäler stießen nicht nur auf Kritik. Wie schon gezeigt, ist das Urteil in den einzigen im engeren Sinne literarischen Zeugnissen, den Gedichten des Freiburgers Jörg Kienast von 1518, geradezu begeistert. Aber auch die Notizen, die die Chroniken über die Hospitäler und besonders über das Große Spital geben, sind zwar in der Regel nüchtern, aber haben doch meist einen positiven Unterton. Das gilt, um hier nur die bis zu den Anfängen der Reformation geschriebenen Chroniken zu nennen, für die wichtigste Straßburger Chronik, die von Jakob Twinger von Königshofen, und vor allem für Hieronymus Gebwiler. Dieser Befund ist allerdings nicht sehr überraschend, weil die Chronisten, außer Gebwiler,74 dem Rat nahestanden. Selbstzeugnisse aus der Spitalverwaltung haben wir für die Zeit Johannes Geilers noch nicht. Man kann jedoch ersatzweise die Statutenüberlieferung heranziehen. Die Statuten oder Ordnungen ermöglichen zum einen eine Gegenprobe zu Geilers Kritik, jedenfalls sofern diese sich nicht auf die Praxis, sondern auf die seiner Meinung nach intransparente Normgebung des Spitals bezog. Zum anderen führen sie näher an die Innensicht der Hospitalführung heran. Zwar spricht aus den zahlreichen im 15. und 16. Jahrhundert erlassenen statutarischen Texten75 – überwiegend Dienstordnungen, die die Aufgaben einzelner Amtsträger und Arbeitsbereiche regeln – in erster Linie die Stimme des Rates, denn der Rat und näherhin die von ihm beauftragten Spitalpfleger sind offiziell die Autoren dieser Ordnungen. Es darf jedoch angenommen werden, dass der Schaffner und das andere leitende Personal bei der Formulierung mitredeten, wenn nicht sogar die Initiative zu einzelnen Modifikationen ergriffen; schließlich waren sie über die täglichen Abläufe im Großen Spital am besten informiert. In mehreren Fällen existieren Editionen von zwei verschiedenen Redaktionen einer solchen Dienstordnung, zum Beispiel derjenigen für das Amt der Meisterin76 oder der Ordnung für das Amt der Küsterin, alle aus dem 15. Jahrhun74 Gebwiler, S. 6 – 8, 13 – 16 (Einleitung des Hg.). 75 Zu den Editionen s. die folgenden Anmerkungen u. oben, Anm. 26. 76 Gabler, Die Ordnungen, S. 62 – 64 (Fassung von der Mitte des 15. Jh.s, circa 1460?, nach der Würzburger Handschrift, s. oben, Anm. 26); Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 3

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dert.77 In solchen Fällen und vor allem dann, wenn sogar mehr als zwei Fassungen erhalten sind, erlaubt die Überlieferung Einblicke in die Arbeit am Text; in den von Fassung zu Fassung vorgenommenen Änderungen haben die Diskussionen, die zwischen Hospitalleitung und Rat oder innerhalb des Rates über die Probleme im Großen Spital geführt wurden, ihre Spur hinterlassen. Einen günstigen Ansatzpunkt bieten die Dienstordnungen für die Spitalkapläne, die in vier Fassungen vorliegen;78 sie führen bereits in die Zeit der Reformation. Um die Politik des Rates und der Spitalführung mit Geilers Tadel zu vergleichen, muss aber zuächst eine Ratsverordnung vorgestellt werden, die den vom Münsterprediger 1501 übermittelten Artikeln zeitlich relativ nahe steht. Am 30. März 1504 verabschiedete der Rat einen Katalog von Maßnahmen zur Behebung von Missständen im Großen Spital.79 Dieses Dekret hat die Struktur eines Reformtextes ›geringer Intensität‹: Auf einen kurzen einleitenden Paragrafen, in dem das Ratsgremium der XV von Klagen der Spitalpfleger wegen nicht näher erläuterter Missstände berichtet, folgt eine Serie von Anordnungen über Maßregeln, die Abhilfe schaffen sollen. Die große Mehrzahl von diesen »puncten« betrifft die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des Großen Spitals. Ausnahme ist die Bestimmung, dass an Syphilis erkrankte und dadurch verarmte Bürger, die keine Bettler sind oder sein wollen – jedoch nur diese! – zuhause mit Nahrung versorgt werden sollen. Der Rest sieht Kosteneindämmung durch kleinere Sparmaßnahmen und Erhöhung der Einnahmen vor. Letzteres soll durch eine konsequentere Inbesitznahme des Nachlasses aller im Spital verstorbenen Personen bewirkt werden. Am Ende wird der Schaffner zu ernsthafter Arbeit, genauer Buchführung und sorgsamem Umgang mit den Ressourcen des Hospitals aufgerufen. Der Rat setzt die Beschlüsse zusammen mit den XXI formal in Kraft. Zumindest teilweise berührt diese Mixtur aus kleineren Verbesserungen und guten Absichten die Themen des Münsterpredigers: Hilfe für die Opfer der Syphilis, besseres Wirtschaften. Doch gehen die Vorstellungen der Ratsherren in eine deutlich andere Richtung als die des Predigers. Die obdachlosen, gar stadtfremden Syphilispatienten werden gar nicht erwähnt (für sie gab es seit kurzem allerdings das Blatterhaus), und die Maßnahmen zur Sicherung der S. 5 – 7 (Fassung von 1478, nach Hs. 112 des Hospitalarchivs in den AVCUS, s. oben, Anm. 26). Vgl. auch den Ratsbeschluss von 1478 in Brucker, Strassburger Zunft- und Polizei-Verordnungen, S. 278 – 280. 77 Gabler, Die Ordnungen, S. 69 f.; Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, S. 10 – 12 Nr. 5 78 Ordnung [A] aus dem frühen, mit Nachträgen aus dem mittleren 15. Jh.: Gabler, Bibliothekskatalog, S. 118 – 126; Ordnung [B] Mitte 15. Jh.: Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 4 S. 7 – 10 (Edition nicht vollständig); Ordnung [C], 1525: ebd., Nr. 9 S. 18 – 20; Ordnung [D], 1535 – 1542: ebd., Nr. 11 S. 27 – 30. Die Siglen [A–D] sind von mir hinzugefügt. 79 Druck bei Gabler, Krankenpfleger- und Gesindeordnungnen, S. 102 – 104, nach der Würzburger Handschrift (s. Anm. 26). Vgl. Voltmer, Wie der Wächter, S. 594 f.

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ökonomischen Lage des Hospitals mögen zwar sichergestellt haben, dass es »nit in abgannge komme«,80 dürften die Dienstleistungen für die Insassen aber kaum verbessert haben. Dieses defensive Sparprogramm hat wenig mit Geilers Maxime »date et dabitur vobis« zu tun. Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass dieser Reformversuch direkt auf die drei Jahre zurückliegende Diskussion von 1500/1501 reagiert.81 Und die nächste größere Neuerung, die 1515 vom Rat dekretierte Einstellung eines Arztes im Großen Spital, gehört nicht zu den von Geiler erhobenen Forderungen.82 Um Textvergleiche über einen längeren Zeitraum vorzunehmen, bietet die erwähnte Serie der Ordnungen für die Spitalkapläne die besten Voraussetzungen. Der Ton der ältesten erhaltenen Kaplansordnung A83 ist nüchtern; Ziel der als Autoren genannten Spitalpfleger ist es, eine reibungslose Praxis zu gewährleisten und mit der geistlichen Betreuung die Verhältnisse in ihrem Haus zu bessern. Dass solche Texte als Zeugnisse für Reformdebatten gelesen werden können, erweist sich bereits an dieser im frühen 15. Jahrhundert niedergeschriebenen Ordnung: Sie ist die Abschrift einer Vorlage, aus der sie zum Beispiel noch die ursprüngliche Zahl von zwei Priestern übernimmt, diese aber nachträglich überall auf drei erhöht.84 Auch macht die den Text eröffnende Bestimmung zur Entlohnung der Kapläne sofort deutlich, dass eine Neuregelung notwendig geworden war : Früher haben sie weniger Lohn erhalten, dafür aber die Aufsicht über das »selebu˚ch« gehabt (also über das Register der vom Spital zu leistenden Totenmemoria und die daraus fließenden Einnahmen); jetzt sollen sie besser bezahlt werden, müssen das Seelbuch jedoch den beiden leitenden Beamten, dem Schaffner und der Meisterin, überlassen.85 Obwohl Ordnung A sich somit als Revision einer verlorenen älteren Stufe zu erkennen gibt, ist es den Verfassern nicht gelungen, ihr Material in eine schlüssige Abfolge zu bringen. Die zu Beginn des 15. Jahrhunderts zu regelnden Gebiete umfassen: die materiellen Beziehungen der drei Kapläne zum Spital, ihre Pflichten gegenüber den kranken Insassen und den Pfründnern, ihr Verhalten als Bewohner des Spitals und Untergebene des Schaffners. Die zahlreichen Einzelpunkte, die sich diesen drei Feldern zuordnen lassen, sind jedoch in einer Weise über den Text verstreut, dass es mühsam gewesen sein dürfte, alle für eine bestimmte Frage relevanten Stellen rasch aufzufinden. So nehmen die li80 Gabler, Krankenpfleger- und Gesindeordnungnen, S. 102, erster Absatz der Verordnung. 81 Das behauptet Gabler, Krankenpfleger- und Gesindeordnungnen, S. 100; ähnlich, wenn auch vorsichtiger Voltmer, Wie der Wächter, S. 594 f. 82 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 24 – 26, mit Korrektur der Datierung »1500« bei Brucker, Strassburger Zunft- und Polizei-Verordnungen, S. 286 – 289. 83 Ordnung [A], s. oben, Anm. 78. 84 Gabler, Bibliothekskatalog, S. 107. 85 Gabler, Bibliothekskatalog, S. 118 u. 123.

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turgischen Anordnungen zwei getrennte Blöcke am Anfang und am Ende des Textes ein; hinzu kommen aber an anderer Stelle Anweisungen zur Memoria für die Mitglieder der Laienbruderschaft, die dem Spital Unterstützung gewährte.86 Wieder anderswo war die Vorschrift untergebracht, den Kranken (und Gesunden) auf Anfrage die Beichte abzunehmen, die Sterbesakramente zu erteilen und Auskünfte über ihr Eigentum zu entlocken, da im Todesfall das Spital ja die gesamte Habe seiner Patienten beanspruchte. Doch war dieses letztere Thema damit noch nicht vollständig abgehandelt, denn bald nach Fertigstellung der Ordnung A musste die Vorschrift in einem Nachtrag von derselben Schreiberhand auf alle Neuzugänge ausgedehnt werden.87 Wesentlich durchdachter als Ordnung A präsentiert sich die im mittleren 15. Jahrhundert neu angelegte Kaplansordnung B.88 Sie stellt die Kernaufgaben der drei Priester – Beichte und Sakramente für Insassen und Dienstpersonal sowie die tägliche Liturgie – konzentriert am Textbeginn zusammen und lässt dann die Bestimmungen zum Betragen im Spitalalltag folgen. Sieht man von einigen weiteren Nachträgen ab, die im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert der ältesten Fassung A angefügt wurden,89 so fällt die zeitlich nächstliegende Regelung (C) der Seelsorge im Großen Spital bereits in die Frühphase der Reformation.90 Es handelt sich nicht um eine vollständige Satzung für die Kapläne, sondern um Aufzeichnungen des Schaffners über Anweisungen, die ihm die Spitalpfleger zwischen Februar und Mai 1525 erteilt hatten, um den Gottesdienst im Großen Spital zu reformieren. Die Notizen spiegeln die Offenheit der Lage und die Unsicherheit der Entscheidungsträger wider, die einerseits auf Forderungen aus der Bürgerschaft reagieren und sich andererseits immer wieder mit der Obrigkeit beraten mussten. Zu den Ergebnissen dieser Diskus86 Gabler, Bibliothekskatalog, S. 118 f., 121 f. u. 123. S. auch oben, Anm. 29. 87 Gabler, Bibliothekskatalog, S. 119: »Item wann die cappelone gevordert werdent von den siechen oder von den gesunden [bei Gabler : gesimden] ir bihte zu hörende […], sfflllent [sie] die siechen getruwelichen frogen uf ir consciencie, waz sffl habent in dem spittal oder ussewendig des spittals …« Dazu ein früher Nachtrag (S. 124): »Item wan ein siecher mensche geleit wurt in den spittal, so sollent die capplan den siechen getruwelichen manen, das er balde sin biht tu […], und sollent ouch die sichen getruwelichen fragen uf ihr consciencie, waz sffl habent in dem spittel oder ussewendig des spittels …« 88 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 4 S. 7 – 10, aber nicht vollständig und zu ergänzen durch Gabler, Bibliothekskatalog, S. 125 f., Textpassage nach Anm. 1 (ebenfalls nach der Hs. AVCUS, Hospitalarchiv 112, f. »177 f.«). 89 Gabler, Bibliothekskatalog, S. 124 f. Zu der frühen Ergänzung zu den Themen Beichte und Liturgie s. oben, Anm. 87. Die späteren Nachträge regeln: die Zuständigkeit des Schaffners bei Streit zwischen Kaplänen und Gesinde, den Nachlass beim Tod eines Kaplans (Nachtrag vom Ende des 15. Jh.s); Messen und Anniversarien während der Fronfasten und die Bezahlung dafür (Nachtrag des frühen 16. Jh.s, Datierungen nach Gabler). 90 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 9 S. 18 – 20. Zur Messe in der Straßburger Reformation s. unten, Anm. 101.

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Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

sionen gehören eine starke Einschränkung des Messbetriebs, die Abschaffung der (Seel)messen in der am alten Sitz des Spitals beim Münster liegenden Kapelle St. Erhard, die Einführung der Möglichkeit, das Abendmahl in beiderlei Gestalt zu empfangen, und die Pflicht der Kapläne, die Messen nicht mehr auf Lateinisch, sondern auf Deutsch oder Französisch zu lesen. Gut zehn Jahre später war die Zeit reif für eine neue Kaplansordnung (D),91 die sich nun erheblich von den Ordnungen des 15. Jahrhunderts unterscheidet. Zwar wurden einige bewährte Verhaltensregeln beibehalten, doch hat der Dienst der Kapläne einen völlig neuen Charakter bekommen. Die Verfasser sahen sich veranlasst, genauere Begründungen, Handlungs- und Sprechanleitungen zu geben.92 Dafür nahmen sie Unebenheiten in der Anordnung der einzelnen Punkte in Kauf. Der Rechtsstatus der Kapläne hat sich geändert, denn sie müssen einen Amts- und Gehorsamseid auf den Rat, die Pfleger und die Stadt Straßburg leisten. Man rechnet jetzt mit verheirateten Kaplänen, für die keine Residenzpflicht im Spital mehr gilt. Daraus erklärt sich vermutlich ihre im Vergleich zum 15. Jahrhundert deutlich erhöhte Besoldung. Ihre Hauptaufgaben sind jetzt nicht mehr Beichte, Sterbesakramente und Liturgie, sondern Tröstung der Kranken durch tägliche Visiten sowie Unterweisung durch regelmäßige Predigt. Sollte ein Sterbender nach der Beichte verlangen, so sollen die Kapläne – jetzt »der siechen diener im wort« genannt – diesen Wunsch dahingehend erfüllen, dass sie ihn über Gottes Verheißung, reuigen Sündern zu vergeben, unterrichten; über das Bußsakrament scheinen sie nicht mehr zu verfügen. Doch auch so sollen sie die Sterbenden dazu bringen, ihre Besitzungen und Schulden offen zu legen: Zur Begründung wird jetzt betont, dass, wenn diese Güter satzungsgemäß vom Großen Spital übernommen würden, den Armen geholfen würde.93 91 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, S. Nr. 11 S. 27 – 30. 92 Zum Beispiel Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, S. 28: »Sie sollen auch ernstlich ufmerken haben uf die kranken, welche in irer krankheit trost und rath bedörfen, sie aus der heiligen geschrift und den verheissungen gottes und unsers herren Cristi freuntlichen trösten und sich uf solche verheissungen und zusagung frei verlossen und gott vertrauwen sollen, raten […] [diesen letzten Teil des Satzes lese ich so: Die Kapläne sollen den Kranken raten, dass sie sich auf Gottes Verheißungen und Zusage frei verlassen und Gott vertrauen sollen]. item ob sie [die Kranken] etwas zweivels oder beschwernus bei inen selbst irer gewüssen halben hetten, so inen geliebte zu öffnen, wolten sie gern inen darunder raten nach irem besten verstand us der geschrift.« 93 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, S. 29: »So sich auch begebe, das der siechen einer so krank were, das sie sich ufkomens nit vertrösten, sollen sie dieselben freundlich uf das fleissigst erinnern und ermanen, was sie haben und was man in schuldig, auch was sie schuldig, wo und wem, auch warumb anzeigen, uf das den siechen und dem spital werde, was in zugehört, und bedacht werde, das solches alles zu gebrauch der armen kompt.« Im Anschluss der Absatz mit dem Wunsch nach Beichte (S. 29 f.). Zur evangelischen Diskussion über Beichte und Absolution, die Luther zwar umdeutete, aber durchaus aufrechterhalten wollte, s. Lorentzen, Johannes Bugenhagen, S. 355 – 364.

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Reformdebatten 1520 – 1530

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Die Durchsicht ausgewählter Dienstordnungen und des Ratserlasses von 1504 ergibt, dass Johannes Geiler zumindest mit einer seiner kritischen Anmerkungen Recht hatte: Der Anspruch des Großen Spitals auf den Nachlass seiner verstorbenen Patienten war geltendes Statutarrecht, auch noch nach der Reformation. Hingegen lässt sich der Vorwurf einer zu restriktiven bzw. interessengeleiteten Aufnahmepolitik aus den normativen Texten des Hospitals nicht bestätigen: Von einem Numerus Clausus zu Gunsten von Straßburger Bürgern ist dort nie die Rede.94 Wenn dieser Vorwurf zutrifft, dann folgt aus ihm, dass die Alltagsrealität von der Norm abwich, was kaum erstaunlich wäre. Allerdings war – anders als für die Diskutanten der 1540er Jahre, die uns noch beschäftigen werden – weder die Aufnahmepolitik noch die Nachlassfrage das Hauptthema des Münsterpredigers, der sich (abgesehen von den Syphiliskranken) vorrangig für eine vernünftige und menschliche Behandlung der Spitalinsassen einsetzte. Die Ordnungen und der Ratserlass von 1504 reflektieren zwar interne Auseinandersetzungen im Rat sowie zwischen Rat, Spitalleitung und Amtsträgern, lassen sich aber nur zögerlich und indirekt auf grundsätzliche Erwägungen ein, wie sie ein Reformer wie Johannes Geiler in die Debatte warf. Trotz gewisser Kontinuitäten zwischen den früheren Fassungen und den nachreformatorischen Kaplansordnungen ist die Zäsur, die die Reformation gerade für die Spitalgeistlichen darstellte, auch in dieser nüchternen Textsorte unübersehbar. Dies zeigt sich sowohl an neuen Inhalten als auch an der Rhetorik: Von den handlungs- und ritualorientierten Ordnungen A und B hebt sich die stärker auf Sprechsituationen und innere Gefühlszustände achtende Ordnung D deutlich ab. In ihr kommen reformatorische Topoi zum Einsatz, deren Herkunft genauer bestimmt werden muss.

4.

Reformdebatten 1520 – 1530: Armenfürsorge und Großes Spital in der Reformation

Der neue Glauben in Straßburg In den Jahren 1521 – 1523 häufen sich die Anzeichen, dass die neue evangelische Lehre in der elsässischen Reichsstadt Fuß fasste. Es handelt sich noch nicht um große Entscheidungen wie die Schließung der Klöster, die Einführung einer neuen Liturgie oder neue politische Weichenstellungen, sondern eher um zunehmende Verunsicherungen: Seit 1521 predigte der Straßburger Lutheraner 94 Vgl. die entsprechenden Bestimmungen in den Ordnungen der Meisterin und der Küsterin sowie im Amtseid des Arztes, s. oben, Anm. 76 f., 82. Ähnlich auch in den Zeugnissen der 1540er Jahre, s. unten, Anm. 153, 167.

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Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

Matthäus Zell, 1522 brüskierte der Rat den päpstlichen Nuntius mit dem Hinweis, dass es für eine gemäßigte Reform des Klerus nun zu spät sei; sowohl Zell als auch der Rat beriefen sich auf Geiler von Kaysersberg.95 Im selben Jahr 1522 musste der erste radikale Reformer, Karsthans, aus der Stadt verbannt werden und gleichzeitig begann die Straßburger Ratselite, ihre Töchter aus den Konventen zu holen.96 Aufhorchen lässt auch der Fall eines Notars des Domkapitels (April 1523), der dem Gesuch einer armen Person, im Namen Gottes und der Jungfrau Maria ein Almosen von der Elendenherberge zu bekommen, zwar um Gottes, aber nicht um der »alten huren willen« stattgeben wollte. Dem Rat ging diese unfreundliche, aber bezeichnende Distinktion zwischen Gott und Maria entschieden zu weit: Der Notar entkam einer körperlichen Strafe nur dank der Intervention des Kapitels und der Bischöfe von Straßburg und Basel sowie durch Zahlung eines Bußgelds an die Bettelorden.97 Nur wenig später wären die Bettelorden kaum noch als Empfänger eines Bußgelds in Frage gekommen und hätten die geistlichen Institutionen keine rechtliche Möglichkeit mehr gehabt, einen ihrer Angestellten vor dem Zugriff der kommunalen Justiz zu bewahren. Denn zwischen 1523 und 1524 zeitigte der neue Glauben die ersten greifbaren institutionellen Veränderungen. Im Lauf des Jahres 1523 kam mit Martin Bucer († 1551) ein weiterer Prediger der Reformation in die Stadt; Bucer, Caspar Hedio († 1553) und Wolfgang Capito († 1541) wurden neben Matthäus Zell die Protagonisten des Straßburger Wegs zum neuen Glauben. Im Dezember 1523 setzte der Straßburger Rat ein Reichsmandat um, nach dem nur noch das Evangelium gepredigt werden durfte, hatte aber bereits im Oktober eine neue, umfassende Almosenordnung verabschiedet. Diese Regelung beruft sich zwar nicht ausdrücklich auf Luther, ist aber direkt von dem Nürnberger Vorbild (September 1522) inspiriert, in das die reformatorische Theologie schon eingeflossen war.98 95 Specklin, Nr. 2228 S. 493 f. (Zell), Nr. 2233 f. S. 498 (Nuntius); vgl. auch Wencker, Nr. 3015 S. 149. Der in den Straßburger Chroniken als »Legat« bezeichnete päpstliche Nuntius war Francesco Chiericati (bei Specklin »Cerogadus«), der Ende 1522 am Reichstag von Nürnberg teilnahm: Virck, Politische Correspondenz 1, S. 77; Foa, Chiericati. – Zur Frühphase der Straßburger Reformation: Greschat, Martin Bucer, S. 66 – 70, 73 – 79. 96 Karsthans: Krebs/Rott, Quellen zur Geschichte der Täufer 7, Nr. 1 f. S. 1 – 4. Zu den radikalen Reformern im Straßburg der 1520er Jahre s. auch Ginzburg, Il nicodemismo, Kap. 1. Observantes Dominikanerinnenkloster S. Nikolaus in undis: Brady, »You hate us priests«, S. 228 – 234 u. 253 – 256; Schmitt, Die Auflösung, S. 157 f. 97 »Brant« B, Nr. 4438 S. 271. Zur kommunalen Strafgesetzgebung gegen Gotteslästerung, Spielen und Trinken s. Wilhelmi, »Von welchen besserungen«. Am 5. März 1522 war ein Mandat in Kraft getreten, das Frevler Gottes, Marias oder der Heiligen »häfftiglichen straffen« wollte. Die Reformation führte auf diesem traditionellen Gebiet kommunaler Maßregelung zu verschärfter Disziplinierung, denn ein Mandat vom 25. August 1529, das nach wie vor auch Maria und die Heiligen vor Lästerung schützte, sah sogar die Todes- oder wenigstens eine Körperstrafe vor. 98 Straßburger Almosen: Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 78 – 81; Fischer, Städtische

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Reformdebatten 1520 – 1530

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Die Finanzierung der neuen Almosenbehörde (oder kurz des »Almosens«) hing eng mit der Möglichkeit zusammen, die Kirchengüter umzustrukturieren. Aller politisch gebotenen Vorsicht und allen Meinungsverschiedenheiten in den Straßburger Ratsgremien zum Trotz fand sich zu diesem Thema rasch ein Konsens: alte Almosenstiftungen, Seelgeräte und Memorialkapellen umwidmen, die Besoldung des Klerus neu organisieren, Kirchen der Kontrolle der weltlichen Obrigkeit überstellen, Klöster auflösen und deren Güter für neue Zwecke einsetzen – das waren Maßnahmen, über die sich die Mehrheit der Ratsherren einig wurde. So lösten sich seit 1524/1525 die ersten Frauenklöster von selbst auf oder wurden gegen finanzielle Abfindung zum Aufgeben gedrängt; Ähnliches gilt für die Männerklöster, auch wenn bei ihnen die Aufhebungen einem langsameren Rhythmus folgten. Bis zum Ende der 1530er Jahre bestanden nur noch die beiden observanten Dominikanerinnenklöster St. Nikolaus in undis und St. Margaretha sowie das Reuerinnenkloster St. Maria Magdalena, ferner das Kanonissenstift St. Stefan sowie wenige Beginenhäuser, von den Männerkonventen nur noch zwei Ritterordenskommenden und die Kartause.99 Waren es zunächst lediglich die älteren frommen Stiftungen gewesen, die zur Finanzierung der neuen kirchlichen und karitativen Aufgaben umgeleitet wurden, so kam mit dem Ende der Klöster nach und nach ein erhebliches Vermögen zusammen. Auch die neue Almosenbehörde und das Große Spital sollten davon profitieren. Parallel zur Auflösung der meisten Klöster erfolgte eine Neugestaltung der Seelsorge durch Aufhebung kleinerer Pfarreien und Lösung der Pfarrkirchen aus der Herrschaft der Stiftskirchen,100 durch die Umstellung vom traditionellen Pfründensystem auf öffentliche Besoldung des Klerus und durch die Bestellung von laikalen Kirchenpflegern, die in jeder Pfarrkirche wirtschaftliche Belange wie auch die Lebensführung der neuen Prediger und Pastoren kontrollierten. Besonders heikel war die Reform der Liturgie: 1525 wurde die Zelebration lateinischer Messen auf wenige Orte beschränkt, 1529 wurde als einzige erlaubte Form öffentlichen Gottesdienstes in Straßburg die deutsche Messe proklaArmut, S. 266 – 270. Editionen s. unten, Anm. 134. Zu Nürnberg s. Winckelmann, Die Armenordnungen, S. 242 – 280; zu beachten ist freilich, dass eine explizit evangelische Begründung der guten Werke erst in der letzten Fassung (A) der Nürnberger Ordnung erscheint (Herbst/Winter 1522/1523), also nach ihrer Rezeption in Straßburg. – Mehr zur Straßburger Almosenordnung unten, Anm. 134 ff. 99 Schmitt, Die Auflösung, S. 161 – 171; Abray, The People’s Reformation, S. 41 f.; zu den (im weiteren Sinne) benediktinischen Klöstern neuerdings Bornert, Les monastÀres 1, S. 458 (St. Arbogast), 545 (St. Stefan); Bd. 6, S. 79 – 81 (St. Wilhelm), 110 – 113 (Kartause). Chroniken: Büheler (schreibt nach 1568), Nr. 243 S. 78 (a. 1529), 252 S. 80 (a. 1531); Specklin, Nr. 2305 S. 523 f. (a. 1529), 2311 S. 525 (a. 1530), 2325 S. 529 (a. 1531); »Brant« B, Nr. 4989 s. 420 f. (a. 1533), 5031 S. 436 (a. 1534: Beibehaltung von drei Beginenhäusern). 100 Bornert, La r¦forme protestante, S. 47 f.: Sieben von vorher neun Pfarreien blieben bestehen.

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Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

miert.101 Die zentralen Momente der täglichen (im Unterschied zu den einmaligen Übergangsriten wie der Taufe) öffentlichen religiösen Übung reduzierten sich damit auf zwei: Predigt und deutsche Messe. Bei der Messe stand nicht nur die Sprache in Frage, sondern auch die katholische Kultur der Heiligen- und Votivmessen; noch wichtiger aber war die Neudeutung des Kerns der Messe, der Eucharistie. In unserem Rahmen kann zwar weder die Geschichte der Straßburger Liturgiereformen102 noch der Streit zwischen Straßburger, Wittenberger und Schweizer Reformatoren um das Abendmahl nachgezeichnet werden. An der Eucharistie interessiert jedoch eine Straßburger Besonderheit: die Tatsache, dass in dieser typisch städtischen reformatorischen Konstellation die sozialen, moralischen und karitativen Aspekte des neuen Glaubens – die Einheit der Gemeinde – von Anfang an eine zentrale Rolle spielten und daher gerade dieses Sakrament als Mittel der Stiftung von Einheit besonders sorgfältig reflektiert werden musste.103

Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Fürsorge bei Martin Bucer Das zentrale Zeugnis für die Auffassung von christlicher Solidarität in der Straßburger Reformation stammt aus der Feder Martin Bucers. Eine seiner frühesten erhaltenen Schriften – eine kurz nach seiner Ankunft in Straßburg gehaltene Predigt – legt dar, warum der Dienst am Nächsten das Leitmotiv eines jeden christlichen Lebens sein sollte: »Dass man nicht für sich selbst, sondern für die anderen leben soll, und wie der Mensch dahin gelangen mag«, so könnte eine Übertragung des Titels lauten, den die Predigt in ihrer Druckfassung erhalten hat.104 Nach einem kurzen Vorwort, in dem er der Hoffnung Ausdruck verleiht, dass seine Worte von den Hörern in die Tat umgesetzt werden, skizziert Bucer eine christlich-aristotelische, von Thomas von Aquin inspirierte Anthropologie. Alle Wesen sind auf ein bestimmtes telos hin geschaffen, nämlich um ihre von Gott gegebenen Eigenschaften dafür einzusetzen, den anderen Kreaturen »zu˚m gu˚ten« zu dienen. Der Mensch ist zwar Herrscher der anderen 101 Die erste deutsche Messe wurde am 16. Februar 1524 gefeiert: Bornert, La r¦forme protestante, S. 32 u. 112 – 121 zu den Druckeditionen. Einschränkung der lateinischen Messe: »Brant« B, Nr. 4610 S. 330 – 332 (1525 Mai 6). 102 S. dazu das ausgezeichnete Buch von Bornert, La r¦forme protestante, passim; zum Problem des Abendmahls insbesondere S. 306 – 326, 371 – 387. Vgl. auch oben, Anm. 83 ff., zu den Ordnungen der Kapläne des Großen Spitals. 103 Bornert, La r¦forme protestante, S. 5, 36 – 38; s. auch unten, Anm. 126 f. 104 Bucer, Das ym selbs niemant, sonder anderen leben soll, und wie der mensch dahin kummen mög (August 1523). – Greschat, Martin Bucer, S. 70 – 72, hebt die Anlehnung an Thomas von Aquin hervor. Zu Bucers insgesamt nicht sehr zahlreichen Äußerungen zur Armen- und Krankenfürsorge s. Lorentzen, Johannes Bugenhagen, S. 182 – 185, 189 f.

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Geschöpfe und nutzt deren Dienste, womit er ihnen freilich auch seinerseits dient, weil er ihnen so ermöglicht, ihre gottgewollte Bestimmung zu erfüllen; vor allem aber hat er, damit der von Gott entfaltete circulus virtuosus gegenseitigen Nützlichmachens sich schließen kann, Dienst an seinesgleichen, an den anderen Menschen, zu leisten. Dies auch deswegen, weil die Menschen (abgesehen von den Engeln) die einzigen Geschöpfe sind, die als Empfänger nicht nur von »leiplichem«, sondern auch von »geistlichem nutz« in Frage kommen.105 Diese Ordnung funktionierte anfänglich, im paradiesischen Naturzustand, aufs Beste, doch mit der Abkehr von Gott verwandelte sich die zum gegenseitigen Nutzen gebildete Gemeinschaft in eine Schadensgemeinschaft eigennütziger Sünder. Solcher »misßbrauch«, der zu einer Diktatur der Eitelkeit geführt hat, wird erst dann enden, wenn die Auserwählten wieder zur paradiesischen »ersten ordenung« zurückkehren dürfen, also am Jüngsten Tag. Um diese »verneuwerung« der Welt vorzubereiten, soll der Mensch als einzige verständige Kreatur aber jetzt schon darauf hinwirken, »das er in allen seinem thu˚n nichts eygens, aber allein die wolfart seiner nechsten menschen und bru˚der su˚che zu˚ der eer gottes«. Die hier implizierte Reziprozität brüderlichen Verhaltens sei, so Bucer, nicht nur biblisch-naturrechtlich angeordnet, sondern vor allem durch Christus vorgelebt worden; Christen haben diesem Modell zu folgen.106 Es sei hervorgehoben, dass Bucers horizontale Ordnung gegenseitiger »wolfart« unter den Menschen ihren Existenzgrund in der vertikalen Relation zu Gott hat (»eer gottes«): Ohne Liebe zu Gott, der allein alles Gute wirkt, hat die Nächstenliebe kein Fundament. Diese dreidimensionale, aber hierarchisch gegliederte Ordnung gibt den Maßstab vor, mit dessen Hilfe der Reformator im Folgenden eine Ständekritik entwirft. Er beschreibt zunächst das »Apostelamt«: Eingerichtet von Christus und seinen Aposteln, ist es in Bucers Gegenwart auf die Prediger übergegangen, wäre aber eigentlich auch das Amt der Prälaten, Päpste und Bischöfe und des ganzen geistlichen Standes gewesen. »Leyder« aber sieht die Wirklichkeit anders aus: Statt sich in Gottesliebe für das Seelenheil der anderen aufzureiben, vernachlässigen, ja verhindern die Kleriker den »gemeynen und geistlichen nutz«. Laien sollten sich vor ihnen hüten, gutwillige Geistliche ihren Stand verlassen! Ähnlich aufgebaut ist auch die Betrachtung des Standes der weltlichen Herrscher und Obrigkeiten. Ihr Dienst ist auf die Wohlfahrt der ganzen Gemeinschaft gerichtet; sie haben jeden Eigennutz hintanzustellen (wie schon bei Homer und Aristoteles zu lesen), unter Beachtung des göttlichen Rechts zu regieren und die Verbreitung des Gottesworts zu 105 Bucer, Das ym selbs niemant, S. 45 Z. 13 – 48 Z. 16 (Zitate: S. 46 Z. 4, S. 48 Z. 8). 106 Bucer, Das ym selbs niemant, S. 50 Z. 5 – 51 Z. 31; die Zitate S. 50 Z. 7, 11, 25 u. 37; S. 51 Z. 3 – 5. Die Restitution der »ersten Ordnung« (oder ähnliche Fomulierungen) wird noch mehrfach angekündigt: S. 60 Z. 4 u. 24, S. 64 Z. 30.

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fördern. Die täglich erfahrbare Realität ist aber – »leyder« – ganz anders: Die geltenden menschlichen Gesetze laufen den göttlichen häufig zuwider, die Obrigkeiten missbrauchen ihre Gewalt und ziehen damit die Gefahr göttlicher Strafen auf sich und ihre Untertanen. Mögen die Gebete der Christen bewirken, dass ihre Herrscher gottgefälliger werden!107 Was die anderen Stände betrifft, belässt Bucer es bei Andeutungen: Nützlich seien Ackerbau, Viehzucht und Handwerke, tendenziell schädlich, da zu sehr auf Eigennutz bedacht, die Kaufleute. Der Abschnitt schließt mit einer Anspielung auf die Verwerflichkeit des Müßiggangs, dessen Überhandnehmen typisch für die »unbillicheit« der Zeiten sei; dabei bleibt offen, ob sich dies auf Klerus und Mönche und/oder nicht arbeitende Bettler bezieht.108 Ein zu Beginn nicht angekündigter zweiter Teil (wahrscheinlich musste die Predigt wegen ihrer Länge geteilt werden) geht der Frage nach, auf welche Weise die Menschen – in der Gegenwart – zu einem Modus zurückfinden können, der ihrer ersten Bestimmung, »den andern zu˚ nutz und gott zu˚ lob« zu leben, besser entpricht. Christen haben die Chance, bereits hier und jetzt »in ire rechte erstlich wesen zu˚m anfang« zurückzukehren (wenn auch noch nicht in vollkommener Weise), weil Christus ihnen Erlösung verheißen hat. Einzige und unabdingbare Voraussetzung ist, dass sie an ihn glauben. Der Glauben an Christus und seinen Heilsweg ist das Mittel, das zur wahren Liebe führt, »die mitnichten das ir, sonder in allen dingen die wolfart der nechsten bedächte und su˚chet«.109 Der wahre Glauben zeitigt eine Reihe von Wirkungen: Gläubige Christen erkennen sich als Kinder Gottes und daher als Brüder. Da sie sich somit zugleich als Erben Gottes verstehen, verspüren sie per definitionem keinerlei Mangel mehr, womit sich das Begehren nach irdischen Gütern, das keine Hilfsbereitschaft zulässt, von selbst erledigt; so führt die mit dem Glauben verbundene Liebe zu Gott wie von selbst zum Verlangen, anderen Menschen Gutes zu erweisen, ganz wie (nach Mt 7,17) ein guter Baum gute Früchte tragen muss.110 Der Glauben bewirkt ferner, dass die Menschen sich daran freuen, aus Dankbarkeit zu Gott anderen Menschen dienen und Barmherzigkeit erweisen zu dürfen; zumal der Herr versprochen hat, er wolle gute Werke, die den Geringsten getan wurden, auf sich selbst beziehen und all jenen Barmherzigkeit widerfahren lassen, die solche auch ihren Nächsten erwiesen haben, denn Barmherzigkeit sei 107 Bucer, Das ym selbs niemant, S. 51 Z. 32 – 54 Z. 37 (Apostelamt); S. 55 Z. 1 – 58 Z. 25 (weltliche Obrigkeiten); Zitate S. 54 Z. 8, 29 f.; S. 57 Z. 25. – Dem Problem des Rechts auf Widerstand gegen eine unchristliche Obrigkeit, einer Kernfrage der politischen Theorie der frühen Neuzeit, weicht Bucer (in Anlehnung an Thomas von Aquin) mit seinem Appell an das Gebet aus. 108 Bucer, Das ym selbs niemant, S. 58 Z. 26 – 59 Z. 26; Zitat S. 59 Z. 20. 109 Bucer, Das ym selbs niemant, S. 59 Z. 28 – 61 Z. 6; Zitate S. 60 Z. 7 f., S. 61 Z. 4 f. 110 Bucer, Das ym selbs niemant, S. 61 Z. 7 – 62 Z. 30.

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ihm lieber als Opfer.111 Die hier paraphrasierten Bibelstellen – Mt 5,7 (Bergpredigt), Mt 25,40 (Werke der Barmherzigkeit) und Hos 6,6 – hat auch Johannes Geiler von Kaysersberg in seinen Plädoyers für Barmherzigkeit immer wieder kombiniert. Bei Bucer wird die in diesen loci classici geforderte Barmherzigkeit aber nicht als Investition in die Zukunft und damit als causa künftigen Seelenheils interpretiert, sondern als Effekt des Glaubens. Als weitere Wirkung sieht Bucer den vom Glauben erzeugten Wunsch der Gläubigen, Christus für seine Demut zu danken, ihm darin nachzufolgen und daher alles Interesse an irdischen Werten abzustreifen, bis hin zu der Eventualität, das eigene Leben für seine Brüder hinzugeben.112 Der Glauben ist damit die Triebfeder, welche die Menschen wieder in ihr »erst recht« versetzt – in jenen Zustand, in dem alle für den gottgegebenen Zweck gegenseitigen Dienens lebten – und welche ihnen durch Christus das ewige Leben sichert. Doch gegen Ende seiner Predigt kehrt Bucer die Blickrichtung um: Wie, so fragt er, erkennen wir den wahren Glauben? Die Probe ist denkbar einfach: Wenn einer sich nicht so verhält, wie es bis dahin gepredigt wurde, wenn er nicht »den nechsten got zu˚ lobe lebe«, so ist sein Glauben auch nicht wahr und rechtschaffen, »sonder tod ist er und kein glaub«.113 Wurde der Glauben vorher als Mittel und Ursache der vom Schöpfungsplan vorgesehenen barmherzigen Werke definiert, so sind die barmherzigen Werke nun Indizien für den wahren Glauben. Diese zirkuläre Logik macht es den Lesern oder Zuhörern auf den ersten Blick schwer, einen sicheren Fixpunkt zu finden, von dem aus sie ihre Position im Vexierspiel der christlichen Existenz hätten bestimmen können. Bucer verweist zwar auf den Ursprung des christlichen Daseins, die göttliche Gnade, aus der alles hervorgehe: Mensch, Glauben, die Bestimmung des Menschen zu den guten Werken.114 Für die Hörer oder Leser von 1523 dürfte die göttliche Gnade freilich ein noch schwerer zu ergründendes Mysterium gewesen sein als der Glauben. Wenn man jedoch weiß, dass Bucers Erörterung des Glaubens und der aus ihm hervorgehenden Werke der Nächstenliebe erklärtermaßen ein von der Realität »leyder« weit entferntes Idealbild entwirft,115 dann erhält gerade die Zirkularität von Glauben und Liebeswerken ihren Wert für die 111 Bucer, Das ym selbs niemant, S. 63 Z. 11 – 18 (Interpunktion leicht geändert): »das […] wir […] – dieweil uns der herr verheissen hat, er wölle annemen, was wir sein wenigisten thüen, als hetten wirs im gethon, und allen den barmhertzigkeit gedeyhen lassen, die barmhertzigkeit, die er will und nit das opfer, iren nechsten beweysen – verursacht werden, uns von hertzen zu˚ freüwen, das uns doch gebüre, unsern nechsten zu˚ dyenen und ynen alle barmhertzigkeit beweisen …« 112 Bucer, Das ym selbs niemant, S. 64 Z. 26. 113 Bucer, Das ym selbs niemant, S. 65 Z. 7 f. 114 Bucer, Das ym selbs niemant, S. 65 Z. 26 – 66 Z. 17. 115 Bucer, Das ym selbs niemant, S. 65 Z. 9 f.: »… so ist der glaub aber doch schwach und unvolkummen. Als leyder unser aller glaub ist, wenig ußgenommen.«

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Praxis. Da sich der einfache Gläubige nie sicher sein kann, wo der Weg zum christlichen Leben beginnt, bietet Bucers Vorschlag ihm einen praktikablen Ansatz: Egal wo du anfängst, bei den Werken oder beim Glauben, beides bestärkt sich gegenseitig und bringt dich daher dem wahren Christentum näher. Dies fasst auch die Schlussfolgerung am Ende der Predigt noch einmal zusammen: Glaube und Liebe gehören unauflöslich zusammen. Ohne Liebe helfen die frömmsten Reden, die verschwenderischsten Almosen, ja selbst das Martyrium nichts.116 Ohne Liebe gibt es keinen Glauben, ohne wahren Glauben keine wahre Liebe. Diese Predigt von 1523 verdient schon deshalb Aufmerksamkeit, weil ihre rhetorische Struktur sie als ›energischen‹ Reformtext ausweist. Die von der Schöpfungsordnung festgelegte und als Norm präsentierte, anfänglich gute Verfasstheit der Menschheit wird mit einer topischen Verfallserzählung (Sündenfall, Abkehr von Gott, Entstehung von Lastern und »misßbrauch« aller Art) konfrontiert, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Bucers Erzählmodus ist freilich nicht der historische, in dem sukzessive Phasen des Verfalls durchlaufen und mit historischen Beispielen belegt würden, sondern der Modus der Verkürzung auf zwei gegensätzliche Pole: Der vergangene Ausgangspunkt steht gegen den in der Gegenwart zu verortenden Endpunkt, der Pol ›ursprünglich/ gut‹ gegen den Pol ›später (gegenwärtig)/schlecht‹. Eine Fülle von dichotomischen Begriffen und Metaphern stärkt diese Struktur : Wohlfahrt vs. Verderben, Gemeinnutz vs. Eigennutz, göttliches vs. menschliches Recht, Unbilligkeit vs. Liebe, »bresten« (Mangel) vs. Sättigung, verkehrtes vs. rechtes Wesen und andere mehr. Das Signalwort, das den Gegensatz zwischen der guten Norm und der schlechten Wirklichkeit markiert, ist das Adverb »leyder«: Leider seien Klerus und weltliche Obrigkeiten heute eigennützig und unfromm, leider sei der Glaube heute schwach. Als Ziel, das die Christen anstreben sollen, wird mehrfach die Restitution oder Erneuerung (»verneuwerung«) der »ersten Ordnung« angegeben. Dies bezieht sich einerseits auf eine Rückkehr zum vergangenen Zustand des Paradieses; da diese vollständig aber erst nach dem Jüngsten Gericht möglich sein wird, ist andererseits schon auf Erden eine wenn auch unvollkommene Gemeinschaft wahrer Christen und neue kirchliche Ordnung anzustreben, die durch das Predigen des reinen Gottesworts herbeigführt werden möge, wie es am Ende des Textes heißt. So ist die hier vorgetragene Auffassung von Reform ein gutes Beispiel für die doppelte Ambivalenz der christlichen Reformkonzeption: Individuelle Erneuerung in der Nachfolge Christi und Veränderung der Institutionen sind ineinander verwoben, die künftige Neu-

116 Bucer, Das ym selbs niemant, S. 66 Z. 26 – 35.

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ordnung gründet auf und spiegelt sich in der Rückkehr zu einer anfänglichen Idealordnung.117 Die Predigt ist eine der wenigen ausführlichen Äußerungen Martin Bucers zu den guten Werken, einem Problem, das nach Luthers Neufassung der Rechtfertigungslehre dringend geklärt werden musste. Materielle Hilfe für Arme, Kranke und Bedürftige war für Bucer zweifelsohne das naheliegendste, drängendste, in der Bibel am besten dokumentierte und daher selbstverständlichste Werk der Nächstenliebe – aber sicher nicht das einzige: Auch geistige Hilfen (Gebet, Belehrung, Vergebung, Versöhnung usw.) fielen für ihn unter das Gebot des Dienstes am Nächsten, wie zum Beispiel seine oben erwähnte Beschreibung des idealen »Apostels« zeigt. Von Armut und Krankheiten spricht er in dieser Schrift allenfalls indirekt: von Ersterer nur im Zusammenhang mit den Werken der Barmherzigkeit, von Letzteren, um zu zeigen, dass die Menschen mit der Abkehr von Gott auch das Wissen über die Natur, zum Beispiel über Arzneien, verloren haben.118 Anders als die Kirchenordnungen, die der in Wittenberg wirkende Reformator Johannes Bugenhagen für norddeutsche Städte und das Königreich Dänemark verfasste, berühren die auf Martin Bucer zurückgehenden süddeutschen Kirchenordnungen (Ulm 1531, Straßburg 1534, Augsburg 1537) das Thema Armenfürsorge und Almosenordnung kaum.119 Das mag sich zum einen aus der für Bucer unauflöslichen Bindung der Nächstenliebe an den Glauben und das wahre christliche Leben erklären, durch die das Problem im Prinzip gelöst war ; zum anderen daraus, dass für ihn seit den späten 1520er Jahren die Abendmahlsfrage und der Kampf gegen die Wiedertäufer auf Jahre hinaus im Vordergrund standen. Bucers Predigt von 1523 ist daher nicht als Einlassung zur Gestaltung der Straßburger Fürsorgepolitik (etwa zu der in denselben Wochen im Rat diskutierten Almosenordnung) zu lesen, sondern als vielseitig verwendbare programmatische Handreichung, auf die künftig jeder zurückgreifen konnte, der sich über den Sinn oder die Notwendigkeit guter Werke unter evangelischen Vorzeichen Klarheit verschaffen wollte. Auch wenn Bucer keinen weiteren monografischen Text zu diesem Thema verfasst hat, sollte eine spätere Schrift, die 1540 in Straßburg unter dem Pseudonym »Chu˚nrat Trew von Fridesleven« gedruckt wurde, nicht übersehen werden.120 Sie enthält ein fiktives Gespräch zwischen einem katholischen, für 117 Bucer, Das ym selbs niemant, S. 67 Z. 12 – 17. Dass der Stand der Vollkommenheit nur eingeschränkt erreicht werden kann, stellt Bucer schon in der Vorrede fest, S. 44 Z. 23 f. Vgl. Ladners Konzept christlicher Reform, oben, Einleitung, Anm. 23 – 28. 118 Bucer, Das ym selbs niemant, S. 49 Z. 22 f.: »Mit der erkantnüß gottes ist uns auch erkantnüß der creaturen entpfallen …« 119 Lorentzen, Johannes Bugenhagen, S. 178 – 181. 120 Bucer, Von Kirchengütern. Gedruckt unter dem Titel Von Kirchengu˚tern. Wes deren besitz, und eigenthum seie. Wer die raube, oder recht anlege wol oder ubel brauche. Wie sie wider

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Reformen offenen Propst, einem juristisch gebildeten evangelischen Sekretär und einem Edelmann; Thema des Buches, eines Beitrags zu einem literarischen Streit um die Aufhebung der Klöster, sind Sinn und Zweck der Kirchengüter, die gerechte Finanzierung des Klerus und die Existenzberechtigung von religiösen Orden. Bucer hatte zusammen mit Caspar Hedio schon früher, in der Hungerkrise 1529 – 1531, gegenüber dem Straßburger Rat auf der Notwendigkeit bestanden, die noch nicht eingezogenen Sonderstiftungen bestimmter Klöster und Kollegiatkirchen dem zentralen Almosen zuzuschlagen, um den zahlreichen von auswärts in die Stadt strömenden Bedürftigen besser beistehen zu können.121 Noch in der Schrift von 1540 stellt er als eine der Hauptfunktionen der Kirchengüter – neben der Unterhaltung von Pfarrern und Schulen – den seit der Spätantike festgelegten Zweck der Versorgung der Armen heraus.122 Dieses Plädoyer für eine Umverteilung des Kirchen- und Stiftungsguts nach unten endet mit einem langen Zitat aus einer Homilie zum Matthäus-Evangelium von Johannes Chrysostomos.123 Dieser Kirchenvater hatte auch zu den Lieblingsautoren Geilers von Kaysersberg gehört, denn in den Matthäus-Homilien und anderen Werken des Griechen spielt die Armenfürsorge generell eine große Rolle. In der von Bucers Propst ins Deutsche übertragenen Passage aus der 85. Homilie bindet Chrysostomos die Finanzierung der Priester an deren Pflicht zur Almosengabe; er tut dies im Habitus des Reformers, indem er den Missständen in seiner Gegenwart, der Zeit um 400, zwei als vorbildlich präsentierte Kontexte gegenüberstellt: die frühe Kirche in apostolischer Zeit, in der die Priester noch wohltätig gewesen seien, und die bei den Juden üblichen Almosenspenden (eine der wenigen Stellen in den Matthäus-Homilien, die dem Judentum etwas Positives abgewinnen). Bucer verstärkt seine Forderung nach Umschichtung der Kirchengüter zu Gunsten der Notleidenden, indem er sich auf die Schultern eines heiligen Reformers der alten Kirche stellt, seinen eigenen mit dessen Reformtext überblendet und legitimiert.

zu˚recht Christlicher, und allen Stenden nu˚tzlicher besitzung, und gebrauche, ufs allerfüglichest könden bracht werden … 1540 angeblich in Freiberg bei »Johan Gu˚tman«, in Wirklichkeit in Straßburg bei Johann Prüss d. J. – Als Quelle zur Hospitalgeschichte in der Reformation zieht diesen Text Friedrich, Vom Kloster zum Hospital, S. 69 f., heran. Zur theologisch-juristischen Debatte um die Einziehung von Kirchengut durch die protestantischen Fürsten und zum politischen Kontext 1539 – 1540 s. Friedrich, Territorialfürst, S. 209 f., 221 – 227. 121 »Brant« B, Nr. 4819 u. 4821 S. 387 (1529 Nov. 10). 122 Bucer, Von Kirchengütern, S. 338 f., wohltätige Institutionen; S. 361 – 364, Hospitäler der Ritterorden; S. 371 – 376, Hospitäler allgemein. 123 Bucer, Von Kirchengütern, S. 480 – 482. Es handelt sich um den letzten Teil der 85. Homilie (86. nach Bucers Zählung) des Johannes Chrysostomos, hier zu Mt 26,67 – 27,10 (vgl. Iohannes Chrysostomus, Homilien 2, S. 552 – 564, hier 561 ff.). Zu Geilers Chrysostomos-Zitaten s. oben, Anm. 70.

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Dem in der Forschung geäußerten Eindruck,124 dass Bucer der Sorge für die Bedürftigen, weil er sie als direkte Wirkung des Glaubens betrachtete, nur wenige spezielle Abhandlungen gewidmet hat, ist beizupflichten. Im direkten Einflussgebiet Martin Luthers war das anders. Wie die Kirchenordnungen Johannes Bugenhagens zeigen, wurden in Norddeutschland die Gläubigen mit im Lauf der Jahre immer besser ausgearbeiteten Begründungen dazu motiviert, auch weiterhin Nächstenliebe zu üben. Die von Bugenhagen herangezogenen Bibelstellen und seine theologischen Argumente ähneln denen Bucers, doch geht der pommersche Reformator viel ausführlicher auf die praktischen und rechtlichen Aspekte der neuen Fürsorge-Organisation ein.125 Dies bedeutet freilich nicht, dass sich im Unterschied zu Bugenhagen die Straßburger Prediger und Pastoren für das Thema nicht interessiert hätten: Bei konkreten Anlässen, etwa 1529, setzten sie sich klar für die Hungernden ein. Für die unterschiedliche Schwerpunktsetzung scheinen eher theologische, näherhin ekklesiologische Gründe ausschlaggebend zu sein. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Werke der Nächstenliebe aus dem neuen Glauben hervorgehen sollen, hängt aus Straßburger Sicht auch mit der starken Betonung des gemeinschaftlichen Elements in der reformierten Gemeinde zusammen. Dieses ›brüderliche‹ Element findet seinen Niederschlag in vielen Facetten der reformatorischen Konstellation in Straßburg: in Bucers Ekklesiologie, in der Liturgiereform, in der Deutung des Abendmahls, im Umgang mit ›Häretikern‹ und ›Sekten‹ bis hin zur Bündnisbildung mit den Lutheranern. Die Möglichkeit, das gefährdete Bündnis mit Wittenberg wiederherzustellen, entschied sich an der Abendmahlsfrage. Bucers Abendmahlstheologie126 beschritt zunächst einen Mittelweg zwischen Luthers ›realistischer‹ Position (Konsubstantialität von Brot und Leib bzw. Wein und Blut Christi) und der radikal symbolischen Deutung Zwinglis (Abendmahl als bloßes Gemeinderitual zum Gedächtnis an die Passion). Trotz ihrer anfänglichen Neigung zur symbolischen Interpretation der Gestalten (Brot und Wein »bedeuten« den Leib und das Blut Christi, »sind« aber nicht Leib und Blut) näherten sich die Straßburger nach und nach der Wittenberger Auffassung von der objektiven sakramentalen Wirksamkeit des Ritus an. Sie setzten jedoch voraus, dass die Empfänger tat124 Lorentzen, Johannes Bugenhagen, S. 180 f., 189 f.; Einleitung und Anmerkungen von Robert Stupperich zur Edition von Bucer, Das ym selbs niemant, S. 29 – 40, 62 f. Anm. 109; e silentio bestätigt diesen Eindruck die Bucer-Biografie von M. Greschat, in der das Thema ›Armenfürsorge‹ nur eine marginale Rolle spielt. 125 Dazu eingehend Lorentzen, Johannes Bugenhagen, hier v. a. S. 114 – 146, 162 – 170. Zusammenfassend Lorentzen, Reformation. 126 Neben Bornert s. für die Jahre bis 1528 Kaufmann, Die Abendmahlstheologie; für die Zeit ab 1530: Bucer, Common places, S. 32 – 47 (Einleitung D. F. Wright); zusammenfassend Greschat, Martin Bucer, S. 86 – 93.

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sächlich an die christliche Verheißung glaubten: Der Glauben war unerlässlich, um das äußere, materielle Zeichen der Gestalten in eine innere, geistige Realität zu übersetzen. An dieser zentralen Rolle des Glaubens im Empfänger des Sakraments hielt Bucer auch dann fest, als er sich 1536 mit der Wittenberger Konkordie127 zu einem Kompromiss mit den Lutheranern bereitfand und so den Abendmahlsstreit beendete. Die hierfür zu leistenden theologischen Konzessionen waren den Straßburgern kein zu hoher Preis für die Restitution der protestantischen ›Brüdergemeinschaft‹. Aus den Debatten der Jahre 1529 – 1536 lässt sich ersehen, dass Bucer die Bereitschaft zur Inklusion der Mitchristen, auch wenn sie nicht in allen Fragen derselben Meinung waren, zum Prüfstein für das Vorliegen echter Liebe und damit echten Glaubens erhob; der Vorrang der Liebe und das Postulat der Einheit der evangelischen Christen rückten für die Straßburger ins Zentrum der Abendmahlsdiskussion.128 Andererseits sahen sie nun deutlicher, dass die Einheit, also der Kern des Glaubens, durch die Täufer und andere radikalere Strömungen gefährdet schien; während diese ›Feinde der Einheit‹ und damit Häretiker seit den 1530er Jahren auch in Straßburg verfolgt wurden,129 behielt im Verhältnis zu Luther der Wunsch nach Brüderlichkeit letztlich die Oberhand. Im Innenraum der lokalen Kirche entfaltete der Anspruch, eine brüderliche Gemeinschaft in Christo zu realisieren, umso deutlichere Wirkungen. Die ursprüngliche Straßburger Konzeption des Abendmahls kam diesem Gemeinschaftsideal entgegen, denn wenn die Straßburger Theologen vor 1536 die Gedächtnisfunktion des gemeinsam konsumierten Sakraments hervorhoben, so förderten sie damit das gemeinschaftsstärkende Moment des Rituals.130 Dass sie gegenüber Luther den individuellen Glaubensakt des Empfängers betonten und damit die objektive Realpräsenz der eucharistischen Gestalten an ein subjektives Medium banden, widerspricht diesem gemeinschaftlichen Element nur scheinbar : Da für Bucer der individuelle Glauben der Bezeugung durch Akte der Nächstenliebe bedurfte, durch das gepredigte Wort geweckt und durch das Sakrament gestärkt wurde, brauchte der Glauben kollektive Formen der Verwirklichung. Später (circa 1538) zogen die Straßburger Liturgiker aus dieser sozialen Verankerung des Abendmahls die Konsequenz, dass sie es formaliter mit der Bitte um Almosen für die Armen per Klingelbeutel verbanden: Dieses kleine Opfer der Gläubigen hatte zwar nichts mehr mit dem katholischen Begriff des Messopfers (als vom Priester wiederholter Opferung Christi) zu tun, griff 127 128 129 130

Bucer/Luther, Wittenberger Konkordie. Hamm, Tolerance and Heresy. Vgl. auch Greschat, Martin Bucer, S. 71, 90 f. Brady, Protestant Politics, S. 104 – 116. Kaufmann, Die Abendmahlstheologie, S. 92, 135 (Wolfgang Capito: Die Gestalten stiften zu gegenseitiger Liebe an), 201, 245 f. (ab 1525 wird die gemeinschaftskonfirmierende Funktion der Eucharistie betont).

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aber doch den Gedanken der Opfergabe aus Dankbarkeit für den Kreuzestod Christi auf, der auch schon vor der Reformation zur Begründung von Almosengaben gedient hatte.131 Alles in allem drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass Bucers Konzeptionen der Nächstenliebe auf der einen und des Abendmahls auf der anderen Seite nicht unabhängig voneinander aus seinen Grundannahmen von der brüderlichen Gemeinschaft der wahren Christen hervorgegangen, sondern direkt aufeinander bezogen sind. Darauf deuten auch die Beschlüsse der Straßburger Synode von 1533 hin, die direkt im Anschluss an eine Definition des »nachtmal[s] Christi« fordern: »Under solichen dann, die nun ein leib und brot seind in Christo, solle die höchste lieb und einikeyt sein, das sie cristliche sorg für einander haben, sich durch einander mit aller senffte und bescheydenheit underweisen, warnen, ermanen und anhalten.«132

Neuorganisation der Armenfürsorge in der Reformationszeit Verlagern wir den Beobachtungspunkt von den theologischen Implikationen der Straßburger Wohlfahrtspolitik auf deren konkrete Umsetzung in der Almosenordnung von 1523. Diese umfassende Neuregelung, mit der der Straßburger Rat sowohl an die eigene Tradition der Bettelordnungen als auch an die neuere Reichs- und Territorialgesetzgebung anknüpfte, gibt Einblick in den öffentlichen Umgang mit allen Arten von Bedürftigkeit. Über die Gründung des von Nürnberg inspirierten zentralen oder ›Gemeinen‹ Almosens unterrichten neben den Chroniken133 vor allem die Satzungen der neuen Behörde. Sie liegen vor als Entwurf (vor August 1523) von der Hand des federführenden Ratsherrn Mathis Pfarrer (Mitglied der XV), in endgültiger Fassung (4. August 1523) und als ein für den öffentlichen Aushang gedruckter Auszug vom 1. Oktober desselben Jahres.134

131 Bornert, La r¦forme protestante, S. 384 f. Zur Begründung der Almosen aus Dankbarkeit für Christi Tod, für alle Gaben Gottes, für die Sakramente vgl. Geiler von Kaysersberg, Das buoch Arbore humana, f. LXXIIIva. 132 Krebs/Rott, Quellen zur Geschichte der Täufer 8, Nr. 371 S. 28. Hingegen bestreitet Lorentzen, Johannes Bugenhagen, S. 44 f., einen Zusammenhang zwischen Bucers Abendmahlstheologie und der »Diakonie« (im allgemeinen Sinn von Armenfürsorge). 133 »Brant« B, Nr. 4456 S. 271 (Gründungsbeschluss 1523), Nr. 4468 S. 289, 4496 S. 293 (Umwidmung von Einzelstiftungen der Kollegiatkirchen zu Gunsten des Almosens, 1524). Büheler, Nr. 207 S. 72 (Gründung 1523). – S. auch oben, Anm. 98, u. zu Nürnberg Winckelmann, Die Armenordnungen. 134 Zusammenfassend Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 78 – 87. Texte gedruckt von Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 40 S. 88 – 93 (Entwurf), Nr. 43 S. 97 – 104 (endgültige Fassung) u. Nr. 48 S. 105 – 108 (Auszug); von Nr. 43 u. 48 sind mehrere Abschriften erhalten. Nichts Neues bietet der jüngste Kommentar zu dieser Almosenordnung: Ludyga,

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Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

Bereits im Entwurf sind die zu regelnden Teilbereiche vollständig erfasst, wenn auch noch nicht überall sinnvoll geordnet. Man kann sie unterteilen in (a) Finanzierung des Almosens, (b) Mitarbeiter und innere Organisation, (c) Auswahl und Führung der Almosenempfänger und (d) Bettelverbot. Die Finanzierung (a) sollte vor allem durch mehr oder weniger freiwillige Übertragung der zahlreichen kleineren Almosenstiftungen, die an Kirchen und Klöstern angesiedelt waren, an das Gemeine Almosen gesichert werden; ferner hoffte man durch Sammelstöcke in Kirchen und Bettelordensklöstern sowie bei regelmäßigen Sammlungen durch eigens autorisierte Personen weitere Mittel einzuwerben. Die definitive Fassung unterscheidet sich hier wenig vom ersten Entwurf, fügt aber hinzu, dass alle Pfarrer und Prediger gehalten waren, die Gläubigen zu Spenden aufzufordern.135 Über das Personal des Almosens (b) sind sich bereits die Verfasser des Entwurfs weitgehend klar : vier Ratsmitglieder als Oberpfleger oder Almosenherren, neun Unterpfleger entsprechend den neun Pfarreien der Stadt und vier vereidigte, besoldete Knechte, denen die mit der Almosenverteilung und der Abwehr unerwünschter Bettler verbundene körperliche Arbeit oblag.136 Außerdem kennt der Entwurf bereits die Figur des Almosenschaffners (ein solcher Verwaltungschef war in Nürnberg nicht vorgesehen), dessen Pflichten (Vereidigung) und Rechte aber erst die Vollfassung vom August 1523 detailliert beschreibt.137 Die Almosenempfänger (c) hatten vor allem mit den neun Unterpflegern und den Knechten zu tun. Die erste Auswahl der in Frage kommenden Haushalte hatten die Unter- und Oberpfleger in einer Begehung der gesamten Stadt bereits im April 1523 vorgenommen und etwa 400 bedürftige Personen gezählt. Die betroffenen Haushalte mussten regelmäßige (in der Endfassung monatliche) Kontrollen über sich ergehen lassen: Die Unterpfleger prüften Ehrbarkeit und wirtschaftliche Lage der Familie, erkundigten sich aber auch über die wöchentliche Auszahlung der Hilfen durch die Knechte. Die Ordnungen legen die Obrigkeitliche Armenfürsorge, S. 138 – 148; s. aber auch ebd., S. 38 – 47, 52 – 56, zur Reichsund Territorialgesetzgebung in Sachen Armut und Bettelei. 135 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 43 S. 103 f. § 36. Hier in der definitiven Fassung sind alle Vorschriften zur Finanzierung an einer Stelle konzentriert (§§ 34 – 37). S. dazu auch Nr. 41 S. 93 – 96, eine Liste von älteren Almosenstiftungen an insgesamt 26 Kirchen und Klöstern, die Winckelmann aus verschiedenen im Zusammenhang mit der Errichtung des Almosens 1523 angelegten Aufzeichnungen zusammenstellt. Vgl. die ähnlichen Nürnberger Vorschläge: Winckelmann, Die Armenordnungen, S. 272 f. (ältere Fassung L, linke Spalte). 136 Die Almosenknechte erhielten 1535 eine eigene Dienstordnung (Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 133 S. 186 – 189). 137 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 43 S. 98 f., 100, 104, §§ 2 – 12, 16, 38 – 42; den Mitarbeitern und der Arbeitsorganisation sind in der definitiven Fassung die meisten Paragrafen gewidmet. Vgl. zur Nürnberger Organisation Winckelmann, Die Armenordnungen, S. 261 – 264 (ältere Fassung L, linke Spalte).

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Reformdebatten 1520 – 1530

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Höhe dieser Beträge nicht fest, doch aus anderen Aufzeichnungen ist bekannt, dass jeder erwachsene Empfangsberechtigte pro Woche zunächst 14 den. bekommen sollte. Die Klienten des Almosens waren, mit Ausnahme der getrennt geführten und »heimlich« versorgten »Hausarmen«, verpflichtet, ein Zeichen zu tragen und ihre Wohnung durch ein Schild zu kennzeichnen.138 Während die Vorschriften zu den Almosenempfängern im Entwurf noch nicht bis ins Einzelne ausgearbeitet sind, nimmt das Thema Bettelverbot (d) von Anfang an einen gewichtigen Teil der Straßburger Almosenordnung ein. Ein Haupteffekt der Reform sollte, wie in Nürnberg, das Verschwinden der Bettler von den öffentlichen Straßen und Kirchen sein. Einheimischen Bedürftigen stand, im Prinzip jedenfalls (sofern sie sich nicht durch Verkommenheit disqualifiziert hatten), ausreichende Unterstützung aus dem neuen Almosen zu: Betteln mussten Straßburger folglich per definitionem nicht mehr, zumal sie von den Bürgern weiterhin zusätzliche Gaben annehmen (wenn auch nicht erbetteln) durften. Das Bettelverbot galt auch für die professionellen Almosensammler der Straßburger Hospitäler, jedoch mit drei Ausnahmen: Die armen Insassen des Blatterhauses, die des Waisenhauses und maximal 100 arme Schüler durften weiterhin, wenn auch begrenzt, öffentlich milde Gaben »heischen«. Von auswärts kommende Bettler hingegen sollten nach höchstens einem Tag und einer Nacht mit einer kleinen Wegzehrung unter Strafandrohung fortgeschickt werden. Pilgern stand die Elendenherberge offen, aber ebenfalls nur kurzfristig. Arme Immigranten, die sich beim bischöflichen Schultheiß das Klein- oder Schultheißenbürgerrecht kauften, hatten, wie bisher schon, weder das Recht zu betteln noch Anspruch auf das Almosen. Für die Umsetzung dieser Maßnahmen, deren repressiver Charakter in der Straßburger Tradition steht, waren zumindest teilweise die vier Almosenknechte zuständig.139 Die Hauptunterscheidung, nach deren Maßgabe die Straßburger Ratsherren Ordnung in die Menge der hilfesuchenden Bittsteller zu bringen gedachten, war die zwischen ›einheimisch‹ und ›fremd‹. Fremde – wobei zwischen offen Bettelnden und Pilgern unterschieden wurde – sollten allenfalls ein Anrecht auf einmalige, sehr begrenzte Hilfsleistungen haben, und falls sie sich ansiedeln wollten, waren sämtliche Ansprüche für mehrere Jahre blockiert. Bei einheimischen Almosenkandidaten griffen zusätzliche Differenzierungen: Arbeits138 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 43 S. 99 – 101 §§ 13 – 15, 17 – 20, 23; zum Betrag von 14 den. (später auf 16 den. erhöht) s. das Dokument Nr. 42 S. 97. Vgl. zu den ähnlichen Nürnberger Vorschriften Winckelmann, Die Armenordnungen, S. 264 – 267, 269 (ältere Fassung L, linke Spalte). 139 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 43 S. 101 – 103 §§ 21, 22, 24 – 33. – Zur Tradition der Straßburger Bettelordnungen des 15. Jh.s s. Voltmer, Die Straßburger »Betrügnisse«. Vgl. die teils abweichenden Nürnberger Vorschriften: Winckelmann, Die Armenordnungen, S. 267 f., 269 – 271 (ältere Fassung L, linke Spalte).

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Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

unfähigkeit (wegen Krankheit, Alter) vs. Arbeitsfähigkeit, ferner eine unscharfe moralische Bewertung, nach welcher ehrliche und unverschuldet bedürftige Personen von unehrlichen, moralisch verkommenen, aus eigener Schuld (etwa durch Trinken, Spielen) in die Misere geratenen Taugenichtsen geschieden wurden. Idealer Almosenempfänger war nach Vorstellung der Ratsherren eine unverschuldet in Not geratene, durch Krankheit arbeitsunfähige Straßburgerin (in der Tat waren die Klienten mehrheitlich weiblich140), am besten eine »Hausarme«; allen anderen begegneten sie mit mehr oder weniger tiefem Misstrauen. Die Vorrede zur endgültigen Fassung macht die eigentliche Zielsetzung des Rates unmissverständlich klar : Es gab zu viele Bettler, die »von vil landen hargezogen« waren, sich »lichtvertig und sündlich« betrugen, ein »bös exempel« abgaben und denjenigen, die am »notdurftigisten« (sic!) waren, das Almosen »ungötlichen« wegnahmen; dies gedachte der Rat »in betrachtung brüderlicher lieb, die got zum höchsten gebotten, und dem menschen zu erlangung götlicher genaden und seligkeit das best und erschießlichst gut werk ist«, mit seiner neuen Ordnung zu verhindern.141 Dieser Appell an die brüderliche Liebe, der hier noch nicht dezidiert evangelisch gefärbt ist, aber je nach Auslegung Bucers etwa gleichzeitiger Predigt Das ym selbs niemant auch nicht widerspricht, wurde in der Vorrede zu der zwei Monate später gedruckten öffentlichen Kurzfassung reformuliert. Auch dort beginnt die Klage des Rats mit dem Argwohn gegen falsche Bettler, die den »husarmen und notturftigen« das Almosen entziehen, hebt dann aber vor allem auf das Ärgernis des schamlosen öffentlichen Bettelns ab, zu dem auch die Kinder erzogen würden: Dies gelte ganz unabhängig davon, ob es sich um fremde oder einheimische Bettler handele. »Brüderliche Liebe« ist auch hier das Leitmotiv, doch es fehlt jetzt (im Oktober 1523, also nach Lektüre von Bucers Predigt?) der Hinweis, dass die Werke der Nächstenliebe Instrument zur Erlangung der göttlichen Gnade sind.142 Vielmehr folgt eine knappe Zusammenfassung der Hauptleistungen der Almosenreform: generelles Bettelverbot, wöchentliche Unterstützung für die »armen inwoner«, Ausweisung der »frömbden betler« mit Zehrgeld, Beherbergung der Pilger in der Elendenherberge. In der gedruckten, für die Öffentlichkeit bestimmten Kurzfassung erhält die Metapher der Barmherzigkeit einen viel prominenteren Platz als in den beiden zum internen Gebrauch bestimmten Versionen. Dort, in den vorausgehenden 140 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 85, u. ebd. 2, Nr. 190 S. 236. 141 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 43 S. 97 f. Vgl. die ausführlichere, aber ähnlich argumentierende Vorrede zur Nürnberger Almosenordnung: Winckelmann, Die Armenordnungen, S. 258 f. (ältere Fassung L, linke Spalte). 142 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 48 S. 105 f.: Es heißt hier nur »in betrachtung brüderlicher libe, die got am geföllichsten, sin fürnemest gebot und das best gut werk ist«.

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Versionen, hatte ›Barmherzigkeit‹ als inkludierende Leitmetapher in der Tradition Geilers von Kaysersberg ausgedient: Im Entwurf bezeichnet das Wort, das ein einziges Mal vorkommt, eine persönliche Eigenschaft einzelner Bürger, mit der die Ratsherren rechnen, die sie aber nur dann akzeptieren, wenn sie die Armen nicht zum Betteln verführt;143 in der definitiven Fassung findet es sich überhaupt nicht mehr. Der gedruckte Aushang hingegen bemüht sich, die Spendenbereitschaft der Bürger unter stillschwiegendem Rückgriff auf Mt 25,31 ff. zu stimulieren, indem er ausdrücklich Barmherzigkeit einfordert. Zudem wird hier künftigen Gebern erklärt, dass sie Sachspenden bei dem inzwischen ernannten Schaffner des Almosens, Meister Lukas (»Lux«) Hackfurt, einreichen können.144 Diese Modifikationen sowie die Auswahl der Inhalte für den öffentlichen Aushang lassen den Schluss zu, dass der Rat den Bürgern bestimmte Aspekte seiner ›Sozialpolitik‹ schmackhaft machen, ihnen aber auch entgegenkommen wollte. Er hob die disziplinierenden Effekte, die Verlässlichkeit und die strenge Gerechtigkeit der neuen Zentralorganisation hervor, bot den Bürgern aber auch ein attraktives Ziel für ihre milden Gaben an. Hingegen übergingen die Straßburger Stadtväter die positiven Anreize, die man in Nürnberg von Anfang an in die Almosenordnung eingebaut hatte: Überbrückungskredite für in Not geratene Handwerker, Arbeitsbeschaffung für Bettler und Ausbildung für deren Kinder.145 In der ersten Zeit scheint das zentrale Almosen mit den 1523 vorgesehenen Mitteln ausgekommen zu sein.146 Doch in der großen Teuerung und Hungerkrise der Jahre 1529 – 1531 erwiesen sich die Kapazitäten als viel zu begrenzt. Unterstützt von den Theologen Bucer, Hedio und Capito kämpfte der Almosenschaffner Lukas Hackfurt († 1554) jahrelang darum, dass wenigstens ein Teil der Einkünfte aus den nach und nach aufgelassenen Klöstern seinem Amt übertragen würde. Den Straßburger Chroniken147 und den von Otto Winckelmann 143 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 40 S. 90 f. (Entwurf): allgemeines Bettelverbot, »es were denn sach, daß ein bürger […] umb barmherzikeit willen, so im in sim hüs etwas iberblibe, eins beschied, solchs zu holen, soll im ouch an der ordnung kein schaden bringen« (»dass ein Bürger aus Barmherzigkeit, wenn ihm in seinem Haus etwas übrigbleiben sollte, einem [Almosenempfänger] Bescheid gäbe, das abzuholen; das verstößt nicht gegen diese Ordnung«). 144 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 48 S. 106: Die Bürger werden auf die Almosenstöcke aufmerksam gemacht, »darin ein jedes mensch sin almusen stossen mag, den armen mittheilen und barmherzigkeit bewisen, nochdem und es [sic! »uns des«?] got ermanet und er von got barmherzigkeit zu erlangen begert …« (es folgt der Verweis auf Belohnung beim Jüngsten Gericht, wie in Mt 25,31 ff. angekündigt). Erwähnung des Schaffners Hackfurt im übernächsten Paragrafen (S. 107). 145 Winckelmann, Die Armenordnungen, S. 274 – 276, 278 f. (ältere Fassung L, linke Spalte). 146 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 85; 2, Nr. 190 – 191 S. 234 – 236. Lorentzen, Johannes Bugenhagen, S. 190 – 194. 147 Am reichhaltigsten zur Debatte im Vorfeld: »Brant« B, Nr. 4593 (a. 1525), 4653 (a. 1526),

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Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

zusammengestellten Dokumenten zufolge148 verzeichnete er durchaus Erfolge: 1529 wurde dem Almosenamt das Frauenkloster St. Marx als Sitz zugewiesen, allerdings blieb ein Teil der Einnahmen aus dem Klostergut für die Pensionen der letzten Nonnen reserviert; 1530 erhielt das Almosen einen Teil der Güter des Dominikanerklosters sowie die Hälfte der Einnahmen aus dem frümittelalterlichen Kloster und späteren Kanonikerstift St. Arbogast (die andere Hälfte ging an das Große Spital). Damit war die Funktionsfähigkeit des Gemeinen Almosens in Krisenzeiten zwar immer noch nicht über alle Kritik erhaben, aber immerhin seine Stellung als zentrale Institution der Straßburger Fürsorgepolitik auf Dauer gesichert. Die Teilung des Erbes von St. Arbogast zwischen dem Almosen und dem Großen Spital ist ein Indiz für die Interessenkonflikte, die in jenen Jahren der Neudistribution der Kirchengüter in Straßburg ausgetragen wurden. Zu klären war, wie nach der Gründung des Almosens die Ressourcen und die Lasten zwischen dieser neuen Zentralinstitution und den Straßburger Hospitälern, insbesondere dem Großen Spital, verteilt werden sollten. Bevor wir die sich daran entzündenden Diskussionen zwischen dem Almosenschaffner Lukas Hackfurt und der Spitalleitung ansehen (unten Abschnitt 5), sei kurz die Situation der Straßburger Hospitäler in der Reformationszeit in Erinnerung gerufen. Otto Winckelmann hat hervorgehoben, dass der Übergang zum evangelischen Glauben an der Struktur und den rechtlichen Verhältnissen der städtischen Hospitallandschaft wenig geändert hat. In der Tat: Die Hospitäler blieben im Wesentlichen bestehen, selbst wenn die kleineren von ihnen, auch die Leproserien, sich im 16. Jahrhundert in Pfründnerhäuser verwandelt hatten und kaum noch andere Hospitalfunktionen wahrnahmen. Die Versorgung der »armen Siechen« und Syphiliskranken oblag dem Großen Spital bzw. dem Blatterhaus, während für andere traditionelle Funktionen der hospitalitas – mittellose Fremde und Kinder – die Elendenherberge und das Waisenhaus zuständig waren.149 Trotz einer wachsenden Aufmerksamkeit für medizinische Aufgaben wohnten im Großen Spital weiterhin »gesunde« Klienten, das heißt Pfründner, oder wurden von ihm als Externe versorgt.150 4758 (a. 1528), 4781, 4786, 4799, 4814 (a. 1529), 4855, 4856 (a. 1531). Aus dem Rückblick vgl. auch (Auswahl): Büheler, Nr. 243 (a. 1529), 252 (a. 1531); Specklin, Nr. 2305 (a. 1529), 2311 (a. 1530), 2325 (a. 1531); Trausch (schreibt um 1600), Nr. 2683 (a. 1529). 148 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 111 – 116, mit Verweis auf die in Bd. 2 regestierten Einträge in Hackfurts Tagebuch und andere Dokumente. 149 Überblick für die Reformationszeit bei Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 122 – 141, 142 – 165. Vgl. oben, Anm. 20 – 23 u. zur Elendenherberge unten, Anm. 157. 150 »Gesunde« erwähnt eine Ordnung für die Spitalmägde von 1547 (Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 15 S. 48). 1534 gewährte der Rat einem verarmten Juristen Versorgung aus Mitteln des Spitals, sofern er seiner Passion für die Alchemie entsagte (»Brant« B,

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Im Spital war die sichtbarste interne Veränderung der Reformationszeit – neben der schon vorgestellten neuen Ordnung für die Spitalkapläne und der Auflösung der seit 1400 nachzuweisende Krankenpfleger- bzw. UnterstützerBruderschaft – der 1535 unternommene Versuch, eine zweiköpfige Führung zu etablieren, nämlich Spitalschaffner und Siechenmeister. Wegen Streitereien wurde diese Lösung aber 1542 wieder durch eine hierarchische Organisation ersetzt, in der der Schaffner dem jetzt »Siechenvater« genannten Chef des Pflegedienstes übergeordnet war.151 In den Jahren der Doppelführung, wohl um 1540, wurde eine neue Ordnung erlassen, die die Pflege der »armen Siechen« regeln sollte. Sie geht vermutlich auf den damaligen Siechenmeister zurück und zeigt große Detailfreude bei der Regelung der täglichen Abläufe, insbesondere der Ernährung der Kranken. Vor allem aber deutet sich in dieser Ordnung ein neues Bewusstsein von der Rolle des Spitals im Wohlfahrtssystem einer reformierten christlichen Stadt an. Das Spital versteht sich nun als »gottliche geselschaft« oder »gotshaus«, in dem »göttlich, und nit fleischliche noch uppige lieb« regieren soll, und legt daher großen Wert auf die evangelische Unterrichtung der Insassen.152 Für die Auswahl der Patienten gilt nach wie vor das Kriterium, dass sie nur dann Zugang haben, wenn das Hospital ihre letzte Überlebensmöglichkeit ist, weil sie kranheitsbedingt selbst zum Betteln nicht mehr in der Lage sind; unter dieser Voraussetzung wird die Unterscheidung zwischen Einheimischen und Fremden ausdrücklich außer Kraft gesetzt.153 Diese klare Abweichung von den Selektionskriterien der Almosenbehörde sowie einige weitere Bestimmungen zum Verhältnis zwischen Almosen und Spital zeigen, dass den beiden Institutionen in der neuen Organisation der Wohlfahrt komplementäre Rollen zugedacht waren. Dies bedeutet aber zugleich Konkurrenz, Streit um Geld, Konflikte um Zuständigkeiten. Wir sollten uns daher nicht von der relativ stabilen Verfassung des Großen Spitals täuschen lassen. Die Reformation und die Einrichtung des Gemeinen Almosens hatten auch für das Hospital die Rahmenbedingungen erheblich verändert. Das betraf zum einen die Umwertung seiner religiösen Funktionen, die nun mehr auf Unterweisung und Trost, weniger auf die Wirkkraft der Sakramente und schon Nr. 5045 S. 442). – Zum Bedarf an Lebensmitteln im Großen Spital 1517: Specklin, Nr. 2214 S. 488. 151 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 136 f. Zu der Bruderschaft s. oben, Anm. 29, 86. 152 Zitate in Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 10 S. 22 f. Vgl. auch eine 1547 »renovirt [e]« Ordnung für die im Pflegedienst tätigen Mägde (ebd., Nr. 15 S. 46 – 49): Sie sollten (S. 46) die »notturftigen« mit Christus identifizieren (Mt 25,40) und sich in allem als »trewe liebe schwestern und gutte gespielen, ja als ware christen lut« erweisen (S. 48). 153 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 10 S. 20; nur auf Befehl der Pfleger aufgenommen werden hingegen durch eigenes Verschulden verwundete »stationierer und landstreiffer«. Vgl. zu den Aufnahmekriterien bereits die oben, Anm. 76 f., 82 genannten Ordnungen und den Diensteid des Arztes.

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Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

gar nicht auf den traditionellen Tauschverkehr zwischen guten Werken und Seelenheil ausgerichtet waren. Zum anderen musste das Große Spital, auch wenn es rechtlich unabhängig und direkt dem Rat unterstellt blieb, als Teil einer umfassenderen Organisation christlich-evangelischer Wohltätigkeit nicht nur um Ressourcen und Kompetenzen konkurrieren, sondern stand auch unter schärferer Beobachtung und somit unter verstärktem Rechtfertigungsdruck.

5.

Reformdebatten 1530 – 1544: Almosen und Großes Spital

Verteidigung des Gemeinen Almosens Mit der Teuerung der Jahre 1529 – 1531 begann für die lohnabhängige Bevölkerungsmehrheit der oberrheinischen Städte ein Kaufkraftverlust, der bis zum Ende des 16. Jahrhunderts – jedenfalls in Bezug auf die Getreidepreise – über 70 % ausmachte: Setzt man das Verhältnis von Löhnen und Getreidepreisen um 1500 mit einem Ausgangswert von 100 an, so beträgt derselbe Wert um 1600 nur noch 27.154 Wie den Chroniken und den Äußerungen der in der Armenpolitik engagierten Politiker und Beamten zu entnehmen ist, gelangte die Stadt 1529 – 1531 durch den Zustrom hungernder und bettelnder Menschen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit.155 Beeindruckend sind vor allem die Mengen von Klienten, die durch die Elendenherberge und deren Nebensitze geschleust wurden. Dass in dieser Situation das rigide Bettelverbot, das den Verfassern der Almosenordnung von 1523 vorgeschwebt hatte, kaum aufrechtzuerhalten war, ist nicht verwunderlich; so nimmt dieses Problem einen großen Teil der in den 1530er Jahren um das Gemeine Almosen geführten Diskussionen ein. Auf Kritik, die sowohl gegen einzelne Maßnahmen als auch prinzipiell gegen die Existenzberechtigung seiner Institution vorgebracht wurde, antwortete der Almosenschaffner Lukas Hackfurt mit zahllosen Eingaben und Streitschriften und forderte seinerseits nachdrücklich eine ausreichende finanzielle Ausstattung aus frei werdenden Kirchengütern. Schützenhilfe bekam er, wie erwähnt, von den Protagonisten der Straßburger Reformation schon während der Hungersnot.156 Nachdem die Lage sich gebes-

154 Schulz, Handwerksgesellen, Tabellen S. 436 f. 155 Büheler, Nr. 246 S. 79 (a. 1529); Specklin, Nr. 2306 S. 524 (a. 1529), 2330 S. 529 (a. 1531); Trausch, Nr. 2687 S. 38 f. (a. 1529); »Brant« B, Nr. 4819 S. 387 (zur »großen Not« von 1529), Nr. 4824 S. 388, 4831 S. 389 (a. 1529), 4934 S. 408 (a. 1531, Maßnahmen gegen die »starken Bettler« und Arbeitsbeschaffung), 4973 S. 417 (a. 1532, Arbeit für die Bettler); Saladin, S. 326 (a. 1529). 156 Intervention der Prädikanten: »Brant« B, Nr. 4819, 4821 S. 387 (a. 1529). Mittelzuwei-

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Reformdebatten 1530 – 1544

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sert hatte, legte Caspar Hedio 1533 eine deutsche Übersetzung des Traktats De subventione pauperum von Juan Lu†s Vives vor. Im Vorwort fasste er die Spitzenleistungen der Notstandspolitik seiner Stadt zusammen: Abgesehen von der großen Getreidemenge, die der Rat allen Bürgern und Auswärtigen in den Jahren der Teuerung zu subventionierten Preisen verkauft habe, habe das Almosenamt 1529 im aufgelassenen Franziskanerkloster 2150 Arme langfristig versorgt, das Große Spital jeden Tag zusätzlich zu seiner 120köpfigen Normalbelegschaft weitere 400 Sieche gespeist; die Elendenherberge habe von Sommer 1530 bis Sommer 1531 immerhin 23.548 (das wären rund 65 pro Tag), im Folgejahr noch 8879 fremde Arme aufgenommen. An ihre Klienten habe die Almosenbehörde zwischen Herbst 1530 und dem folgenden Herbst Getreide in einer Menge von 1989 Vierteln (circa 220.000 Liter) und Bargeld im Wert von 4095 Gulden verteilt. Hinzu kamen die Leistungen des Waisen- und des Blatternhauses.157 Diese Erfolgsmeldungen hatten sicher auch den diplomatischen Zweck, im Rat die Bereitschaft zu weiterer Stärkung der wohltätigen Institutionen zu erhöhen. Sie können freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wirksamkeit der Straßburger Armen- und Krankenfürsorge in einer Krise wie der von 1529 – 1531 begrenzt war. Letztlich war kaum jemand zufrieden: Die Vertreter des Almosens, des Spitals und der anderen wohltätigen Institutionen verwiesen auf ihre Überlastung und forderten höhere Mittel; Kritiker sahen im Gemeinen Almosen einen Moloch heranwachsen, der sämtliche Kirchengüter in sich aufzusaugen drohte und doch nie genug bekommen würde, und das nur, um unnütze Bettler und Faulenzer zu alimentieren; auch die bedürftigen Klienten der Fürsorgeeinrichtungen hatten, sofern sie überlebten, über ihre Behandlung zu klagen, was wir zwar nicht von ihnen selbst, aber indirekt von jenen Teilnehmern an der Debatte erfahren, die aus solchen Klagen ein Argument gegen das Almosen machten. Über diese Auseinandersetzungen gibt, neben Ratsbeschlüssen und den vom Rat erlassenen Dienstordnungen, vor allem das ›Tagebuch‹ des Almosenschaffners Lukas Hackfurt Auskunft. Dieser in Straßburg gebürtige ehemalige Priester, Anhänger der Reformation, Altersgenosse und Freund Martin Bucers158 sungen an das Almosen: ebd., Nr. 4824 S. 388, 4829 S. 389, 4855, 4856 S. 395 (alle a. 1529); Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 82, 92, 101, 111. 157 Hedios Vorwort abgedruckt bei Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 118 S. 168 f. Zur Elendenherberge im 16. Jh. mehrere Notizen in den Chroniken: Specklin, Nr. 2298 S. 520 (a. 1528), 2320 S. 528 (a. 1530, im Minoritenkloster 1600 Personen), 2332 S. 529 (a. 1530 – 1531, ähnliche Zahl wie Hedio), 2342 S. 531 (a. 1534), 2433 S. 559 (a. 1563); Wencker, Nr. 3046 S. 158 (a. 1530, gleiche Zahl wie Hedio); Büheler, Nr. 502 S. 129 (a. 1575). 158 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 86. Er sympathisierte mit den Täufern (Ginzburg, Il nicodemismo, S. 27; Krebs/Rott, Quellen zur Geschichte der Täufer 7, Nr. 109 S. 132, 224 S. 271), kehrte nach 1531 aber wieder zur Mehrheitsmeinung zurück und nahm im Juni 1533 an der Straßburger Synode teil (ebd., Nr. 252 S. 334; ebd. 8, Nr. 373 S. 54). Winckelmann hat in Teil 2 seines Buches eine große Zahl von Texten aus Hackfurts Tage-

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Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

fertigte seit 1523, dem Beginn seiner Tätigkeit beim Almosen, eine Fülle von Aufzeichnungen an: Kopien von ihn interessierenden Ratsdokumenten, eigene Eingaben, Memoranden zu Einzelfragen und regelrechte Traktate. Insbesondere in den Jahren 1529 – 1531 bekommen diese Einlassungen den Charakter einer Diskussion um eine erneute »Besserung« oder Reform der doch gerade erst 1523 reformierten Armenfürsorge. Es geht in dieser Phase vornehmlich um das Almosen, weshalb das Große Spital nur hin und wieder als Teil des Systems erwähnt wird. Als Hackfurt sich 1543 – 1544, wie wir sehen werden, auf eine direkte Auseinandersetzung mit dem Spital einließ, griff er auf manches Argument aus den früheren Debatten zurück. Damit diese argumentative Tradition besser verständlich wird, seien hier die beiden wichtigsten der um 1530 diskutierten Themen resümiert. Der am häufigsten berührte Punkt betrifft die Verteilung der Klostergüter und die Gewinnung zusätzlicher Einkünfte für das Gemeine Almosen durch Schließung weiterer Klöster, durch Umwidmung von religiösen Stiftungen, Verkauf von Kirchenschätzen und Bildern.159 Ein zweites, mit der Verschärfung der Hungerkrise stark in den Vordergrund rückendes Problem ist der Umgang mit den von außen in die Stadt strömenden Bedürftigen, von denen viele – Bettelverbot hin oder her – zum Überleben de facto auf das Betteln angewiesen waren; kritisiert wurde in diesem Zusammenhang vielfach die vom bischöflichen Schultheiß sehr großzügig gehandhabte Aufnahme von Schultheißenbürgern, die sich gegen geringes Entgelt in der Stadt niederlassen durften und dann – gegen alle Ratserlasse – bettelten oder das Almosen beanspruchten.160 Hackfurt nahm in der ersten Frage stets eine bewusst parteiische Position ein: Als »der armen lüt schaffener«, wie er sich einmal bezeichnete,161 bestand er immer darauf, dass für die zahlreichen Leistungen, die das Gemeine Almosen seiner Ansicht nach erbringen sollte, auch genügend Mittel zur Verfügung gestellt würden. In der zweiten Frage zeigte er sich anfangs sehr liberal gegenüber allen Notleidenden, präzisierte seine Haltung jedoch seit 1529 in dem Sinn, dass auch er einen strengeren Umgang mit offensichtlich unberechtigten oder unwürdigen buch (überliefert als Prot. 145 des Hospitalarchivs in den AVCUS) ganz oder auszugsweise ediert (Nr. 41 – 173 S. 93 – 214, von wenigen anderen Dokumenten unterbrochen). – Auswertung der Schriften dieses Protagonisten der Straßburger Armenfürsorge bei Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 89 f., 94 – 116; Fischer, Städtische Armut, S. 181 – 196, 220 – 223, 241. 159 Die wichtigsten davon handelnden Texte (aus den Jahren 1529 – 1532): Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 76, 77, 84, 87, 93, 101, 108 (S. 147 f.), 113 (S. 152, 160). 160 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 85, 87, 93, 94, 102, 105, 108, 113 (S. 150, 152, 155 f. [die Kritiker monieren Ausgaben für moralisch unwerte Arme], S. 156, 157 [Kritik an zu vielen Schultheißenbürgern], S. 157 f. [die Kritiker werfen der Almosenordnung vor, das Phänomen der starken Bettler nicht verhindert zu haben], S. 160 [Kritik an unkontrollierbaren Ausgaben für Bettler]). 161 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 113 S. 164.

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Reformdebatten 1530 – 1544

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Kandidaten für Hilfsleistungen befürwortete. Allerdings wies er unermüdlich darauf hin, dass es in einer absoluten Notlage zu spät sei, sich über Lebenswandel, Moral, Selbstverschulden oder Herkunft eines Bedürftigen Gedanken zu machen: In solchen Situationen müsse jedem Notleidenden geholfen werden, ein restriktiveres Vorgehen komme erst dann wieder in Betracht, wenn die akute Krise überwunden sei.162 Im Verlauf dieses Ringens um Rechtfertigung und Verbesserung des zentralen Almosens wurde 1530 mit der Ernennung eines Diakons ein neues Amt geschaffen, dessen Hauptfunktion darin bestand, die Klienten besser auszuwählen. Ein Jahr später wurde der Diakon, der frühere Almosenknecht Alexander Berner, vom Rat auf eine bemerkenswerte Rundreise durch Süddeutschland geschickt.163 Sie führte ihn nach Nürnberg, Augsburg, Ulm, Memmingen, Isny, Lindau, St. Gallen, Konstanz, Zürich und Basel; kürzere Einträge informieren außerdem über die Markgrafschaft Baden, über Württemberg, Dinkelsbühl und Ansbach – Gegenden, die er wahrscheinlich nicht persönlich bereist hat. Überall sah Berner sich das gesamte örtliche System der Wohlfahrt an: Er erkundigte sich insbesondere nach Größe und Merkmale der armen Bevölkerung, nach der Armen- oder Almosengesetzgebung, dem Umgang mit fremden Armen oder Bettlern, der finanziellen Ausstattung der zentralen Almosen (sofern vorhanden) und der Sonderstiftungen sowie nach den Institutionen der geschlossenen Armen- und Krankenfürsorge (Hospitäler, Syphilis-Hospitäler, Waisenhäuser, Elendenherbergen, Pestlazarette). Er besuchte überwiegend reformierte Städte, bezog aber auch ein altgläubiges Territorium wie Baden ein; Ziel war also, unabhängig von der Glaubensfrage durch Vergleich mit anderen Fallbeispielen Anregungen oder negative Erfahrungen von außen zu sammeln. Berners exemplarische topographia caritatis spart nicht mit kritischen Beobachtungen: Zürich und Basel etwa werden wegen ihrer harten, unzureichenden Wohlfahrtspolitik ausdrücklich getadelt, Konstanz hingegen gelobt. Sowohl die Straßburger Debatte als auch die Struktur von Berners StädteArtikeln legen die Schlussfolgerung nahe, dass das Ineinandergreifen der verschiedenen Wohltätigkeitsinstitutionen um 1530 auf neue Weise wahrgenommen wurde. Die mit dieser jetzt deutlicher postulierten Systemhaftigkeit verbundene Konkurrenz um den Zugang zu Finanzmitteln erzeugte unvermeidlich Spannungen. Zeugnis dafür ist ein Schlagabtausch, den sich der Almosenschaffner ein knapp fünfzehn Jahre später mit den Vertretern des Großen Spitals und des Waisenhauses lieferte. 162 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 113 S. 152, 157. Eine bedingungslose Pflicht zur Hilfe in extremer Not hatten bereits Geiler (Voltmer, Wie der Wächter, S. 576 Anm. 887) und frühere mittelalterliche Prediger postuliert. 163 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 92 f., 117; Text ebd. 2, Nr. 204 S. 266 – 283 (a. 1531, nach Original und Abschrift im Hospitalarchiv in den AVCUS).

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Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

Almosen vs. Großes Spital (1543 – 1544) Es gelang den Vertretern und Befürwortern des Gemeinen Almosens, ihre Institution über die geschilderten Schwierigkeiten hinwegzuführen und insgesamt zu stärken. Nach einer schweren Epidemie 1540 – 1541164 schien dem Almosenschaffner die Zeit gekommen, die Beziehungen zu den anderen loca pia der Stadt zu klären. Am 7. Dezember 1543 übergab er dem Altammeister und Spitalpfleger Nikolaus Kniebis eine Eingabe, in der er das Große Spital mit noch deutlicheren Worten kritisierte, als sie Geiler von Kaysersberg seinerzeit gefunden hatte. Die Antwort der Hospitalleitung auf diese Eingabe wurde Hackfurt von Kniebis zwei Monate später (3. Februar 1544) zugestellt, worauf Hackfurt eine Replik verfasste.165 Der Chef des Almosens monierte in acht Punkten eine zu restriktive und bürokratische Aufnahme der Kranken im Großen Spital (Punkte 1 und 2), ihre schlechte Behandlung und Ernährung (3), ihre häufig verfrühte Entlassung (4) sowie den habgierigen Zugriff des Hospitals auf den Besitz verstorbener Kranker, die es satzungsgemäß beerben durfte (5, 6, 7 und 8). Vor allem die Kritik an den vom Spital angewandten Kriterien zur Auswahl der Patienten und die scharfe Polemik gegen die rücksichtslose Beerbung armer Kranker verraten den »Schaffner der Armen«: Ersteres rührte direkt an die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Almosenbehörde – die es ja oft auch mit kranken Armen zu tun hatte, einen eigenen Arzt beschäftigte und wenige Jahre später einen häuslichen Pflegedienst organisierte166 – und dem Großen Spital; Letzteres war Hackfurt ein Dorn im Auge, weil die Hinterbliebenen dem Spital die gesamte Habe des verstorbenen Patienten ausliefern mussten und dadurch, besonders wenn der Tote kleine Kinder hinterließ, zwangsläufig auf das Almosen angewiesen waren. Je enger das Spital den Kreis seiner Klienten zog und je kompromissloser es seine Rechtsansprüche verfocht, desto mehr Bedürftige blieben beim Almosenamt hängen, das trotz aller seit 1530 erreichten Verbesserungen nach wie vor um seinen Etat besorgt war. Was die Aufnahmepolitik des Hospitals im Einzelnen betrifft, so monierte er, dass es »nit ein jeden siechen annemen«167 will, auch wenn diese körperlich 164 Büheler, Nr. 281 S. 84. Dieser Seuche fiel der Reformator Wolfgang Capito zum Opfer, dessen Witwe Martin Bucer heiratete (Greschat, Martin Bucer, S. 229). 165 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 13 S. 33 – 36 (Hackfurts Eingabe, stellenweise vom Editor paraphrasiert), Nr. 14 S. 37 – 45 (Antwort des Hospitals, stellenweise paraphrasiert, sowie Hackfurts Replik auszugsweise in den Anmerkungen). Der gesamte Schriftwechsel ist überliefert in Hs. 144 des Hospitalarchivs (AVCUS). 166 Arzt und kranke Almosenklienten: Winckelmann, Das Fürsorgewesen 1, S. 104 – 109; häusliche Pflege: ebd. 2, Nr. 166 S. 107 f. (1548 Feb. 1). 167 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 13 S. 33.

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Reformdebatten 1530 – 1544

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krank und bettlägerig seien; ausgeschlossen seien Blinde, Räudige, Syphilitiker und an anderen Hautkrankheiten Leidende, selbst wenn diese Krankheiten ausgeheilt waren, Epileptiker, chronisch Kranke, von denen nicht viel Erbe zu erwarten war, Verrückte und Schwachsinnige. Alle diese Fälle weise man unter Berufung auf die Spitalordnung ab. Aber auch wenn man trotz strenger Auslegung der Ordnung nicht umhinkomme, einen Kranken aufzunehmen, gestalte man den Entscheidungsweg so langwierig, dass der Betroffene in der Zwischenzeit zu versterben drohe. An der Beerbung verstorbener Insassen rügte Hackfurt die rücksichtlose Durchsetzung der Spitalinteressen sowohl gegen Waisenkinder und Witwen als auch gegen die Angehörigen noch lebender Patienten, weil es offenbar üblich war, schon bei der Einlieferung eines Kranken Teile seines Hausrats zu beschlagnahmen. Diese Politik verstoße gegen jede Barmherzigkeit. Das Spital rechtfertige sich mit seinen Satzungen, aber vergeblich: Und wenn es sich begibt, dass ein Elternteil oder beide, die noch ganz junge unausgebildete Kinder haben, im Spital sterben, dann nehmen, holen und behalten sie kraft des anfallenden Erbes alles, was diese von ihrer armseligen Habe hinterlassen, so pedantisch, rau und unfreundlich, dass es einen Türken erbarmen möchte […]. Es ist ihre Ordnung. Wo aber Barmherzigkeit? […] Das könnte wohl um solcher jungen, noch nicht ausgebildeten Kinder willen etwas milder gehandhabt und es könnte an dieser Stelle mit der Ordnung eine Ausnahme gemacht werden. Gott wird nach seinem Wort und nicht nach derlei unbarmherzigen Ordnungen richten.168

Zwar schien es Hackfurt gerecht, dass Verwandte und Freunde eines verstorbenen Spitalinsassen, die sich vorher nicht um ihn gekümmert und damit gegen Gottes Gebot verstoßen hatten, ihre Erbansprüche zu Gunsten des Spitals verloren, doch galt dies selbstverständlich nicht für kleine Kinder. Hinzu kam, dass das Spital sich gleichzeitig weigerte, eventuelle Schulden des von ihm beerbten Toten zu übernehmen. Überdies merkte er an, dass die so erworbenen Gegenstände, vor allem Kleider, nicht einmal an andere Bedürftigen weitergegeben wurden, sondern ungenutzt verkamen. In einem auf Punkt (8) folgenden Schlussplädoyer betont Hackfurt, dass »grund und fundament« aller Spitäler und ähnlichen Einrichtungen die Barmherzigkeit sei. Wenn man sich dies bewusst mache, dann sei es auch möglich, die 168 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 13 S. 34: »Und wann es sich begibt, das der eltern eins oder sie bede, so noch ganz junge unerzogene kinder hant, im spital tods abgönd, alles dann, so sie irer habe und armütlins verlossen, nehmen holen und behalten sie in kraft eins verfallenen erbs also genow, ruh und unfrüntlich, das es ein Türken erbarmen möcht […]. Es ist ir ordnung. Wo aber barmherzigkeit? […] Möchte wol solcher junger unerzogener kinder halb etwas milter gehalten und mit der ordnung an dem ort dispensiert werden. Gott würt sin wort und nit solchen unbarmherzigen ordnungen noch richten.« Das ganze Thema nimmt die Punkte 5, 6, 7 u. 8 in Hackfurts Eingabe ein (S. 34 f.).

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Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

Lage zu »bessern«, die Kosten zu senken und neue Stifter zu gewinnen; nur müsse man bereit sein, aus täglicher Erfahrung gewonnene Kritik anzuhören und ernst zu nehmen. Als Maßnahme zur Behebung eines Teiles dieser Mängel im Spital schlägt er vor, das 1542 als Ersatz für den Siechenmeister eingeführte Amt des »siechenvatters« aus seiner Abhängigkeit vom Spitalschaffner zu lösen und von allen Verwaltungsaufgaben zu entlasten, damit sein Inhaber sich in völliger Autonomie ganz um die Kranken kümmern könne. Außerdem müsse das Pflegepersonal vermehrt und besser bezahlt werden. In ihrer Gegendarstellung geht die Spitalleitung auf jede einzelne der in Hackfurts Punkt (1) aufgezählten Patientenkategorien sowie auf alle anderen Kritikpunkte ausführlich ein. Sie nennt konkrete Zahlen: Mit momentan 205 kranken Insassen (ohne die Pfründner), die man in 152 Betten unterbringen müsse, sei das Haus überbelegt, so dass gar nichts anderes übrig bleibe, als eine strenge Auswahl zu treffen.169 Diese Art der Argumentation ist kennzeichnend für die der ganzen Erwiderung zu Grunde liegende rhetorische Strategie: Die Autoren schildern die Fakten, die objektiven Schwierigkeiten und die Vorgaben der Spitalstatuten aus ihrer mutmaßlich besseren Kenntnis der Verhältnisse; sie entlarven viele Aussagen der Gegner als falsch, schlecht recherchiert oder parteiisch und untergraben damit zugleich die Glaubwürdigkeit der von Hackfurt herangezogenen Zeugen. Man nehme keine »rüdigen« auf ? Wer das behaupte, verkenne die Probleme, die solche Fälle dem Personal bereiten, denn sie werden oft für Lepröse oder Syphilitiker gehalten, mit denen niemand in Kontakt kommen wolle. Im Übrigen seien doch etliche »rüdige« im Haus und würden sogar auf kostspielige Badereisen geschickt. Syphilitiker dürfe man gar nicht aufnehmen, denn dazu gebe es das Blatterhaus. Wie solle man Epileptiker unterbringen, die eigentlich isoliert werden müssten? Man bräuchte dafür spezielle Häuser, ähnlich wie für die Tollen und Schwachsinnigen! Es sei schlicht unwahr, dass chronisch Kranke oder minderschwere Fälle nur gegen Geld oder Erbschaft, ansonsten aber nur todkranke Patienten aufgenommen würden; dies gehe schon daraus hervor, dass von etwa 800 – 900 Insassen pro Jahr kaum 100 starben, die Mehrheit also offensichtlich nicht todkrank war. Kurz: Allein die Erfahrung lehre, wie es wirklich zugehe im Großen Spital, wie egoistisch, faul und undankbar manche Insassen seien, so dass man auch hart durchgreifen müsse. Außerdem sei »zu vermuten, so jemans unpartiisch des spitals ordenung lese und die ursachen dobi erwägen, er würde anders von dieser sach reden«.170 Nach ähnlichem Muster wird auch Hackfurts Kritik am bürokratischen und dennoch ungerechten Aufnahmeverfahren abgewehrt. Allerdings räumen die Vertreter des Hospitals ein, dass es hin und wieder Grund zur Unzufriedenheit 169 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 14 S. 37. 170 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 14 S. 37 – 39 (Zitat S. 39).

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geben könne, was aber daran liege, dass manche Situationen objektiv unlösbar seien: Was zum Beispiel mit den Kindern tun, die von kranken Frauen mitgebracht werden? Was mit scheinbar geheilten Syphilitikern, die wegen einer anderen Erkrankung ins Spital kommen, dort aber wieder rückfällig werden? Was die Klagen der Kranken und der Pfründner über das Essen betreffe, so könne man es unmöglich allen recht machen: Das Spital halte sich streng an die Ordnung, doch seien vereinzelte Fehler nicht auszuschließen.171 Die Einziehung der Hinterlassenschaften verstorbener Klienten sei statutarisch vorgeschrieben. Dass das Spital sich schon bei der Einlieferung mancher Patienten deren Habseligkeiten aneigne, geschehe zum Schutz vor habgierigen Verwandten; müsste man aber auch deren Schulden übernehmen, dann könnte man ebenso gut gleich schließen. Ein Teil der Nachlässe werde sehr wohl an bedürftige Dritte weitergegeben, aber nur dann, wenn der Zustand dieser Gegenstände es erlaube. »In summa«: Wer etwas bessern wolle am Großen Spital, der solle sich sorgfältig informieren und eventuelle Misstände den Zuständigen anzeigen; mit böswilligen Unterstellungen sei niemandem gedient.172 Die Replik Lukas Hackfurts173 vertieft die Diskussion: Teils weist er die abweichende Darstellung der Tatsachen durch die Spitalleitung unter Hinweis auf die öffentliche Bekanntheit der beklagten Mängel zurück, teils präzisiert er seine Kritik, teils verlangt er, dass – angesichts der offenkundigen Lücken im Straßburger Wohlfahrtssystem – neue Lösungen zu suchen seien. Es zeugt von der Ernsthaftigkeit, mit der der Almosenschaffner die Debatte führt, dass er in der Replik seine von den Gegnern systematisch desavouierten Zeugen namentlich nennt: Insgesamt sind es sieben, darunter mindestens vier ehemalige Spitalangestellte.174 Das wiederkehrende Argument des Hospitals, dass die Kritiker doch die Statuten konsultieren mögen, kontert er mit dem Vorwurf, dass gerade die schlechte Umsetzung vieler Vorschriften durch das (nicht ausreichend qualifizierte) Personal das Problem sei. Ferner dürfe die Spitalleitung für ihre Kapazitätsberechnungen nicht das gegenwärtige, besonders schwierige Jahr 1543/1544 zu Grunde legen.175 Es sei höchst unbefriedigend, wenn jede Einrichtung ihre Verantwortung möglichst eng begrenzen und möglichst viele 171 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 14 S. 40 – 43. Die hier immer wieder genannte Ordnung ist wahrscheinlich die oben, Anm. 152, kommentierte »Ordnung der Siechen« von ca. 1540. 172 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 14 S. 43 – 45 (Anklagepunkte 5 – 8 u. Schlusswort). 173 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 14 S. 37 – 45, Anmerkungen (Text nur auszugsweise ediert). 174 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 14 S. 42 Anm. 3 u. 4, S. 45 Anm. 4. 175 Die (erhaltenen) Straßburger Chroniken melden zum Winter 1543/1544 allerdings keine Seuche oder Teuerung. Vielleicht bezieht Hackfurt sich auf den Krieg Karls V. gegen Kleve im Sommer 1543 oder den drohenden Reichskrieg gegen Frankreich.

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Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

Lasten anderen zuschieben wolle. Diese Politik werde nicht nur vom Großen Spital, sondern auch vom Waisenhaus befolgt; sie schade dem Gemeinen Almosen, letztlich aber vor allem den Armen und setze sich damit über die Grundprinzipien der Fürsorge hinweg, denn: Die Armen, Kranken, Elenden, Witwen und Waisen, die sind das Spital, die Elendenherberge, das Blatterhaus, Waisenhaus und das gemeine Almosen, und nicht das Gebäude; genauso wie auch nicht die Tempel, Stifte und großen Gebäude die Kirche sind, sondern die Gläubigen.176

Die Spitalleitung habe gewiss Recht, wenn sie über die Unbotmäßigkeit vieler Insassen klage, und es sei zu wünschen, dass bestimmte Personen (Bettler) gar nicht erst in die Stadt gelassen würden; aber wenn sie einmal da und erkrankt seien, gelte der Grundsatz, dass in Not jeder zu versorgen sei, andernfalls mache man sich an ihnen und damit vor Gott schuldig.177 Dass die Spitalleitung zugebe, das Erbe ihrer Klienten, nur weil die Statuten es vorschreiben, zu Lasten kleiner Kinder einzuziehen, so dass diese entweder vom Almosen oder vom Waisenhaus versorgt werden müssen, bleibe inakzeptabel. Ein gereimter Merkvers bringt dieses Skandalon auf den Punkt: »der nimpts gut, dise das arm verlossen blut.«178 Es bedeute keine Bedrohung für die ökonomische Existenz des Hospitals, wenn es sich in dieser Hinsicht großzügiger zeige und sogar, in Maßen, die Schulden eines beerbten Insassen übernehme – schließlich sei »des spitals gutthat gar nit ein gelühene schuld sonder ein lutere barmherzigkeit und ein fries almusen«. Gottes Segen, die beste Existenzgarantie, habe es nur, wenn es nach dem Christuswort »date et dabitur vobis« handele.179 Eingabe, Erwiderung des Spitals und Replik Hackfurts sind ein ausgezeichnetes Beispiel für das Aufeinandertreffen zweier von unterschiedlichen Interessen diktierter Positionen in der Debatte um eine Hospitalreform. Auf den ersten Blick nimmt der Almosenschaffner die Position dessen ein, der nichts anderes tut, als die von glaubwürdigen Zeugen gesammelten Aussagen über die Zustände im Großen Spital zu resümieren und einige Verbesserungen vorzu176 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 14 S. 40 f. Anm. 5 (zu Anklagepunkt 2): »Die armen, kranken, ellenden, witwen und weisen, die sind der spital, ellendherberg, ploterhus, weisenhus und das g[emeine] almusen, und nit das gebüw, glich wie auch die tempel, stift und grossen gebuw nit die kirch sind sonder die glöubigen (Hervorhebung Th. F.).« Ebd. 2, Nr. 14 S. 41 Anm. 2 fordert Hackfurt eine genaue Definition der Aufgaben einer jeden Fürsorgeinstitution. Eine ähnliche Beschwerde über die egoistische Politik des Großen Spitals und des Waisenhauses auch ebd. 2, Nr. 155 S. 201 (a. 1544). 177 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 14 S. 39 Anm. 1 u. 2, S. 41 Anm. 2, S. 42 Anm. 1. 178 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 14 S. 43 Anm. 3: »der [Spital] nimmt das Gut, diese [Almosen und Waisenhaus] das arme hinterbliebene Blut.« 179 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 14 S. 44 Anm. 3. Das Zitat verstehe ich wie folgt: »Die Wohltat des Spitals [ist] keine ein Schuldverhältnis begründende Leihgabe, sondern reine Barmherzigkeit und ein freies Almosen.«

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schlagen; in der juristischen Topik wäre eine solche argumentative Struktur unter dem Topos des Zeugenbeweises zu finden. Auf den zweiten Blick hingegen stellt man fest, dass die Argumentation Hackfurts (anders als die Johannes Geilers 43 Jahre zuvor) kaum etwas Juristisches hat. Dies erklärt sich zum einen ganz einfach aus der Tatsache, dass der frühere Priester wohl keine juristische Ausbildung erhalten hatte, passt zum anderen aber auch zu seinem rhetorischen Ansatz, einem Ansatz, der auch schon für seine Interventionen in den Debatten von 1529 – 1531 kennzeichnend war. Hackfurt rekurriert fast nie auf römische Gesetze oder Kanones, allenfalls auf lokales Recht, das ihm offenbar besser bekannt war. Man vergleiche den oben zitierten Satz, die Armen, Kranken usw. seien das Spital, mit der Verwendung des gleichen Arguments bei Geiler von Keysersberg.180 Dieses im Kern juristische Argument, nach dem ein Hospital von der Körperschaft seiner Insassen gebildet wird, bekommt bei Hackfurt eine ganz andere, nämlich theologische Pointe: Er kombiniert und plausibilisiert es mit dem evangelischen ekklesiologischen Topos, der besagt, dass die Kirche die Versammlung der Gläubigen ist und nicht eine Ansammlung von Gebäuden und materiellen Gütern. Generell fungiert in Hackfurts argumentativer Konstruktion als Schlussstein eine über dem positiven Recht stehende, außerjuridische, letztlich nur theologisch zu begründende Norm. Immer wieder stellt er die Metapher der Barmherzigkeit in den Vordergrund, die er im Sinne Bucers als christliche Handlungsweise auffasst, die Gott geschuldet, also eine geradezu selbstverständliche Pflicht sei. Bibelpassagen wie die schon von Geiler ähnlich verwendete LukasPassage »gebt, so wird euch gegeben« (Lk 6,38) stärken diese zentrale Norm. Sie ist das Fundament aller karitativen Einrichtungen. Dies lässt sich schon an den Äußerungen des Almosenschaffners in den Krisenjahren seiner Institution zeigen, als er seine Forderungen mit der Pflicht zur christlichen Liebe begründete und (unter Vorgriff auf das oben kommentierte ekklesiologische Bild) die lebenden Armen über die toten Götzen (Bilder, Bauten) stellte.181 Hackfurt braucht diese Verankerung im göttlichen Recht auch deshalb, weil sein Umgang mit den positiven Normen ambivalent ist. Einerseits ist einer seiner zentralen Topoi in der Debatte mit dem Großen Spital die Abwertung des Wortlauts der Statuten gegenüber der Entscheidungsfreiheit des barmherzig agierenden, von Fall zu Fall das Notwendige entscheidenden, gerechten und sozial kompetenten einzelnen Mitarbeiters. Diese letztlich auf das paulinische 180 S. oben, Anm. 55. 181 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 71 S. 115 f., 76 S. 119, 93 S. 134, 102 S. 139, 108 S. 147, 113 S. 151 (alle zwischen 1529 u. 1532). Vgl. zu Geiler von Kaysersberg oben, Anm. 52 u. 62.

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Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

Diktum, dass der Buchstabe tötet, der Geist aber lebendig macht (2 Kor 3,6), zurückgehende Denkfigur steht auch hinter dem Vorschlag, dem Siechenvater mehr Autonomie einzuräumen. Dessen Arbeit könne nämlich nur gedeihen, wenn man ihn »nit mit ängstlichen, genawen ordenungen verstricken sonder im ein frie hand lossen und im dorüber vertruwen«182 wolle. Andererseits aber erkennt er häufig auch an, dass die positiven Normen, also die Ordnungen des Spitals, eigentlich wohlüberlegt seien, es jedoch an der Umsetzung durch das Personal hapere. Eine sichere Entscheidung darüber, wann das eine und wann das andere gilt, kann man nur dann treffen, wenn man eine übergeordnete Norm als oberste Richtschnur annimmt: Für Hackfurt war das die von Gott befohlene christliche Liebe oder Barmherzigkeit. Argumentativ umgesetzt wird dieser theologisch begründete Wertekanon konsequenterweise nicht durch Rekurs auf menschliche Gesetze. Vielmehr gehören Letztere vorzugweise den anderen (»es ist ir ordnung«, wie es in der oben zitierten längeren Passage heißt). Hackfurt argumentiert anders: Er zieht zum einen immer wieder Sprichwörter oder von ihm zu Sprichwörtern erklärte Merksätze heran. Am liebsten den Satz »In der Not kommt die Strafe zu spät«, womit er seine Ansicht begründet, dass man Menschen, wenn sie erst einmal in eine bedrohliche Notlage geraten sind, sofort helfen muss, ohne nach dem Warum und Woher zu fragen.183 Diesen materialen Topos, dem sich die von ihm ebenfalls verwendete Maxime »Not kennt kein Gebot« angliedern lässt, gebrauchte er schon um 1530, setzt ihn aber auch später ein, um dem Großen Spital zu demonstrieren, dass Notfälle nicht mit bürokratischen Tricks abgewiesen werden dürfen. Zum anderen bedient sich Hackfurt in breitem Umfang aus einem Reservoir von Argumenten, die er unter dem Stichwort »Erfahrung« subsumiert. Schon seine Methode, informierte Zeugen zu befragen, ist Frucht dieses Ansatzes. Auch in seiner Replik kommt er immer wieder darauf zu sprechen, was er oder andere aus »Erfahrung« wissen. Diese Vorgehensweise kennzeichnet auch schon viele der Einlassungen, mit denen er ab 1529 zur Verteidigung des Almosens beigetragen hatte. Bei Hackfurt beschränkt sich dieses empirische Argument nicht auf verstreute Exempel aus eigenem Erleben (wie er überhaupt einen relativ geringen Gebrauch von Exempeln macht, sei es zeitnahen, sei es historischen oder biblischen). Die Empirie durchdringt sein gesamtes Konzept von Reform: Eine Institution wie das Almosenamt ist bei der Gründung mit bestimmten Regeln ausgestattet worden; diese Regeln müssen sich bewähren, und wenn die Erfahrung lehrt, dass das nicht oder nur zum Teil der Fall ist, dann müssen die Regeln 182 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 13 S. 36. 183 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 108 S. 147 (a. 1531), Nr. 113 S. 155, 157 (§ 12) (a. 1532); Nr. 14 S. 39 Anm. 2 (a. 1544).

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Reformdebatten 1530 – 1544

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verbessert und der Realität angepasst werden.184 Im selben Geist ist auch seine Kritik am Großen Spital gehalten, denn trotz aller Polemik ist Hackfurts ernsthaftes Anliegen die Verbesserung der Sache, das heißt des gesamten Straßburger Systems der Armen- und Krankensfürsorge. Doch um die Kontingenz der Erfahrung so zu ordnen, dass eine sinnvolle Reform möglich wird, braucht man wiederum eine höhere, orientierende, in dubio entscheidende Norm: die christliche Barmherzigkeit. Die Spitalvertreter argumentieren vor allem insofern anders als ihr Kritiker, als sie sich kaum auf theologisches Terrain begeben, sondern sich an die von ihnen behaupteten ›Fakten‹ und an das positive Recht in Gestalt der Hospitalordnungen halten. Sie ignorieren die Metapher ›Barmherzigkeit‹ und verwenden sie nicht als Schlüsselbegriff, über den zu verhandeln wäre. Doch zumindest in einer Hinsicht gleicht ihre Argumentation derjenigen Hackfurts. Auch die Spitalleitung hält große Stücke auf die Erfahrung, auf genaue Kenntnisse der Verhältnisse im Hospital, also auf ein Wissen, das nur Personen haben können, die den Hospitalalltag von innen erlebt haben und den normativen Rahmen kennen. Das ist eines ihrer Hauptargumente: Wenn die Kritiker nur wüssten, wovon sie reden, dann würden sie viele ihrer Anklagen fallen lassen; wer über den Dienstweg Bescheid weiß und wirklich einen begründeten Vorschlag zur Verbesserung hat, der möge sich an die zuständigen Stellen wenden. In diesem Punkt sind Hackfurt und seine Gegner sich zumindest methodisch weitgehend einig. Der Almosenschaffner hatte um 1530, als seine Institution in der Kritik stand, ganz ähnlich argumentiert: Den Begriff der Erfahrung verwendete er damals nicht nur zur Begründung von Reformen, sondern richtete ihn oft auch im subjektiven Sinn gegen seine Kritiker (wer keine Ahnung hat, soll schweigen); und auch er forderte damals, dass eventuelle Mängel angezeigt werden sollten, um Verbesserungen zu bewirken, verwahrte sich jedoch gegen Verleumdungen.185 Die Leiter des Großen Spitals präsentierten 1544 ihre Institution als Raum spezialisierten, professionellen Wissens, von dem ›Laien‹ (in der modernen Bedeutung des Wortes) ausgeschlossen waren, weil sie per definitionem nicht über die nötigen Kenntnisse verfügten. In diesem für Experten reservierten Raum agieren Verwalter, Pflegepersonal, Ärzte, Seelsorger und andere Dienstleister, die ihre Berufserfahrungen häufig unbotmäßigen Klienten zugute kommen ließen. Was die Spitalleitung interessierte, war das Funktionieren der relativ dicht geschlossenen Institution ›Großes Spital‹. Eine solche Haltung war in einer Einrichtung der geschlossenen Fürsorge leichter umzusetzen als in der 184 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 102 S. 138 f. (a. 1526 – 1530); 113, S. 149 – 151 (a. 1532). 185 Winckelmann, Das Fürsorgewesen 2, Nr. 113 S. 155 (§ 6), 159 f. (§ 15), 162 (§ 18).

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Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

offenen Armenfürsorge, für die das Gemeine Almosen stand. Doch über diesen sachlichen Unterschied hinaus lässt sich zeigen, dass der Almosenschaffner die Debatte mit anderen Waffen ausfechten, das heißt in ein anderes Wissensfeld ziehen wollte. Seine Argumentation zielt eher auf Moralisierung als auf Professionalisierung des Personals ab, auf Verantwortung186 des Einzelnen gegenüber seinen Schutzbefohlenen, auf Theologisierung mittels der theologisch aufgeladenen Metapher der Barmherzigkeit. Neu und beiden Seiten gemeinsam ist der Rekurs auf das Prinzip der Empirie, doch bedeutet »Erfahrung« hier durchaus verschiedene Dinge: Während die Vertreter des Hospitals damit vor allem das von professionellen Mitarbeitern nach und nach erworbene Wissen um die Interna meinen, steht für Hackfurt die tägliche Erfahrung der Öffentlichkeit mit den Dysfunktionen der Institution im Zentrum. Es ist dieser zweite Begriff von Erfahrung, welcher, im Verein mit einem starken Pol von überpositiven, religiösen Normen, das Gemisch für eine wirksame Reform-Rhetorik liefert.

6.

Ergebnisse

Anders als in Mailand und Paris war die Hospitalreform in Straßburg nicht mit dem Kampf um eine Neujustierung der weltlichen gegenüber den kirchlichen Kompetenzen verbunden: In der Reichsstadt lag die Aufsicht über das Große Spital seit dem 13. Jahrhundert unumstritten in den Händen der Kommunalregierung. Charakteristisch für die Straßburger Reformdebatten ist eine hohe Dichte von konkreten, detaillierten, partiell umgesetzten Verbesserungsvorschlägen, für die eine große Bandbreite von Argumenten mobilisiert wird. Außerdem geben die Quellen – wegen der prominenten Rolle von Predigern – Einblicke in die mündliche Kommunikation über Reform. Aus der großen, durch die protestantische Reformation noch erheblich gesteigerten Bedeutung des theologisch informierten Predigerworts erklärt sich zugleich die Relevanz der Metapher der Barmherzigkeit für die Straßburger Hospitalreform. Die für diesen theologischen Aspekt hier herangezogenen Quellen beziehen sich auf drei Konstellationen und drei Protagonisten. Die erste Konstellation gehört in die Jahre um 1500, ihr Stimmführer ist der Münsterprediger Johannes Geiler von Kaysersberg; die zweite fällt in die Frühphase der Reformation, deren Straßburger Vordenker Martin Bucer ist, die dritte in die 1530er und 1540er Jahre, als der Almosenschaffner Lukas Hackfurt Reformen im Großen Spital 186 Hackfurt verwendet dieses Wort noch nicht in dem im 16. Jh. neuen Sinn von ›Pflichtgefühl‹ oder ›Verantwortlichkeit‹ gegenüber den Mitmenschen, obwohl es Geiler von Kaysersberg vereinzeilt schon so gebraucht hatte (s. oben, Anm. 47). Doch kennt das Bucersche Vokabular, das Hackfurt vertraut war, diverse andere Umschreibungen für das, was die Pflicht gegen die Mitmenschen erfordert.

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Ergebnisse

einfordert. Ganz anderer Art sind die zahlreichen Zeugnisse der pragmatischen Schriftlichkeit, die sich aus den Straßburger Institutionen der Kranken- und Armenfürsorge erhalten haben, vor allem Spitalordnungen und Ratserlasse. Deren Verfasser sind Ratsherren, Spitalpfleger, Spitalbeamten oder Schreiber, die wir meist nicht namentlich kennen. Direkte Interaktionen zwischen beiden Quellengruppen – wie etwa die evangelisch gefärbte Ordnung D der Spitalkapläne oder die Reaktion der Spitalleitung auf Hackfurts Angriffe 1544 und dessen Replik187 – sind Ausnahmen, aber umso wertvoller, als sie zeigen, dass es in Straßburg so etwas wie einen gemeinsamen diskursiven Raum gab, in dem über divergierende Ansätze und Interessen verhandelt werden konnte. Nicht zuletzt der theologischen Ausbildung der drei Protagonisten verdankt sich die auffällige Kontinuität der Bibelstellen, patristischen Belege, Metaphern und anderen von Johannes Geiler zusammengetragenen Topoi. Gewiss verstehen die evangelischen Reformatoren Begriffe wie ›Nächstenliebe‹ oder ›gute Werke‹ inhaltlich anders als ihre Vorgänger um 1500. Doch steht ihre Argumentationsweise in der vorreformatorischen Tradition. Dafür spricht nicht nur die Stabilität bestimmter Maximen oder Zitate aus der Bibel, sondern insbesondere die Tatsache, dass der materiale Topos der überpositiven, außerrechtlichen, höheren Norm für alle Straßburger Reformer großes Gewicht hat. Das beste Beispiel hierfür ist die Metapher ›Barmherzigkeit‹ (mit ihren Verwandten: Nächstenliebe, Milde, hospitalitas, caritas usw.), ein normativ aufgeladener LeitTopos in allen drei genannten Konstellationen. Was geschieht mit diesem Topos zwischen 1500 und 1540? Der inhaltliche Wandel, den er in der evangelischen Theologie erfährt, hat zur Folge, dass die christliche Tugend der Barmherzigkeit den Menschen entrückt wird. Wenn Bucer sie (bzw. ihre Quelle, die Nächstenliebe) als Effekt und Zeichen des Glaubens und damit Prüfstein für die Zugehörigkeit eines Individuums zur Gemeinschaft der wahren Christen deutet, dann liegt sie von nun an ganz in Gottes Hand. Vorher, in Johannes Geilers Sicht, war Barmherzigkeit eine Währung im commercium der gegenseitigen Gaben zwischen Erde und Himmel, ein Wert, den die Menschen durch eigenes Bemühen erlangen und zum Heil ihrer Seele einsetzen konnten. Mit ihrer Verschiebung ins göttlich Unverfügbare spaltet sich die Barmherzigkeit. Einerseits wird sie – für die evangelischen Theologen – eine extrem ehrfurchtgebietende Norm: Undenkbar ist es (so Hackfurt), menschliche Gesetze gegen die von Gott befohlene Pflicht zur Barmherzigkeit durchsetzen zu wollen. Andererseits bewirkt die theologisch gebotene ›Entweltlichung‹ der Barmherzigkeit aber auch das Gegenteil: Je ferner die alte Tugend der Barmherzigkeit rückt, umso leichter ist es, sie aus der irdischen Praxis auszuklammern. In diese Richtung weist die große Zurückhal187 S. oben, Anm. 91, 165 ff.

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Das »Mehrere« oder Große Spital von Straßburg

tung, welche die vom Rat und der Spitalleitung verantworteten Spitalordnungen in Sachen Barmherzigkeit an den Tag legen. Zwar liegt es auch am Genre, wenn solche von Verwaltern, Juristen und Kaufleuten verfassten normativen Texte sich einer weniger emphatischen Diktion bedienen und darauf beschränken, das partikularrechtlich Gegebene vorsichtig weiterzuentwickeln. Doch zeigen zum Beispiel die drei unterschiedlichen Fassungen der Almosenordnung von 1523,188 dass der Rat sehr wohl weiß, wie die Metapher ›Barmherzigkeit‹ auch in administrativen Texten eingesetzt – oder eben ausgeklammert – werden konnte. In dieser Spaltung der ›Barmherzigkeit‹ reflektiert sich die Spannung zwischen Theologen und Politikern (oder auch zwischen der »Reform der Propheten« oder Charismatiker und der »Reform der Juristen«, zwischen ›energischen‹ Reformtexten und Reformtexten ›geringer Intensität‹189) im Straßburg der Reformationszeit. Obwohl der neue Glauben das gesamte städtische Leben in gewissem Maße theologisiert, setzt sich die Linie des Rates – die Politik – letzten Endes durch: Es wird den Theologen nicht gelingen, ihr Ziel einer von der politischen Gewalt völlig autonomen Kirchengemeinde ›wahrer‹ evangelischer Christen zu realisieren.190 Dennoch steht den Straßburger Debatten um die Hospitalreformen sowohl vor als auch nach der Reformation ein relativ ausgedehnter diskursiver Raum zur Verfügung, aus dem nur die Anhänger radikaler reformatorischer Strömungen nach und nach ausgeschlossen werden. Indiz für die Existenz eines solchen Raumes sind eine gewisse Anzahl geteilter Reformziele und -argumente sowie die Art und Weise, wie argumentiert wird. Ausführliche Reformnarrative (mit einer Erzählung über die idealen Anfänge) liefern zwar nur die »prophetischen« Reformer (Bucer), und sie sind es auch, die besonders häufig mit überpositiven Normen argumentieren. Den Topos der positiv-rechtlichen Norm setzen hingegen alle Akteure ein (Geiler von Kaysersberg ebenso wie der Rat), wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung und nach der Reformation mit abnehmender Tendenz. Ein partiell geteiltes Reformziel ist die Eindämmung des Bettelns (bezeichnend sind Geilers Schwanken und Hackfurts Umdenken in dieser Frage) – ein Problem, für das es, wie allen klar war, eine Lösung nur im Gesamtsystem der Straßburger Wohlfahrt geben konnte. Das von Johannes Geiler in seinen Predigten bevorzugte Argumentieren mit Exempla übernehmen die evangelischen Reformer, jedenfalls in Predigttexten; Geilers Technik, hin und wieder über eigene Erlebnisse zu berichten, bauen sie zu einem systema188 S. oben, Anm. 134 ff. 189 An die auf F. Rapp zurückgehende Unterscheidung von »Propheten« und »Juristen« erinnert im Zusammenhang mit Ordensreformen Le Gall, Les moines, S. 492; zur ›Intensität‹ von Reformtexten vgl. oben, Anm. 79, u. Text nach Anm. 116. 190 Brady, Protestant Politics, S. 112; zur politisch-religiösen Entwicklung nach 1545 s. Greschat, Martin Bucer, S. 244 – 251.

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Ergebnisse

tischen empirischen Vergleich von anderswo zu besichtigenden Beispielen aus, zu welchem Zweck ein Fachmann (Alexander Berner) als Informant in mehrere süddeutsche Städte geschickt wird.191 Der Übergang von den textgebundenen (historischen, fiktiven, selbst erlebten) Exempla zu realen Vergleichsbeispielen, die andernorts aufgesucht werden, ist ein Symptom für einen weiteren geteilten formalen Topos im Straßburger diskursiven Raum: die ›Erfahrung‹. Freilich dient das Argument der Empirie (zu dem auch die Zeugenbefragung gehört) zwei unterschiedlichen Zielen: Die einen (Rat, Spitalleitung) sehen sie als Mittel zur Professionalisierung, als Expertise gut geschulten Personals und damit als Voraussetzung zu der auch in Straßburg vorangetriebenen Spezialisierung der verschiedenen Abteilungen des Spitalsystems. Die anderen, die »prophetischen« Reformer, erkennen die Notwendigkeit von Fachkräften mit Berufserfahrung zwar an (vgl. etwa Hackfurts Forderung nach geschultem Personal oder die Einstellung eines eigenen Arztes durch die Almosenbehörde), doch für sie (auch schon für Geiler) ist Erfahrung vor allem ein Instrument zur kritischen Durchleuchtung der Realität und damit zur Begründung von Reformforderungen. Doch ungeachtet dieser Divergenzen ist das Empirische hier ein Topos und somit Teil von Reform-Rhetoriken unterschiedlicher Stoßrichtung; es läutet noch nicht das Ende der Topik ein.192 All dies – von Johannes Geilers oder Martin Bucers öffentlichen Predigten über die Berücksichtigung der öffentlichen Meinung bei der Formulierung der Almosenordnung bis hin zum Protest mancher Bürger gegen die Ausweisung von Bettlern – gibt Aufschluss über die pragmatischen Bedingungen, unter denen die Straßburger Reformdiskussionen geführt werden. Sie finden in einem öffentlichen Raum statt, in dem zwar unterschiedliche Interessen miteinander rivalisieren, dessen gemeinsamer argumentativer Rahmen jedoch von den meisten Teilnehmern anerkannt wird.

191 S. oben, Anm. 163. 192 Schröder, Topik, sieht durch das im 17. Jh. aufkommende empirische Paradgima die Topik als Basis der frühneuzeitlichen juristischen Methodologie überwunden. – Zu Hackfurt s. oben, Text nach Anm. 168 (zu Punkt 8), u. nach Anm. 174; zu Geilers eigenen Erfahrungen mit dem Spital s. oben, Anm. 53, 57.

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V.

Die »Union der Hospitäler und frommen Stiftungen« von Modena

1.

Quellen

Zu den italienischen Städten, in denen die Straßburger Reformation mitsamt ihren Auswirkungen auf die Armen- und Krankenfürsorge zur Kenntnis genommen und diskutiert wurde, gehört die im Dukat der Este liegende Kommune Modena, eine Tagesfußreise westlich von Bologna. Aus der hier besonders gut nachweisbaren Rezeption der reformatorischen Theologie erklärt sich das rege Interesse, das die Frühneuzeitforschung der religiösen Geschichte der Stadt entgegegebracht hat.1 Somit steht die Modeneser Hospitalreform, die die Reihe unserer Fallstudien beschließt, in einem doppelten historischen Kontext: Zum einen knüpft sie an die norditalienischen Zentralisierungs- und Spezialisierungsinitiativen des 15. Jahrhunderts an, von denen bereits ausführlich die Rede war. Aus diesem Blickwinkel ist die 1541 beschlossene Zusammenlegung der Hospitäler und anderen wohltätigen Stiftungen seit den Tagen der Modeneser Gelehrten Ludovico Antonio Muratori (1672 – 1750) und Girolamo Tiraboschi (1731 – 1794) beschrieben, kritisiert oder gelobt worden.2 Um Beispiele für Zentralisierungsbemühungen zu finden, brauchten die Modeneser Reformer nicht bis Mailand zu gehen: Es genügten die Nachbarstädte im Dukat der Este, 1 Peyronel Rambaldi, Speranze; Bianco, La comunit—; Firpo, Inquisizione; Al Kalak, Gli eretici; Al Kalak, L’eresia. Die Akten der lokalen Inquisition werden im Modeneser Staatsarchiv aufbewahrt (ASMo, Inquisizione) und waren daher lange bevor der Vatikan in den 1990er Jahren das Archiv des römischen Sant’Uffizio öffnete, für die Forschung zugänglich. – Zur Rezeption der Schriften Martin Bucers in Modena s. Firpo, Inquisizione, S. 62, Caponetto, La Riforma protestante, S. 69 – 74, u. Al Kalak, Obbedire a Dio, S. 113 f. Kontakte zwischen radikalen Straßburger Reformatoren und Oberitalien behandelt Ginzburg, Il nicodemismo, S. 159 – 181 (mit Edition eines in Italien rezipierten Briefes von Wolfgang Capito ebd., S. 209 – 213). 2 Zu Muratoris Projekten für die Armenfürsorge s. Grana, Per una storia, S. 67 – 71; ebd., S. 22, zur Kritik des Modeneser Hospitalreformers der Aufklärungszeit, Lodovico Ricci, an seinen Vorgängern des 16. Jh.s. Auch Tiraboschi, Notizie, S. 44 – 47, sieht die Santa Unione eher kritisch, während der Gelehrte Carlo Malmusi, Notizie istoriche (1843), S. 162, staatliche Eingriffe zur Rationalisierung der Hospitäler gutheißt.

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Die »Union der Hospitäler und frommen Stiftungen« von Modena

wo in Ferrara, der Hauptstadt, schon 1440 der Bau eines neuen Zentralhauses päpstlich genehmigt und in Reggio Emilia 1453 die Unierung der Hospitäler beschlossen worden war.3 Zum anderen ist zu fragen, inwieweit die Hospitalunion von Modena bestimmte Merkmale reformatorischer Fürsorgereformen aufgreift. Diesen Zusammenhang unzweifelhaft nachzuweisen, ist zwar schwierig, weil es im Italien der 1540er Jahre unmöglich war, Affinitäten zur evangelischen Wohlfahrtspolitik offen zuzugeben. Doch da neuere Forschungen personelle Verbindungen zwischen den religiösen Dissidenten Modenas und den Befürwortern der Hospitalunion herausgearbeitet haben, erscheint ein solcher Zusammenhang durchaus erwägenswert, selbst wenn über das reale Gewicht der reformatorischen Anregungen kein Konsens besteht.4 Die Quellen, die von der Schaffung der »Unione degli ospedali e delle opere pie« – später »Santa Unione«, künftig kurz: Unione – berichten, sind reichhaltig. Neben den Protokollen über die Versammlungen und Beschlüsse des regierenden kommunalen Ratsgremiums der Conservatori, Briefen einiger Protagonisten, einer Serie von Statutenentwürfen und dem lokalen Inquisitionsarchiv, das Hintergrundinformationen zu einzelnen Beteiligten liefert,5 informiert in diesem Fall eine außergewöhnlich eloquente historiografische Quelle über die um die Unione geführten Diskussionen. Dass damit die Stimme eines direkt in die Geschehnisse involvierten Chronisten und Gegners der Hospitalreform zu vernehmen ist – ein eher seltener Fall –, hat für die Auswahl des Beispiels Modena eine entscheidende Rolle gespielt. Der Verfasser der Chronik,6 Tommasino Bianchi oder auch Tommasino de’ Lancellotti, gehörte zur kommunalen Führungsschicht, wenn auch nicht zu deren innerem Kern, und war, wie er selbst in einem Wortwechsel einräumt, nicht so reich wie manche seiner Kollegen. Er war Apotheker, Notar, Bankier und Seidenhändler, war von Kaiser Maximilian zum Pfalzgrafen und vom Herzog zum Ritter ernannt worden, kannte sich in Geld- und Handelsdingen hervor3 Santus, La nascita della Santa Unione, S. 87 f. 4 Verbindungen zwischen evangelischer Dissidenz und Hospitalreform legt die Architektur des Buches von Peyronel Rambaldi, Speranze, nahe, ohne sie jedoch ausdrücklich zu behaupten. Hingegen postuliert Fontaine, Organizing Charity, S. 120 – 123, eine direkte Wechselwirkung, während Santus, La nascita della Santa Unione, S. 100 f., sowie Al Kalak/ Santus, Carit— pubblica, eine solche wesentlich zurückhaltender beurteilen. 5 Nachweise im Folgenden am jeweiligen Ort. Die »Riformagioni, Consilii e Provvigioni della Comunit— di Modena«, d. h. die Serie der Versammlungsprotokolle der Conservatori im ASCMo, werden üblicherweise (nach ihrem Material: schmale Pergamenthefte) kurz Vacchette (mit Jahreszahl) genannt. Den Bestand ASMo, Inquisizione, habe ich nicht selbst eingesehen, sondern stütze mich für Einzelinformationen auf die Forschungsliteratur. 6 Ediert in 12 Bänden, die zwischen 1862 u. 1884 erschienen sind: Lancellotti, Cronaca modenese (künftig kurz: Lancellotti und Bandnummer).

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Modena im 16. Jahrhundert

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ragend aus und war trotz seiner Gegenposition in Sachen Unione ein angesehener, politisch aktiver Bürger, der bis an sein Lebensende kommunale Ämter bekleidete.7 Tommasino führte seine in Volgare geschriebene Chronik, die er selbst »Annalen« nannte, fast ein halbes Jahrhundert lang von 1506 bis 1554, als er mit 81 Jahren starb. Sie ist ein detailliertes Journal voll von tagespolitischen, wirtschaftlichen, religiösen, kulturhistorischen und personenbezogenen Nachrichten über Modena und in geringerem Maße auch über die italienischen oder nordalpinen Regionen, die für Modena von Interesse waren. Sie ist nicht sein einziges Werk: Tommasino erwähnt eine (verlorene) Schrift über eine besondere Begebenheit, außerdem sind Briefe, Anträge und Denkschriften aus seiner Feder erhalten. Hauptvorbild für die Chronik war eine ähnliche Vorarbeit seines Vaters (von der nur Entwürfe überlebt haben).8 Die Untersuchung der Argumentationsweise des Chronisten wird einen Schwerpunkt dieses Kapitels bilden. Als Grundlage dient die Edition aus dem 19. Jahrhundert, trotz ihrer schon mehrfach bemängelten Unzulänglichkeiten,9 von denen die Unterdrückung von Passagen, die den Herausgebern redundant, historisch uninteressant oder unanständig vorkamen, die gravierendste ist. Doch vermutlich hätte auch der Praktiker Tommasino zugegeben: besser diese Edition als keine.

2.

Modena im 16. Jahrhundert

Soziale, politische und religiöse Verhältnisse Gegen Ende des 15. Jahrhunderts hatte Modena 8000 – 9000 Einwohner. Trotz der häufig kritischen Versorgungslage, die sich mindestens alle zehn Jahre in Hungerkrisen und Epidemien entlud und für die die Chronik des Tommasino de’ Lancellotti ein anschauliches Zeugnis darstellt, konnte die Stadt ihre Einwohnerzahl allmählich vergrößern: Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts wuchs die 7 Zu Tommasino s. Ascari, Bianchi; Biondi, Tommasino. Die Bemerkung zu seinem sozialen und wirtschaftlichen Rang in Lancellotti 7, S. 107 (1541 Juli 26). 8 Lancellotti 7, S. 115, nennt als anderes Werk die Geschichte einer Modeneser Frau, die 42 Kinder gebar. Zu weiteren Denkschriften und Eingaben s. Ascari, Bianchi. Ferner ASCMo, Ex Actis 1537 Jan. 12, 1541 Mai 12, 1542 Apr. 13; ASCMo, Vacchetta 1539, f. 15r (Jan. 16); solche Belege wären aus den kommunalen Akten stark zu vermehren. Eingaben zur Hospitalreform unten Anm. 35, 53. – Chroniknotizen (1469 – 1502) des Vaters, Jacopino de’ Bianchi: Jacopino, Cronaca. Weitere zeitgenössische Chroniken: Todesco, Annali (1501 – 1547); Tassoni, Cronache (349 – 1562), der für die Hospitäler aber unergiebig ist. 9 Ascari, Bianchi, u. Biondi, Tommasino, erläutern die Kriterien der Editoren. Eine Neuuntersuchung der im Besitz der Deputazione di storia patria von Modena befindlichen Handschriften wäre eine lohnende Aufgabe.

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Die »Union der Hospitäler und frommen Stiftungen« von Modena

Bevökerung auf circa 20.000 Seelen an. Dies war allerdings weniger einer erfolgreichen Geburten- oder Gesundheitspolitik zu verdanken als der Zuwanderung vom Land.10 Die damit einhergehende, oftmals von der blanken Not erzwungene Landflucht erschwerte wiederum die Versorgung der Stadt. Trotz dieses circulus vitiosus entwickelte sich die lokale Wirschaft nach Ausweis neuerer Forschungen deutlich positiver, als Überblicksdarstellungen zum Cinquecento vermuten lassen. Das gilt zumindest für die städtische Wirtschaft, die nicht allein von der Agrarproduktion abhing. Das städtische Baugewerbe profitierte von großen öffentlichen Unternehmungen (Erweiterung der Stadtmauern 1545 – 1556), der Export von Tuchen und Modeneser Delikatessen florierte – mit der Folge allerdings, dass der Wohlstand zu Lasten des Umlands immer stärker in die Stadt gezogen wurde.11 Diese Verhältnisse spiegeln sich in der Stabilität der Kommunalführung: Sie rekrutierte sich über lange Zeit aus etwa hundert Familien, von denen ein Dutzend den – in sich zerstrittenen – Kern bildete. Alles in allem unterschied sich die politische Großwetterlage in Modena kaum von der in den meisten anderen italienischen Städten um 1500. Die Stadt war schon längst nicht mehr das, was im Mittelalter einmal als freie Kommune bezeichnet worden war. Vielmehr stand sie seit dem 14. Jahrhundert unter der Signorie der Familie Este, die ihre Stellung mit dem 1452 von Kaiser Friedrich III. verliehenen Herzogstitel ausbauen konnte. Im Zuge der Italienkriege zwischen Frankreich, den Päpsten, den italienischen Mächten und dem Reich kam Modena 1510 unter päpstliche Herrschaft, doch 1527, nach dem Sacco di Roma, musste der Gouverneur des Papstes die Stadt verlassen; 1531 übernahmen die Este wieder offiziell das Stadtregiment, residierten aber bis zum Ende des 16. Jahrhunderts nicht in Modena, sondern in Ferrara.12 Ungeachtet der Integration der Stadt in einen Fürstenstaat bewahrte sich die lokale Führungsschicht, aus der nach kommunaler Tradition hochadlige Familien wie die Grafen Rangoni zumindest pro forma ausgeschlossen waren, mit erstaunlicher Zähigkeit eine gewisse Autonomie. Dies gilt insbesondere für ihre Stellung gegenüber den Herzögen von Este und deren Gouverneuren, die sich auf ihrer stets riskanten Gratwanderung zwischen Kaiser, Papst und benachbarten Mächten nie ein Zerwürfnis mit den Eliten im Dukat erlauben konnten. Die offizielle Bühne, auf der die herrschenden Familien von Modena politische Entscheidungen trafen, war ein Rat von zwölf Conservatori. Diese blieben drei Monate im Amt, verstärkten sich bei wichtigeren Entscheidungen durch meh10 Cattini, L’economia modenese, S. 430; Cattini, Postfazione: Profilo economico, S. 233 – 238. 11 Cattini, L’economia modenese, S. 433; Cattini, Postfazione: Profilo economico, S. 239 – 243. 12 Biondi, Modena tra paci e guerre.

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rere Aggiunti und erneuerten sich durch Selbstkooptation; es gelang den Herzögen nie, formal Einfluss auf die Auswahl der Konservatoren zu erlangen. Untersuchungen zur Prosopografie dieser Führungsgruppe haben ergeben, dass der Kreis der beteiligten Familien sich zwischen dem letzten Drittel des 15. und der Mitte des 16. Jahrhunderts, vor allem nach der Rückkehr der Este 1531, verengte (weil die vorher dominierende papstfreundliche Fraktion vorübergehend verdrängt wurde), dann aber bei gut 100 Familien stabilisierte. Die Namen, die in den kommunalen Riformagioni am häufigsten begegnen, gehören Mitgliedern der Familien Carandini, Bellincini, Valentini, Castelvetro, Molza oder Codebý, Familien aus dem Milieu der Bankiers, Kaufleute, Juristen und Notare: Sie und wenige andere bildeten den engeren Führungszirkel.13 Ein Beispiel für den weiteren Kreis kommunaler Amtsträger ist hingegen der Chronist Tommasino de’ Lancellotti: Er hatte des öfteren kommunale Ämter inne und wurde auch mehrfach in den Rat der Konservatoren gewählt, doch zu der besonders einflussreichen Kerngruppe hatte seine Familie keinen Zugang.14 Eine weitere Bühne, auf der die Auseinandersetzung um die Macht in Modena ausgetragen wurde, waren Bischofssitz und Domkapitel. Wie für die Mailänder Herzöge und andere Fürsten war es auch für die Este essentiell, die wichtigsten kirchlichen Stellen in ihrem Sinn zu besetzen. Das erwies sich jedoch als zunehmend schwierig. Einen herzoglichen Wunschkandidaten für den Bischofsstuhl gegen den Papst und gegen das Domkapitel durchzusetzen, war im 16. Jahrhundert kaum noch möglich. Als 1527 Bischof Ercole Rangoni starb, bemühte sich Herzog Alfons I., seinen Sohn Ippolito in Modena erheben zu lassen, erreichte aber nur eine gegenseitige Blockade. Nach dem Tod des päpstlichen Gegenkandidaten (1529) verstand Papst Clemens VII. sich nicht etwa zu einer Konzession an den Este, sondern ernannte den zwanzigjährigen Mailänder Kleriker Giovanni Morone. Dieser schaffte es nach langen Verhandlungen, die ihn (zum Ärger des Papstes) zu schmerzlichen finanziellen Kompromissen mit dem Herzog zwangen, sein Bistum 1531 in Besitz zu nehmen. Weil er wenig später als päpstlicher Nuntius nach Deutschland entsandt wurde, blieb er Modena lange Zeit fern; dort wurden die geistlichen Angelegenheiten von dem langjährigen Vikar Gian Domenico Sigibaldi verwaltet, einem Mann Alfons’ I., dessen späterer Briefwechsel mit Bischof Giovanni ihn als einen engagierten Geistlichen zeigt.15 13 Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 25 – 29; Biondi, Modena rinascimentale; Cattini, Postfazione: Profilo economico, S. 244 – 248; zusammenfassend Santus, La nascita della Santa Unione, S. 85 f. 14 Bezeichnend Lancellotti 7, S. 78 f.: Tommasino ist unter den Konservatoren des Quartals Juli–September 1541, beschwert sich aber, dass er trotz seiner Pfalzgrafen- und Ritterwürde nicht an erster Stelle genannt wird. 15 Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 29 – 34. Zu Giovanni Morone ist wichtig Firpo, Inquisi-

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Die »Union der Hospitäler und frommen Stiftungen« von Modena

Die Abwesenheit ihres Bischofs war seit dem späten 15. Jahrhundert geradezu ein Strukturmerkmal der Modeneser Kirche geworden. Dadurch vergrößerte sich die Distanz zwischen dem Diözesan und dem aus der städtischen Führungsschicht rekrutierten Domkapitel und erweiterte sich der Spielraum für die Verbreitung heterodoxer Ideen. Neben Lese- und Diskussionszirkeln in der Stadt, getragen vor allem von der so genannten Modeneser Accademia, fungierten als Hauptquelle theologischer Neuerungen die von den Konsevatoren mehrmals im Jahr geladenen Prediger. Diese zu kontrollieren hatte der Vikar, wie er dem in Deutschland weilenden Bischof zwischen 1540 und 1541 immer wieder schrieb, seine liebe Not. Selbst einzelne Domkanoniker liebäugelten mit Lektüren, die sie in die Nähe des Luthertums brachten – obwohl gerade das Domkapitel die Institution in Modena war, die am eisernsten auf die traditionellen Strukturen der römischen Kirche pochte: Ganz unlutherisch hielten die Kanoniker an den eingespielten Wegen zum Pfründenerwerb, an der Kumulation der Benefizien, am gewohnten Lebensstil des Hochklerus und an all ihren anderen Privilegien auch gegen den Bischof, gegen den Vikar und gegen den Herzog fest.16 Ist die Neugier mancher Domherren auf die evangelische Theologie aus ihrer angestammten Oppositionshaltung gegen den Bischof zu erklären, so waren für die (nicht sehr zahlreichen) Ordensleute, die sich dem Evangelismus annäherten, mit einiger Wahrscheinlichkeit die theologische Reflexion und persönliche Gewissensentscheidungen ausschlaggebend. Was davon im Einzelnen bei den Laien ankam, ist nicht genau zu sagen. Sicher ist aber, dass eine beträchtliche Anzahl, wenn auch nie die Mehrheit der Modeneser Laien – Männer und Frauen, Wohlhabende und kleine Leute – sich seit den 1530er Jahren mit theologischen Lösungen zu identifizieren begann, die von der römischen Kirche als heterodox eingestuft wurden. Schaltstelle dieses im Austausch mit Religiosen und Klerikern geführten neuen theologischen Diskurses war eine Gruppe von Intellektuellen, die von den Zeitgenossen teils als »Accademia«, teils als »setta« (Sekte) bezeichnet wurde.17 Der gegenüber der reformatorischen Kirchenkritik an und für sich aufgeschlossene Bischof Giovanni Morone gab sich alle Mühe, als er 1542 einige Monate in Modena verbrachte, die etwa 30 – 40 Angehörigen dieser Gruppe durch Überzeugungsarbeit dazu zu bringen, eine eigens redigierte Liste zione, insbesondere Kap. 1 (S. 35 – 53) u. Kap. 2 (S. 55 – 129) (Letzteres identisch mit Kap. 1 der 1. Aufl., S. 29 – 118), dort S. 61 – 69 zu seinen Anfängen und dem Briefwechsel mit Sigibaldi; dazu auch Al Kalak, Gli eretici, S. 89 – 96. 16 Zum Domkapitel und zum Vikar s. Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 101 – 113, 122 – 129; Al Kalak, Gli eretici, S. 119 – 122. Zur Accademia zusammenfassend Al Kalak, Modena, Accademia. 17 Der Vikar Sigibaldi verwendet gerne das Wort »setta« (Firpo, Inquisizione, S. 61 – 69). Zur ablehnenden Haltung des Chronisten Tommasino de’ Lancellotti gegen alle Glaubensinnovationen: Biondi, Tommasino. Vgl. unten, Anm. 88.

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von Glaubensartikeln zu unterschreiben. Dies gelang erst nach ermüdenden Verhandlungen und auf eine Weise, die den in Rom aufkeimenden Verdacht, Modena sei ein Häretikernest, das man mit allen Mitteln ausräuchern müsse, noch verstärkte.18 Der 1542 von Papst Paul III. zum Kardinal erhobene Morone gab sein Bistum 1550 wegen seiner ständigen auswärtigen Verpflichtungen vorübergehend auf; Nachfolger wurde ein Dominikaner, Egidio Foscarari, der sein Amt mit der ausdrücklichen Absicht antrat, vor Ort zu residieren. Foscarari versuchte auf Rat seines Vorgängers mit ähnlich sanften Methoden und nicht ohne Erfolg, die heterodoxen Kreise zur Rückkehr zum alten Glauben zu bewegen. Unter beiden Bischöfen hielt sich die Zahl der Inquisitionsprozesse in Modena zunächst in Grenzen, doch übte die 1542 gegründete Kardinalskongregation des Sant’Uffizio steigenden Druck aus. Die beiden Bischöfe Foscarari und Morone wurden wegen ihres verständnisvollen Vorgehens gegen die Häretiker schließlich selbst in Rom verhaftet und mussten in den 1550er Jahren Inquisitionsprozesse über sich ergehen lassen, an deren Ende sie allerdings rehabilitiert wurden. Als Giovanni Morone nach Egidios Tod 1564 das Bistum Modena erneut übernahm (bis 1571), war die Accademia längst zerschlagen; die Modeneser Lutheraner und Calvinisten hatten entweder das Weite gesucht oder sich in die innere Emigration der Dissimulation zurückgezogen. Der im Zuge des Kampfes gegen die Dissidenten und durch das Konzil von Trient gestärkte römische Zentralismus verschob die seit dem späten Mittelalter eingespielten Gleichgewichte in der Modeneser Kirche auf Dauer zu Ungunsten der lokalen Kräfte.19

Hospitäler und Bruderschaften Modena verfügte um 1500 nicht nur über das gesamte Panorama von männlichen und weiblichen Bettelordenskonventen, sondern auch über eine Reihe von Laienbruderschaften, von denen einige zumindest in ihren Anfängen einem der Konvente assoziiert waren. Wie aus vielen spätmittelalterlichen italienischen Städten bekannt, besaßen und verwalteten diese Bruderschaften, jedenfalls ein Teil von ihnen, Hospitäler. Weitere Hospitäler und ›fromme Werke‹ wurden von Kirchen, religiösen Orden, der Kommune, Zünften und Privatleuten betrieben. 18 Dazu ausführlich Firpo, Inquisizione, S. 72 – 125; Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 264 – 268. 19 Zu Egidio Foscarari s. Al Kalak, Storia, S. 253 – 311 u. 503 – 508; Al Kalak, Gli eretici, S. 106 – 114; Fontaine, Making Heresy ; Feci, Foscarari. Zum Prozess gegen Morone (1555 – 1560) s. Firpo, Inquisizione, passim (auf den auch die Edition der Prozessakten zurückgeht); Firpo, Morone; Peyronel Rambaldi, Morone. Zu den Modeneser Inquisitionsprozessen der 1560er Jahre s. die oben, Anm. 1, genannte Literatur.

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Dass diese Einrichtungen der Armen- und Krankenfürsorge im 16. Jahrhundert zunehmendem Druck ausgesetzt waren, lässt sich schon aus der oben angedeuteten Zusammensetzung der städtischen Bevölkerung mit ihrem wachsenden Anteil mittelloser Landarbeiter ableiten. Wie Tommasino de’ Lancellotti in seinen Beschreibungen von Hungerjahren festhält, mussten viele dieser Familien betteln. In Notsituationen wie der schweren Hungersnot von 1539 – 1540, in der der Chronist bis zu 5000 bettelnde Landflüchtlinge zählte, erhob die Kommune von den Bürgern Sonderabgaben, um den auf Straßen und Plätzen kampierenden Hungernden irgendeine Art von Versorgung zu verschaffen.20 Vor der Schaffung der Hospitalunion operierten in und bei Modena fünf Almosenstiftungen in verschiedener Trägerschaft (Zünfte, Bischof, Bruderschaften) und mindestens acht Hospitäler.21 Möglicherweise waren es um 1500 noch mehr,22 doch dürften den Abbrucharbeiten im Suburbium, mit denen seit 1537 Platz für die neuen Festungsanlagen geschaffen wurde, neben Klöstern auch ältere Hospitäler zum Opfer gefallen sein.23 Von den mindestens acht in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts funktionierenden Hospitälern waren die fünf wichtigsten im Besitz von Bruderschaften (Ospedale S. Maria dei Battuti, Ospedale della Morte, Ospedale del Ges¾, das ehemalige Leprosenhaus S. Lazzaro24 20 Lancellotti 6, S. 250 (1539 Dez. 1), 254 (2000 Arme, 1539 Dez. 11 – 13), 271 (1540 Jan. 16), 273 (1540 Jan. 21), 275 (jetzt 5000 Arme, 1540 Jan. 22), 286 (1540 Feb. 12), 318 (»tutti li hospitali sono pieni«, 1540 Apr. 15). Zu anderen Hungersnöten und Epidemien im 16. Jh. s. Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 151 – 154; Notizen zur Pest von 1527 – 1528, v. a. aus der Chronik Tommasinos, sammelt Trota, Malattie epidemiche, S. 88 – 91. – Zur Lage der Klöster s. unten, Plan 6. 21 Die Zählung basiert auf den folgenden Werken: Tiraboschi, Notizie, S. 15 – 40; Tiraboschi, Memorie 3, S. 239 – 252; Di Pietro, La medicina; Di Pietro, L’Ospedale di Modena, S. 1 – 31. Der reich bebilderte Band von Lavini/Saviano, La medicina, hier S. 18 – 29, 67 – 82, wertet zumindest zur Geschichte der älteren Hospitäler keine Quellen, sondern ausschließlich (und unkritisch) die lokalhistorische Literatur aus. Zum Antoniterhospital s. Soli, Chiese 1, S. 77 – 84, u. Trota, Malattie epidemiche, S. 96 – 98, mit der unzutreffenden Bemerkung, auch dieses Hospital sei 1541 in die Unione eingegangen. Vgl. alle Studien, welche die in die Unione aufgenommenen fünf opera pia (dazu zwei Brückenstiftungen) und sieben Hospitäler auflisten (s. unten, Anm. 32). Alle genannten Autoren (abgesehen von Tiraboschi) stützen sich auf die Vorarbeiten von Malmusi, Notizie istoriche, S. 31 – 135. – Zur Lage der spätmittelalterlichen Gründungen s. unten, Plan 6. 22 Das westlich vor den Mauern gelegene Kreuzherrenhospital S. Leonardo ist nach Tiraboschi, Memorie 3, S. 243, u. Soli, Chiese 2, S. 219 – 224, zum letzten Mal 1519 bezeugt. Weder für das von Lavini/Saviano, La Medicina, S. 73, verzeichnete Hospital S. Spirito, angeblich eine Gründung von 1372, noch für die ebd., S. 74, behauptete Hospitalfunktion von S. Rocco gibt es eine belastbare Quelle; allenfalls lässt sich feststellen, dass S. Rocco kurzzeitig zur Unterbringung von Syphiliskranken genutzt wurde (dazu Soli, Chiese 3, S. 237 – 248). 23 Tiraboschi, Memorie 3, S. 208; ein Beispiel ist das Oratorium der Bruderschaft S. Rocco (oben, Anm. 22). 24 Dass auch dieses Hospital zumindest im 16. Jh. von einer compagnia geleitet wurde, bezeugt Lancellotti 4, S. 249 f., 266, 283 (1533 Apr. 2 – Juli 22). Er berichtet von einer Visitation, die Bischof Giovanni Morone unter Verweis auf sein Kontrollrecht als Diözesan durchgeführt

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und die Casa di Dio oder kurz CadÀ), eins gehörte einer Zunft (S. Bartolomeo, Gerberzunft), eins einem Hospitalorden (Antoniter), während das neue Haus für Syphiliskranke, S. Giobbe, seit 1501 von der Kommune aufgebaut worden war. Die Bruderschaften, die sich in einem Hospital engagierten, waren teils Flagellanten (in der CadÀ die Bruderschaft S. Pietro Martire, im Hospital S. Maria Battutorum oder S. Maria della Neve die gleichnamige Geißlerbruderschaft), teils nahmen sie andere religiöse Funktionen wahr : Die Compagnia S. Giovanni della Morte betreute zum Tod Verurteilte und führte das Ospedale della Morte, die Compagnia del Ges¾ ging 1452 aus einem gegen 1439 eröffneten gleichnamigen Hospital hervor, während die Bruderschaft in S. Lazzaro sich eigens zur Betreuung dieses Hospital gebildet zu haben scheint. Im 15. Jahrhundert wurden aber auch mehrere andere Bruderschaften gegründet, die sich bewusst von der Hospitalaufgabe abwandten, um sich stärker auf die Formung der Lebenspraxis ihrer Mitglieder zu konzentrieren (Confraternita dell’Annunziata) und sie zu einer anspruchsvollen Spiritualität zu führen (Bruderschaft S. Bernardino).25 Symptomatisch für die ambivalente rechtliche Position der Hospitalbruderschaften und damit auch ihrer Hospitäler ist die Tatsache, dass sie sowohl vom Papst und vom Bischof als auch vom Herzog Privilegien erbaten bzw. Bischof oder Herzog sich veranlasst fühlten, in die inneren Belange der frommen Vereine einzugreifen. Dies sollte in den Debatten um die Unione noch eine Rolle spielen. So trachtete die Bruderschaft S. Pietro Martire 1455 danach, sich der Jurisdiktion des Bischofs zu entziehen und erwirkte eine Bestätigung dieses neuen Status von Papst Nikolaus V., von der sie dann jedoch keinen Gebrauch machte.26 Die näheren Umstände dieser Episode liegen im Dunkeln, doch wirft sie interessante Fragen auf: Warum sollte eine Laienbruderschaft überhaupt der Jurisdiktion des Bischofs unterstehen? Galt das auch für ihr Hospital, die CadÀ?27 Was bewog den Papst, die Bruderschaft aus diesem Rechtsverhältnis zu lösen, und warum erkannte diese trotzdem den Bischof bald wieder als ihren Oberen an? Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wandte sich ein Teil der Brüder von S. Pietro Martire wegen einer organisatorischen Änderung an Herzog Ercole I., der wenig hatte und bei der schwere Verstöße gegen die päpstlich bestätigten Statuten der Hospitalbruderschaft entdeckt worden waren. Der Bischof verschob daraufhin die Wahl der Bruderschaftsleitung in S. Lazzaro (und in S. Maria Battutorum), bewirkte letztlich aber nichts, weil er Modena wieder verlassen musste. S. auch ebd. 5, S. 44 (1535 Mai 30). Vgl. Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 150 f. 25 Charakterisierung ausgewählter Bruderschaften bei Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 40 – 51. Zu S. Pietro Martire s. bereits Tiraboschi, Notizie, u. Gatti, L’Ospedale di Modena, S. 28 – 44, der auch das Archiv der Bruderschaft benutzt hat (heute im Archivio Arcivescovile di Modena). 26 Tiraboschi, Notizie, S. 30; Soli, Chiese 3, S. 217 – 236. 27 Vgl. die Intervention des Bischofs im Hospital S. Lazzaro und in der zugehörigen Bruderschaft, oben Anm. 24.

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später auch der anderen Geißlerbruderschaft, S. Maria Battutorum, neue Regeln diktierte.28 Dies war notwendig geworden, weil die Battuti sich, wie dies im 15. Jahrhundert ähnlich bei anderen Bruderschaften vor allem in der Region um Bologna zu beobachten ist, in einen inneren und einen äußeren Kreis geteilt hatten: Der innere (compagnia stretta) bestand auf einer strengen Auslegung der Statuten, der äußere (compagnia larga) begnügte sich mit einem weitgehend gelockerten Regelwerk (zum Beispiel einer geringeren Beichthäufigkeit). Der Herzog erkannte diese Teilung an, beschränkte die Zuständigkeit für das Hospital und damit die Kontrolle über die wesentlichen Ressourcen jedoch auf die compagnia stretta. Der Konflikt schwelte in den folgenden Jahrzehnten weiter. Wie Tommasino de’ Lancellotti, der selbst Mitglied von S. Maria Battutorum war, berichtet, versuchte die compagnia larga in den 1530er Jahren, ihre Hand wieder auf das Hospital zu legen. Der daraus hervorgehende Streit wurde vor den herzoglichen Gouverneur von Modena gebracht, der trotz Vorlage der genannten Dekrete Ercoles I., einer Bestätigung Papst Leos X. und der Statuten der compagnia stretta einen Kompromiss anordnete, der der compagnia larga weiterhin Einfluss auf die Hospitalleitung einräumte.29 Diese Konstellation sollte wenige Jahre später eine wichtige Rolle für die Hospitalunion spielen. Sie wirft außerdem neue Fragen nach den hier zu Grunde liegenden Rechtsauffassungen auf: Mit welchem Recht mischt sich ein Herzog in die Statutenfortbildung von Bruderschaften und sogar in rein religiöse Funktionen ein? Warum behandelt er eine Bruderschaft (jedenfalls die compagnia stretta) und ihr Hospital als Einheit? War dies auch die Auffassung der Kommune Modena gewesen, als sie unter päpstlicher Herrschaft stand? Denn von dieser wissen wir, dass sie bei einer Steuererhebung im Jahr 1519 die Hospitäler, die später in die Unione eingehen sollten, als »luoghi pii«, also kirchliche Einrichtungen, anerkannte und deshalb von ihren Steuerforderungen ausnahm.30 Bedeutet das, dass sie auch den zugehörigen Hospitalbruderschaften automatisch denselben Status der Steuerfreiheit und damit ›Kirchlichkeit‹ zusprach? Sowohl aus den realen, überwiegend von außen induzierten Schwierigkeiten

28 Hierzu und zum Folgenden Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 42 f., 148; ferner Soli, Chiese 2, S. 411 – 422 (S. Maria Battutorum), u. 3, S. 217 – 226 (S. Pietro Martire). Zur Zitation dieser Herzogsurkunden in der Auseinandersetzung um die Unione s. unten, Anm. 34, 61, 120. – Allgemein zur Rechtsstellung von Bruderschaften aus der Sicht der italienischen Juristen s. Frank, Bruderschaften, Memoria und Recht, u. Frank, Rechtsgeschichtliche Anmerkungen. 29 Lancellotti 4, S. 266, 276, 313 f., 315 f. (1533 Mai 1 – Okt. 4); ebd. 5, S. 290 (1537 Mai 20); ebd. 6, S. 305 f., 313, 317 f., 335 (1540 März 19 – Mai 16). 30 Auf diese Immunität wird in der Literatur öfters hingewiesen: Grana, Per una storia, S. 13; Grana, L’azione della Chiesa, S. 28 f.; Santus, La nascita della Santa Unione, S. 92.

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als auch aus der geringen Leistung mancher Hospitäler31 folgerten viele Beobachter, dass die Einrichtungen der Wohltätigkeit in Modena zu verbessern seien, das heißt: leistungsfähiger werden und stärker dem Gemeinwohl als klientelaren Gruppen verpflichtet sein müssten. Die Frage war nur, wie das zu erreichen war.

3.

Auf dem Weg zur Hospitalunion

Erste Schritte und offizielle Instituierung (1533 – 1541) Die Idee, die Hospitäler Modenas durch Zusammenlegung und zentrale Leitung effizienter zu machen, wurde zum ersten Mal im Dezember 1533 öffentlich geäußert.32 Öffentlich heißt: im Rat der Konservatoren, in deren Versammlungsprotokolle die entsprechende Eingabe eingetragen wurde, und in der Chronik des Tommasino de’ Lancellotti. Es handelt sich nicht um eine Eingebung des Augenblicks: Vielmehr hatte die Stadtführung Ende November 1533 eine Dreierkommission mit der Visitation der Hospitäler beauftragt, nachdem sie schon länger eine Zusammenlegung erwogen hatte; sie nahm dann zur Kenntnis, dass das Hospital von S. Maria Battutorum sich der Visite verweigerte und beschloss am 18. Dezember offiziell, die Union in die Wege zu leiten und eine neue »infirmaria« für Männer und Frauen zu bauen.33 Tommasino glaubte nicht an die Umsetzung des Planes, und wahrscheinlich trug der Widerstand der Bruderschaften dazu bei, dass er mit seiner Skepsis vorerst Recht behielt. Erst am 14. August 1537 nahmen sich die Conservatori des Themas wieder an, zeitnah begleitet von den misstrauischen Kommentaren des Chronisten. 31 Dass dies nicht nur S. Lazzaro betraf, sondern auch das Hospital seiner eigenen Bruderschaft sowie die CadÀ, räumt Tommasino indirekt ein: Lancellotti 5, S. 143 f. (1536 Juni 14). 32 Die Gründungsgeschichte der Unione wurde schon oft nach den kommunalen Quellen, den Statuten und Tommasinos Chronik rekonstruiert. Dieses Kapitel stützt sich auch dort, wo es nicht eigens angemerkt ist, auf die wichtigsten dieser Studien. In chronologischer Reihenfolge (ohne Tiraboschi u. Malmusi): Gatti, L’Ospedale di Modena, S. 45 – 56; Di Pietro, Sulla Santa Unione; Di Pietro, L’Ospedale di Modena, S. 31 – 40; Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 147 – 161; Grana, Per la Storia, S. 9 – 19; Fontaine, Organizing Charity ; Santus, La nascita della Santa Unione. Ich beschränke mich in den folgenden Anmerkungen auf den Nachweis der Quellen und erwähne Forschungsbeiträge nur ausnahmsweise, insbesondere dann, wenn sie Quellen auswerten, die ich nicht selbst einsehen konnte. 33 ASCMo, Vacchetta 1533, f. 112v, 118v, 120v, 122r (Nov. 27 – Dez. 18). In der »Rubrica«, dem Inhaltsverzeichnis dieser Vacchetta, werden die vier Einträge schon klar gruppiert: »contra hospitalia« die zur Visitation, »de unione hospitalium« die anderen. – Tommasino erwähnt den Beschluss der Konservatoren und greift das Thema in einem Nachruf auf einen verstorbenen Befürworter der Unione kurz danach wieder auf: Lancellotti 4, S. 334 (1533 Dez. 19), 355 (1534 Feb. 9).

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Die »Union der Hospitäler und frommen Stiftungen« von Modena

Diesmal beauftragte die Stadtregierung drei ihrer Kollegen damit, Statuten für die geplante Unione auszuarbeiten: Elia Carandini, der uns noch öfter begegnen wird, Niccolý Molza und Raffaele Bambasio. Da die Sache somit Gestalt annahm, traten drei Tage später zwei Vertreter der Geißlerbruderschaft S. Maria Battutorum vor die Konservatoren und verwiesen auf ihre herzoglichen und päpstlichen Privilegien, nach denen kein Außenstehender sich in die Angelegenheiten ihres Hospitals einzumischen habe. Einer der beiden Abgeordneten war kein anderer als Tommasino de’ Lancellotti, über dessen Argumentation wir aus der Chronik bestens unterrichtet sind. Sie erklärten, dass man nicht prinzipiell gegen eine solche Vereinigung der Hospitäler sei, aber diese müsse durchdacht und den Armen nützlich sein: »utile ali poveri«. Darüber bestand bei allen Beteiligten Einigkeit.34 Ein Jahr später, im Oktober 1538, war das Projekt noch immer in der Schwebe, denn Tommasino protestierte erneut vor den Konservatoren.35 Allerdings scheint er ihm keine sonderliche Dringlichkeit mehr beigemessen zu haben, denn in seiner Chronik erwähnt er die Hospitalunion vor 1541 nicht mehr. Während der Krise von 1539 – 1540 stand die Bewältigung der Nahrungsmittelknappheit ganz im Vordergrund, und es überrascht wenig, dass die Sache in dieser Phase nicht vorangetrieben werden konnte. Danach jedoch gingen die Initiatoren energisch an die Umsetzung. Was im Frühjahr 1541 letztlich den Ausschlag gab, war das Engagement eines Domkanonikers, Guido de’ Guidoni, der sich erbot, der zu schaffenden Hospitalunion von seinen beträchtlichen Einkünften jährlich 200 Gold-Scudi zur Verfügung zu stellen. Das Projekt bezog jetzt nicht nur die städtischen Hospitäler, sondern auch einige andere fromme Stiftungen ein.36 Durch diese Subvention und die 34 ASCMo, Vacchetta 1537, f. 104v–105r (Aug. 14), f. 105v–106r (Aug. 17, Eintrag bricht ab). Den Eintrag vom 14. Aug. ediert Di Pietro, Sulla Santa Unione, S. 225, u. identisch Di Pietro, L’Ospedale di Modena, S. 136 Doc. IV, jedoch mit vielen sinnentstellenden Lesefehlern. – Vgl. Lancellotti 5, S. 326 (1537 Aug. 17), mit dem Zitat. Abweichend vom Chronisten vermerkt der Notar der Conservatori in der Vacchetta, die beiden Bruderschaftsbeauftragten hätten sich gegen den Vorwurf verwahrt, ihr Hospital werde schlecht verwaltet; dafür lässt er Tommasinos Argumente gegen die Zentralisierung weg. – Santus, La nascita della Santa Unione, S. 88 Anm. 10, zitiert aus dem herzoglichen Privileg von 1497, nach einer Urkundensammlung der Bruderschaft in der BE. 35 ASCMo, Vacchetta 1538, f. 139v (Okt. 7). Tommasino brachte diese Eingabe im eigenen Namen vor. 36 Mit diesem coup de th¦–tre und der Schilderung der Rolle des Kanonikers setzt die Berichterstattung des Chronisten über die Unione 1541 wieder ein: Lancellotti 7, S. 70 – 72, 76, zusammenfassend S. 88 f. In den Riformagioni ist ein Antrag des Elia Carandini vom 8. Juni 1541 die erste Nachricht über die Schenkung, ähnlich noch einmal am 13. Juni (ASCMo, Vacchetta 1541, f. 76r, 78v–79r). – Da der Wert eines voll eingerichteten schönen Stadthauses 500 Scudi (2000 lib.) betrug (Lancellotti 7, S. 143, 1541 Okt. 1), dürften 200 Scudi dem Wert eines einfachen Hauses entsprochen haben.

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eigens in Ferrara eingeholte, nachdrückliche Zustimmung des Herzogs gestärkt, machten sich die Konservatoren ans Werk. Sie wählten Personal für die Leitung der Unione aus, vorerst sieben vierköpfige Listen (jede angeführt von Guido de’ Guidoni als »superpositus ad vitam«), ergänzt durch jährlich zwei Kontrolleure, die sindici.37 Eine Kommission von zunächst drei, dann vier Statutaren wurde mit der Abfassung neuer Statuten beauftragt; vermutlich bietet diese Neufassung einen ähnlichen Text wie den 1537 entworfenen, der als solcher nicht erhalten ist. Erneut schrieben die Konservatoren an den Herzog und baten um weitere Unterstützung des Vorhabens.38 Die Zusammensetzung des Führungspersonals war indes ein Thema, an dem weiter gefeilt werden musste. Am 28. Juni 1541 wurde ein Pool von 29 Personen bestimmt, aus denen in den kommenden Jahren sowohl die sindici als auch eventuell notwenige Ersatzleute (»supernumerarii«) für das Führungsgremium entnommen werden sollten.39 Am 1. Juli trat ein neues Konservatorenteam sein Amt an, zu dem auch Tommasino de’ Lancellotti gehörte. Vielleicht hat diese veränderte Zusammensetzung einen Teil der Betroffenen dazu ermutigt, sich noch einmal offiziell darum zu bemühen, auf die Hospitalunion Einfluss zu nehmen. Am 4. Juli intervenierten je zwei Vertreter der Bruderschaften S. Maria Battutorum und S. Pietro Martire im Rat der Konservatoren. Sie berichteten, dass sie sich schon beim herzoglichen Gouverneur darüber beklagt hatten, in der bisherigen Statuten- und Personaldebatte überhaupt nicht gehört worden zu sein, und dieser ihnen geraten habe, ihre eigenen Statuten zu entwerfen. Sie wollten aber auch den Konservatoren mitteilen, dass sie nicht grundsätzlich gegen die Unione seien, dass aber an deren Leitung die Bruderschaften mit jeweils zwei Repräsentanten beteiligt werden müssten. Die Konservatoren reagierten ausweichend, indem sie in Aussicht stellten, dass darüber künftig ein consilium generale (der in wichtigen Fällen einzuberufende, erheblich zahlreichere große Rat) befinden solle.40 37 Brief des Herzogs an seinen Modeneser Gouverneur Francesco Villa (Juni 23): ASCMo, Vacchetta 1541, f. 85v–86r (verlesen Juni 27), eine weitere, praktisch identische Kopie auch in Lancellotti 7, S. 304. Leitungspersonal: ASCMo, Vacchetta 1541, f. 77r–78r (Juni 10). 38 Kommission: ASCMo, Vacchetta 1541, f. 86v–88r (Juni 27); die Statutare sind Francesco Bellincini, der als Gesandter der Kommune bereits den Brief des Herzogs überbracht hatte, Elia Carandini, Filippo Valentini und Geronimo Quattrofrati. – Statuten Juni 1541: ASCMo, Vacchetta 1542, f. 76r–79v (erst unter dem 22. Mai 1542[!] eingetragen, 29 Kapitel); Lancellotti 7, S. 304 – 313 (Abschrift vom Juli 1542, 30 Kapitel). Nach Malmusi, Notizie istoriche, S. 153, folgt diese Satzung Vorbildern aus Ferrara und Neapel. – Brief an den Herzog: ASCMo, Vacchetta 1541, f. 88r. 39 ASCMo, Vacchetta 1541, f. 89v–90r. Unter den hier genannten Personen sind auch die vier Statutare. 40 ASCMo, Vacchetta 1541, f. 93v–94r. Beispiel für eine Versammlung des consilium generale (circa 300 Personen, über deren Auswahl aber kein Konsens bestand): Lancellotti 7, S. 191 f. (1542 Jan. 11).

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Immerhin kam erneut Bewegung in die Personaldiskussion. Vielleicht waren die Statuten noch einmal modifiziert worden, vielleicht wünschten auch einige der Initiatoren der Unione eine breitere personelle Basis. Nachdem die vier Statutare am 11. Juli 1541 Bericht über ihre Arbeit erstattet hatten, regten sie die Aufstellung von neuen Listen an: Nun wurden 71 supernumerarii und danach acht fünfköpfige Leitungsgruppen (jeweils ein massaro und vier consiglieri) zusammengestellt; da jede Fünfergruppe für ein Amtsjahr ausgelost wurde, war damit für die nächsten acht Jahre vorgesorgt. Tommasino de’ Lancellotti, als Conservatore und Bruderschaftsmitglied über die Vorgänge bestens informiert, bestätigt diesen Hergang, gibt aber darüber hinaus wertvolle Nachrichten über die Meinungsbildung in den Bruderschaften.41 Insbesondere wissen wir von ihm, dass die drei größten Bruderschaften, auch im Namen der anderen betroffenen frommen Vereine und Zünfte, tatsächlich den Rat des Gouverneurs befolgt und rasch eine eigene Satzung für die Unione skizziert hatten. Dass der Gouverneur, Francesco Villa, diesen Rat kaum ernst gemeint hat, geht aus seiner Korrespondenz mit Herzog Ercole II. im Juni und Juli 1541 hervor, in der er eindeutig Stellung für die Reform und gegen die Alteigentümer bezieht.42 Diese ließen sich von der Haltung des Gouverneurs jedoch nicht darin beirren, in ihrem knappen Satzungsentwurf Folgendes zu verlangen: Wenn schon Zentralisierung, dann müsse zunächst ein geeignetes Gebäude gefunden werden, das Platz für alle Insassen biete; Adlige, Ritter und promovierte Juristen seien von der Leitung auszuschließen, vielmehr sollen die Konservatoren einen Kanoniker und fünf Bürger, die vier größten Bruderschaften jeweils ein Mitglied in ein zehnköpfiges Führungsgremium wählen; den Bruderschaften seien ausreichende Mittel für ihre weiteren Aktivitäten zu belassen. Diesen Entwurf legten sie, praktisch gleichzeitig mit der konkurrierenden Satzung der vier Statutare, am 6. Juli dem Gouverneur vor, informierten aber auch den Herzog persönlich.43 Die fieberhaften Gegenmaßnahmen änderten wenig an der Entschlossenheit der Reformpartei, die Hospitalunion endlich durchzusetzen: Nach dem Bericht der Statutare und der Auswahl möglicher Kandidaten für die Leitung (11. Juli) wurde die Unione am 18. Juli 1541 in einer feierlichen Sitzung der Conservatori und Aggiunti im Beisein des Gouverneurs und vor ausgewähltem Honoratio41 ASCMo, Vacchetta 1541, f. 96v–99r; aus der Liste mit 71 Namen wurden einige wenige später wieder gestrichen. S. aber auch Lancellotti 7, S. 77 f., 80 (Sitzung der Bruderschaft S. Maria Battutorum am 5. Juli, in der die Differenzen zwischen compagnia stretta und larga in Sachen Unione besonders deutlich werden). Vgl. den Bericht Tommasinos ebd., S. 87. 42 Villas Briefe (17. Juni, 3., 8. Juli 1541) zit. in Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 156 f., u. Santus, La nascita della Santa Unione, S. 91 (8. Juli 1541); ferner Malmusi, Notizie istoriche, S. 158 f. (Brief vom 19. Juli 1541). S. dazu unten, Anm. 157 ff. 43 Lancellotti 7, S. 82 f. (Satzung der Bruderschaften), 86 f. (1541 Juli 6, Juli 8). Einer der Gesandten der Bruderschaften war der Arzt Francesco Grassetti.

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renpublikum offiziell instituiert.44 Auf die Verlesung des Briefs Ercoles II., in dem die Reform angeordnet wurde, und der Statuten folgte eine kurze Debatte. Drei Redner traten vor : Dem ersten genügte die vorgesehene Größe des Führungsgremiums nicht, weshalb er eine Erweiterung auf zehn Personen beantragte; der zweite hatte erfahren, dass der massaro der bereits ausgelosten ersten Führungsgruppe sein Amt nicht antreten wollte, und schlug vor, stattdessen das von Geronimo Quattrofrati (einem der vier Statutare) geleitete Fünferteam zu berufen; der dritte – der bereits erwähnte Francesco Grassetti, der als Vertreter der confraternitas mortis oder S. Giovanni Battista sprach – akzepierte im Prinzip die Bildung der Unione, verlangte aber, dass der Bruderschaft auch nach dem Verlust ihres Hospitals die für ihr Weiterbestehen nötigen Mittel belassen würden. Die Konservatoren sicherten zu, über alle Diskussionsbeiträge gründlich zu beraten, was auf das weitere Verfahren jedoch keinen Einfluss hatte. Nachdem zwei geistliche Visitatoren (einer davon der spendable Kanoniker Guido de’ Guidoni) gewählt worden waren, erklärten der Vikar des Bischofs von Modena und der Gouverneur des Herzogs ihre förmliche Zustimmung; danach wurde der erste Vorstand unter dem massaro Geronimo Quattrofrati eingesetzt. Dass auch die Einholung einer päpstlichen Bestätigung geplant war, geht nur aus dem Bericht Tommasinos, nicht aus dem offiziellen Protokoll des kommunalen Kanzlers hervor.

Die umstrittenen Anfänge der Unione (1541 – 1542) Nach ihren am 18. Juli 1541 in Kraft getretenen Statuten war die Modeneser Hospitalunion eine hierarchisch und arbeitsteilig organisierte Institution, die ihre Aufgaben mit besoldetem Laienpersonal (von zwei Priestern abgesehen) und unter Kontrolle der Kommunalführung bewältigen sollte. Die Satzung wurde erst im Mai 1542 zur öffentlichen Niederschrift freigegeben.45 Ihr Hauptinhalt ist die Beschreibung der verschiedenen Ämter : Direkt von den Konservatoren der Kommune gewählt werden die für die ›Qualitätssicherung‹ zuständigen sindici und Visitatoren sowie der massaro und seine vier consiglieri; von diesem Direktorium, das für jeweils ein Jahr aus einem Bestand von anfangs acht Fünferlisten eingesetzt werden soll, handelt die Satzung am ausführlichsten. Zusammen ernennen massaro und consiglieri die wichtigsten anderen Funktionsträger : zwei Priester, je einen Advokaten, Notar, Thesaurar, fattore (Ver44 ASCMo, Vacchetta 1541, f. 100v–102r. Vgl. Lancellotti 7, S. 96 f.; Tommasino nahm an der Sitzung in seiner Eigenschaft als Conservatore teil. Vgl. auch das knappe Resümee der Einrichtung der Unione bei Todesco, Annali, S. 75. 45 Zur Überlieferung s. oben, Anm. 38. Zu den Unterschieden zwischen den beiden Abschriften in der Vacchetta von 1542 u. in Tommasinos Chronik s. unten, Anm. 91 ff.

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walter der Ländereien) und guardiano mit zwei Vertretern (die Leiter des Hospitals), ferner zwei Ärzte und einen Apotheker. Für die Einstellung des untergeordneten Dienstpersonals ist der massaro oder ein anderer zuständiger Amtsträger allein verantwortlich.46 Der Jahreslohn des massaro liegt bei 200 lib., während die Gehälter der anderen Funktionäre in dieser Statutenfassung noch nicht genau festgelegt sind. Mit den Insassen befassen sich nur neun kurze Kapitel.47 In ihnen geht es vor allem darum, wer auf Geheiß welchen Funktionärs aufgenommen oder entlassen werden soll. Der Schwerpunkt liegt einerseits auf mittellosen Kranken (»infermi«), von denen die ansteckenden in einer speziellen Abteilung untergebracht werden, andererseits auf Findel- und Waisenkindern. Niemand soll nach seiner Genesung im Haus bleiben. Gesunde Bettler dürfen nicht aufgenommen werden, durchreisende fremde Arme nur für eine Nacht, während kranke Fremde wie alle anderen Kranken behandelt werden. Die Unione soll auch das Betteln eindämmen, denn zum einen hat der massaro dafür zu sorgen, dass fremde Bettler die Stadt am Tag nach ihrer Ankunft tatsächlich verlassen, und zum anderen wird das öffentliche Fundraising der Hospitäler unterbunden, die nur noch ausnahmsweise Almosen einwerben dürfen. Die Schöpfer der Hospitalunion waren überzeugt, die insgesamt vierzehn von ihnen vereinigten Institutionen in einen einheitlichen Organismus überführen zu können, denn nur so erklärt sich die Tatsache, dass sie in dieser ersten erhaltenen Statutenfassung (Juli 1541) konsequent von dem »spedale« im Singular sprechen. Die Möglichkeit, die inkorporierten Häuser bestehen zu lassen und nur organisatorisch einer gemeinsamen Leitung zu unterstellen, haben sie offensichtlich nicht in Betracht gezogen. Das neue Zentralhaus sollte die CadÀ sein, die aus diesem Grund so schnell wie möglich ausgebaut werden musste; als erstes wurde eine Abteilung für ansteckende Krankheiten hinzugefügt. Inkorporiert wurden der Unione neben der CadÀ (1) sechs weitere Hospitäler : die der Bruderschaften S. Maria Battutorum (2), S. Lazzaro (3), del Ges¾ (4) und della Morte (5), das der Gerberzunft S. Bartolomeo (6) und das Syphilishospital S. Giobbe (7);48 außerdem die auf das 13.–15. Jahrhundert zurückgehenden 46 Massaro und consiglieri: Kapitel [1]–[9] u. [26], hier v. a. [5]; zu den anderen Amtsträgern s. die Kapitel [10]–[15] u. [25], zu den sindici und Visitatoren auch Kapitel [27] u. [28]. – Die Kapitelzählung ist von mir hinzugefügt. Wegen der leichteren Überprüfbarkeit folge ich hier der Fassung in Lancellotti 7, S. 304 – 313, in der der 5. Absatz geteilt ist, so dass insgesamt 30 statt 29 Kapitel gezählt werden können. 47 Kapitel [16]–[24] (Lancellotti 7, S. 311 f.). 48 Vgl. oben, Anm. 21 – 24. Die Liste der von der Union betroffenen Hospitäler und frommen Werke ist seit Tiraboschi, Memorie 3, S. 251 f., u. Malmusi, Notizie istoriche, S. 31 – 135, in die lokale historiografische Tradition eingegangen. Über die sieben inkorporierten Hospitäler besteht weitgehend Einigkeit, s. zuletzt: Grana, Per una storia, S. 21; Santus, La nascita della Santa Unione, S. 94; Lavini/Saviano, La medicina, S. 87. Das seit dem 17. Jh.

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frommen Stiftungen Desco dei Poveri, ein auf ›verschämte Arme‹ spezialisiertes Almosen (8), die von den Zünften der Wollhändler und der Schmiede verwaltete, nach ihrem Stifter benannte Opera del Priatto (9), die Arme auch stationär versorgte, die Opera Pia, die Mitgiften an arme Mädchen vergab (10), die bischöfliche, aber wahrscheinlich von den Zünften der Schuster und der Metzger verwaltete Armenstiftung Pater Pauperum (11), die Brückenstiftungen des Ponte Alto (12) und des Ponte Basso (13) am Fluss Secchia49 sowie – vielleicht – die Güter der Compagnia dell’Annunziata (14). Nur das Antoniterhospital entging der Vereinigung, doch ist fraglich, ob es 1541 überhaupt noch Hospitalfunktionen versah.50 Die Väter der Unione und die Kommune verschafften sich mit der Zwangsvereinigung all dieser Institutionen Zugriff auf eine beträchtliche Menge von Gütern: Diese bestanden aus städtischen Hospitalgebäuden, Kapellen und sonstigen Immobilien mitsamt Inventar sowie aus ländlichen Besitzungen, die sich im fruchtbaren Umland von Modena konzentrierten. Es liegt auf der Hand, dass deren frühere Eigentümer oder Verwalter mit ihrer Enteignung nicht einverstanden sein konnten. Die neuen Herren gingen sofort daran, ihre Vorgänger zu verdrängen und die Güter einzuziehen. Dabei stießen sie auf Widerstände, über die Tommasino de’ Lancellotti seine Leser auf dem Laufenden hält. Da der Chronist an der Angelegenheit stark interessiert und gut informiert ist, dürfte

ebenfalls genannte Hospital S. Girolamo gehört nicht in die Liste der 1541 vereinten Einrichtungen. 49 Die Liste der anderen frommen Stiftungen wurde von der Forschung nach und nach präzisiert, weist allerdings meist kleinere Abweichungen auf. Fontaine, Organizing Charity, Anm. 9, fügt ohne Quellenbeleg die Bruderschaften S. Bernardino, S. Geminiano und Annunziata ein (s. nächste Anm.), lässt aber die Brücken weg (zum Vermögen des Ponte Alto s. Soli, Chiese 3, S. 9 – 17). Dass die Schuster und Metzger die Almosenstiftung Pater Pauperum betreuten, behauptet Malmusi, Notizie istoriche, S. 136 (vgl. Santus, La nascita della Santa Unione, S. 94 Anm. 23), und wird von Tommasino de’ Lancellotti indirekt bestätigt (s. unten, Anm. 52). Zur Präsenz von Armen in einem Haus der Opera del Priatto s. Lancellotti 4, S. 444 (1535 Jan. 9), u. ebd. 7, S. 161 (1541 Nov. 15). 50 Zum Antoniterhospital s. oben, Anm. 21. Santus, La nascita della Santa Unione, S. 94, ersetzt die sonst oft genannten Güter der Annunziata-Bruderschaft durch ein Oratorium S. Sepolcro (nach Malmusi). Damit könnte das Oratorium der Bruderschaft S. Bernardino gemeint sein, die nach Tommasino eine dem »sepulcro« geweihte Nebenkapelle mit Skulpturenensemble besaß (Lancellotti 2, S. 10, 1524 März 11); der Chronist erwähnt (ebd. 7, S. 120, 1541 Aug. 23), dass S. Bernardino und sein »sepulcro« ebenso von der Unione enteignet wurden wie die Bruderschaft S. Erasmo mit der ihr unterstellten »opera pia«, führt an anderer Stelle (ebd., S. 77, 82) unter den betroffenen »opere pie« aber auch die »compagnia della Nonciata« auf. Alle drei fraglichen Bruderschaften – S. Bernardino, S. Erasmo und Annunziata (s. Soli, Chiese 1, S. 63 – 72, 155 – 159 u. 413 – 420; zu ihrer Gründung s. auch Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 45 – 51) – bestanden noch im 18. Jh. Die Brüder von S. Bernardino führten ab 1551 ein Waisenhaus, also erst nach (und unabhängig von) der Bildung der Unione; welche frommen Werke die beiden anderen verwalteten, ist nicht klar.

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seine Berichterstattung vollständig sein, jedenfalls für die Jahre, in denen die Chronik ohne Verluste überliefert ist.51 Am Tag nach seiner Ernennung ließ der Vorstand der Unione sich die Rechnungsbücher von einigen der zu übernehmenden Einrichtungen aushändigen. Dies gelang bei den Verwaltern des Hospitals S. Maria Battutorum, der CadÀ und des Hospitals S. Lazzaro, aber vorerst nicht bei den Zünften: Obwohl der massaro, Geronimo Quattrofrati, selbst Mitglied der Wollhändlerzunft war, verweigerten diese und die Schmiede die Kooperation, und die Metzger und Schuster wollten sich lieber »zu Kleinholz zerhacken« lassen als ihre Bücher herausrücken. Voller Unmut berichtet Tommasino von den ersten Personalernennungen und Zentralisierungsmaßnahmen, zu deren Durchsetzung auch die Hilfe bewaffneter Kräfte in Anspruch genommen wurde.52 Es fällt auf, wie wenig (nach Ausweis der Vacchette) von diesen Aktionen und Konflikten in die Sitzungen der Conservatori gedrungen ist, während für den Chronisten die Unione eines der wichtigsten Themen der Stadtgeschichte in den Jahren 1541 und 1542 ist. Nur in einem Fall berühren sich die Sitzungsprotokolle der Kommunalführung mit der Chronik: Am 22. Juli griff Tommasino den massaro im Rat der Konservatoren direkt an, indem er ihn als kaufmännisch unfähig und somit indirekt als amtsuntauglich hinstellte. In einer Protestnote belehrte er ihn, wie die Buchhaltung in einem Hospital korrekterweise auszusehen habe. Der führende Conservatore Elia Carandini, mit dem Tommasino schon früher aneinandergeraten war, schnappte sich das darüber vom Kanzler aufgesetzte Notarsinstrument und zerriss es, und als sein Kontrahent diesen Affront ebenfalls notariell protokollieren ließ, reagierte Carandini mit beleidigenden Äußerungen.53 Abgesehen von dieser Episode befassten sich die Konservatoren im Sommer und Herbst 1541 mit ihrer Schöpfung nur dann, wenn sie wegen der Veräußerung von Immobilien satzungsgemäß konsultiert werden mussten.54 51 Die Handschrift, die den Zeitraum von Ende 1542 bis 1545 abdeckte, ist verloren; die Editoren haben das Fehlende (Lancellotti 8) durch die Notizen eines späteren Chronisten ersetzt, der Tommasino benutzte. 52 Lancellotti 7, S. 99 f. (» se laserano stellare«), 102 – 104. Anders der Verwalter der SecchiaBrücken: Er händigte den Konservatoren seine Bücher freiwillig aus (ASCMo, Vacchetta 1541, f. 104r, Juli 22). Zu Quattrofrati als Wollhändler : Lancellotti 5, S. 339 (1537 Sept. 28). 53 Lancellotti 7, S. 100, Juli 22 (»io me ne forbirý ancora el culo« – »ich werde mir damit noch den Hintern abwischen«, so Carandini). Die Sache hatte ein Nachspiel: Nicht nur beschwerte sich Tommasino, erfolglos, bei Gouverneur Villa, sondern er wurde am 26. Juli im Dom in einen Disput mit einem jüngeren Conservatore verwickelt, aus dem er nach eigener Darstellung als Sieger hervorging. Er erinnerte ein Jahr später noch einmal daran: ebd., S. 315 (1542 Juli 24). – Vgl. ASCMo, Vacchetta 1541, f. 104r (Juli 22): Nach diesem offiziellen Bericht bot Quattrofrati seinen Rücktritt an, wurde jedoch von den Konservatoren, die ihrem Kollegen Tommasino eine Rüge erteilten, zum Bleiben aufgefordert. 54 Im restlichen Jahr 1541 war das nur dreimal der Fall: ASCMo, Vacchetta 1541, f. 127r–v,

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Der Chronist hingegen beobachtete genau, wie die Leitung der Unione einschließlich ihres Visitators Guido de’ Guidoni die Zentralisierung der Hospitäler vorantrieb, wie sie bewegliche Güter in die CadÀ schaffte, Immobilien verkaufte, das alte Personal entließ und Insassen der peripheren Häuser in den Hauptsitz verlegte, wo alsbald auch Umbauten einsetzten.55 Mit diesen Personen- und Gütertransfers wurden nicht nur die neuen Kriterien für die Auswahl der Insassen getestet, sondern nahm auch die Enteignung der bisherigen Besitzer konkrete Gestalt an. Zudem wurde ein Problem manifest, das man offenbar nicht ausreichend bedacht hatte: Wer kam nach der Gründung der Unione für noch offene Gehälter und unbezahlte Rechnungen in den vereinigten Hospitälern auf ?56 Wenn der Widerstand gegen die Hospitalunion sich auch schwer tat, auf die offizielle politische Bühne vorzudringen, so gelang es ihm doch, die geistliche Seite zu interessieren und sich über sie öffentlich bemerkbar zu machen. Einer der profiliertesten Opponenten, der Arzt Francesco Grassetti, informierte – zumindest wurde ihm das vorgeworfen – den Franziskanerobservanten Paolo da Borgonovo, der im Oktober 1541 im Dom von Modena predigte, über die Probleme der Unione. Daraufhin beklagte der frate von der Kanzel herab den Ruin so vieler schöner frommer Werke und den damit verbundenen Verstoß gegen den Willen der Testatoren, die sie einst gestiftet hatten. Als dies dem Gouverneur gemeldet wurde, lud er den Prediger vor und machte ihm eine Szene, die in gegenseitigen Wutausbrüchen endete. Da er dem Religiosen nichts anhaben konnte, ließ er einige Wochen später Grassetti verhaften, den er im Verdacht hatte, der Initiator dieser öffentlichen Kritik an der Unione zu sein.57 Die Gefangennahme des aus guter Familie stammenden Artzes und Mitglieds der Compagnia della Morte machte klar, dass der Konflikt mit der Intervention eines Geistlichen eine neue Qualität gewinnen würde. Denn zum einen waren Predigten in Modena wegen der zunehmenden religiösen Spannungen ein besonders vermintes Gelände, zum anderen hatte sich die Opposition in der Zwischenzeit auch direkt an den Bischof gewandt, dessen Rückkehr nach Modena erwartet wurde. Der Chronist vermutete, dass mit der Verhaftung Grassettis die anderen Gegner, vor allem die Zünfte, eingeschüchtert werden sollten. Außerdem hoffte er, dass dadurch noch mehr Aufsehen erregt und Grassetti bis 138r–v, 141r–v (Okt. 7, Nov. 10 u. 25). Vgl. Kap. 9 der ersten Statuten (Lancellotti 7, S. 306 f.). Dagegen hat ein von der Chronik (ebd., S. 105, Juli 26) verzeichneter Protest der Gerberzunft vor den Konservatoren in deren Protokollen keine Spuren hinterlassen. 55 Lancellotti 7, S. 104, 107, 120 f., Einziehung von Gütern; 109, Umbauten in der CadÀ; 111 f., Verkäufe; 117, 119, Ersetzung des alten Personals; 102, 130, 161, Verlegung der armen Insassen (1541 Juli 22 – Nov. 15). 56 Lancellotti 7, S. 130, 145 (1541 Sept. 17, Okt. 7), Lohnforderungen des entlassenen Leiters des Hospitals S. Maria Battutorum. 57 Lancellotti 7, S. 150 f. (1541 Okt. 24), Prediger; 161 f. (Nov. 16), Verhaftung.

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zum Papst, Kaiser und Herzog gehen würde, um für diese Schmach Genugtuung zu erlangen. Es spricht für eine Intensivierung des öffentlichen Streits, dass wenig später ein Zettel mit Spottversen über die Unione und zur Verteidigung des Gefangenen an einer Säule befestigt wurde. Immerhin kam Grassetti auf Vermittlung einflussreicher Verwandter nach gut einer Woche wieder frei.58 Das Jahr 1541 endete mit weiteren Immobilienverkäufen durch die Vorsteher der Unione sowie mit Maßnahmen, die Tommasino als Benachteiligung nicht nur der bisherigen Insassen der Hospitäler, sondern auch der auf deren Besitzungen arbeitenden Pächter (mezzadri) einstuft. Im Januar 1542 waren die Umbauten in der CadÀ so weit gediehen, dass der erste Kranke einziehen konnte.59 Doch litt die Betreuung der Kinder unter einem wachsenden Mangel an Ammen, und dies war keine Unterstellung des Chronisten, sondern wird durch eine Eingabe des Unione-Visitators Guido de’ Guidoni an die Konservatoren bestätigt.60 Während die Klagen sich häuften, behielten die Opponenten ihr Ziel, die Hospitalreform rückgängig zu machen, im Auge. Sie setzten nun bei den entscheidenden Stellen an, beim Herzog und beim Bischof. Francesco Grassetti erwirkte tatsächlich am Ferrareser Hof eine Anordnung an Francesco Villa, den Gouverneur von Modena, der Bruderschaft della Morte angesichts ihrer wichtigen Aufgaben ihre Immobilien mit sämtlichen Einkünften zurückzuerstatten.61 Der Gouverneur sträubte sich nach Kräften, musste der Bruderschaft letztlich aber eine Sonderstellung einräumen. Unterdessen verhandelte Tommasino de’ Lancellotti mit dem Bischof, der sich seit 7. Mai 1542 in Modena aufhielt.62 Obwohl sein Vikar dem Projekt offiziell zugestimmt hatte, näherte sich der im Juni zum Kardinal erhobene Bischof zusehends den Gegnern an und verlangte am 14. Juli vom Gouverneur und der Leitungsgruppe, es so zu verändern, dass es keinen Anlass zu Klagen mehr biete und der Wille der früheren Stifter nicht

58 Lancellotti 7, S. 163 (1541 Nov. 19), Spottverse, wörtlich wiedergegeben; 165 (Nov. 24), Freilassung. 59 Lancellotti 7, S. 188 (1542 Jan. 5): »Zimignan di Sechia, infirmo e strupiato« (»Geminianus di Secchia, krank und verkrüppelt«) hatte vorher zehn Jahre im Hospital S. Maria Battutorum gelegen. Zu den neuen Abteilungen der CadÀ s. auch ebd., S. 236 (1542 Apr. 16), eine »infirmaria« für Syphilitiker, eine für andere Kranke, eine für Frauen. – Verkauf: ebd., S. 175 (1541 Dez. 9), 235 (1542 Apr. 15). – Schädigung der Insassen und der Armen: ebd., S. 183 (1541 Dez. 26), 255 (1542 Mai 20), 295 (1542 Juli 16). – Schlechte Behandlung und Entlassung von mezzadri: ebd., S. 104 (1541 Juli 25), 235 f. (1542 Apr. 15 – 16). 60 Lancellotti 7, S. 254 (1542 Mai 20). Vgl. ASCMo, Vacchetta 1542, f. 117r (Aug. 17). 61 Lancellotti 7, S. 259 f. (1542 Mai 30), 267; 286 – 288 (1542 Juli 4), Kopie von drei zwischen 19. Aug. 1541 u. 26. Mai 1542 datierten Briefen des Herzogs, die Tommasino vom Neffen Francesco Grassettis zum Eintrag in seine Chronik bekommen hat. 62 Lancellotti 7, S. 290 (1542 Juli 8). Zur Rückkehr Giovanni Morones s. Firpo, Inquisizione, S. 72.

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verletzt werde. Trotz seines cholerischen Naturells stimmte Villa am Ende einer Korrektur zu.63 Die gestärkte Position der Bruderschaft della Morte führte sofort zu Streit, der sich an der schon angedeuteten Frage entzündete, wer für ältere Verbindlichkeiten der vereinigten Hospitäler und Almosenstiftungen verantwortlich war. Francesco Grassetti hatte im Namen der Bruderschaft bei keinem Geringerem als dem Ferrareser Maler Dosso Dossi ein Tafelbild zum stolzen Preis von angeblich 800 Scudi in Auftrag gegeben, das der massaro der Unione, Geronimo Quattrofrati, nicht bezahlen wollte. Die Debatte vor den Konservatoren wurde später im Freien mit Fäusten fortgesetzt, weshalb Grassetti es vorzog, sich auf seine Ländereien zurückzuziehen, um einer eventuellen Bestrafung durch den Gouverneur zu entgehen. Tommasino führte das Problem einmal mehr auf Quattrofratis buchhalterische Ahnungslosigkeit zurück, schaltete dann aber Mittelsmänner ein, um zumindest die Schlägerei aus der Welt zu schaffen.64 Im August 1542 verlangte der Bischof von den Vertretern der Unione immer deutlicher eine Reform der Reform, während die (aus Tommasinos Sicht) skandalösen Verwaltungspraktiken weitergingen. Als Hauptverantwortlichen stellt der Chronist mehr und mehr Francesco Villa ins Zentrum: Die ganze Stadt fordere eine Eindämmung der exzessiven Kosten, Ehrenämter statt hoher Besoldung der Funktionäre – der Gouverneur gehe zum Herzog, um für die Unione zu werben, und drei Juristen, darunter Francesco Bellincini und Elia Carandini, sollten die Rechtmäßigkeit der bischöflichen Ansprüche prüfen.65 Wenig später reichte die Bruderschaft der CadÀ, S. Pietro Martire, offiziell Klage beim Bischof gegen ihre Enteignung durch die Unione ein. Damit war das Maß voll: Giovanni Morone publizierte am 11. September das Urteil seines bischöflichen Gerichts, nach dem die Hospitalunion wegen fehlender päpstlicher Zustimmung aufzulösen und alle Güter ihren vormaligen Eignern zu restituieren waren; zuwiderhandelnden Konservatoren oder Vorstehern drohte er mit einer Strafe von 1000 Dukaten und der Exkommunikation. In einem Brief an Herzog Ercole II. vom selben Tag erläuterte er seine Entscheidung.66 63 Lancellotti 7, S. 294 (1542 Juli 14): »s’ el ge ser— da coregere la se coreger—« (»wenn es da etwas zu korrigieren gibt, dann wird man es korrigieren«), so Villa am Ende seiner Unterredung mit dem Bischof. Weitere Quellen bei Santus, La nascita della Santa Unione, S. 96 Anm. 28. 64 Lancellotti 7, S. 314 f. (1542 Juli 24), 317 f.; der Preis wird später genannt (ebd., S. 366, 1542 Sept. 15). Ein Modeneser Schiedsgericht bewertet das Bild mit nur 30 Scudi erheblich niedriger (Soli, Chiese 2, S. 162). Der Gouverneur bezeugt die Schlägerei in einem Brief an den Herzog (Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 158 Anm. 222). 65 Lancellotti 7, S. 329 (1542 Aug. 2): Der Kardinal »vole refformare la union delli hospedali e opere pie di Modena«. Skandale: ebd., S. 337 f. (Aug. 14 – 15). Villa und die Juristen: ebd., S. 338 – 341 (Aug. 15, 19). 66 Klage der Bruderschaft S. Pietro Martire: Lancellotti 7, S. 348 (1542 Sept. 1). Aus dem

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Auf diesen Rückschlag – den laut Tommasino drei Viertel der Stadt und alle Armen begrüßten – reagierten Gouverneur und Kommunalführung zunächst mit Unwillen und Bestürzung, mussten jedoch, nachdem ihnen klar wurde, dass der erfahrene Diplomat Morone sich längst beim Herzog rückversichert hatte, fürs Erste klein beigeben. Auf längere Sicht konnten sie ihre Position gegenüber dem Bischof allerdings wieder stärken. Denn Morone war zwei Tage später schon auf dem Weg zum Papst, wo ihn der Auftrag, das Konzil von Trient zu eröffnen, erwartete. Es gelang den Befürwortern der Unione, diesen Streitpunkt mit der für Morone und die katholische Kirche erheblich bedeutenderen Frage des künftigen Umgangs mit den religiösen Dissidenten Modenas zu verbinden und dadurch Druck aufzubauen. Sie warfen ihr Einlenken bei der Unterzeichnung der Glaubensartikel und die Wiederberufung des religiös kompromittierten Griechischdozenten Francesco Porto in die Waagschale, um dem Bischof Zugeständnisse bei der Hospitalreform abzuringen. Dieser gestand zu, sein Urteil solange zu suspendieren, bis die Kommunalführung ihm eine für ihn akzeptable Statutenfassung zur Billigung vorlegen würde. Er gab den Konservatoren zu diesem Zweck eine Liste mit den Punkten, die er verändert haben wollte.67 Die neuen Statuten wurden sofort im September aufgesetzt, nochmals überarbeitet und schließlich im November vom Herzog bestätigt. Dies geschah in Modena, wo Ercole II. und Kardinal Morone zusammenkamen, als Letzterer auf dem Weg nach Trient war. Der Bischof unterzeichnete die Neufassung zwar nicht, weil immer noch die päpstliche Erlaubnis fehlte, scheint sie aber de facto akzeptiert zu haben und hatte ganz offensichtlich Wichtigeres zu tun, als sich weiter mit dieser Angelegenheit zu befassen. Der Urteilsspruch vom 11. September war damit praktisch aufgehoben, die Unione blieb bestehen. Ihre Vertreter hatten schon vorher auf gewohnte Weise agiert, der Gouverneur fand Gelegenheit, von Francesco Grassetti eine Kaution zur Sicherstellung künftigen Wohlverhaltens zu erzwingen. Immerhin hatten die Alteigentümer der Hospitäler etwas erreicht: Sie bekamen mehr Rechte im neuen Führungsgremium, und der Rechtsstatus der Vereinigung wurde zu Gunsten der inkorporierten Institutionen modifiziert. Das war aber nicht genug, um die Unione entscheidend zu schwächen.68 Archiv der Bruderschaft (Signatur bei Santus, La nascita della Santa Unione, S. 97 Anm. 31) ediert Gatti, L’Ospedale di Modena, S. 50 – 52, wenn auch fehlerhaft, eine Ausfertigung des bischöflichen Urteils. Tommasino resümiert den Text (Lancellotti 7, S. 361 f.) und ergreift die Gelegenheit zu einer Generalabrechnung mit der Hospitalreform. Anders als in der Literatur meist zu lesen, spricht das Urteil keine Exkommunikation aus, sondern droht sie nur an. – Aus dem Brief des Bischofs an den Herzog zitiert Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 160; s. unten, Anm. 124, 139. 67 Lancellotti 7, S. 363 – 365. Zu Morones Verhandlungen um die Unterzeichnung der 41 Glaubensartikel (Juni–August 1542) s. die oben, Anm. 18, genannte Literatur. 68 Lancellotti 7, S. 365 – 367 (1542 Sept. 13 – 16), 399 (Nov. 11, Herzog und Bischof in Mo-

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Wer waren die Befürworter und die Gegner der Hospitalreform? Es soll hier keine auch nur annähernd vollständige Prosopografie der Protagonisten im Streit um die Unione erarbeitet werden. Ziel des folgenden Abschnitts ist es, dem in der Forschung mehrfach geäußerten, jedoch unterschiedlich gewichteten Eindruck nachzugehen, dass zwischen der Modeneser Hospitalreform und der Affinität der lokalen Bildungselite zur reformatorischen Theologie ein Zusammenhang bestand.69 Dieser Eindruck ist nicht neu. Bereits die Zeitgenossen stellten eine solche Verbindung her, und zwar sowohl die Gegner als auch die Befürworter der Unione: Letztere, wie zu sehen war, aus taktischen Gründen in den Verhandlungen mit dem Bischof (etwa so: Wenn wir uns schon von der Häresie distanzieren sollen, wollen wir wenigstens die Hospitalreform); Erstere, weil sie eine innere Affinität zwischen Luthertum und Hospitalreform zu erkennen glaubten. So entnahm Tommasino de’ Lancellotti dem bischöflichen Urteil gegen die Unione die Begründung, dass diese Vereinigung ohne Zustimmung des apostolischen Stuhls gemacht worden war und auch ohne die des Bischofs, als er Legat in Deutschland war, wo es die häretischen Lutheraner gibt, welche diesen Weg der Vereinigung eingeschlagen haben, um die Einkünfte [der Hospitäler] an sich zu ziehen und sie auf ihre Weise auszugeben, so wie es die Fünf taten, die der genannten Unione vorstanden.70

Seine Schilderung der Arbeiten an der Neufassung der Unione-Statuten, die an den Bericht über die Unterzeichnung der Glaubensartikel durch die Mitglieder der Accademia und Honoratioren anschließt, mündet in einen seiner häufigen Ausblicke auf die nahe Zukunft: »Wir werden sehen, dass Christus mehr Macht hat als der Teufel und die ›Accademici‹.« Eine ähnliche Scheidung von Gut und Böse nimmt er noch an anderen Stellen vor, an denen die Aktionen der neuen Hospitalfunktionäre zu kritisieren sind; doch im Kontext der Statutendebatte von 1542 dient sie dazu, das Böse mit den Modeneser Glaubensdissidenten zu verknüpfen.71 Da in einer Situation religiöser Konflikte eine »Verteufelung« der dena). Der Griechischlehrer trat sein Amt ab 2. Oktober wieder an (ebd., S. 379). Am 13. Nov. wurde das erste neue, jetzt zehnköpfige Präsidium der Unione gewählt (Santus, La nascita della Santa Unione, S. 99). – Zur neuen Statutenfassung s. unten, Anm. 95 ff. – Zum ersten, 1543 gescheiterten Versuch, das Trienter Konzil im November 1542 zu eröffnen, s. Jedin, Geschichte 1, S. 356 – 392. 69 S. oben, Anm. 4. 70 Lancellotti 7, S. 361 (1542 Sept. 11): »e questo perchÀ tal unione se era fatta senza consentimento della sedia appostolica, et sua del detto vescovo, nel tempo che lui era legato alla parte d’ Allemagna dove À li luterani heretici, che sono andati a questa via de unione per tirare a si le intrate, e spenderle a suo modo come faceva cinque che erano sopra a ditta unione.« In der bischöflichen Urkunde (oben, Anm. 66) steht von dem Satz ab »dove« nichts. 71 Lancellotti 7, S. 365 (1542 Sept. 13): »starema a vedere che Cristo potr— pi¾ ch’ el diavolo e delli accademici.« Noch am 10. Oktober 1547 kommentiert Tommasino den Versuch eines massaro der Unione, das alte Hospitalgebäude von S. Maria Battutorum an Verwandte zu

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Gegner nahelag, können Tommasinos Vorwürfe nicht einfach übernommen werden. Aber völlig aus der Luft gegriffen scheint seine Diagnose nicht: Vergleicht man die von der Forschung zusammengetragenen Namen von Mitgliedern der Accademia und anderen religiösen Dissidenten mit jenen Personen, die die Hospitalreform unterstützten, so konstatiert man in der Tat eine Reihe von Übereinstimmungen. Unter den 44 Unterzeichnern der Glaubensartikel, die Bischof Giovanni Morone im Sommer 1542 in Modena vorlegte, waren gut 20 Accademici und andere Bürger, die sich der Häresie verdächtig gemacht hatten; zum Schutz dieser Dissidenten vor der Inquisition wurden ihre Namen mit denen von unbescholtenen Honoratioren und geistlichen Würdenträgern vermischt.72 Da bei weitem nicht alle der etwa 30 – 40 der Akademie verbundenen Persönlichkeiten die Unterschrift leisteten, ist der Kreis der ›Verdächtigen‹ in Wirklichkeit größer, als es die Namen unter den Glaubensartikeln dokumentieren. Von den gut 20 unterzeichneten Dissidenten waren sieben Kleriker (die Priester Giovanni Bertari OP und Girolamo Teggia, vier von Bonifacio Valentini angeführte Domkanoniker und der Prior des Modeneser Klosters S. Pietro, Pellegrino degli Erri73), die anderen waren Laien, die teils der Accademia angehörten, teils in politischen Ämtern nachzuweisen sind. Besonders exponiert waren die Familien Bellincini, Carandini, dal Forno, Grillenzoni, Tassoni und Valentini. Ein Viertel (elf) aller Unterzeichneten ist in denselben Jahren auch im Umfeld der Hospitalunion nachzuweisen. Als direktes Indiz für ein Interesse an der Unione werte ich die Zugehörigkeit einer Person zum Führungspersonal. Ein anderes, indirektes Indiz ist die Beteiligung an der Initiative einer Gruppe von hochgestellten Bürgern, die um 1540 die compagnia larga von S. Maria Battutorum neu formierten und eine Mitverantwortung für das Bruderschaftshospital durchsetzten – ein Schachzug, der, wie wir gesehen haben, die Bildung der Hospitalunion erleichtern sollte; auch unter diesen Bürgern waren mehrere Angehörige der Familien Carandini und Valentini sowie weitere Personen, die als häresieverdächtig angesehen werden können.74 verpachten, obwohl man es für die bedürftige Klientel brauchte, mit einer ähnlichen Prognose (ebd. 9, S. 176): »Am Ende wird man sehen, wer mehr vermag, Gott oder der Teufel (»Ala fin si veder— chi potr— pi¾ Dio o el Diavolo«). 72 S. die Namenliste bei Firpo, Inquisizione, S. 121 – 122. Lancellotti 7, S. 352 f., gibt zwar an, die Namen erhalten und 1547 in ein Heft (»compendio«) geschrieben zu haben, doch in seine Chronik trägt er sie nicht ein. 73 Zu den ersten drei hier genannten Klerikern s. Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 125 – 129, 240 – 244, 247 f.; Firpo, Inquisizione, S. 61 – 68; Al Kalak, Gli eretici, S. 19, 86 – 92, 121 f.; Al Kalak, L’eresia, S. 4, 6, 11. Zu Prior Pellegrino s. Lancellotti 7, S. 11, u. Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 149 (entwirft eine für die compagnia larga von S. Maria Battutorum günstige neue Bruderschafts-Satzung), sowie Firpo, Inquisizione, S. 122 Anm. 191. 74 Zur compagnia larga von S. Maria Battutorum s. oben, Anm. 29, zum Jahr 1540 – 1541

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Hier die wichtigsten Beispiele auf der Grundlage der Unterschriftenliste: Francesco Bellincini, Jurist, ist uns schon bekannt als einer der aktivsten Verfechter der Hospitalreform, für die sich außerdem seine Verwandten Agostino und Cesare Bellincini engagierten.75 Ein profilierter Repräsentant der Unione war auch der Jurist Elia Carandini, einer der Lieblingsfeinde des Chronisten Tommasino de’ Lancellotti.76 Ludovico dal Forno unterschrieb die Artikel in seiner Funktion als Conservatore, stand aber den Dissidenten nahe und gehörte zum Führungspersonal der Unione.77 Der Arzt Giovanni Grillenzoni, die Seele der Accademia,78 ist selbst nicht als Protagonist der Hospitalreform nachzuweisen, wohl aber gilt dies für zwei seiner ebenfalls zur Unterfertigung der Glaubensartikel gezwungenen Brüder, Bartolomeo und Francesco.79 Gian Bat-

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besonders Lancellotti 7, S. 8 – 11 (mit den Namen der Eintrittswilligen), 66 f., 77 f., 81, 190. Zu Francesco Bellincini s. oben, Anm. 38, 65. Unterschrift: Firpo, Inquisizione, S. 121 (s. auch Fontaine, Organizing charity, S. 120; ferner Al Kalak, L’eresia, S. 7). Leitung der Unione: ASCMo, Vacchetta 1541, f. 87v–88r, 90r, 99r, u. mehrfach in Lancellotti 7, S. 76, 82, 87, 89, 96, 304, 313, 340, 362, 365; ebd. 9, S. 327; Verfasser der Statuten von 1561, s. unten Anm. 114. – Agostino Bellincini: Unterschrift s. Firpo, Inquisizione, S. 121; Leitung der Unione: ASCMo, Vacchetta 1541, f. 97v. Auch der Dissident Cesare Bellincini (Al Kalak, L’eresia, S. 58, 82 f.) zählt zum Führungspersonal der Unione (ASCMo, Vacchetta 1541, f. 97v), unterschreibt aber die Artikel nicht (Firpo, Inquisizione, S. 123). Elia Carandini: Unterschrift s. Firpo, Inquisizione, S. 121 (s. auch Fontaine, Organizing charity, S. 120 f.). Im Zusammenhang mit der Unione nennt Tommasino ihn häufig (Lancellotti 7, S. 76, 81 f., 87, 89, 101, 313, 315, 340, 361, 365), ebenso als Mitglied der compagnia larga von S. Maria Battutorum (ebd., S. 81). S. außerdem ASCMo, Vacchetta 1541, f. 76r, 78v, 87v, 90r, 99r, 104r. – Weitere ›verdächtige‹ Familienmitglieder, die die Glaubensartikel aber nicht unterschreiben: Elias Bruder Bartolomeo Carandini, Arzt der Unione (Lancellotti 7, S. 361, 1542 Sept. 11; Firpo, Inquisizione, S. 123); Anna Carandini (Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 235; Al Kalak, L’eresia, S. 46 f.). Unterschrift: Firpo, Inquisizione, S. 122. Leitung der Unione: ASCMo, Vacchetta 1541, f. 90r, 98v, u. Lancellotti 7, S. 97, 165, 236, 294, 361. Mitglied der compagnia larga von S. Maria Battutorum ebd., S. 77. Ebd., S. 77, 81, erscheint auch Ludovicos Verwandter Teofilo (oder Teofano) dal Forno, einer der des Luthertums bezichtigten Domkanoniker (Firpo, Inquisizione, S. 121). Zu diesem auch für die Medizingeschichte bedeutenden Mann s. Di Pietro, La medicina, S. 12; Biondi, La cultura, S. 539 (zitiert ein literarisches Porträt Grillenzonis aus der Feder des Dichters, Lutheraners, Akademiemitglieds und Unterzeichners der Glaubensartikel Ludovico Castelvetro, zu ihm Peyronel Rambaldi, Castelvetro); Dall’Olio, Grillenzoni; Lavini/Saviano, La medicina, S. 106 f. Bartolomeo Grillenzoni: Unterschrift s. Firpo, Inquisizione, S. 121 (s. auch Al Kalak, L’eresia, S. XIII). Leitung der Unione: ASCMo, Vacchetta 1541, f. 90r, 97v, 98v. Er war auch Mitglied der Bruderschaft von S. Lazzaro, deren Nachlässigkeit vom Bischof kritisiert wurde (Lancellotti 4, S. 250, 1533 Apr. 2; vgl. oben, Anm. 24); dort engagierte sich freilich auch ein späterer Hauptgegner der Unione, Francesco Grassetti, aber ebenso ein späterer Befürworter wie Tommaso Cavallerini (zu ihm s. ebd., 7, S. 77, 81, 97, 150, 236, 294, u. ASCMo, Vacchetta 1541, f. 90r, 98v, 101r). – Francesco Grillenzoni: Unterschrift s. Firpo, Inquisizione, S. 121; Leitung der Unione: ASCMo, Vacchetta 1541, f. 97v ; Mitglied der compagnia larga von S. Maria Battutorum (Lancellotti 7, S. 80, 1541 Juli 5).

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tista Tassoni setzte seinen Namen als Conservatore unter die Glaubensartikel, war dem Bischof aber ebenfalls suspekt; auch er unterstützte die Hospitalreform, während sein Verwandter Antonio Tassoni bei der Instituierung der Unione am 18. Juli 1541 vorsichtige Kritik äußerte.80 Zum Führungspersonal der vereinigten Hospitäler gehörte auch Filippo Valentini, einer der besonders stark kompromittierten Dissidenten Modenas.81 Als Gegenprobe sei gefragt, welche der uns bekannten Repräsentanten der Hospitalunion nicht durch Affinitäten zur reformatorischen Theologie hervorgetreten sind. Legt man die gut hundert Namen aus dem Pool für das Führungspersonal der ersten Jahre zu Grunde, so stellt man fest, dass die große Mehrheit dieser Männer religiös unauffällig war. Diese Feststellung ist allerdings nicht allzu aussagekräftig, denn die Wahrscheinlichkeit, über die religiösen Ansichten einer größeren Menge von Individuen, über die die Quellen generell nicht sehr viel sagen, überhaupt etwas zu erfahren, ist nicht sonderlich hoch. Signifikanter ist die Beobachtung, dass auch unter den wichtigen Fürsprechern und Aktivisten der Hospitalreform Persönlichkeiten waren, die nie in den Ruch gekommen sind, Sympathisanten der Reformation zu sein. Das gilt für den Domkanoniker Guido de’ Guidoni, Hauptförderer der Unione, ebenso wie für deren ersten massaro Geronimo Quattrofrati oder für die effizienteste politische Stütze der Hospitalreform, den Gouverneur Francesco Villa. Und der bischöfliche Vikar Gian Domenico Sigibaldi, der bei der offiziellen Gründung der Unione ausdrücklich sein Placet gab, hatte gewiss kein Verständnis für die Protestanten. Umgekehrt ist von profilierten Dissidenten wie zum Beispiel dem Literaten Ludovico Castelvetro oder dem namhaften Arzt und Anatom Gabriele Falloppia82 nicht bekannt, dass sie für die Hospitalreform aktiv wurden. Dieser widersprüchliche Befund wird noch dadurch kompliziert, dass die Haltung einzelner Personen83 zur Hospitalreform nicht eindeutig festzulegen ist und

80 Gian Battista Tassoni: Unterschrift s. Firpo, Inquisizione, S. 122; Leitung der Unione: ASCMo, Vacchetta 1541, f. 98r; ferner Lancellotti 7, S. 365 (1542 Sept. 13); Al Kalak, L’eresia, S. 239. – Antonio Tassoni: in eines der Leitungsgremien der Unione gewählt, aber auch Gegenrede am 18. Juli 1541 (ASCMo, Vacchetta 1541, f. 97v, 101v ; vgl. oben, Text nach Anm. 44: fordert Vorstände mit zehn statt fünf Personen); Lancellotti 7, S. 96. 81 Unterschrift: Firpo, Inquisizione, S. 122; zu Filippo auch ebd., passim (Register s. v.), Fontaine, Organizing charity, S. 120, Biondi, Tommasino, S. 54, u. Biondi, La cultura, S. 533; Al Kalak, L’eresia, S. 5; Felici, Valentini. Leitung der Unione: ASCMo, Vacchetta 1541, f. 87v, 90r, 99r; Lancellotti 7, S. 76, 77 (Mitglied der compagnia larga von S. Maria Battutorum), 82, 87, 96, 313. – Zu seinem Onkel Bonifacio Valentini s. oben, Anm. 73. Zu beiden auch Al Kalak, L’eresia, passim (Register s. v.). 82 Zu Ludovico Castelvetro s. oben, Anm. 78; zu Gabriele Falloppia s. Di Pietro, La medicina, S. 13; Lavini/Saviano, La medicina, S. 102 – 106. 83 Zum Beispiel Antonio Tassoni, oben Anm. 80.

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nicht alle Angehörigen ein und derselben Familie eine einheitliche Position einnahmen.84 Blicken wir – als weitere Gegenprobe – zu den erklärten Gegnern der Unione. Wir kennen einige von ihnen vor allem aus der Chronik von Tommasino de’ Lancellotti. Neben dem Chronisten selbst war der mutigste Opponent der Arzt Francesco Grassetti.85 Hin und wieder begegnen weitere Mitglieder der von der Zusammenlegung betroffenen Bruderschaften, zum Beispiel die Vertreter der compagnia stretta von S. Maria Battutorum, Iohannes Baptista Capitebovis (Codebý) und Iohannes Bartolomasinis, die zusammen mit den Abgesandten der Bruderschaft S. Pietro Martire, Iohannes Baptista Mulpius (oder Malpio) und Ludovicus Prignanus, den Konservatoren am 4. Juli 1541 ein eigenes Konzept für eine weniger traumatische Hospitalreform ankündigten.86 Auch sie gehörten wenigstens zum Teil (vor allem die Codebý, aber auch die Grassetti und Lancellotti) zu den führenden Familien der Stadt. Einzelnen von ihnen kamen die Promotoren der Hospitalreform entgegen, indem sie sie von vornherein in die neue Führungsmannschaft einbanden.87 Zumindest die besser dokumentierten von ihnen sind bisher nicht als Freunde des neuen Glaubens bekannt geworden. Im Gegenteil, legt man Tommasinos Äußerungen zu den religiösen Fragen seiner Zeit zu Grunde, kann man ihn als entschiedenen Gegner von Luthers Reformation bezeichnen: Respekt vor den Rechten und Privilegien der Kirche und ihren Riten, Glauben an die Heilsnotwendigkeit der guten Werke, Zuständigkeit des Klerus für die Lehre und die Armenfürsorge, aber auch Kritik am mangelhaften Engagement vieler Kleriker für diese Aufgaben und an übertriebener, geheuchelter Frömmelei – das sind die Hauptmerkmale von Tommasinos religiösem Weltbild. Im Übrigen pflegte der zum Ritter geadelte Apotheker, Notar und Kaufmann eine herzliche Abneigung gegen Intellektuelle und besonders gegen Juristen (wie Francesco Bellincini oder Elia Carandini), die er im Verdacht hatte, sämtliche Schaltstellen in der Stadt an sich reißen zu wollen.88 Bringt man alle diese Beobachtungen zusammen, wird man das in Modena 84 Es wäre daher unstatthaft, Belege für Vertreter bestimmter Familien unter den Dissidenten, etwa der Adelsfamilien Molza und Rangoni (Firpo, Inquisizione, S. 61 – 66, 123; Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 235, 240, 247), mit der Präsenz anderer Mitglieder derselben Familien im Umkreis der Unione kurzzuschließen. 85 Zu ihm s. oben, Anm. 43 f., 57 f., 61, 64, 68, 79, u. unten, Anm. 178. 86 Zu dieser Eingabe s. ASCMo, Vacchetta 1541, f. 93v–94r. Zu den beiden Repräsentanten von S. Maria Battutorum s. auch Lancellotti 7, S. 77, 82, 120, 348, zu denen von S. Pietro Martire ebd., S. 78, 82, 348. 87 Gian Battista Codebý, der auch später noch gegen die Unione vorging, war in der Liste der supernumerarii: ASCMo, Vacchetta 1541, f. 98r (Juli 11). 88 Biondi, Tommasino, mit vielen Belegen aus der Chronik. Zu Tommasinos Kritik an heuchlerischem Frommtun s. z. B. Lancellotti 4, S. 434 (1538 Feb. 25); ebd. 7, S. 88 f., 99, 107 (1541 Juli 11 – 26), zu Guido de’ Guidoni und anderen Befürwortern der Unione.

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Die »Union der Hospitäler und frommen Stiftungen« von Modena

rege Interesse an der reformatorischen Theologie nicht als Hauptmovens der Hospitalreform, sondern lediglich als phasenweise wirksamen Katalysator bewerten. Zwar ist eine gewisse Häufung von Überschneidungen zwischen den Befürwortern der Unione und Dissidentenkreisen durchaus erkennbar, aber die Gegenbeispiele, Widersprüche und weißen Flecken sind so zahlreich, dass diese Häufung nicht als eindeutige Stoßrichtung gedeutet werden kann. Der Antrieb für die Initiierung und Durchsetzung der Reform ist daher weniger in der religiösen als in der soziopolitischen Sphäre zu vermuten. Zwar gab es, soziologisch gesehen, viele Berührungen zwischen den Gegnern und den Anhängern, aber mit ihrer Basis in den Bruderschaften und Zünften gehörten Erstere insgesamt zu einer weniger vermögenden Schicht als die vielfach aus dem inneren Zirkel der kommunalen Macht hervorgehenden und mit dem Herzogshof verbundenen Promotoren der Unione. Diese verfolgten ihr Projekt auch dann weiter, als die religiöse Frage in Modena offiziell geklärt war : als die in der Accademia aktiven Dissidenten zwischen 1542 und den 1560er Jahren nach und nach verstummten oder emigrieren mussten und der harte Kern der nur noch versteckt agierenden Reformationsanhänger sich in das Handwerker- und Kaufmannsmilieu verlagert hatte.89 Somit war die Modeneser Reform eher eine Fortbildung der italienischen Hospitalreformen des 15. Jahrhunderts als ein Echo der evangelischen Deutung der Armen- und Krankenfürsorge.

4.

Das normative Gerüst der Unione

In den ersten Jahren der Hospitalunion wurde eine dichte Serie von Statuten entworfen, verabschiedet, korrigiert und wieder in Kraft gesetzt. Von einigen dieser Redaktionen war schon die Rede. Sie sollen hier noch einmal im Zusammenhang durchgesehen werden, damit ihr Zeugniswert für die Debatte um die Reform noch klarer hervortritt. Die im August 1537 von den Konservatoren getroffene Entscheidung, drei Statutare mit der Redaktion eines Normengerüsts zu beauftragen, hat keine direkten Textspuren hinterlassen. Die ersten erhaltenen Satzungen stammen vom Sommer 1541: Das sind die beiden rivalisierenden Vorschläge, deren einer in aller Eile von den Bruderschaften ausgearbeitet wurde, während der andere auf die in der Zwischenzeit erneuerte, aber teils personengleiche Gruppe der Statutare zurückgeht und, wie schon oben vermutet wurde, weitgehend auf der Basis des ersten Entwurfs von 1537 verfasst worden sein dürfte.90 Der Haupt89 Zu den protestantischen »Fratelli« von Modena s. die oben, Anm. 1 u. 19, genannten Arbeiten sowie zusammenfassend Al Kalak, Fratelli modenesi. 90 Zum Inhalt dieser konkurrierenden Satzungen von 1537/1541 s. oben, Anm. 43, 45 – 47. Vgl.

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Das normative Gerüst der Unione

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gegensatz zwischen dem Bruderschaftsentwurf und der offiziellen Ordnung liegt – von der größeren Länge und Detailliertheit dieser letzteren abgesehen – in der unterschiedlichen Rekrutierung des Vorstands der Hospitalunion; den potenziellen Nutzen einer Reform bestritten auch die Bruderschaften zumindest nach außen hin nicht grundsätzlich. Die in 29 (oder 30) Kapitel einteilbare offizielle Satzung von 1541 ist in zwei Abschriften überliefert, die nicht ganz identisch sind.91 Die in die Vacchetta von 1542 eingetragene Kopie unterscheidet sich an einzelnen Stellen von jener, die Tommasino zur Verfügung hatte (aber vielleicht hat er selbst – oder die Editoren? – eingegriffen). Diese Abweichungen betreffen meist kleinere Richtigstellungen,92 und in der Regel hat die Chronik (bzw. deren Edition) einen besseren Text. Von inhaltlichem Interesse ist eine Passage in dem Kapitel, das die Aufgaben der beiden Visitatoren beschreibt. Nach der Abschrift in der Vacchetta sollen die Visitatoren die in Modena tätigen Prediger dahingehend beeinflussen, dass diese dem Volk die Nützlichkeit der Unione klarmachen und es abbringen von anderen Wegen, die nicht so sicher sind, [um] die Vergebung der Sünden und ein günstiges Urteil am Gerichtstag durch jenen Glauben zu erlangen, den man Gottvater durch seinen Sohn und unseren Herrn Christus Jesus entgegenbringt.93

Tommasino ließ diese Erläuterung der »anderen Wege« fort: Entweder er besaß eine Vorlage, in der die Passage noch fehlte, oder er strich die Formulierung, weil sie ihm nicht geheuer war ; sie ist zwar auf den ersten Blick für Katholiken theologisch unbedenklich, aber scheint gerade durch ihr Insistieren auf die Heilsgarantie durch gute Werke, die gleichzeitig jedoch durch den Glauben überboten werden, insgeheim auf lutherische Themen zu antworten. Träfe die zweite Hypothese zu, dann würde sie den Befund stützen, dass Tommasino das ganze Reformunternehmen mit dem neuen Glauben in Verbindung brachte. Die Statutenfassung von 1541 blieb auch dann Grundlage der Unione, als im Herbst 1542 auf Anordnung des Bischofs von Modena eine Umarbeitung notwendig wurde. Von dieser neuen Fassung sind zwei Textstufen erhalten: ein mit Korrekturen versehener Entwurf, der undatiert ist, aber wahrscheinlich kurz

ferner die Resümees bei Grana, Per la storia, S. 13 f., sowie zu den späteren Redaktionen ebd., S. 18 f. (1542), S. 25 – 28 (1561) u. S. 29 (1603). 91 S. oben, Anm. 38. 92 Zum Beispiel lässt Tommasino einen durch den Kopisten der Vacchetta versehentlich wiederholten Halbsatz aus: ASCMo, Vacchetta 1542, f. 77r (gegen Ende); Lancellotti 7, S. 308 Kap. 11. 93 ASCMo, Vacchetta 1542, f. 79v : »et rimoverlo dall’altre vie non cos‡ certe [per] impetrare la remissione de peccati et la sententia favorevole nel die del giudicio per quella fede che s’ha in dio padre per lo suo figliolo et signore nostro Christo Gies¾«. Bei Lancellotti 7, S. 312 Kap. 28, fehlt das Satzende ab »non cos‡ certe«.

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Die »Union der Hospitäler und frommen Stiftungen« von Modena

nach dem 13. September 1542 hergestellt wurde,94 und eine definitive, von Herzog Ercole II. bestätigte Fassung vom November 1542.95 Obwohl die Lage sich durch die Intervention des Bischofs verkompliziert hatte, ist die Neufassung nicht länger, sondern eher kürzer geworden: Sie kommt mit 26, jetzt explizit gezählten Kapiteln aus. Da mehrere vorher nicht berücksichtigte Sachverhalte eingebaut werden mussten, wurden zum Ausgleich die in der Redaktion von 1541 teilweise lang geratenen Ämterbeschreibungen gestrafft. Es seien als erstes (1) die wesentlichen Neuerungen im Vergleich zur älteren Redaktion resümiert und danach (2) die Differenzen zwischen den verschiedenen Stufen und Überlieferungen der Redaktion von 1542 herausgearbeitet. (1) Gleich das erste Kapitel der Neufassung stellt die Hospitalunion auf eine andere Rechtsgrundlage. Die Unione ist nun nicht mehr die bis dahin intendierte dauerhafte Vereinigung der betroffenen Institutionen als ganzer, einschließlich allen Eigentums und sämtlicher Rechte, sondern nur noch eine widerrufbare Zusammenlegung der Einkünfte derselben Institutionen, die damit formal unabhängig bleiben. Diese Lösung war eine Idee des Gouverneurs Francesco Villa, der sie im August 1542 in einem Brief an den Herzog angedeutet hatte.96 Er wollte damit verhindern, dass eventuelle religiöse Pflichten, die auf den älteren wohltätigen Einrichtungen lasteten, der Kirche einen Vorwand böten, Ansprüche auf die Kontrolle der Unione zu erheben. Zugleich aber ließ sich so das von den Gegnern immer wieder vorgebrachte Argument umgehen, die Inkorporation dieser Stiftungen in ein neues Rechtssubjekt verstoße gegen den Willen der Stifter.

94 ASCMo, Ex actis 1542, s. n., s. d. (erstes Dokument in einer Mappe mit dem Titel »Carte senza data« am Ende des Aktenbündels). Dieser Text wurde von Santus, La nascita della Santa Unione, benutzt (s. dort S. 98 Anm. 33). Nach Lancellotti 7, S. 329 u. 364 (1542 Aug. 2, Sept. 13) hatte der Bischof den Konservatoren zuvor seine Forderungen in Form von »capitoli« übermittelt. 95 Mehrere Überlieferungen: Reinschrift in ASCMo, Vacchetta 1542, f. 162v–167v (Nov. 13); weitere Abschrift in einem kleinen Statuten-Codex der Unione in ASCMo, Camera segreta, Parte IV, XI 11, f. 1r–6v (Blattzählung im 2. Quaternio); gedruckt 1575 in Gride ducali, S. 95 – 104. Ediert von Di Pietro, L’Ospedale di Modena, S. 137 – 142 Doc. V (nach dem genannten Codex, weitgehend identisch mit dem Text in der Vacchetta 1542, f. 162v–167v), im Folgenden danach zitiert. Den Schlussabsatz aus der Vacchetta 1542, f. 167v (s. unten, Anm. 109), nimmt Tommasino zum 16. September 1547 in seine Chronik auf (Lancellotti 9, S. 155 f.). 96 Di Pietro, L’ospedale di Modena, S. 137 Kap. 1: »che la presente unione sia e se intenda d’essere di frutti solamente de gli hospitali et altri luochi pij« (»dass diese Vereinigung lediglich eine der Einkünfte der Hospitäler und anderen frommen Stiftungen ist und sein soll«). Aus Villas Brief an den Herzog (1542 Aug. 2) zitiert Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 159 Anm. 225: »lasciare separate le proprietadi e unire li frutti« (»die Eigentumsrechte getrennt lassen und die Einkünfte vereinen«).

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Auf einem anderen Punkt insistiert das neue erste Kapitel besonders: Die von der Kommune zu erteilende Erlaubnis zur Zusammenlegung der Einkünfte ist ipso facto hinfällig, sobald ein Laie oder Geistlicher bei einem kirchlichen oder weltlichen Oberen um deren Leitung suppliziert (»impetrare«): Mit dem auch von Tommasino häufig verwendeten Terminus technicus »impetrare« ist jeglicher Versuch gemeint, den Vorsitz über die Unione als Pfründe auf Lebenszeit zu erwerben. Hier wird ein Verpfründungsverbot in die Statuten geschrieben, dessen Übertretung nicht nur die automatische Auflösung des Objekts der Verpfründung, sondern auch die Bestrafung des Initiators nach sich zöge. Geändert wird auch die Zusammensetzung des Führungsgremiums. Die Conservatori wählen nun nicht mehr nur fünf, sondern zehn presidenti, deren soziale Zusammensetzung ebenfalls statutarisch festgelegt wird: ein promovierter Jurist, ein Advokat (»procuratore«), ein Notar, ein Kaufmann, der das Amt des massaro übernimmt, zwei Mitglieder der Modeneser Bruderschaften, ein Mitglied der Schmiedezunft (nämlich deren Vorstand, ebenfalls massaro tituliert) und drei weitere Bürger (die sich aus den drei Gruppen der Handwerker, Kaufleute und Adligen rekrutieren sollten). Hinzu kommt ein vom bischöflichen Vikar und dem Domkapitel zu bestimmender Kanoniker.97 Das Jahresgehalt des massaro wird von früher 200 auf 120 lib. reduziert, die anderen presidenti sollen ihren Dienst um Gottes Lohn versehen. Dass die früher externe Funktionsstelle des Advokaten jetzt im Führungsgremium verankert ist, trägt zur weiteren Senkung der Kosten bei.98 Die Beschreibung der aufzunehmenden Insassen wird um ein Kapitel ergänzt, nach dem bedürftige Angehörige der in die Unione inkorporierten Bruderschaften und Zünfte eine Vorzugsstellung genießen sollen.99 Weitere neue Aspekte betreffen: die Erhaltung und Nutzung der nicht mehr benötigten alten Hospitalgebäude, die nicht an Privatleute vermietet werden durften; eine sparsamere Bereitstellung von Mitgiften; eine Subvention von jährlich 50 lib. für einen Konvent armer Reuerinnen; sowie eine Generalklausel, die unter Verweis auf die Clementine Quia contingit die Aufsichtsrechte des Ortsbischofs anerkennt. Am Ende wird ein unnummeriertes Kapitel angefügt, das die presidenti verpflichtet, der Compagnia della Morte jährlich so viel Geld auszubezahlen, dass sie ihren Bedarf decken kann.100 97 Di Pietro, L’ospedale di Modena, S. 137 Kap. 2 u. 4. In der Praxis waren es später zehn presidenti unter Einschluss des Kanonikers: so die Liste in Lancellotti 9, S. 327 f. (1548 Juni 15). 98 Di Pietro, L’ospedale di Modena, S. 138 Kap. 6 – 7, S. 139 Kap. 10. 99 Di Pietro, L’ospedale di Modena, S. 141 Kap. 19. In diesem neu formulierten kurzen Kapitel wird das Rechtsverhältnis der Einzelhospitäler zur Unione trotz der Änderungen in Kap. 1 mit dem Terminus »incorporate« bezeichnet. 100 Di Pietro, L’ospedale di Modena, S. 141 Kap. 20, Gebäude; 21, Mitgiften: vorerst jährlich

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Die »Union der Hospitäler und frommen Stiftungen« von Modena

Zumindest auf der Ebene der Normen hatten der Bischof und die Gegner der Reform etwas erreicht: Hinsichtlich der Rechtsnatur des Projekts war ein Kompromiss gefunden, die von Tommasino de’ Lancellotti als zu hoch kritisierten Lohnkosten waren vermindert, die Funktion des massaro einem Fachmann vorbehalten worden; die Bruderschaften und Zünfte hatten immerhin drei Sitze in dem (wie von ihnen 1541 gewünscht) auf zehn Mitglieder erweiterten Präsidium erhalten, ihre Mitglieder wurden als Klienten der neuen Institution bevorzugt, ihre alten Gebäude schienen vor dem Abriss oder Verfall bewahrt, die Bruderschaft della Morte hatte ihr Auskommen gesichert und der Bischof konnte sein generelles Kontrollrecht durchsetzen. Eine andere Frage ist, wie sich diese im Herbst 1542 auf dem Papier demonstrierte Kompromissbereitschaft in der Praxis bewähren würde. Dass auch dieser neue Text zumindest an einer Stelle101 die Unione als Ergebnis einer Inkorporation bezeichnet und damit seiner eigenen Behauptung, bloß die Koordination der Einkünfte unabhängiger Institutionen regeln zu wollen, en passant widerspricht, ist ein Indiz für eine gewisse Diskrepanz zwischen Papier und Praxis. (2) Weiteren Aufschluss über die Absichten der Statutare geben die kleinen Unterschiede zwischen dem ersten, im September 1542 redigierten Entwurf der Neufassung und ihrem (vorläufig) endgültigen Wortlaut. Denn zu manchen der oben konstatierten Veränderungen gelangte man erst nach und nach. Der von drei Händen geschriebene Entwurf weist eine Reihe von Interlinear- und Randkorrekturen auf, die alle in die Endfassung vom November 1542 eingearbeitet wurden. Darüber hinaus nahmen die Redakteure der Endfassung in einem letzten Durchgang weitere Änderungen vor, die am Entwurfstext noch nicht diskutiert worden waren, jedenfalls dort keine schriftlichen Spuren hinterlassen haben.102 Diese Korrekturen und letzten Änderungen sollen zum einen eine Verdichtung der Kontrolle durch die übergeordneten Gewalten, Herzog und Bischof, bewirken: So werden die ursprünglich aufgezählten präzisen Strafandrohungen gegen die Initiatoren einer Verpfründung (Enteignung, Entzug des Bürgerrechts, Verbannung) durch eine Bestrafung im Ermessen des Herzogs ersetzt; der Kanoniker im Präsidium ist nicht mehr wie die anderen presidenti vor den Konservatoren, sondern vor dem bischöflichen Vikar zu vereidigen; eine Veräußerung von Immobilien muss nicht nur von Conservatori und Aggiunti, sondern im Falle einer (nicht näher definierten) »cosa episcopale« auch vom Bischof oder fünfzehn — 25 lib. (s. unten, Anm. 105 f.); 22, »convertite« (s. unten, Anm. 172); 25, Bischof; S. 142, Compagnia della Morte. 101 S. oben, Anm. 99. 102 Das Folgende basiert auf einem Vergleich der oben, Anm. 94 f. genannten Überlieferungen (außer dem Druck in den Gride ducali, S. 95 – 104, der inhaltlich nichts Neues bietet). Einzelstellen werden nur exemplarisch nachgewiesen.

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Papst abgesegnet werden; Änderungen an der Satzung bedürfen der Zustimmung des Herzogs und des Bischofs.103 Zum anderen wird an prozeduralen Fragen gefeilt, insbesondere an der Wahl des Führungsgremiums. Ergänzende Präzisierungen in Kapitel 2 und 3 stellen sicher, dass das Amt des massaro (auch wenn ein Ersatzmann bestellt werden muss) ausschließlich von einem Kaufmann oder Bankier ausgeübt werden kann, Kapitel 5 erhöht die für die Ernennung der untergeordneten Funktionen notwendige Stimmenzahl im Präsidium von der absoluten auf die Zweidrittelmehrheit. Um den Bruderschaften klar zu machen, dass ihnen keinesfalls weitere Stimmen zustehen, fügen die Autoren der Endfassung in Kapitel 2 das Partizip »confraternite unite« ein: Wenn nicht fünf oder sechs Einzelbruderschaften betroffen sind, sondern nur eine (fiktive) Großbruderschaft müssen zwei Sitze wohl genügen. In Kapitel 24 schließlich verkürzen sie die im Entwurf noch unbefristete Beauftragung der Visitatoren104 auf eine jährliche Amtsdauer. Ein weiteres Gebiet, in das die Endfassung modifizierend eingreift, ist der Umgang mit den bedürftigen Klienten. Kapitel 18 präzisiert, dass die nicht mehr als eine Nacht aufzunehmenden gesunden Fremden arm sein müssen (ein Wort, das im Entwurf vielleicht nur vergessen worden war); der Vorschlag, den armen Reuerinnen nicht nur mit Geld, sondern auch mit einem wöchentlichen Arbeitstag (also Verwaltungshilfe?) beizustehen, wird in Kapitel 22 schon im Entwurf nachträglich gestrichen. Vor allem aber soll die Ausgabe von Mitgiften an arme Mädchen nicht aus dem Ruder laufen, denn man hat offenbar erkannt, dass die Mittel für diese kostspielige Subvention knapp werden könnten. In den Statuten von 1541 war man damit noch großzügiger verfahren: Wenn zwei Klienten, nämlich ehemalige Findelkinder, der Unione heirateten und die Frau ohne Nachkommen starb, verzichtete man auf die Rückforderung der Mitgift, während man sich bei den nach außen vergebenen Mitgiften im Falle eines kinderlosen Todes der Frau mit der Hälfte des Betrags begnügen wollte.105 Im Entwurf vom September 1542 bleibt es bei der Regelung für die internen Ehen (Kapitel 16), während das Minimum der externen Mitgiften vorerst auf fünfzehn pro Jahr (— 25 lib.) abgesenkt wird (Kapitel 21); von einer eventuellen Teil103 Endfassung hier nach Di Pietro, L’Ospedale di Modena, S. 137 Kap. 1 u. 5, S. 138 Kap. 8, S. 142 Kap. 26. Vgl. den Entwurf in ASCMo, Ex Actis 1542, f. 1r, 2r, 3r, 8r : dort in Kap. 1 Streichung der Strafandrohungen; in Kap. 5 fehlt der Satz zur Vereidigung des Kanonikers, in Kap. 8 sind die letzten beiden Zeilen (bischöfliche oder päpstliche Erlaubnis) u. in Kap. 26 der Schlusssatz (künftige Änderungen) nachgetragen. Das im Entwurf (Kap. 8) zunächst vermerkte Recht des massaro, außergewöhnliche Ausgaben bis 40 sol. selbständig und ohne die presidenti zu zeichnen, wurde wieder gestrichen. 104 Den von Tommasino übersprungenen Passus zur Propagierung der Unione durch die Visitatoren (s. oben, Anm. 93) übernehmen alle Fassungen von 1542 in Kap. 24 wörtlich aus der Satzung von 1541. 105 Lancellotti 7, S. 311 u. 313 Kap. 21 u. 29.

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Die »Union der Hospitäler und frommen Stiftungen« von Modena

rückgabe ist keine Rede mehr, was nur heißen kann, dass jetzt der kommunale Standard gelten soll, und dieser sieht normalerweise eine vollständige Rückgabe vor. In der definitiven Fassung wird die Reduktion auf fünfzehn Mitgiften beibehalten, doch die Vorschrift für die internen Eheleute verschärft: Auch sie haben, falls beim Tod der Frau kinderlos, von nun an die Mitgift vollständig zurückzuzahlen.106 Neben solchen bewussten Änderungen weist die Fassung vom November 1542 auch Kopierfehler auf, die danach weitergeschleppt werden.107 Im Übrigen unterscheiden sich die vorhandenen Textzeugen durch ihre Schlusspassagen. Die wahrscheinlich für das Archiv der Unione bestimmte Abschrift und die Druckfassung von 1575 enden mit dem Bestätigungsschreiben des Herzogs vom 9. November 1542.108 Die Reinschrift im kommunalen Versammlungsprotokoll verweist zwar auf das Original des herzoglichen Briefes, verzichtet aber auf eine Abschrift. Stattdessen folgt auf das letzte inhaltliche Kapitel eine Notiz des Kanzlers, nach der die Konservatoren nach Verlesung des Textes die Leitung der Unione wählten und zu diesem Zweck über viele Namen von Doctores, Advokaten und anderen Bürgern abstimmten (gemeint ist hier die Aufstellung einer Liste von 10 x 10 Namen für die Vorstände der kommenden zehn Jahre). Im Gegensatz zu ihrem Vorgehen von 1541 wollten es die Konservatoren dieses Mal aber vermeiden, die Namen in die Vacchetta zu schreiben, »um die leer ausgegangenen Bürger nicht in ihrer Ehre zu kränken«.109 Dies ist ein Indiz dafür, dass die Kommunalführung trotz der veränderten Rechtslage nicht gewillt war, sich die Kontrolle über die Auswahl des leitenden Personals der Hospitalunion aus der Hand nehmen zu lassen. Die neue Redaktion der Satzung, die nur vom Herzog, nicht aber vom Bischof und auch nicht vom Papst bestätigt wurde, war noch lange nicht das letzte Wort.

106 Di Pietro, L’Ospedale di Modena, S. 140 Kap. 16, S. 141 Kap. 21. Vgl. den Entwurf in ASCMo, Ex actis 1542, f. 6r–v, 7r–v. 107 Falsche Platzierung eines Nachtrags in Kap. 3, sinnentstellende Auslassung von sieben Wörtern in Kap. 13. Am Ende von Kap. 9 (Amtsbeschreibung der Hospitalpriester, von denen einer auch die Kinder lesen lehren soll) heißt es ursprünglich (und so schon in Kap. 10 der Statuten von 1541, s. Lancellotti 7, S. 307): Der Unterricht soll beginnen, »sobald die Kinder alt genug sein werden« (»come prima sarano in et—«). Die Kopisten der Endfassung (ASCMo, Vacchetta 1542, f. 164v, u. Di Pietro, L’Ospedale di Modena, S. 138 Kap. 9) machen daraus »come prima servavino messa« (mühsam übersetzbar als »sobald sie bei der Messe dienen«). 108 ASCMo, Camera segreta, Parte IV, XI 11, f. 6v (2. Quaternio); Gride ducali, S. 104 (der Brief dürfte der Hauptgrund für den Abdruck der Statuten in dieser Sammlung sein). 109 ASCMo, Vacchetta 1542, f. 167v : »quos [cives] noluerunt ipsi domini conservatores hic describi pro minori honore aliorum civium qui non obtinu(eru)nt …« Genau diese Notiz (und den Verweis auf die herzogliche Bestätigung) zitiert Tommasino (Lancellotti 9, S. 155 f.), allerdings liest er (oder eher sein Editor) »pro maiori honore«.

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Das normative Gerüst der Unione

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Drei Jahre später wurde sie durch Einzelbestimmungen ergänzt110 und 1547 im Rahmen einer neuen Ausgabe der Stadtstatuten zum Druck gebracht.111 Diese Edition, in der die Statuten der Unione als integraler Bestandteil der kommunalen Statuten behandelt werden, bietet eine sprachlich überarbeitete, wenn auch bei weitem nicht fehlerfreie Version des Textes vom November 1542. Auch hier wurde der Brief des Herzogs weggelassen, dafür aber eine neue (lateinische) Zusatzbestimmung angehängt, die die Zusammensetzung des Präsidiums veränderte.112 Ähnlich wie es auch bei den Conservatori gehandhabt wurde, sollten künftig die beiden führenden Mitglieder, massaro und procuratore, nach Ablauf ihres Amtsjahrs noch ein weiteres Jahr als Beisitzer fungieren. Gewiss konnte so die Kontinuität besser gewahrt werden, aber da die beiden zwar kein Gehalt, aber volles Stimmrecht erhielten, verschoben sich die Kräfteverhältnisse zu Ungunsten der anderen Interessengruppen, insbesondere der Bruderschaften und Zünfte. Auf die weitere Statutengebung, in der sich ein nie versiegender Korrekturbedarf reflektiert, sei hier nur kursorisch verwiesen. Weitere Einzelbestimmungen sind aus den Jahren 1559, 1569 und 1573 überliefert; sie betreffen diverse Themen, mehrfach die Ausgabe einer Tinktur aus Guajakholz für die Syphilistherapie, die zu teuer wurde, aber auch das Problem der Mitgiften und die Bewirtschaftung der Ländereien.113 Unterdessen wurde 1561 eine neue Satzung ausgearbeitet: Sie ist überschrieben mit »Ordini et statuti della santa unione de gli hospedali, et de gli altri luoghi pij della citt— di Modona, riformati, et ampliati« und weist statt den 26 relativ kurzen nur noch dreizehn, dafür längere Kapitel auf; gezeichnet ist sie von Francesco Bellincini, dessen Engagement für die Unione sich somit als besonders langlebig erweist.114 Diese reformierte Ordnung einer 1542 schon einmal reformierten Reform geht von den Verpflichtungen der nun als »heilig« apostrophierten Unione gegenüber ihren kranken und bedürftigen Klienten aus und kommt erst danach auf die Amtsträger zu sprechen, deren Gehälter jetzt wieder gestiegen sind. In hierarchischer 110 Ein Randeintrag in ASCMo, Vacchetta 1542, f. 162v, weist auf neue Bestimmungen von 1545 hin; die entsprechende Vacchetta habe ich nicht überprüfen können. 111 Libri quinque, f. 42r–45r (nach der neuen Blattzählung). Die (italienischen) Statuten der Unione sind Teil von Buch I (De officiis) der (lateinischen) Stadtstatuten und bilden dort das Kap. XCV. 112 Libri quinque, f. 45r. 113 Überliefert in ASCMo, Camera segreta, Parte IV, XI 11, f. 40r–45v (1. Lage; die Blattnummerierung in diesem Codex ist uneinheitlich). Teilweise gedruckt in Gride ducali, S. 124 – 127. Teiledition bei Di Pietro, L’Ospedale di Modena, S. 145 f. Doc. X. 114 Überliefert in ASCMo, Camera segreta, Parte IV, XI 11, f. 7v–20v (2. u. 3. Quaternio; nach einer parallelen Seitennummerierung: p. 14 – 40). Gedruckt in Gride ducali, S. 105 – 124, dort S. 128 ein Bestätigungsbrief von Herzog Alfons II. vom 17. Juni 1561, der einzige Datierungshinweis für diese Statutenredaktion.

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Die »Union der Hospitäler und frommen Stiftungen« von Modena

Ordnung, angefangen von der Rolle der Conservatori, werden die schon bekannten leitenden Ämter und innerhalb von deren jeweiligem Kompetenzbereich auch die untergeordneten Funktionen detailliert beschrieben. Das Präsidium ist auf sieben Personen verkleinert, wird aber ergänzt um die zwei aus dem Vorjahr bestätigten Amtsträger und einen Kanoniker ; den Bruderschaften bleibt nur noch ein einziger Sitz.115 Einige Jahre später, 1578, wurde das Amt des massaro völlig umgebaut: Statt eines bis zu drei Jahre fungierenden Amtsträgers sollten sich nun in einem Jahr sechs massaro-Paare monatlich abwechseln.116 Ein weiterer statutarischer Text, der 1603 erlassen wurde, ersetzt die Ordnungen des 16. Jahrhunderts nicht, denn er konzentriert sich in 30 kurzen Kapiteln ausschließlich auf die Verwaltung des Landbesitzes und den Umgang mit den Pächtern.117 Die Arbeit am Normengerüst der Unione legt die neuralgischen Themen offen: Rechtsstatus, Kontrolle durch die weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten, Zugang zu den leitenden Ämtern, Verteilung der Ressourcen zwischen bedürftigen Nutzern, Funktionären und Bediensteten, Erwirtschaftung dieser Ressourcen. Unter dem Druck von Rechtsargumenten, denen sie sich nicht verweigern konnten (Eingriff in den Willen der Stifter, Fehlen einer päpstlichen Bestätigung, Rechte der Alteigentümer, Verpründungsverbot und Aufsichtsrechte des Bischofs nach Quia contingit), sahen die Initiatoren der Reform sich zu Kompromissen gezwungen, wie aus dem Vergleich zwischen den Redaktionen von 1541 und 1542 sehr deutlich wird. Am offiziell deklarierten Hauptziel, die Wohltätigkeit durch Zentralisierung rationaler und kostengünstiger zu organisieren und die Empfänger von Unterstützungsleistungen strenger auszuwählen, änderte sich durch die nun besser abgesicherte Legalität der Unione nichts. Allerdings liefert schon die statutarische Feinarbeit vom Herbst 1542 Indizien dafür, dass die Reformer auch an ihren anderen Zielen festhielten: Stärkung der laikalen Vorherrschaft gegenüber den kirchlichen Kontrollrechten, Verdrängung der bisherigen Eigentümer aus den Hospitälern und ›Gentrifizierung‹ des Führungsgremiums. Da die Bischöfe Giovanni Morone und Egidio Foscarari anderes zu tun hatten, als um ihre 1542 behaupteten Aufsichtsrechte zu kämpfen, wurden in der Praxis, wie die Statutenänderungen bis 1561 zeigen, gerade die letzteren Ziele nach und nach mit Erfolg umgesetzt.

115 Davon handelt das 2. Kap. dieser Satzung (Gride ducali, S. 109 f.). 116 ASCMo, Camera segreta, Parte IV, XI 11, f. 26r–27v (1. Lage). Teiledition bei Di Pietro, L’Ospedale di Modena, S. 145 Doc. VIII. 117 Capitoli della Santa Unione (1603).

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Die Argumentation der Gegner und der Befürworter der Reform

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Die Argumentation der Gegner und der Befürworter der Reform

Inhaltliche Argumente der Gegner Vor allem im siebten Band der Edition von Tommasinos Chronik, der die Jahre 1541 – 1542 umfasst, häufen sich die Berichte und Bemerkungen über die Unione.118 Wir verfügen mit diesem historiografischen Text über ein ziemlich vollständiges Panorama antireformistischer Argumente, das aus den offiziellen Dokumenten noch ergänzt werden kann. Dass Tommasino anfangs ein Verfechter der Reform gewesen sei, der sich erst im Lauf der Diskussionen 1541 zum Gegner gewandelt habe, ist ein Missverständnis der älteren Forschung.119 Liest man ihn genau, dann erkennt man schon in seinen frühesten Äußerungen Skepsis, und wo er ein gewisses Verständnis für das Projekt demonstriert, geschieht dies aus diplomatischer Vorsicht und nur unter der Voraussetzung, dass es ›richtig‹ organisiert wird, nämlich indem die bisherigen Eigentümer der Fürsorgeeinrichtungen gebührend einbezogen werden. Was hingegen die Befürworter der Reform betrifft, sind wir weniger gut informiert; deren Äußerungen und handgreifliche Aktionen werden zwar vom Chronisten immer wieder dargestellt, doch ist seine Schilderung offensichtlich parteiisch. Einige von ihm unabhängige Zeugnisse gibt es jedoch auch für die Seite der Reform: Neben den offiziellen Beschlüssen und den Statuten sind das insbesondere die Briefe des Gouverneurs Francesco Villa an den Herzog. Nach inhaltlichen Gesichtspunkten können die Argumente gegen die Hospitalreform zu vier (aufeinander bezogenen) Sätzen verdichtet werden:

(1)

Die Unione verstößt gegen positive Rechtsnormen und Verträge

Gemeint sind hier zunächst (a) die Privilegien und Eigentumsrechte der Bruderschaften und Zünfte, welche Eigentümer der Hospitäler und frommen Stiftungen waren. In zweiter Linie (b) bezieht sich der Vorwurf auf Verpflichtungen der inkorporierten Institutionen gegenüber Dritten, wie Verträge mit Pächtern oder Verbindlichkeiten, deren Erfüllung nach der Gründung der Unione gefährdet war. Vor allem aber wurde kritisiert, dass die Reform mindestens vier kirchenrechtliche Normen verletzte: (c) die Aufsichtsrechte des Bischofs; (d) das Gebot, den Willen der Stifter der alten Hospitäler und opere pie zu wahren, der 118 Die Bände 8 – 12 (1543 – 1554) zeigen, dass die Unione Tommasino bis zum Tod beschäftigte, aber nicht mehr mit derselben Intensität wie in den Jahren 1541 – 1542. 119 Diese Deutung geht auf Tiraboschi, Notizie, S. 45, u. Malmusi, Notizie istoriche, S. 139 ff., zurück und findet sich noch bei Di Pietro, Sulla santa unione, S. 221.

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Die »Union der Hospitäler und frommen Stiftungen« von Modena

nach ziemlich einhelliger Auffassung der Kanonisten nur vom Papst abgeändert werden durfte; (e) das Verbot, die Leitung von Hospitälern fachlich und charakterlich ungeeigneten Personen anzuvertrauen und die Leitungsämter zu verpfründen; (f) das Verbot, Güter von frommen Stiftungen ihrem Zweck zu entfremden oder zu veruntreuen. Für alle diese Gesichtspunkte bieten die Chronik und andere Quellen viel Belegmaterial, das zum Teil schon genannt wurde und hier nur punktuell zu ergänzen ist. Über herzogliche und päpstliche Privilegien (a), die ihre Rechtsstellung eigentlich hätten unanfechtbar machen sollen, verfügten die Bruderschaften; sie benutzten sie (oder beschafften sogar neue) sowohl während der Auseinandersetzungen im Jahr 1541 als auch bereits im Vorfeld der Instituierung der Unione. Ihre Missachtung durch die Reformer war der Hauptgrund dafür, dass die Gegner die gesamte Initiative als »iniuria et iniustitia« ablehnten und damit auch bei vielen Gehör fanden.120 Nachdem die neue Führung ihre Arbeit aufgenommen hatte, häuften sich Vorwürfe (b), sie halte schriftliche Verträge und stillschweigende Abmachungen nicht ein. Ein Beispiel ist der Streit um die Bezahlung des von der Compagnia della Morte bei Dosso Dossi bestellten Tafelbilds, ein anderes die Entrüstung Tommasinos, wenn er vom unfairen Umgang mit langjährigen Pächtern und anderem Dienstpersonal berichtet; auch die Entlassung von armen Insassen aus den zu räumenden Alt-Hospitälern galt ihm als Verstoß gegen das Herkommen.121 Sogar gegen ihr eigenes Statutarrecht verstoße die Unione, so die Kritik des Chronisten, als sich ein massaro 1547 mit dem Plan durchsetzte, eines der Hospitalgebäude an einen Verwandten zu verpachten.122 Die am häufigsten bemühten – und für die Reformer gefährlichsten – Rechtsargumente waren kanonistischer Art. Missachtung der kirchlichen Aufsichtsrechte (c) war ein vielfältig begründbarer und daher schwer zu entkräftender Vorwurf. Vor allem auf ihn stützte Bischof Giovanni Morone am 11. September 1542 sein Urteil gegen die Unione. Um die bischöflichen Rechte herzuleiten, konnte man sich auf die Clementine Quia contingit beziehen oder auf die traditionellen Befugnisse des Diözesans als Vaters der Armen; oder man definierte die fraglichen Institutionen als solche, die der kirchlichen und nicht der weltlichen Sphäre angehörten, etwa indem man ihre religiösen Funktionen 120 Zu den Privilegien s. oben, Anm. 26, 28, 34, 61. Weitere Erwähnungen der Privilegien: Lancellotti 7, S. 77, 81 f., 86 f. (1541 Juni 28 – Juli 8), 290 (1542 Juli 8). Den Vorwurf der »iniuria et iniustitia« erhoben die Bruderschaften bei ihrem Protest vor den Konservatoren am 4. Juli 1541(ASCMo, Vacchetta 1541, f. 94r ; zu dieser Eingabe s. oben Anm. 40). 121 Tafelbild: oben, Anm. 64. Zur Behandlung von Pächtern und Dienstpersonal, zu den Räumungen und Armen s. oben, Anm. 55, 59, ferner Lancellotti 7, S. 183 (1541 Dez. 26) u. die knappe Notiz bei Todesco, Annali, S. 82 (1545 Apr. 8). 122 Lancellotti 9, S. 175 – 177, 182 (1547 Okt. 8 – 20).

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Die Argumentation der Gegner und der Befürworter der Reform

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in den Vordergrund rückte. Der Bischof zitierte Quia contingit nicht, sondern verlegte sich auf allgemeinere Argumente: Die Hospitäler seien »ohne den Papst zu fragen«, »zum Schaden unserer […] bischöflichen Jurisdiktion« und »ohne Rücksicht auf das von Rechts wegen Einzuhaltende« inkorporiert worden, weshalb er diese dreiste Aktion kraft seiner »ordentlichen Amtsgewalt« für ungültig erkläre.123 In einem Brief vom selben Tag an den Herzog hob er unter anderem hervor, dass die Reform die bischöfliche Autorität ausschließe, »als ob diese Einrichtungen nicht kirchlich, sondern rein laikal und profan wären«.124 Morone desavouierte damit stillschweigend seinen Vikar, der der Gründung der Unione im Namen des Bischofs öffentlich zugestimmt hatte. Dass er die Auseinandersetzung auf diese allgemeine Ebene zog, spricht dafür, dass er wusste, sie letztlich nur durch einen politischen Kompromiss mit der weltlichen, also herzoglichen Gewalt lösen zu können. In der Tat zeigte sich bald nach der Publikation des Urteils, dass er sich mit relativ bescheidenen Gesten des Einlenkens begnügte. Stattdessen auf seinem Recht zu bestehen, hätte erfordert, in eine Diskussion über die verwickelte rechtliche Stellung der Bruderschaften, Zünfte, ihrer Hospitäler und der anderen Stiftungen einzutreten, was mit Sicherheit zu nichts geführt hätte. Auf der anderen Seite ist bezeichnend, dass die Reformer sich in ihrer im Herbst 1542 erarbeiteten neuen Statutenredaktion bewusst nicht auf eine solche Grundsatzdiskussion einließen, vielmehr die dem Bischof eingeräumten Zugeständnisse an konkrete Normen banden: Diese betreffen die Präsenz eines Kanonikers im Führungsgremium, die Zustimmung bei Veräußerungen, die eine »cosa episcopale« involvierten, ein generelles Aufsichtsrecht, das sie jedoch mit Quia contingit begründeten, sowie die Mitsprache des Bischofs bei Statutenänderungen.125 Wenn die Forschung ohne weiteres Bedenken annimmt,126 vor ihrer Verei123 Gatti, L’Ospedale di Modena, S. 51: »inconsulto R[omano] pontifice«, »in Episcopalis jurisdictionis nostrae et nostrorum in Episcopatu successorum prejudicium«, »non servatis de iure servandis«, »ex nostro mero officio o[r]dinariae potestatis«. Tommasino verweist in seinem Bericht über das Urteil nur kurz auf die fehlende päpstliche und bischöfliche Zustimmung: Lancellotti 7, S. 361 (s. oben, Anm. 70). 124 Zitiert von Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 160 (»come se tali luoghi non fussero ecclesiastici ma meramente laici e profani«). Nach der ironischen Aussage Tommasinos (Lancellotti 7, S. 94, 1541 Juli 15) hatten die Reformer eigentlich gehofft, durch die Gewinnung des bischöflichen Vikars ihrer Initiative die Aura des Kirchlichen zu verleihen: »e se la causa fusse profana [i Conservatori] hano deliberato in tutto e per tutto metterla in grembo alla Giesia, acciý che la doventa ecclesiastica« (»auch wenn die Sache profan wäre, haben sie beschlossen, sie voll und ganz in den Schoß der Kirche zu legen, damit sie kirchlich wird«). Diese Taktik ließ ihnen der Bischof nicht durchgehen. 125 S. oben, Anm. 97, 100, 103. Die vage Formulierung »cosa episcopale« zeigt, dass man damit rechnete, dass in den von der Unione vereinten Institutionen auch kirchliche Rechte ruhten. 126 Grana, Per una storia, S. 13; Grana, L’azione della chiesa, S. 28; Santus, Sulla nascita della Santa Unione, S. 92.

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nigung unter kommunaler Ägide seien die Modeneser Fürsorgeeinrichtungen kirchlichen Rechts gewesen, so verkennt sie die Probleme. Nicht nur war diese Rechtsnatur umstritten (wie schon die Argumentation des Bischofs oder die ironische Bemerkung Tommasinos beweist), sie war vor allem nicht homogen. Ohne dass dies im Einzelnen noch rekonstruierbar wäre, lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit behaupten, dass die Rechtsstellung zum Beispiel eines Zunfthospitals von einem Juristen des 15.–16. Jahrhunderts ganz anders beurteilt wurde als die einer bischöflichen Armenstiftung – und doch gingen beide in die Hospitalunion ein. Im Übrigen versicherte Francesco Grassetti als Sprecher der Compagnia della morte in der Ratssitzung, in der die Unione instituiert wurde, seinen Zuhörern, er könne zumindest für das Hospital seiner Bruderschaft den Nachweis führen, dass es sich nicht um ein »opus pium« handele.127 Grassetti war zwar nicht Jurist, sondern Arzt, aber er wird gewusst haben, dass das Etikett »opus pium« die rechtliche Abhängigkeit einer Institution von der kirchlichen Obrigkeit implizierte. Das Fehlen der päpstlichen Zustimmung wurde nicht nur deshalb ins Feld geführt, weil sie die bischöfliche Zustimmung ersetzt hätte, sondern auch aus einem spezielleren Grund. Es war communis opinio der Kirchenrechtler, dass nur der Papst berechtigt war, den von einem Stifter gewünschten Zweck einer frommen Stiftung nachträglich zu verändern. Bischof Giovanni wies in seiner Sentenz auch darauf eigens hin. Damit griff er ein wohlbekanntes kanonistisches Argument (d) auf, das von den Gegnern der Unione von Anfang an bemüht worden war. Tommasino kommt nicht nur in seiner Chronik mehrfach darauf zurück,128 sondern konfrontierte schon 1538 die Konservatoren mit folgender Überlegung: »Die Stifter haben die Hospitäler getrennt und nicht vereinigt gegründet, daher sollten die Herren Konservatoren aufpassen, dass sie sich nicht dem Stifterwillen entgegenstellen.«129 Dieses Argument, das uns bei der Untersuchung der Hospitalreformen schon oft begegnet ist, ließ sich gegen fast jede Veränderung am Status quo in die 127 ASCMo, Vacchetta 1541, f. 101v (Juli 18): »dixit quod quamvis ipse posset allegare quod dictum suum hospitale non sit opus pium, nihilominus ipse nomine societatis offert omnia dicti hospitalis communitati …« (»… trotzdem bietet er im Namen der Bruderschaft der Kommune alles [Gut] des genannten Hospitals an …«). Zur Problematik der Rechtsstellung von Fürsorgeeinrichtungen s. oben, Anm. 28, 30. 128 Lancellotti 4, S. 444 (1535 Jan. 9), im Zusammenhang mit einer Veräußerung durch die Opera del Priatto. Ebd. 7, S. 150 (1541 Okt. 24), Predigt gegen die Unione (s. oben, Anm. 57); S. 175 (1541 Dez. 9), wieder zur Opera del Priatto; S. 294 (1542 Juli 14), der Gouverneur konzediert dem Bischof, man wolle »non guastare la volont— delli testatori«; S. 348 (1542 Sept. 1), die Bruderschaft von der CadÀ will gegen die Usurpation der Absichten ihres Stifters vor dem Bischof klagen. 129 ASCMo, Vacchetta 1538, f. 139v (Okt. 7): »ipse voluit recordari ipsis dominis conservatoribus quod qui fundarunt e[t] fundare voluerunt dicta hospitalia ea fundarunt separata et non unita et quod advertant quod non contraveniant voluntatibus fundatorum.«

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Waagschale werfen. Es ließ sich aber weiter zuspitzen, zum Beispiel mittels der von Quia contingit fixierten Normen zur Besetzung der Leitungsfunktionen (e): Zu behaupten, dass Fehlentwicklungen auf diesem Gebiet auch den Stifterwillen verfälschten, lag ja nahe. Die Zweifel an der Eignung der von den Reformern ins Spiel gebrachten Amtsträger sind ein Kernthema der Gegner, wie noch zu zeigen sein wird (unten Punkt 4). Ein anderer Teilaspekt dieses Arguments ist der Hinweis auf die Gefahr, dass eine Großinstitution wie die Unione den Wunsch wecken könnte, ihren Vorsitz in eine Pfründe auf Lebenszeit zu verwandeln, was die Dekretale verboten hatte. Für Tommasino war die Aussicht, dass die Hospitäler auf Dauer in die Hände einer nur durch Beziehungen erfolgreichen, fachlich und moralisch jedoch ungeeigneten Person gelangen könnten, geradezu eine Obsession.130 In seinem langen Kommentar zur Rolle Guidos de’ Guidoni bei der Gründung der Unione begründet der Chronist den Widerstand der Bruderschaften hauptsächlich so: sobald die Vereinigung vollzogen sein wird, werden die Kätzchen die Augen öffnen, und mancher, der bis dahin nicht auf die Idee gekommen wäre, wird daran denken, darum zu supplizieren oder dort einen Prior einzusetzen, ähnlich wie es im Hospital S. Anna in Ferrara ist, nach dem was ich von zuverlässigen Personen gehört habe, und im Hospital von Florenz und Siena und auch im Hospital S. Spirito in Rom; diese Prioren nehmen von den Einkünften für sich, was sie wollen, und den Rest verteilen sie, wenn sie wollen und an wen sie meinen.131

Dieses Argument zog. Dass jemand auf dem Rücken der Armen eine Dauerstelle »impetrare« könnte, das musste verhindert werden. Darüber bestand unter allen Beteiligten, sogar unter den Initiatoren der Reform, zumindest nach außen Einigkeit: Deshalb verwenden die im Herbst 1542 umformulierten Statuten einen Teil ihres einleitenden Kapitels darauf, Gegenmaßnahmen zu versprechen.132 Wie die von Tommasino angeführten schlechten Beispiele zeigen, ist dieses Argument eng mit einem weiteren kirchenrechtlich (zuletzt von Quia contingit) sanktionierten Tatbestand verbunden (f), dem Verbot, Güter wohltätiger Einrichtungen ihrem Zweck zu entfremden oder zum persönlichen Vorteil zu veruntreuen. Dieser Gesichtspunkt scheint hinter dem wiederholt erhobenen Vorwurf durch, die Unione verschwende, zum Beispiel durch überhöhte Gehalts130 So bereits in Lancellotti 5, S. 326 (1537 Aug. 17), beim ersten offiziellen Protest der Bruderschaften vor den Konservatoren (vgl. oben, Anm. 34). 131 Lancellotti 7, S. 89 f. (1541 Juli 11): »[le compagnie] dicono che unita che la ser—, el ser— aperto li occhi ali gatelli, e tal pensar— all’ impetrazione, che non ge pensava, overo farge uno priore come À al hospitale de Santa Anna a Ferrara, secondo ho inteso da persone daben e al hospitale di Fiorenza e di Sena, etiam all’ hospitale de Santo Spirito in Roma, li quali priori toleno per lori la intrata che voleno e lo resto dispensano se voleno, e a chi ge pare e piace.« S. ferner ebd., S. 341 (1542 Aug. 19): Die Unione sei »pericolosa de essere impetrata«. 132 S. oben, Text nach Anm. 96.

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zahlungen, Geld und veräußere zu Unrecht die Güter der inkorporierten Hospitäler. Dass auch dieser Einwand, wohl auf Druck des Bischofs, ernst genommen werden musste, zeigen die entsprechenden Korrekturen in den Statuten vom Herbst 1542: Sie senken die Gehälter und setzen höhere rechtliche Hürden für die Veräußerung von Gütern.133 Allerdings wird er von Tommasino nie explizit kirchenrechtlich, sondern eher sachlich begründet (mehr dazu unten, Punkt 3). (2)

Die Unione verstößt gegen übergeordnete Normen und Werte

Welche Normen hier gemeint sind, wird nach allem, was aus der spätmittelalterlichen Diskussion um Hospitalreformen bekannt ist, wenig überraschen. Man kann sie dem göttlichen oder Proto-Naturrecht zuordnen, das in Teilaspekten zwar bereits ins kanonische Recht eingeflossen (bzw. vom römischen Recht vorgegeben) ist, aber die Sätze des positiven Kirchen- und römischen Rechts mit der Aura von Wertbegriffen wie iustitia, ratio oder auch caritas überwölbt. Tommasino de’ Lancellotti rekurriert in seiner Reformkritik auf diese und andere Begriffe aus der außerjuridischen Sphäre und kontrastiert sie gerne mit ihren Gegenbegriffen. Eine Anforderung, die jeder Hospitalverwalter erfüllen muss, ist der korrekte Umgang mit den ihm anvertrauten Schutzbefohlenen. Diese religiös begründete Norm kann unter dem Namen hospitalitas, misericordia oder caritas verhandelt werden; Tommasino bevorzugt »carit—«, und wenn er schildert, wie sich die Leitung der Unione gegenüber den Insassen und Pächtern der alten Hospitäler verhielt, dann attestiert er ihr das Fehlen von »carit—«. Typisch eine Passage, in der er sich über die Entlassung aller Pächter durch den massaro Geronimo Quattrofrati entrüstet: Aber Gott, der ein gerechter Richter ist, möge seinen [des massaro] bösen Willen bestrafen, wenn er denn böse sein wird, und gebe den armen Pächtern die Gnade der Geduld und eine gute Zukunft, denn die genannte Unione wurde nicht aus Eifer für Gerechtigkeit und Nächstenliebe geschaffen, sondern vielmehr aus Eifer für Hochmut und Ungerechtigkeit.134

Alles verläuft, wie er kurz nach der zitierten Passage schreibt, genau umgekehrt, als es von Rechts wegen sein müsste. Und wenn die Reformer einmal etwas 133 S. oben, Anm. 98. 134 Lancellotti 7, S. 236 (1542 Apr. 17): »ma Dio che À iusto iudice impunisca la sua mala volont—, se mala sar— e daga gratia de pacientia alli poveri mezadri, e dagage bona ventura, perch¦ detta unione non À stata fatta per zelo de iustitia, e carit—, ma s‡ per zelo de superbia, e de iniquit—.« Ironische Definition als »opera della carit—« eines profitorientierten (statt armenfreundlichen) Getreideverkaufs aus Beständen der Opera del Priatto ebd., S. 295 (1542 Juli 16). Zum Vorwurf der »iniustitia« s. auch oben, Anm. 120.

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Frommes oder Gutes zu unternehmen scheinen, dann ist dies Heuchelei (»ipocresia«), eine Diagnose, die der Chronist allen seiner Meinung nach frömmelnden Zeitgenossen, insbesondere aber den Förderern der Unione ausstellt.135 Außerdem missbrauchen sie ihre politische Macht, um die Gegner einzuschüchtern und in Schande zu bringen: An der Verhaftung des Francesco Grassetti moniert Tommasino nicht nur das dem Gefangenen zugefügte Unrecht, sondern mehr noch die Tatsache, dass einem so angesehenen Bürger mit einer Festungshaft eine schwer wieder gutzumachende Ehrverletzung angetan worden sei.136 Hinzu kommt ein Verdacht, der – wäre er konsequent verfolgt und erhärtet worden – die Reformer unrettbar ins Abseits verbannt hätte: die Unterstellung, sie betrieben ihre Reform unter dem Einfluss evangelischer Lehren. Obwohl diese Anschuldigung, wie wir gesehen haben, nicht völlig aus der Luft gegriffen, wenn auch nicht eindeutig zutreffend war, beabsichtigte Bischof Giovanni Morone aus übergeordneten Erwägungen nicht, in seine religionspolitischen Verhandlungen auch noch die Debatte um die Unione hineinzuziehen. Bei Tommasino wird der Häresie-Vorwurf nur angedeutet und bleibt eher vage. Er hätte sich entschlossener darauf berufen können, doch da auch ihm daran gelegen war, den religiösen Frieden in der Stadt zu retten, da vielen Reformern in dieser Hinsicht nichts vorzuwerfen und sein persönliches Urteil über manche Glaubensdissidenten durchaus offen war, musste er davor zurückschrecken, ein so schweres Geschütz auf die Unione zu richten. Vorsicht schien ihm auch deshalb geboten, weil er sich der Funktion seiner Chronik als eines öffentlich wahrgenommenen und öffentlich wirksamen Informationsmediums jederzeit bewusst war.137 Zentrale Klage bleibt daher die der Unione angelastete Verschlechterung für die armen Klienten der früheren Hospitäler. Auf dieser Linie liegen viele der von Tommasino festgehaltenen Episoden. Sei es, dass den Armen nicht mehr die gewohnten Almosen ausbezahlt wurden, sei es, dass bei den Räumungen und Verlegungen in die CadÀ nicht mehr alle bisherigen Insassen berücksichtigt wurden, sei es, dass die finanziellen Kapazitäten für die Findelkinder nicht mehr ausreichten und wegen fehlender Ammen nur wenige Kleinkinder überlebten, sei es, dass ein akut Erkrankter ohne Beistand starb, weil die CadÀ ihn nicht 135 S. oben, Anm. 88, inbesondere Lancellotti 7, S. 99, 107 (1541 Juli 19, 26). 136 S. oben, Anm. 57 f. Hier einige in diesem Zusammenhang gebrauchte Ausdrücke aus dem Wortfeld ›Ehre/Schande‹ (Lancellotti 7, S. 161 f.): »vituperiosamente« (schmählich), »scorno« (Schande), »trattato da uno furfanto« (als Schuft behandelt), »recuperare lo honore« (die Ehre wiederherstellen), »vituperarlo« (ihm eine Schmach antun). 137 S. oben, Anm. 70 f. Tommasinos von Sympathie zeugender Bericht über den Fall des häresieverdächtigen Giovanni Bertari: Lancellotti 7, S. 27 – 30, 171 f. Zur kommunikativen Funktion der Chronik unten, Anm. 175 ff.

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rechtzeitig aufnahm: Für Tommasino reißt die Kette der Unzulänglichkeiten nicht ab.138 Ohne Einzelbelege, aber kaum weniger streng resümiert auch Giovanni Morone in seinem Brief an den Herzog vom 11. September 1542 seine Meinung zu der von der Unione gebotenen Armen- und Krankenfürsorge: Sie sei »schädlich für die Armen« und bewirke das Gegenteil von dem, was sie zu leisten behaupte, nämlich »dem Lob Gottes, dem Nutzen der Armen und der Zier dieses Staatswesens zu dienen«.139 Kurz, was ihr Verhältnis zu übergeordneten, außerjuridischen Normen und Werten betraf, versagte die neue Organisationsform in den Augen ihrer Gegner bei der Erfüllung ihrer Hauptaufgabe, der durch »carit—« motivierten Unterstützung möglichst vieler Bedürftiger. Sie wurde dem über jeder positiven Rechtsordnung stehenden Erfordernis christlicher Barmherzigkeit nicht gerecht. (3)

Die Unione funktioniert in der Praxis schlecht

Auch wenn man von der normativen zur praktischen Perspektive wechselt, wird man bei Tommasino fündig, der mit einer Fülle von Sach- und Opportunitätsargumenten aufwartet: Schon zu Beginn der Auseinandersetzungen, 1537, wiesen die Bruderschaften die Conservatori darauf hin, dass es keinen Sinn habe, die alten Hospitäler und ihre Insassen zusammenzulegen, wenn man nicht vorher ein neues Zentralgebäude errichtet habe. Außerdem sei es (doch über dieses Argument wird in sehr verschiedenen Zusammenhängen bis heute gestritten) unlogisch, wohlhabende mit schlecht ausgestatteten Institutionen unter einem Dach zu verklammern.140 Ein anderes Problem, das der alte Kaufmann Tommasino stets im Auge hat, ist die Buchhaltung. Die Verwalter der Unione, so sein Protest vor den Konservatoren, beherrschen diese Technik nicht. An die Notwendigkeit ordentlicher Buchführung erinnert er auch dann, wenn er die zu hohen Kosten der Reform anprangert. Dieses letztere Monitum ist sein wahrscheinlich häufigster Kritikpunkt: Die Kosten laufen aus dem Ruder, vor allem

138 S. oben, Anm. 59. Findelkinder : oben, Anm. 60, u. Lancellotti 7, S. 338 (1542 Aug. 15); ebd. 8, S. 143 (1546 Feb. 20). Vermeidbarer Tod eines kranken Soldaten: ebd. 7, S. 255 (1542 Mai 20). 139 Zitiert in Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 160: »dannosa a’ poveri«, »a laude de Dio, a beneficio de’ poveri et decoro de questa repubblica«. 140 Protest der Bruderschaften am 17. August 1537, s. oben, Anm. 34. Diese Sachargumente nur bei Lancellotti 5, S. 326, nicht im Eintrag in ASCMo, Vacchetta 1537, f. 105v–106r. Das Raumproblem wird immer dann virulent, wenn Tommasino von Verlegungen, Baumaßnahmen in der CadÀ oder der Umnutzung der alten Gebäude spricht. Es ist auch eine der Forderungen, die die Bruderschaften in ihrem eigenen Statutenentwurf vom Juli 1541 erheben (oben, Anm. 43).

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deswegen, weil die neuen Herren sich schöne Gehälter reserviert haben, statt aus Gottesliebe zu dienen, und zudem noch ihre Verwandten versorgen.141 Die Folgen: Die Leitung muss einerseits harte Einsparungen vornehmen, die stets zu Lasten der armen Insassen oder der Pächter und des Dienstpersonals gehen, und muss andererseits Ländereien und Häuser verkaufen. Eine weitere Folge: Im Gegensatz zu ihren Vorgängereinrichtungen, die gut verwaltet worden seien, finde die Unione immer weniger Resonanz bei jenen Modeneser Bürgern, die ihr durch eine Stiftung etwas zuwenden könnten.142 Dieser Teufelskreis bedeutet: Das Projekt ist nicht finanzierbar. Das Thema Finanzen führt direkt auf die normative Ebene zurück, nämlich auf das kanonische Veräußerungsverbot und das Verbot der Veruntreuung (vgl. oben Punkt 1 f). Deshalb gaben sich die Reformer in diesem Punkt kompromissbereit, wie die entsprechenden Zugeständniss in den Statuten vom Herbst 1542 zeigen.143 Das Finanzproblem ist zudem mit einem letzten Kreis von Argumenten verknüpft, der Rekrutierung des leitenden Personals.

(4)

Die Auswahl des Führungspersonals verhindert die angestrebte Professionalisierung des Hospitalbetriebs

Auch dieses auf den ersten Blick sachorientierte Argument lässt sich mit der normativen Ebene kurzschließen (vgl. oben, Punkt 1e), denn das Kirchenrecht verlangte die Bestellung von geeigneten Personen. Dieses Ziel wurde nach Ansicht von Tommasino weit verfehlt. Kein Wunder, dass die neuen Verwalter sich als unfähig erwiesen (vgl. oben Punkt 3): Im Unterschied zu den Bruderschaften hatten sie keine Erfahrung mit Hospitälern, kamen aber wegen der Neigung der Kommunalelite, statt erfahrener Fachleute Verwandte und Freude mit Pöstchen zu versorgen, dennoch zum Zug. Der Vorwurf der Vetternwirtschaft zieht sich durch die gesamte Auseinandersetzung des Chronisten mit seinen Widersachern. Insbesondere die Figur des Guido de’ Guidoni144 stachelt ihn immer wieder zu einer klientelistischen Deutung des Reformprojekts an. Doch im 141 Protest wegen Buchhaltung: oben, Anm. 53. Lancellotti 7, S. 87 (1541 Juli 11), Lohn des massaro (so auch S. 361); ebd., S. 151 (1541 Okt. 24), sagt Skandale voraus wegen Ausgaben und Veruntreuungen; S. 337 (1542 Aug. 14), Verkauf eines Hauses; S. 338 (1542 Aug. 15), Guido de’ Guidoni konsumiert mehr, als er in die Unione einbringt (so auch S. 361); ebd. 9, S. 175 (1547 Okt. 8), Prophezeiung des finanziellen Zusammenbruchs. 142 Lancellotti 7, S. 168 (1541 Nov. 28), mit der Beobachtung, dass testamentarische Legate jetzt an die Bruderschaften, nicht mehr an deren (der Unione inkorporierte) Hospitäler fließen. Die gute Verwaltung der Hospitäler durch die Bruderschaften wird schon im Protest von 1537 Aug. 17 behauptet (ASCMo, Vacchetta 1537, S. 105v–106r), dann auch in Lancellotti 7, S. 89 (1541 Juli 11). 143 S. oben, Anm. 98. 144 Dazu mehr unten, Anm. 166 ff.

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Grunde überschattet dieser Vorwurf alle längeren Passagen, die Tommasino der Unione widmet. Es beginnt bei der Darstellung der Gründung: Während die Konservatoren beabsichtigten, »ihre Verwandten und Freunde in die Führungspositionen zu setzen«,145 beanspruchten die Bruderschaften zunächst, dass alle beteiligten Einrichtungen je zwei Vertreter in einen (folglich eher großen) Verwaltungsrat entsenden durften. Von dieser Maximalforderung rückten sie freilich schon in ihrem Statutenentwurf vom 6. Juli 1541, in dem sie sich mit vier von zehn Sitzen begnügten, deutlich ab. Doch bleibt der Konstrast zwischen klientelistischer Personalpolitik der Reformer und transparenter Repräsentanz auf Seiten der bisherigen Eigentümer einer der bevorzugten Topoi in Tommasinos Erzählung. So erklärt er, warum Guido de’ Guidoni mit seinem Antrag, einer künftigen Hospitalunion jährlich 200 Scudi zu überlassen, sofort durchgekommen sei: Unter den Konservatoren waren »Herr Gian Battista Bellincini, sein Onkel, und Herr Francesco Bellincini, sein Vetter, und Herr Elia Carandini, sein Verwandter, und andere unter ihnen waren seine Freunde, die [alle] seinem Wunsch entgegengekommen sind«.146 In der Generalabrechnung, die er nach dem Aufhebungsurteil des Bischofs am 11. September 1542 seiner Chronik anvertraut, listet er höhnisch die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den ersten Funktionären der Unione auf, und noch Jahre später bleibt dieses Thema für ihn aktuell.147 In den auf bischöflichen Wunsch modifizierten Statuten gingen die Initiatoren, wie schon dargelegt, auf dieses Argument durchaus ein: Bruderschaften und Zünfte bekamen ihre Sitze, wenn auch keine Mehrheit, in einem deutlich größeren Präsidium. Eine gewisse Transparenz und damit die Möglichkeit, auf Professionalität zu achten, schienen somit besser gewährleistet als vorher. In der Praxis änderte sich freilich wenig: Es gelang der Oligarchie der Conservatori auch weiterhin, das Management der Unione mehrheitlich nach ihren eigenen Vorstellungen auszuwählen, und diese Tendenz sollte sich in den folgenden Jahren eher verstärken. Wie in der Forschung schon mehrfach konstatiert wurde, steckt in dieser Debatte um die Rekrutierung des Führungspersonals der reale Kern des ganzen Konflikts um die Reform. Denn letztendlich lief die organisatorische Erneuerung darauf hinaus, die bisherigen Hüter der Modeneser 145 Lancellotti 7, S. 77 (1541 Juni 28): »li conservatori pensano metterge suoi parenti e amici al detto governo.« Zu den Forderungen der Bruderschaften s. weiter ebd., S. 78, 80, 81, 82 f. (Statutenentwurf), 86, sowie den Protest vor den Konservatoren am 4. Juli 1541 (oben, Anm. 40, 122). 146 Lancellotti 7, S. 89 (1541 Juli 11): »in li quali [conservatori] gera misser Zan Battista Belencino suo barba, et misser Francesco Belencino suo cusino, et misser Helia Carandino suo parente, e altri de detto numero suoi amici, li quali hano favorito la sua volont—«. 147 Lancellotti 7, S. 361; ebd. 9, S. 176 (1547 Okt. 10), zum Kontext oben, Anm. 66.

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Armen- und Krankenfürsorge aus ihren Rechten weitgehend zu verdrängen und durch eine der Kommunalelite sozial affine, neue Gruppe zu ersetzen. Die Mehrheit der gerade analysierten Gegenargumente lässt sich mit diesem Leitthema in Verbindung bringen. Tommasino blieb bis zu seinem Lebensende 1554 unversöhnlich: Die Unione war auf »Laster und Betrug« gegründet und würde ein böses Ende nehmen.148 Schon ab August 1542 hatte er sein Urteil über das ganze Projekt auf eine knappe Reimformel gebracht, mit der er es seitdem zu adressieren pflegte: »Unione overe destructione« – die »Vereinigung oder besser Zerstörung« der Hospitäler und frommen Stiftungen Modenas.149 Parallel dazu und paradoxerweise okkupierte gerade die antireformistische Polemik phasenweise das Wort ›Reform‹ für ihre Seite. Als wegen der im Sommer 1542 sich abzeichnenden Intervention des Bischofs die Aussichten für ein Umsteuern günstig schienen, war es der Chronist, der mehrfach von einer »reformatione« der Hospitalunion sprach, deren Notwendigkeit mit Ausnahme des Gouverneurs und der Conservatori die ganze Stadt einsehe.150 Die Initiatoren der Hospitalunion, also die ursprünglichen Reformer, waren mit dem Wort hingegen äußerst sparsam. In den offiziellen Beschlüssen der Konservatoren fällt es nie, jedenfalls nicht mit Bezug auf die Hospitalreform; nur Francesco Villa verwendet es sporadisch in seinen Briefen an den Herzog, doch ohne sonderliche Empathie.151

Inhaltliche Argumente der Initiatoren der Unione Gegenüber diesem Bombardement antireformistischer Rhetorik bleiben die Motive der Verfechter der Hospitalunion eher blass. In den vorbereitenden Diskussionen der Conservatori wird die Initiative nur mit wenigen Schlagwörtern begründet, deren Realitätsgehalt nicht näher erläutert wird. Immerhin war eine Bestandsaufnahme über die Lage in den Hospitälern vorausgegangen, über deren Ergebnisse die Versammlungsprotokolle zwar keine Details nennen, die 148 Lancellotti 12, S. 78 (1554 Apr. 8): »con vicio e ingano«. 149 Lancellotti 7, S. 337, 339 f., 348 (1542 Aug. 14 – Sept. 1); ebd. 8, S. 305 (1546 Sept. 10) und noch an der eben zitierten Stelle ebd. 12, S. 78. Vorher experimentierte er mit »confusione«: »detta unione con tempo ser— la confusione de questa citt— (ebd. 7, S. 151, 1541 Okt. 24). 150 Das Wort »reformatione« oder »reformare« erscheint nur in diesem Zusammenhang (Lancellotti 7, S. 329, 338, 341), daneben diverse Verben des Besserns und Reparierens wie »coregere« (korrigieren), »assettare« (ordnen), »redrizzare« (zurechtrücken), »cunzare« (bearbeiten). 151 Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 159 Anm. 225, zitiert einen Brief vom 2. August 1542: »questa Unione e questo atto de reformatione«. Eine gründliche Prüfung der Briefe des Gouverneurs steht freilich noch aus.

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aber mit dem Reformprojekt in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang steht. Seit 1533 heißt es, eine Vereinigung der Hospitäler, über die breiter Konsens bestehe, sei »nützlich« (»utilis«, »proficua«), denn sie spare Personal und damit Kosten und ermögliche eine bessere Behandlung der »pauperes«.152 Das Kostenargument wurde bis zur offiziellen Instituierung stets als wichtigster Gesichtspunkt vorgetragen. Wie man sich die Zentralisierung vorstellte, wurde nur einmal angedeutet, als von einem »hospitale novum« bzw. einem »hospitali generali«153 die Rede war. Dass diese Zentralfunktion, für die in Mailand und anderswo aufwändige Neubauten errichtet worden waren, in Modena von der schon bestehenden CadÀ erfüllt werden sollte, wurde in der Vorbereitungsphase nicht öffentlich diskutiert. Als mit der Instituierung der Unione sich der Abwehrkampf der Reformgegner intensivierte und die Stadtöffentlichkeit mehr und mehr mobilisiert wurde, mussten die Befürworter ihr Unternehmen verteidigen. Dies geschah sowohl mit Hilfe der von Tommasino geschilderten polizeilichen Maßnahmen als auch mit Gegenargumenten. Die Diskussion fand auf verschiedenen Bühnen statt: im Rat der Konservatoren, wo sich eine gewisse Diskussionsbereitschaft allerdings erst in dem Moment einstellte, als die Reformer vom Bischof zum Nachgeben gezwungen wurden; hinter den verschlossenen Türen der Paläste, etwa in der Residenz des Gouverneurs oder beim Herzog in Ferrara; in den Bruderschaften; auf den Plätzen und in den Kirchen der Stadt zwischen einzelnen Protagonisten des Dramas; in öffentlichen Predigten und wohl auch unter deren Zuhörern; in schriftlicher Form in anonymen Flugblättern, in Briefwechseln und nicht zuletzt auch in Tommasinos Chronik, die keine Privataufzeichnung war, sondern mit vielen der in ihr auftretenden Personen ›kommunizierte‹ und ihren Status als öffentlich wahrgenommene historische Erzählung auch reflektierte.154 Als Antwort auf die Rechtsansprüche der früheren Hospitaleigentümer (oben Punkt 1a) verwiesen die Initiatoren auf die nachdrückliche Zustimmung, die der

152 ASCMo, Vacchetta 1533, f. 118v (Dez. 12), Nutzen und Konsens; f. 122r (Dez. 18), bessere Behandlung der Armen, Kostenersparnis. Ferner alle weiteren Belege von 1537 u. 1541, die oben, Anm. 34 – 42 u. 44, genannt wurden. 153 ASCMo, Vacchetta 1541, f. 87v (Juni 27), 90r (Juni 28). Indes hieß es schon am 18. Dezember 1533 (s. vorige Anm.), es solle nur noch »una infirmaria tam pro maribus quam feminis pauperibus civitatis mutine« geben (»fiat«). 154 Meine theatralische Metaphorik (Bühne, Drama) rechtfertigt sich auch deshalb, weil Tommasino selbst das Geschehen an einer Stelle (als Francesco Grassetti vom Gouverneur zu einer Kautionszahlung gezwungen wurde) als »tragedia« bezeichnet, aus der eine »comedia« geworden sei (Lancellotti 7, S. 366, 1542 Sept. 15). Zu den hier aufgezählten ›Bühnen‹ der Diskussion s. oben in diesem Kapitel, Abschnitte 3 u. 4 passim, sowie speziell Anm. 57 f. (Prediger, Spottgedicht).

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gegenwärtige Herzog, Ercole II., der Unione mehr als einmal erteilt hatte.155 Andere Rechtstitel, etwa päpstliche, bischöfliche oder auch ältere herzogliche Bestätigungen, ignorierten sie (es sei denn, der Herzog intervenierte erneut, wie er es zu Gunsten der Bruderschaft della Morte oder des Bischofs tat). Das mochte juristisch fragwürdig sein, genügte aber, um auch dem Reformprojekt Legalität zu verleihen. Bedrohlicher waren die kanonistisch begründeten Angriffe auf die Unione. Im Hinblick auf die Aufsichtsrechte des Bischofs (oben Punkt 1c) versuchten die Reformer zwar im letzten Moment, juristische Gegenargumente zu finden,156 doch in ihrer neuen Statutenredaktion gaben sie dem Diözesan nach, jedenfalls auf dem Papier. Den Vorwurf, gegen den Willen der Stifter zu verstoßen (oben Punkt 1d), ließen sie jedoch nicht auf sich sitzen. Wie Francesco Villa am 19. Juli 1541 nach Ferrara schrieb, sollten die von den Testatoren und Gründern mit den Gütern der Bruderschaften verbundenen Verpflichtungen selbstverständlich eingehalten werden. Es sei »eine gerechte Sache, dass man nicht gegen den Willen dieser [Stifter] verstößt, welche sich, wenn sie wüssten, dass ihr Wille, und zwar in besserer Ordnung, befolgt wird, zufrieden zeigen würden«. Dass es sich um ein gelungenes und heiliges Werk handele, sehe man auch daran, dass manche ohne Lohn dafür arbeiten wollen, ja sogar noch etwas hinzustiften; er sei guter Hoffnung, dass dieser Erfolg sich durch viele weitere Stiftungen bestätigen werde.157 Der Gouverneur kehrte damit nicht nur das Argument der Opponenten gegen diese selbst (etwa so: die Erfüllung der eigentlichen Stifterabsichten wird erst durch die Reform gesichert), sondern negierte überdies deren Befürchtung, dass die unierten Hospitäler künftig keine Zuwendungen mehr bekommen würden. Dass die Unione die »bessere Ordnung« realisiert, stand für ihn außer Zweifel: »santa e pia« sei sie und gefalle allen moralisch und sozial ernst zu nehmenden Personen (»persone da bene«).158 Diese Einschätzung begründet der Ferrareser Adlige Villa auch damit, dass die Zustände vor der Bildung der Hospitalunion inakzeptabel gewesen seien: Die bisherigen Eigentümer hätten nichts anderes im Sinn gehabt, als sich die Einkünfte der Hospitäler in ihrem eigenen Interesse unter den Nagel zu reißen, und nur aus diesem Grund seien sie gegen das Vorhaben.159 Damit liefert der Gou155 S. oben, Anm. 37 (Brief von 1541 Juni 23), Anm. 95 (Bestätigung der neuen Statuten). 156 Die Konservatoren beauftragten am 15. August 1542 Francesco Bellincini, Elia Carandini und einen weiteren Juristen, zu prüfen, »ob der Bischof sich in die Unione einzumischen hat« (»s’ el Vescovo se ha a impaciare in detta union s‡ o no«): Lancellotti 7, S. 340. 157 Brief zitiert und resümiert nach Malmusi, Notizie istoriche, S. 158 f.: »justa cosa À che non si contravvenga alla volont— di questi tali, quali se potessero saper che sua volont— si seguita, ma con miglior ordine, si contentariano«. 158 Brief an den Herzog vom 17. Juni 1541 (zitiert in Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 156 Anm. 213). 159 Brief an den Herzog vom 3. Juli 1541 (zitiert in Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 156

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verneur Bausteine zu einem Reformnarrativ nach, das bis dahin merkwürdig unterbelichtet geblieben war. Zwar hatte man 1533 durch eine systematische Bestandsaufnahme versucht, Fehlentwicklungen aufzuspüren; dass Missstände zu beklagen waren, gaben ja auch die Reformgegner zu. Doch während Letztere es vorgezogen hätten, sich auf Verbesserungen an den bestehenden Einrichtungen zu konzentrieren, drängten die Initiatoren der Unione auf eine neue Gesamtlösung.160 Sie verließen sich dabei jedoch so sehr auf ihre Machtposition in der Kommune, dass sie die Propagierung einer wirksamen Reformerzählung vernachlässigten. Die Bemerkung Francesco Villas antwortet zudem auf die Behauptung der Bruderschaften, ihre Hospitäler immer gut verwaltet zu haben, und auf den Einwand, die Unione unterlaufe die kirchenrechtliche Vorschrift, ausschließlich geeignete Personen mit der Führung von Hospitälern zu betrauen (vgl. oben Punkt 1e). Dieser Einwand sei völlig unangebracht, denn die Personen, die das Werk leiten werden, werden aus allen guten Häusern dieser Stadt gewählt, und man wird dafür sorgen, dass diejenigen, denen die Verwaltung der Einkünfte obliegt, nichts in die eigene Tasche wirtschaften können; in diese Ämter werden jene gewählt werden, die das gar nicht wollen, also gerade umgekehrt wie bisher, als diese Verwaltungsposten gesucht und begehrt wurden.161

Demnach sind die neuen Verwalter besser geeignet, weil sie wohlhabend, unambitioniert und daher nicht an persönlicher Bereicherung interessiert sind. Die Gefahr von Veruntreuungen, illegalen Veräußerungen und Misswirtschaft (vgl. oben Punkt 1 f) ist damit viel geringer als früher. Dies auch deswegen, weil prozedurale Sicherungen so etwas verhindern werden (»man wird dafür sorgen …«). Ähnliche Ansichten scheinen die Verfechter der Unione in der Bruderschaft S. Maria Battutorum vertreten zu haben, als sie im Juli 1541 mit ihren Mitbrüdern disputierten: Sie hielten eine Auswahl der künftigen Hospitalführung durch die Konservatoren für transparenter als die bis dahin übliche Ernennung durch einzelne Bruderschaften und Zünfte.162 Wie sich – zumindest Anm. 214): »Quelli che per il tempo passato hanno mangiato delle intrate d’essi hospedali, intesa questa cosa, se gli sono furiosamente opposti …« 160 Zu Missständen im Hospital S. Lazzaro und in der Bruderschaft S. Maria Battutorum s. oben, Anm. 24. Tommasino klagte 1536, dass man in Modena lieber neue karitative Einrichtungen gründe, als sich um die Probleme der bestehenden zu kümmern (Lancellotti 5, S. 143 f.). 161 Brief an den Herzog vom 8. Juli 1541 (zitiert in Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 157 Anm. 216, u. besser in Santus, La nascita della Santa Unione, S. 91 Anm. 15): »le persone che havrano a governare l’opera s’eleggeranno de tutte le bone case di questa citt— et si proveder— che chi havr— il maneggio delle intrate non ne potr— convertire in comodo suo alcuna cosa et a questi uffici si eleggeranno di quelli che non vorrano esservi, che sar— il contrario di quell che fin qui À stato quando detti maneggi erano circati et disiderati.« 162 Bericht über einen solchen Disput in Lancellotti 7, S. 81 f. (1541 Juli 5).

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nach Ansicht der von der Unione Enteigneten – zeigen sollte, waren die vom Gouverneur angekündigten Sicherungsmechanismen nicht verlässlich. Doch immerhin wurde die Notwendigkeit, eine Verpfründung der Leitung auszuschließen, in den Statuten vom Herbst 1542 garantiert und damit ein wichtiges Gegenargument der Opponenten entkräftet (vgl. oben Punkt 1e). Während die Reformer das weite Terrain der überpositiven Normen und Werte (vgl. oben Punkt 2) übergingen und die praktischen Schwierigkeiten (vgl. oben Punkt 3) durch Bauaktivitäten in der CadÀ oder mit Hilfe von Geldbeschaffung durch Einsparungen und Veräußerungen in den Griff zu bekommen suchten, legte Villa zur Frage der Eignung und sozialen Herkunft der neuen Verwalter im August 1542 noch einmal nach: Als diese frommen Werke getrennt waren, beteiligten sich viele Personen aus dem Volk und Handwerker und andere niederen Standes an ihrer Verwaltung; diese sind jetzt davon ausgeschlossen, um die Dinge von Bürgern leiten zu lassen, die qualifiziert und von besserer Urteilskraft, Kenntnis und Reputation sind, als jene es waren.163

Selten wurde die mit dem Unternehmen verbundene sozialgeschichtliche Veränderung von einem Befürworter so ungeschminkt ausgebreitet wie in dieser Passage. Der Verfasser dieser Zeilen wischte damit Klagen über mangelnde Professionalität der neuen Hospitalleitung (vgl. oben Punkt 4) vom Tisch. Im Gegenteil: Ungeeignet – da aus niedrigeren Schichten stammend, unwissend und weniger angesehen – waren die früheren Verwalter. Die neuen waren besser »qualifiziert«, und wie diese Stelle sowie andere Belege seit dem 14. Jahrhundert zeigen, schrieb man einer mit der Partizipialform »qualificato« hervorgehobenen Person sowohl hervorragende menschliche und soziale Eigenschaften als auch gute Fachkenntnisse zu.164 Die Argumentation der Reformer funktioniert zum Teil als spiegelbildliche Widerlegung der von den Antagonisten erhobenen Monita (oder umgekehrt), zum Teil weicht sie den Kritikern aus (zum Beispiel antwortet sie nie auf den Vorwurf, die Unione versage in ihrem Kerngeschäft, der Entfaltung der caritas), zum Teil kommt sie ihnen entgegen. Das Entgegenkommen ist an den Modifikationen der Statuten vom Herbst 1542 ablesbar und betrifft vor allem die kirchenrechtlichen Probleme, partiell aber auch die vielfältig begründbaren Rechtsanprüche der Bruderschaften und anderen Betroffenen. Man gewinnt den Eindruck, dass die Kommunalelite und der herzogliche Gouverneur nicht mit so 163 Brief an den Herzog vom 2. August 1542 (zitiert in Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 157 Anm. 219): »Quando queste opere pie hora unite erano separate, intravenivano alla administratione d’esse molte persone popolari e artefici e altri di bassa conditione li quali hora ne sono esclusi per fare reggere le cose a cittadini qualificati e di migliore giuditio e conoscimento e reputatione che non erano loro.« 164 Vgl. die Nachweise in Battaglia, Grande Dizionario 15, S. 43 (Nr. 1 u. 2).

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massivem Widerstand gegen ihre Hospitalreform gerechnet hatten. Andernfalls hätten sie ihre Argumentation schon früher geschärft und von Anfang an ein starkes Reformnarrativ entwickelt. Andernfalls hätten sie auch robustere Nerven bewiesen. Stattdessen reagierten sie mit Beleidigungen der Gegner, Polizeigewalt gegen Verweigerer, mit Wutausbrüchen gegen einen kritischen Prediger, Verhaftung eines prominenten Opponenten und Anflügen von Depression, als klar wurde, dass ihre ursprüngliche Konzeption geändert werden musste.

Die Argumentationsweise der Chronik Die beschriebenen Reaktionen häuften sich besonders dann, wenn die Reformgegner mächtige Gesprächspartner (Herzog, Bischof) fanden oder größere Kreise der Stadtöffentlichkeit zu mobilisieren verstanden. Daran bestätigt sich der schon am Straßburger Fallbeispiel gewonnene Eindruck, dass die öffentliche Debatte in einer frühneuzeitlichen oder spätmittelalterlichen Stadtgesellschaft in einer diffizilen und prekären Balance schwebte: Auf der einen Seite erhoben verschiedene Kräfte den Anspruch, die Wahrheit – ihre Wahrheit – zu äußern, auf der anderen Seite hatten die Machthaber ein offensichtlich starkes Interesse daran, solche Äußerungen zu zensieren. Dass diese Spannung den religiösen Diskurs jener Jahrzehnte dominierte, überrascht wenig, aber selbst auf einem weniger heißen Feld wie einer Hospitalreform blieb die ›Wahrheit‹ ein explosives Gut. Der Franziskanerprediger, der gegen die Unione gewettert hatte, wollte sich vom Gouverneur nicht das Recht nehmen lassen, öffentlich die Wahrheit zu sagen; nach der Verhaftung Grassettis lobte Tommasino dessen Mut zur Wahrheit und hoffte, dass jetzt endlich eine größere Zahl von Bürgern das (öffentliche) Wort ergreifen würden. Was viele eigentlich dachten, musste einem heimlich publizierten Spottgedicht anvertraut werden. Sogar der Bischof sprach von einer Atmosphäre der Tyrannei, in der viele es nicht wagten, ihre Stimme gegen die verunglückte Reform zu erheben.165 Aus einem so beschaffenen öffentlichen Kommunikatonsfluss präzise Informationen zu erheben war schwierig. Daher wusste auch Tommasino nicht genau, wieviele Modeneser eigentlich für oder gegen die Unione waren, wagte aber trotzdem zu behaupten, dass drei Viertel der Bürger und alle Armen es mit der Opposition hielten. Diese Beobachtungen legen eine erneute Durchsicht der Chronik nahe. Es geht nun nicht mehr darum, sie als Quelle für den Verlauf der Modeneser Hospitalreform und für den Inhalt der ausgetauschten Argumente auszuwerten, 165 In seinem mehrfach herangezogenen Brief an den Herzog (zitiert in Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 160): »quantunque non tutti, per la tirannide qual si usa da li pi¾ potenti, ardiscano parlare liberamente«.

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sondern ihre Rolle als Faktor und Medium im Prozess der öffentlichen Kommunikation zu bestimmen. Ein Indiz, an dem diese Rolle festgemacht werden kann, ist Tommasinos häufiger Rückgriff auf eine durch Exempla gespeiste Argumentation. Es sei daran erinnert, dass der Verfasser seine Geschichtsaufzeichnung zwar im Prinzip von Tag zu Tag als Journal führte, jedoch Platz für Rück- und Vorverweise ließ; deshalb ist die Zeitstruktur seiner Miniaturerzählungen komplex, denn es kann nicht immer mit Sicherheit gesagt werden, ob ein Eintrag reines Gegenwartswissen repräsentiert oder auf Grund von später eingeholten Informationen nachträglich ergänzt wurde. Als die Debatte um die Gründung der Unione auf ihren ersten Höhepunkt zusteuerte, ergriff Tommasino die Gelegenheit, um eine Kurzbiografie des Kanonikers Guido de’ Guidoni einzutragen. Er hatte Guido schon vorher mehrfach erwähnt: Einmal bezeichnet er ihn – vielleicht mit leiser Ironie – als »canonico molto elemosinario« (»sehr spendenfreudigen Kanoniker«). Danach berichtet er von einer Unterredung, die er nach Bekanntwerden von Guidos Hilfsangebot für die Unione mit ihm geführt hatte; an dieser Stelle wird deutlich, dass Tommasino sich aus taktischen Gründen nicht grundsätzlich gegen das Projekt sperrte, dem Kanoniker sogar seine Unterstützung versprach (der dieser demonstrativ konstruktiven Haltung freilich nicht traute), aber zugleich versuchte, ihm seine eigenen Bedingungen schmackhaft zu machen: Das Ganze sollte nach dem Vorbild des Hospitals von S. Maria Battutorum funktionieren, eine Verpfründung ausgeschlossen sein, ein neues Gebäude noch vor dem Vollzug der Vereinigung bereitstehen.166 Da rasch klar wurde, dass die Reformer auf diese Vorschläge nicht eingehen würden, ließ der Chronist in der nächsten dem Kanoniker gewidmeten Passage alle taktischen Höflichkeiten beiseite. Die Ursache [der Unione] war der hochwürdige Herr Guido de’ Guidoni, Archidiakon des Doms und Sohn des seligen Herrn Tommaso, welcher Herr Tommaso ein Produkt seiner Verwandten war, wie man sagte, denn er brachte selbst nichts Ordentliches zustande, sondern war abhängig von der Klugheit seiner Gattin Frau Lodoviga, Tochter des seligen Herrn Aurelio Bellincini, welche alle Angelegenheiten ihres Ehemannes verwaltete.167

Das ist formal korrekt (Titelgebung), aber doch voller versteckter Sticheleien und ironischer Seitenhiebe. In diesem Ton geht es weiter : Guido hatte in Rom 166 Lancellotti 7, S. 29 f. (1541 März 23), Zitat (»elemosinario«); ebd., S. 70 f. (Juni 10). 167 Lancellotti 7, S. 88 (1541 Juli 11): »la causa À stata del reverendo Misser Guido di Guidon archediacono del Domo figliolo del quondam Misser Thomaso, el quale Misser Tomaso fu per arte de suoi parenti, secondo fu detto, ch’ el non potesse fare cosa che valesse, ma besognava ch’ el stesse alla discreptione de Madonna Lodoviga sua consorte figliola fu de misser Aurelio Bellencino la quale ministrava tutta la sua del detto suo marito.«

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eine erfolgreiche Pfründenkarriere gemacht, weil sein Bruder ein Vertrauter Papst Leos X. gewesen war. Er kehrte als gemachter Mann nach Modena zurück, sah plötzlich aber ein, dass es besser wäre, Teile seiner großen Einkünfte zu frommen Zwecken umzuverteilen. Er begann, Geld an mittellose Kleriker und Arme zu verschenken und gelangte so zu einem hohen Ansehen in der Stadt, denn »er fastet viel, er liest den Kranken die Messe in der CadÀ und in anderen Hospitälern, zum Beispiel in dem von S. Maria dei Battuti einem Kranken, der dort seit acht Jahren das Bett hütet, sowie im Syphilis-Hospital«.168 In diesem Kontext überdurchschnittlicher caritas – die Aufzählung erinnert stark an ähnliche Passagen, in denen Tommasino solch fromme Praxis offen als Heuchelei beurteilt – verortet der Chronist Guidos Angebot, auch die Unione mit jährlich 200 Scudi zu subventionieren. Bleibt nur, in aller Sachlichkeit, das kleine Detail anzumerken, dass drei der Conservatori, die das Angebot freudig angenommen hatten, mit dem Kanoniker verwandt waren. So mündet die Biografie des Guido de’ Guidoni nahtlos in ein Resümee der aktuellen Geschichte der Unione, die von den Genannten mit Hilfe des Herzogs und seines Gouverneurs gegen den Willen der bisherigen Inhaber der Hospitäler durchgesetzt werden soll. Die bisherigen Inhaber seien nicht aus Prinzip dagegen, sondern weil die Erfahrung lehrt, dass mit solchen Großprojekten Missbrauch getrieben wird. Hier schließen zunächst vier Beispiele von auswärtigen Hospitälern an, an denen sich der Realitätsgehalt dieser Befürchtung aufzeigen lässt.169 Für alle, die so etwas in Modena für abwegig halten, lässt Tommasino eine Serie von Begebenheiten aus der jüngeren Stadtgeschichte folgen (»ge voglio dare exemplo«, ich will da Beispiele geben): Die Stiftungen der Secchia-Brücken hatte ein Kanoniker an sich gerissen, der schließlich ermordet wurde, woraus eine regelrechte Familienfehde entstand. Güter der von der Wollund der Schmiedezunft verwalteten Armenstiftung (Opera del Priatto) waren von einem Modeneser Kurialen als Pfründe beansprucht worden, der kurz danach eines bösen Todes starb und seinen Erben unnütze Prozesse hinterließ. Auf das Leprosenhospital S. Lazzaro hatte ein Familiar des Kardinals Ippolito d’Este ein Auge geworfen, weshalb die zuständige Bruderschaft ihm eine Pension zahlen musste, um die dann teuer prozessiert wurde. Die Serie schließt mit Anspielungen auf weitere drei Kirchen, darunter die alte Reichsabtei Nonantola, zwei Hospitäler (eines davon das Modeneser Antoniterhospital) und sogar die Bruderschaft der Dompriester von Modena, deren Güter zu Gunsten eines Mächtigen privatisiert worden waren. Um es kurz zu machen: 168 Lancellotti 7, S. 89: »perchÀ el degiuna assai, el celebra messa alla Casa de Dio, alli infirmi e in altri loci dove el sia delli infirmi, come all’ hospitale de Santa Maria di Batuti, a uno infirmo che ge, e da 8 anni fa ch’ el non se move de letto, etiam a Santo Job«. 169 S. Anna in Ferrara, Florenz, Siena und S. Spirito in Rom. S. oben, Anm. 131, wo die Passage in extenso zitiert ist.

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Ich breite das nicht weiter aus, um die Leser dieser Erzählung nicht zu langweilen, die ich geschrieben habe, damit die Nachfolger daran denken, dass sie sich vor bösen Menschen hüten sollen und dass unter dem Anschein des Guten nicht etwas Schlechtes geschieht. Man höre noch dieses Exemplum: Wenn Küken getrennt herumlaufen und ein Habicht sie angreift, dann fliehen sie in die Hecken und Brennesseln, und wenn er es überhaupt schafft, dann kriegt er ein einziges; wenn die Küken aber zusammengebunden sind, dann braucht er nur eins zu fangen und hat sie damit alle; so könnte es den genannten Hospitälern und frommen Werken ergehen, die, solange sie jedes für sich stehen, ungestört bleiben, aber sobald sie in einer Vereinigung verbunden werden, in großer Gefahr sind, denn in der römischen Kurie gibt es auch Leute aus Modena, die so scharfe Zähne haben, dass sie auch einen großen Amboss fressen würden.170

Nach Meinung des Verfassers begehen die Konservatoren in ihrem Kampf gegen die Bruderschaften genau denselben Fehler wie der Bauer, der seine Küken zusammengebunden hat. Und dies ebenso unbedacht, wie das Sprichwort lehrt, nach dem ein Narr genügt, einen Stein in einen Brunnen zu werfen, aber zehn Weise nötig sind, um den Stein wieder herauszuholen. Dazu noch ein letztes »exemplo«: Schon Herzog Alfons I. hatte die Idee, die Mauer von Modena zu erweitern, starb aber vorher. An seinen Sohn, Ercole II., traten die Konservatoren mit der dringenden Bitte heran, das Projekt zu realisieren. Herausgekommen sei bisher nur Zerstörung: Zum Beispiel wurden der Palast eines dieser Konservatoren und acht Nachbarhäuser im Nordosten der Stadt abgerissen. Ein alter Mann habe dem Chronisten bei der Besichtigung der Örtlichkeit gesagt: »Schreib Folgendes in deine Annalen: ›Er grub eine Grube und höhlte sie aus, doch er stürzte in die Grube, die er gemacht [Ps 7,16]. ‹« Ich habe große Angst, dass es demjenigen, der die Ursache für die genannte Unione war, ebenso ergeht und dass er sein Geld und seine Ehre zugleich verliert, was Gott verhüte. Merke: Der genannte Guido de’ Guidoni ist am 8. September 1548 gestorben.171

170 Lancellotti 7, S. 91 (die davor genannten Beispiele ebd., S. 90): »io non mi estenderý pi¾ ultra per non fastidire chi leger— questa presente narativa, la quale ho scripta per memoria delli sucessori che se habiano a guardare dalli mali homini, che sotto spetia di ben, non ge intervenga male, e pigliase questo exemplo, che quando li pulicini (sic!) sono pi¾ divisi, e ch’ el nibio li asalta lori fuzeno per le sepi e per le ortiche e sepur ne piglia, non ne piglia se non uno, ma se sono ligati insiemo, come ne piglia uno, li porta via tutti; cussi potria incontrare alli predetti hospitali e opere pie che stando separati el non ge dato fastidio, ma ligati in una unione portano grando pericolo al tempo presente, perchÀ in la corte de Roma el ge de modenesi in fra li altri che hano li denti de azare, che mangiariano ogni grande acunzeno« (Übersetzung von »acunzeno« nach einer Anm. des Hg.). 171 Lancellotti 7, S. 92: »uno vechio di Modena mi disse, nota in tuo annale queste parole, videlicet, lacum aperuit, et effodit eum, et incidit in foveam quam fecit, io ho la mala paura ch’ el incontra cussi a chi À stato causa de fare la soprascripta unione, e ch’ el se perda la roba e l’ honore a uno tratto, che Dio non voglia. Nota che Guido di Guidon supra scritto À morto a d‡ 8 septembre 1548.«

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Dieser letzte Satz der Erzählung zur Rolle Guidos de’ Guidoni in der Unione ist nicht nur ein Beispiel dafür, wie Tommasino die tagebuchartige Anlage seines Textes mit Nachträgen unterbricht, die von der chronologischen Ordnung abweichen. Er ist auch nicht frei von einer gewissen Perfidie, die ihre Giftwirkung allerdings erst postum, 1548, voll entfaltete. Doch wer zwischen den Zeilen zu lesen verstand, musste bereits 1541 Folgendes verstehen: Die Unione ist aus den egoistischen Machenschaften eines frömmelnden Notabeln aus dem Hochklerus entstanden, ist ein leichtsinniges Werk des Klientelismus mit großem Risiko zu scheitern und frisst ihre eigenen Kinder. Dass das Ende des Haupturhebers diese Intepretation ex post noch plausibler machte (und deshalb der Verweis darauf exakt an dieser Stelle nachzutragen war), zeigt die ausführliche Schilderung von Guidos Tod unter den Einträgen zum September 1548. Als erstes rekapituliert der Chronist die Machenschaften um die Weitergabe der Pfründen des Sterbenden. Danach referiert er das Gerücht, dass der Archidiakon schon mehrere Tage vor dem offiziellen Datum (8. September) verstorben, aber nur provisorisch verscharrt worden sei, damit Insider einen zeitlichen Vorteil bei der Supplizierung der Pfründen bekämen. Der nächste Punkt betrifft einen kleinen Konvent von Reuerinnen, den der Verstorbene betreut hatte. Tommasino erwähnt dies vor allem deshalb, um den Vorschlag ungenannter Personen mitzuteilen, es wäre ehrlicher, solche ›Reuerinnen‹-Konvente gleich als öffentliche Bordelle auszuweisen, dann wüsste jeder, woran er sei. Der Eintrag zum offiziellen Todesdatum Guidos verbindet sein Ableben mit Nachrichten über ein fürchterliches Unwetter, über Streit bei seiner Bestattung, an der letztlich kein Kanoniker teilnahm, über die Pensionen, die er mehreren Priestern hinterließ, und über die Schäden, die ein Wolfsrudel in einer früheren Besitzung der Bruderschaft S. Maria Battutorum, jetzt der Unione, anrichtete.172 Wie man leicht ersehen kann, hat Tommasino dem Kanoniker sein Engagement für die Hospitalreform bis zum Ende nicht verziehen. Die Kombination der Todesnachricht mit Erzählungen über betrügerischen Pfründenhandel, über seine moralische Verkommenheit, das zerstörerische Unwetter, den Angriff der Wölfe (in der spätmittelalterlichen Ständesatire stehen diese Tiere oft für den habgierigen Klerus) auf das Gut von S. Maria dei Battuti, das jetzt im Besitz der Unione ist, deren Wohltäter Guido war – das alles fügt sich zu einer derart boshaften Collage von Insinuationen, dass man nicht an eine zufällige Auswahl 172 Lancellotti 9, S. 393, 395 – 397 (1548 Sept. 7 – 9). Der Reuerinnenkonvent ist derselbe, den die Unione mit jährlich 50 lib. subventionierte (oben, Anm. 100). Er war 1535 gegründet worden, s. Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 143. Tommasino berichtet über ihn seit 1536 erst zustimmend, dann immer skeptischer (Lancellotti 5, S. 108, 172, 434, 462 f.). Guido de’ Guidoni war einer seiner »presidenti« und hatte beim Erwerb eines Hauses geholfen (Soli, Chiese 2, S. 457 f., auch zu den Beziehungen zur Unione).

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glauben mag. Wir können daraus schließen: Der Chronist versteht es, die Rezeption der von ihm berichteten Ereignisse durch eine bestimmte Kombination von Erzählfragmenten zu steuern. Zurück zu der zitierten Passage von 1541. Charakteristisch für sie ist ein dezidierter Rückgriff auf den formalen Topos des exemplarischen Argumentierens, hier speziell auf abschreckende Exempla. Ein ganzer Fundus von historischen und fiktiven Begebenheiten soll nicht nur das hier vorgetragene Hauptargument (die Unione ist anfällig für Missbräuche) plausibilisieren, sondern auch Handlungsanweisungen bereitstellen. Anders als die Wölfe von 1548 ist das 1541 bemühte Federvieh Fiktion: Die Fabel von den zusammengebundenen Küken und dem Habicht ist eines von Tommasinos Lieblingsexempla; an mindestens drei Stellen seiner Chronik verweist er auf sie oder erzählt sie in extenso.173 Eine ähnliche rhetorische Funktion haben Sprichwörter wie das oben resümierte »proverbio« vom Narren, der einen Stein in den Brunnen wirft; der Übergang zur Tierfabel in sprichwortähnlicher Verdichtung ist fließend, beide Varianten kommen häufig vor.174 Nicht fiktiv und daher von höherer Beweiskraft als Fabeln und Sprichwörter sind die historischen Exempla. In der hier betrachteten Episode werden explizit als Exempla gekennzeichnete historische Kurzerzählungen – manche zu bloßen Anspielungen eingedampft – in auffällig höherer Dosierung eingesetzt als in der restlichen Chronik. Offenbar lag dem Verfasser daran, gerade hier einen Überschuss an Evidenz zu erzeugen, der schwer zu widerlegen war : Modena ist voller Pfründenjäger und für diese sind Hospitalreformen ein gefundenes Fressen; warum sollte das dieses Mal nicht der Fall sein? Doch anders als viele Streitschriften, politische Traktate oder auch die große humanistische Historiografie bezieht die Chronik ihre Exempla nicht aus einem Arsenal bekannter Episoden etwa der römischen, der christlichen oder der älteren italienischen Geschichte, sondern aus der lokalen Zeitgeschichte. Dies verleiht ihnen eine schwer in Frage zu stellende Wahrhaftigkeit. Der Wahrheitsanspruch der zeithistorischen Exempla gründet auf der Tatsache, dass sie verbürgt sind, verbürgt entweder, weil die Leser die Fakten ohnehin kannten oder weil der Status des Chronisten – eines

173 Lancellotti 5, S. 326 (1537 Aug. 17); ebd. 7, S. 80, 91 (1541 Juli 4 u. 11). Die Fabel ist nachgewiesen in Uther, The Types of International Folktales [ATU] 2, Nr. 1408C; als früher Beleg wird dort eine 1505 gedruckte Fabelsammlung angegeben. 174 Beispiele: Lancellotti 5, S. 65 (1535 Juli 29), Sprichwort zum Verhältnis von Armut, Frieden und Krieg; ebd. 6, S. 250 (1539 Dez. 1), was man nicht Christus gibt, geht an den Teufel; ebd. 7, S. 109 (1541 Aug. 1), Guido de’ Guidoni ist vergleichbar mit den Ziegen, die sich nicht mit ihrem guten Bett zufrieden geben wollen; ebd., S. 133 (1541 Sept. 21), die kommunale Finanzverwaltung ist vergleichbar einem Stall, in dem die Tiere nicht angebunden sind und daher alle Vorräte sofort auffressen.

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Notars, gewissenhaft informierten Zeitgenossens oder gar Augenzeugen – das Erzählte glaubwürdig macht. Auf diese Beglaubigungstechniken – und damit kommen wir auf die Frage nach der Funktion der Chronik in der öffentlichen Kommunikation zurück – verwendet Tommasino im ganzen Text große Sorgfalt. Er authentifiziert seine Informationen durch externe Mittel sowie durch den Text selbst. Externe Mittel sind die immer wieder genau bezeichneten Quellen: Er sucht Informanten (manchmal aus Vorsicht anonymisiert),175 treibt Dokumente auf und registriert sie,176 sichert Dokumente durch Abschrift in der Chronik,177 befragt die Protagonisten von Ereignissen.178 Seine Mitbürger nehmen die Chronik und ihren Verfasser als Instanz wahr, die das historische Wissen über Modena speichert und die man bei Bedarf befragen kann.179 An diesen Stellen wird aber auch deutlich, dass die Chronik von den Zeitgenossen nicht bloß als neutrale Beschreibung des Vorgefallenen aufgefasst wird, sondern als ein Ort der Auseinandersetzung, auf die man als Außenstehender Einfluss nehmen kann und die ihrerseits wieder Einfluss auf das Geschehen nimmt. Szenen wie die oben zitierte, in der der Mann, der die wegen des Mauerneubaus abgerissenen Häuser mit Psalm 7 kommentiert, ihn auffordert, einen Sachverhalt oder eine Äußerung in seinen Text aufzunehmen, kommen häufig vor.180 Und Tommasino setzt seinerseits seine Chronistenrolle ein, um Personen zu beeinflussen (nach dem Motto: Überleg dir gut, was du tust, denn ich schreibe das für die Nachwelt

175 Hier und im Folgenden nur wenige Beispiele: Lancellotti 7, S. 150 f. (genaue Benennung der Zeugen, die Tommasino über die Predigt des fra Paolo gegen die Unione berichtet haben, da er selbst etwas schwerhörig sei); dagegen ebd., S. 348, Verweis auf eine namenlose »glaubwürdige Person« (»persona degna di fede«), die ihn über die baldige Klage der Bruderschaft S. Pietro Martire gegen die Unione informiert habe. 176 Lancellotti 7, S. 281 f. (in einem Steuerregister von 1411 findet Tommasino Hinweise auf seinen Urgroßvater); S. 369 (eine vom Bischof vor seiner Abreise im September 1542 erlassene Satzung zur Liturgie; Tommasino liest sie am 18. Sept., bestellt eine Kopie und trägt diese zum 24. Sept. S. 370 – 372, ein; es folgt die Kopie einer älteren bischöflichen Verordnung von 1463 zur Disziplin der Laien). 177 Zum Beispiel die Kopien von Dokumenten, die im Kampf gegen die Unione von Nutzen waren, etwa die Herzogsbriefe in Lancellotti 7, S. 286 – 288, oder der Statutenentwurf der Bruderschaften ebd., S. 82 f., aber auch wörtliche Wiedergaben von Eingaben im Rat (wie Tommasinos Protest gegen Gerolamo Quattrofrati, oben Anm. 53). 178 Lancellotti 7, S. 366 (über Francesco Grassettis Kautionszahlung an den Gouverneur will der Chronist Grassetti am 15. Sept. 1542 selbst befragen und kündigt einen entsprechenden Eintrag an, der zum 16. Sept., S. 367, auch erfolgt). 179 Lancellotti 7, S. 224 f. (der Chronist wird in einem Rangstreit zwischen den Adelshäusern Molza und Rangoni als Gutachter über das Alter dieser Familien befragt). 180 Zum Beispiel legt der von der Inquisition belangte Priester Giovanni Bertari (s. oben, Anm. 137) Wert darauf, dass der Chronist seine Äußerungen und später seinen Freispruch sorgfältig dokumentiert.

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Die Argumentation der Gegner und der Befürworter der Reform

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auf)181 oder um Sachinformationen und Dokumente in laufende Gerichtsverfahren einzubringen. Die Chronik erweist sich somit als Schauplatz, ja als ein aktives Element im Kampf um die Entscheidungsfindungen in der städtischen Disputgemeinschaft, als eine Bühne, auf der mündliche Äußerung und schriftlicher Text, Worte und Taten ein Kontinuum bilden. Die von Tommasino erzählten Geschichten sind daher mehr als eine bunte und etwas chaotische zeithistorische Materialsammlung. Selbst wo das nicht so ausdrücklich ausgeschildert ist wie in den vorhin zitierten Passagen, zieht er in viele Episoden durch Anfügen eines Sprichworts oder einer Moral eine didaktische, über den Einzelfall hinausweisende Ebene ein. Dies gilt insbesondere für die biografischen Skizzen und Nachrufe, von denen die Chronik durchsetzt ist. An der Kurzbiografie Guidos de’ Guidoni führt der Chronist vor, wie eine individuelle Lebensgeschichte in den Aggregatszustand eines Exemplum in actu überführt werden kann. Viele andere Lebensbeschreibungen und sonstige Episoden haben aber ebenfalls das Zeug zum Exemplum, sind Exempla in potentia: Bewirkt wird dies durch seine Technik, Glaubwürdigkeit zu erzeugen, verallgemeinernde Folgerungen nahe zu legen und Nachrichten so zu kombinieren, dass ihre Rezeption in die gewünschte Richtung gelenkt werden kann. Tommasino macht aus seiner Chronik einen Fundus von Handlungsanweisungen für die städtische Disputgemeinschaft. Wenn der typische Reform-Plot eine Kombination aus den Elementen goldene Anfänge, Verfall und Zustandsdiagnose, Intervention der Reformer und bessere, weil den goldenen Anfängen konformere Zukunft ist – was unterscheidet dann das Antireformnarrativ davon? Bietet die Chronik des Tommasino de’ Lancellotti ein solches Antireformnarrativ? Die antireformistische Erzählung erkennt die guten Anfänge an, aber minimiert oder negiert die Phase des Verfalls, gelangt deshalb zu einer optimistischeren Zustandsdiagnose und kann somit die Intervention der Reformer für schädlich erklären. Ihre Zukunftsperspektive ist derjenigen der Reformerzählung diametral entgegengesetzt: Die Reform ist nicht Ausgangspunkt einer Wendung zum Besseren, sondern ein Schritt in den Abgrund. Strukturell sind beide Narrative also sehr ähnlich. Die Hauptunterschiede liegen in der Gewichtung der Ursprünge, in der Deutung der Geschichte und im Ausblick auf die Zukunft. Die Reformer tendieren dazu, die Vorbildlichkeit der Anfänge zu betonen, dagegen bleiben die Aussichten, die sie für die Zukunft eröffnen, in der Regel eher vage. Die Reformgegner sind demgegenüber weniger an der Ver181 So in einer Episode, in der Tommasino einen Priester (wohl einen Verwandten von Guido de’ Guidoni) davon abbringen will, sich in die weltliche Justiz einzumischen (Lancellotti 7, S. 38, 1541 Apr. 5). Einen späteren Fall referiert Biondi, Tommasino, S. 57 ff. (der Chronist versucht 1552, den Abt des Klosters S. Pietro dazu zu bewegen, zu einer Armensteuer etwas beizutragen, jedoch vergeblich).

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Die »Union der Hospitäler und frommen Stiftungen« von Modena

herrlichung der Gründungszeiten einer Institution interessiert, malen dafür aber die Zukunft, die ihnen das Reformunternehmen einbrocken wird, in detaillierteren schwarzen Strichen. Wenn diese Merkmale zutreffen, dann kann Tommasinos Chronik auch deshalb als ein den Antireformnarrativen strukturell affiner Text bezeichnet werden, weil er der Zukunftsperspektive große Aufmerksamkeit schenkt. Da sie sich als Handlungsanleitungen verstehen, brauchen seine zeithistorischen Exempla eine Einbettung in die Zukunft. Der omnipräsente Blick auf die Zukunft ist schon durch die Journal-Struktur vorgegeben: Ständig muss der Verfasser vorausweisen, muss einfügen, dass er etwas im Moment noch nicht weiß, es aber aufschreiben wird, sobald er es weiß; meist geschieht das am dann erreichten Ort der Handschriften, manchmal auch als Nachtrag an einer früheren Stelle (so wie die Notiz zum Todesdatum Guidos de’ Guidoni). Doch über diese, der Arbeitsweise geschuldeten Beweglichkeit im Umgang mit der Zeit hinaus, wird Tommasinos Geschichtsschreibung von der Zukunft geradezu heimgesucht, und zwar auf zweifache Weise: Zum einen ist sie von linearen Ausblicken auf die Zukunft durchsetzt. Dies führt – im Zusammenhang mit der Unione – zu einer häufigen Wiederkehr von bangen oder zweifelnden Bemerkungen wie: Wo soll das noch enden? Das kann doch nur zu Skandalen und Unordnung führen! Die Unione wird maximal noch zehn Jahre bestehen. Dieser Unfug wird der Stadt schweren Schaden zufügen … und dergleichen mehr.182 Zum anderen hat der antireformistische Zukunftspessimismus, der die Auseinandersetzung des Chronisten mit der Hospitalreform prägt, ein geschichtstheologisches Widerlager in seinem – von vielen Zeitgenossen geteilten – Interesse an Prophezeiungen, also an zeichenhaften Beziehungen zwischen den berichteten Ereignissen.183 Präfiguriert Ereignis A ein späteres Ereignis B? Umso besser, wenn beide schon vergangen sind, dann kann der Chronist den Wahrheitsgehalt früherer Prophezeiungen kontrollieren, und hier übt Tommasino häufig Kritik an Astrologen und anderen Zukunftsverstehern. Aber die Frage nach der Präfiguration stellt sich noch dringlicher in der jeweils aktuell voranschreitenden Gegenwart, wenn die Zukunft noch offen ist. In einem Text, der ohnehin ständig auf die Zukunft schielt, liegt es nahe, die historisch-exemplarische Kausalbeziehung zwischen Ereignissen mit der Aura der Figuralität zu versehen. Zur Debatte stehen dann nicht nur die wahrscheinlichen künftigen Auswirkungen eines Ereignisses (als Ursache einer späteren Folge) im Licht eines historischen Exemplum, sondern vor allem die mögliche Zeichenhaftigkeit

182 Zum Beispiel in Lancellotti 7, S. 151, S. 259 f.; ebd. 8, S. 143, 305; ebd. 9, S. 175, 177. 183 Zu Tommasinos ambivalenter Haltung zu den verbreiteten politischen und religiösen Prophezeiungen seiner Zeit s. Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 53 – 59.

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Ergebnisse

dieses Ereignisses im Hinblick auf künftige Katastrophen. Diese Aura verleiht Anweisungen für das politische Handeln in der Gegenwart besonderes Gewicht. Gegenüber der wenig ausgebauten Reformerzählung der Verfechter der Unione hatten deren Gegner mit Tommasinos Chronik ein stärkeres rhetorisches Instrument an der Hand. Dass es ihnen letztlich nicht half, die Reform rückgängig zu machen oder dauerhaft nach ihrem Geschmack zu verändern, liegt an den Machtverhältnissen im Modena des 16. Jahrhunderts. Sachlich hatten, wie die schwierige spätere Geschichte der Hospitalunion bis zu ihrer Auflösung im 18. Jahrhundert zeigt, die Opponenten vieles richtig gesehen.

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Ergebnisse

Im Fall von Modena kann mit der Chronik eines Augenzeugen eine Quelle ausgewertet werden, die nicht nur detailliert Auskunft über die Reformdebatten gibt, sondern überdies die Sicht der Reformgegner repräsentiert. Keine der anderen hier behandelten Städte hat einen historiografischen Text hervorgebracht (Ghilinis Mailänder Traktat ist ein anderes Genre), der sich auch nur annähernd so ausgiebig mit den örtlichen Hospitälern befasst wie das Journal des Tommasino de’ Lancellotti; aus keiner erfahren wir so viel wie hier über die Ziele, Interessen, Hoffnungen, Enttäuschungen, Taktiken und Argumente der Antireform. Nimmt Modena somit durch den Charakter seiner Quellen eine Sonderstellung ein, so bietet die Stadt in anderer Hinsicht Gelegenheit, andernorts bereits beobachtete Probleme der Hospitalreform aus einer neuen Perspektive zu beleuchten. Zum einen geht es, ähnlich wie in Mailand und in Paris, in Modena darum, im Zuge der Reform den Rechtsstatus der Hospitäler zu klären und neu zu fixieren. Zum anderen widmen die Bürger ihren Hospitälern hier eine öffentliche Debatte, über deren Formen, Sprecher und Grenzen wir (vor allem dank Tommasino) noch besser informiert sind als im Fall von Straßburg. Der Rechtsstatus der Hospitäler und wohltätigen Stiftungen, auf welche die Reformer es abgesehen haben, ist in Modena nicht homogen. Während in Mailand kirchliche, von (Semi-)Religiosengemeinschaften getragene Häuser mit dem Segen von Erzbischof und Papst in vornehmlich laikale Trägerschaft und Verwaltung übergehen, während in Paris der mächtigsten kirchlichen Institution die Verwaltung der Temporalia und ein Teil der geistlichen Aufsichtsrechte mühsam abgerungen werden, sind die Träger der Modeneser Hospitäler neben Kirchen und Orden mehrheitlich Bruderschaften, Zünfte und Privatleute.184 Die Idee, diese Häuser nach dem in Italien längst etablierten Modell in eine zentral verwaltete Union unter Leitung der kommunalen Elite zu überführen, profitiert 184 S. oben, Anm. 24 – 30, 126 f.

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von der hybriden rechtlichen Stellung von Bruderschaften: Es ist zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein ungelöstes Problem, ob die vornehmlich von Laien gebildeten Konfraternitäten und ihre karitativen Ableger der kirchlichen oder der weltlichen Sphäre zuzuordnen sind. In diese rechtliche Grauzone dringen die Reformer ein, deren Aktion nicht nur auf eine Enteignung der alten Hospitalträger, sondern – sozialgeschichtlich gesehen – auf eine Entrechtung des mittleren Bürgertums zu Gunsten des kommunalen Führungszirkels hinausläuft. Sie stoßen erst in dem Moment an eine Grenze, als die lokale Kirche in Person von Bischof Giovanni Morone klare kirchenrechtlich begründete Anprüche formuliert;185 dass der Bischof diese letztlich nicht durchsetzen kann, hängt vor allem damit zusammen, dass die Hospitalunion als Verhandlungsmasse in die noch dringlichere Debatte um die katholische Rechtgläubigkeit der Modeneser Elite gezogen wird. Am Ende bleibt es grosso modo bei der von den Reformern anvisierten und vom Herzog unterstützten Lösung eines zentralisierten Hospitalsystems unter Leitung der kommunalen Oligarchie. Aus diesem Interessenkonflikt erklärt sich der Widerstand der traditionellen Träger der zwangsvereinten Einrichtungen, wie er in der Chronik des persönlich betroffenen Bruderschaftsmitglieds Tommasino de’ Lancellotti offen thematisiert wird, aber auch in der Diskussion um die Statuten der Unione zum Ausdruck kommt.186 Ebenso ergibt sich aus dieser Konstellation für die Reformgegner eine Reihe von naheliegenden Sachargumenten: Die Anklagen lauten auf Vetternwirtschaft, Korruption und Veruntreuung, Unfähigkeit und mangelnde Professionalität der neuen Verwalter, intransparente Besetzung der Leitungspositionen. Die Reformer reagieren darauf, indem sie den Spieß umdrehen und gegen die früheren Verwaltungspraktiken der Antireformer ganz ähnliche Einwände erheben, gehören doch Rationalisierung und Kostensenkung zu den wenigen Begründungen, auf die sie ihre Inititiative von Beginn an explizit stützen; auch die soziale Reputation der neuen Führung wird in die Waagschale geworfen (»Qualifikation« ist für die Reformer an ein soziales Kriterium gebunden). Das ganze Panorama der normativen, vor allem kirchenrechtlichen Topoi kommt hinzu, darunter natürlich das Monitum, die Reform verstoße gegen die Absichten der früheren Hospitalstifter, was die Reformer prompt zurückgeben, indem sie die Stifterintentionen erst durch ihre Initiative als erfüllt ansehen.187 Der Rekurs auf überpositive Normen ist in Modena nicht die Sache der Reformer, sondern im Gegenteil der Opponenten. »Carit—«, die Tugend, ohne die kein Hospital gedeihen kann, sei, so Tommasino, den Reformern fremd, und 185 S. oben, Anm. 123 – 125, 130 – 132. 186 Zur Statutendiskussion oben, Anm. 90 ff. 187 S. oben, Anm. 157 f., 163 f.

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Ergebnisse

wenn sie sich doch einmal karitativ geben, dann sei das geheuchelt.188 Die Argumentation der Reformer nimmt sich nicht zuletzt wegen dieses Verzichts auf den Appell an höhere Normen auffällig nüchtern aus, verwendet auch kaum reformtypische Metaphern wie – was sich ja angeboten hätte – das Bild von caput und corpus zur Beschreibung der neuen Hospitallandschaft. Überdies fehlt den Reformern ein sorgfältig gebautes Reformnarrativ ; sie deuten allenfalls einzelne Aspekte an, zum Beispiel den der Diagnose einer kritischen Lage, die nach Veränderungen ruft (Übergang von Phase II zu III), den der Hoffnung auf eine bessere Zukunft (Phase IV), den wahren Willen der Stifter (Phase I). Die kreativeren Reform-Rhetoren sind in Modena die Reformgegner – man erinnere sich nur an Tommasinos geschicktes handling von zeithistorischen Exempla! Da dieser Eindruck aber hauptsächlich der Einseitigkeit der Chronik geschuldet sein dürfte, sollten aus ihm keine weitreichenden Schlüsse gezogen werden. Er zeigt immerhin eines: Der Plot der Antireform funktioniert in vielerlei Hinsicht spiegelbildlich zum Plot der Reform, die Opponenten argumentieren auf ähnliche Weise wie die Reformer. Das kommt besonders schön darin zum Ausdruck, dass die Gegner der Reform sich des Reformbegriffs bemächtigen, in Modena noch konsequenter als in Paris: Für sie ist die Unione nicht Reform, sondern ist der Missstand, der zu reformieren ist und auf den folglich auch die Antonyme von reformatio (Unione = »destructione«, »confusione«) bezogen werden können. Nur im Hinblick auf das Zeitregime unterscheidet sich das Narrativ der Antireform substantiell von dem der Reform, weil es mit den negativen Zukunftsaussichten argumentiert, die durch die Reformunternehmung zu erwarten sind.189 Der diskursive Raum, in dem diese Dispute geführt werden, ist ein öffentlicher Raum, an dem viele Sprecher teilhaben und auf den das, was über ihn aufgeschrieben wird, wieder zurückwirkt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass in diesem Raum Redefreiheit herrscht – weder in Modena noch in Straßburg, wo der Rat seinen Münsterprediger zu disziplinieren versucht. Im Gegenteil, auch in Modena ist es riskant (Beleidigungen, Prügeleien, Haft, Bußgelder …), das Wort zu ergreifen, weshalb viele aus Angst vor der »Tyrannei« der Kommunalführung oder der herzoglichen Regierung schweigen.190 Der religiöse Konflikt jener Jahrzehnte hat die Sensibilität der kirchlichen wie weltlichen Obrigkeiten nicht nur gegenüber öffentlichen Äußerungen (vor allem Predigten), sondern auch gegenüber Meinungsaustausch in kleinen Gruppen (Accademia) stark erhöht, ein Umstand, der auf die Hospitaldebatte abfärbt; die evangelische Fixierung auf das ›Wort‹ hat die Nebenwirkung, dass die Zeitgenossen nun noch besser auf188 S. oben, Anm. 134 f. 189 »Destructione«: oben, Anm. 149 f.; Zukunftserwartungen: oben, Anm. 182 f. 190 S. oben, Anm. 53, 57 f., 64, 68, 165.

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passen müssen, was sie sagen. Dennoch zeigt der Modeneser Befund, von wie zahlreichen Akteuren und mit welch vielfältigen Mitteln die Bühne einer solchen Stadt genutzt werden kann (während in Mailand vor allem in den Gremien oder bei Hof diskutiert und in Paris eine ›öffentliche Meinung‹ von den Reformern zwar evoziert wird, aber vages Druckmittel bleibt). Deshalb lässt sich auf Modena der Begriff ›Disputgemeinschaft‹ anwenden: trotz allen öffentlich ausgetragenen Disputs eine Gemeinschaft. Dafür spricht die Beobachtung, dass Tommasino seinen Gegnern in Sachen Unione den Vorwurf der lutherischen Häresie, der alle Brücken zerstört hätte, letzten Endes erspart.191

191 S. oben, Anm. 70 f., 137; Disputgemeinschaft: oben, Text nach Anm. 181.

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Resümee: Hospitalreformen als Wegweiser zu einer vormodernen Reform-Rhetorik

Am Ende dieses Durchgangs bietet sich das Bild einer durchwachsenen Erfolgsbilanz der untersuchten Hospitalreformen. Ihre Rechtfertigung war stets umstritten, ihre Durchführung für einen Teil der Betroffenen traumatisch, ihre Durchsetzung weitgehend abhängig von den lokalen Machtverhältnissen und mühsam selbst dort, wo vorzeigbare Resultate erzielt wurden wie in Mailand und anderen norditalienischen Städten. Man könnte nun die ›harten‹ Faktoren, die über Erfolg oder Misserfolg entschieden, rekonstruieren, wie es schon viele historischen Studien getan haben. Man kann aber auch dort ansetzen, wo die Reformen konzipiert und kommuniziert wurden, um Zustimmung zu erreichen, oder anders gesagt: bei der Frage nach ihrer rhetorischen Implantierung. Das ist der Ansatz dieses Buches. Zunächst sei daran erinnert, dass die Quellen, die für die vier Fallstudien und für die Analyse der juristischen Meinungen ausgewertet wurden, nur partiell vergleichbar sind: Überall (doch in Mailand nur mit Einschränkung) stehen statutarische Texte zur Verfügung, und in der Mehrheit der Fälle lässt sich auch Einblick in die Korrespondenz zwischen verschiedenen Obrigkeiten, in obrigkeitliche Erlasse oder in die Reaktion der Päpste auf die Reforminitiativen gewinnen (in Mailand, Paris, Modena und bei den Juristen). Seltener, aber nicht inexistent, sind literarische Quellen im engeren Sinn (in dieser Hinsicht glänzt vor allem Paris, ein wenig auch Straßburg, Italien nicht). Andere, oft besonders wichtige Quellen bleiben hingegen ein Spezifikum der einzelnen Fallbeispiele: Abgesehen von der gesondert befragten juristischen Kommentarliteratur, ist eine Abhandlung wie die von Gian Giacomo Ghilini nur in Mailand zu haben. Beschlussprotokolle wie die von Notre-Dame sind zwar anderswo ebenfalls erhalten, aber nicht in vergleichbarer Dichte und konnten, sofern unediert, auch nicht systematisch herangezogen werden (punktuell für Mailand, in Auswahl für den Rat von Modena); Ähnliches gilt für die Pariser Gerichtsverfahren und Zeugenbefragungen. Für Straßburg sind Äußerungen von Predigern (verschiedener Konfession) sowie ein singuläres Zeugnis, das ›Tagebuch‹ eines evangelischen Almosenschaffners, zentral, während Modena durch die einzige

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Resümee

ausführliche – und überdies kritische – Auseinandersetzung eines lokalen Chronisten mit der Hospitalreform hervortritt; zwar sprechen auch andere Stadtchroniken über Hospitäler (Straßburg), aber sie tun dies bei weitem nicht so detailliert und engagiert wie der Modeneser Chronist. Durch den partiell differenten Charakter der Quellen treten uns die hier untersuchten Hospitalreformen aus unterschiedlichen Perspektiven entgegen. Diese Perspektiven sollen nun gebündelt werden. Versuchen wir, den einleitend dargelegten Ansatz zu reformulieren. Reform, als bewusst gesteuerter historischer Wandel, muss erdacht, kommuniziert und begründet werden, ist somit ein rhetorisches Unternehmen. Daher ist auch die Rhetorik von Hospitalreformen am adäquatesten mit rhetorischen Instrumenten zu beschreiben. Gesucht wurde deshalb (1) nach Narrativen oder ›Reform-Plots‹ und den von ihnen geregelten Zeitdynamiken, nach Metaphern, Leit-Topoi oder Schlüsselbegriffen der Reform, nach Argumenten und Argumentationsweisen, insbesondere rechtlichen Argumenten und Denkfiguren, die in konkreten Debatten über Hospitalreformen zur Anwendung kamen, um die Freunde der Reform zu bestärken und die Gegner zu überzeugen. Dass fast jede Reform Gegner hat oder erzeugt, hat sich an den hier bearbeiteten Fallbeispielen bestätigt, und deshalb muss auch (2) die Rhetorik der Antireform einbezogen werden. Die Identifikation von Leit-Topoi oder Schlüsselbegriffen wirft (3) das Problem auf, was deren Gebrauch über die Veränderungen in den (für Hospitäler relevanten) Wissensbeständen sagt, die solche Topoi nutzen und Ansprüche auf die Deutungshoheit anmelden. Dabei ist im Auge zu behalten, dass durch die angestrebte Bündelung von Reformtexten ganz unterschiedlicher Provenienz die Rückbindung an den jeweiligen historischen Kontext in den Hintergrund tritt. Die Konstruktion einer vom Einzelfall abstrahierenden Reform-Rhetorik darf nicht den aus unseren Fallstudien gewonnenen Befund vergessen lassen, dass im Eifer der historisch nachweisbaren Wortgefechte nicht jedes Mal das gesamte Arsenal aufgefahren wurde. Welche Gründe die Wahl eines bestimmten rhetorischen Niveaus hatte, ist im Einzelfall herauszufinden (dazu sei auf die zusammenfassenden Abschnitte der vorstehenden Kapitel verwiesen): Neben der konkreten kommunikativen Situation einer Äußerung und den individuellen Fertigkeiten der Sprecher oder Autoren konnte hier zum Beispiel das Machtgefälle zwischen den Reformern und ihrem Publikum den Ausschlag geben: In Modena fühlten die Reformbefürworter sich anfänglich so sicher, dass sie meinten, sich mit einem schwachen Reform-Plot begnügen zu können. Die beiden Ebenen – der im jeweiligen Kontext getriebene rhetorische Aufwand und die Rhetorik der Hospitalreformen im Allgemeinen – sind daher zu unterscheiden. Es geht in diesem Schlusskapitel vorwiegend darum, die auf der ersten Ebene zusammengetragenen Materialien für die zweite, die allgemeine Ebene fruchtbar zu machen, und

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Resümee

zwar im Licht der theoretischen Gesichtspunkte, die einleitend dargelegt worden sind. ad (1):1 Zu den Argumenten, die zu Beginn eines Eingriffs in ein Hospital vorgebracht wurden, gehören einige wiederkehrende Begründungen, Anlässe oder Ziele, deren Publikation die Reform direkt plausibel machen soll. Sie bilden die ›Ouvertüre‹ der Hospitalreformen und sind inhaltlich besonders eng an dieses spezielle Reformthema gebunden. Das naheliegende Motiv, (a) ökonomische Krisen oder Epidemien bewältigen zu müssen, spielt dabei eine gewisse, aber keine überragende Rolle. Keine unserer Hospitalreformen ist ausschließlich oder auch nur überwiegend auf derlei kontingenten äußeren Druck zurückzuführen; allerdings kann eine solche Krise den Handlungswillen der Reformer stärken und Forderungen nach konkreten Gegenmaßnahmen provozieren (so etwa in Straßburg, wo Geiler unter anderem mit der Syphilis argumentierte). Wichtiger ist die Begründung, dass (b) die Ressourcen eines Hospitals rationaler eingesetzt werden müssen. Dieses Ziel lässt sich sehr gut rechtlich stützen, bezieht sich doch ein großer Teil des Hospitalrechts (Quia contingit, Justinian) und seiner juristischen Kommentare direkt oder indirekt auf Teilaspekte des ökonomischen Problems (Testierrecht, Besteuerung, Eignung der Rektoren, Veruntreuung, Verpfründung). In Modena zum Beispiel war der Wunsch nach Kostensenkung und Rationalisierung ausdrücklicher Ausgangspunkt der Reformer. Ein weiteres wiederholt genanntes Ziel von Hospitalreformen ist (c) die Eindämmung des Bettelns, die man durch besser funktionierende Hospitäler erreichen zu können hoffte. Das wurde sowohl in Mailand vorgebracht (1448 von Erzbischof Enrico Rampini), war in Paris und Straßburg ein Dauerthema und spielte auch bei der Entstehung der Unione von Modena eine Rolle. Dass diese Hoffnung sich nie erfüllte, lag nicht nur an externen Faktoren, sondern auch an der von den Reformern selbst verstärkten Tendenz, ›starke‹ Bettler von der Nutzung der Hospitäler auszuschließen.2 Mitten ins Feld der institutionellen Gestaltung führt die Absicht, (d) durch eine Reform den Rechtsstatus eines Hospitals zu verändern. Dass diese Veränderung nicht nur eine implizite Folge vieler Reformen, sondern ihr explizites Ziel sein konnte, zeigen die Fälle Mailand und Paris. Zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert bedeutete das in aller Regel, dass das Hospital aus kirchlicher in laikale Kontrolle transferiert wurde. Nur in Straßburg stand diese Frage nicht mehr auf der Tagesordnung, weil die Kommune sie schon lange für sich entschieden hatte, während es sich in Modena mehrheitlich um einen Transfer aus 1 In den Absätzen (1) und (2), die den Kern der Reform- (und Antireform-)Rhetorik resümieren, werden die einzelnen Elemente (Argumente, Topoi, Metaphern etc.) mit fortlaufenden Buchstaben (a), (b) … gekennzeichnet, um adressierbar zu sein. 2 S. dazu unten, Text nach Anm. 11.

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bruderschaftlicher Trägerschaft mit unklarem Rechtsstatus in die Hand der Kommune handelte. Die rechtliche Stellung ist jener Aspekt der Hospitalreformen, der die interessantesten Rückkopplungen mit der begrifflichen Arbeit der Juristen hervorbringt: Die juristischen Überlegungen zur Abgrenzung zwischen loca sacra/ecclesiastica/publica, loca religiosa/pia und loca profana/ privata sowie die Entwicklung übergeordneter Begriffe (cura) begleiten, rezipieren und konditionieren die institutionellen Veränderungen in den Hospitälern. (e) Im einleitenden Kapitel wurde ein vierphasiges Schema eines idealiter vollständigen Reform-Plots entworfen. Aus den realen Hospitalreformen des 14.–16. Jahrhunderts ergibt sich ein differenziertes Bild: Einerseits wurden auch für dieses spezielle Feld der Reformarbeit voll ausgebaute Plots gebraucht, andererseits begnügte man sich in vielen Situationen damit, einzelne Komponenten des Plots zu fragmentarischen, nicht konsequent durchkomponierten Reformnarrativen zusammenzufügen. Letzteres war auch in Mailand häufig der Fall, obwohl gerade von dort ein vollständiger Reform-Plot überliefert ist; diesen hat Gian Giacomo Ghilini aber erst post festum konstruiert und zwar in der Absicht, die Tradition einer erfolgreichen Hospitalreform zu fixieren und mit der Option auf künftige Reformbereitschaft zu verbinden. In Paris berief das Domkapitel sich in einem Prozess um seine Rechte gegenüber den Religiosen des Hútel-Dieu auf einen zeitlich weit ausholenden Reform-Plot, dies aber vor allem deshalb, weil es die Erzählung der Gegenpartei konterkarieren musste; ansonsten konzentrierte seine Argumentation sich auf die der geplanten Reform direkt vorausgehenden Jahre und Jahrzehnte. In Straßburg entwarf nur Martin Bucer in einer Grundsatzpredigt zur evangelischen Nächstenliebe eine bei der Schöpfung ansetzende Reformerzählung; die eigentlichen Hospitalreformer hingegen schossen sich stets auf konkrete Maßnahmen in der Gegenwart ein, die sie überwiegend mit rechtlichen, theologischen oder zeitnahen sachlichen Argumenten begründeten. Ähnlich verfuhren auch die Initiatoren der Hospitalunion von Modena. Alles in allem gewinnt man den Eindruck, dass die Hospitalreformer sich längst nicht immer zu weit ausgreifenden Reform-Plots aufschwingen; oft beschränken sie sich auf eine kleine Zahl narrativer Fragmente, die vor allem in den gegenwartsnahen Phasen II – III des vierphasigen Schemas zu verorten sind: Herleitung der Missstände, Diagnose der aktuellen Lage und Ankündigung der Reformmaßnahmen. Gleichwohl enthalten viele Reformtexte in Spuren auch Elemente der Phasen I und IV: So fungieren die zahlreichen Verweise auf die Intentionen der Hospitalgründer (wie in Quia contingit oder im Prolog der Statuten des Hútel-Dieu von 1535, um nur diese Beispiele zu nennen) als Anspielung auf eine Ursprungssituation, mit der die Reform sich messen will, und dies auch ohne dass die guten Anfänge (Phase I) so breit wie von Ghilini erzählt werden müssen. Ein

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Ausblick in die erwartete Zukunft (Phase IV) kommt auch ohne Prognosen oder Prophezeiungen einfach dadurch zum Ausdruck, dass die Reformtexte, die ja meist normativen Charakter haben, festlegen, wie es künftig sein soll oder wie verfahren werden soll, damit später keine Fehlentwicklungen zu beklagen sind; viele der hier zusammengetragenen Reformstatuten gehen in dieser Weise vor. Daraus folgt, dass das Schema des Reform-Plots den meisten Zeitgenossen vertraut war, auch wenn es nicht in jeder Situation ins Bewusstsein trat oder gebraucht wurde. Wie knapp oder ausführlich auch immer die Reformerzählungen über Hospitäler gestaltet sind: Sie bewegen sich in einem komplexen Zeitregime, das sich noch weiter ausdifferenzieren kann, wenn sich Meta-Erzählungen über die Reformgeschichte in Phase III (oder, bei gescheiterten Reformversuchen, auch in Phase II) des Plots einlagern und damit eine Reformtradition begründen. Die Zeitverhältnisse in den Reformnarrativen interagieren mit den von den Juristen diskutierten Zeitdynamiken, wie sie im Verhältnis von Gewohnheit und Gesetz zum Ausdruck kommen: Diese beiden Begriffe stehen im Recht für die Dialektik zwischen dem geschichtlich Gewordenen und dem Einbruch des Neuen. Bei den Hospitalreformern überwiegt ein gewisses Misstrauen gegenüber den consuetudines, die in der Regel mit schlechten Gewohnheiten, also mit im Lauf der Geschichte (in der Phase des Niedergangs) eingerissenen Missständen, identifiziert werden. Das in den Hospitaldebatten zu beobachtende Zeitregime bestätigt das einleitend unter dem Stichwort »Janus-Köpfigkeit«3 referierte Merkmal, nach dem die vormoderne Reform zugleich in die Vergangenheit und die Zukunft blickte. Das hier analysierte Material rechtfertigt in keiner Weise die Behauptung, es gehe bei mittelalterlichen Reformen vordringlich um eine Rückkehr zu idealisierten Ursprüngen. Im Gegenteil, im oftmals pragmatisch geführten Nahkampf der Hospitalreformen wurde diesen Ursprüngen nur relativ geringe Bedeutung eingeräumt. Die jüngere Vergangenheit, eine Diagnose für die Gegenwart, Reformmaßnahmen und künftige Verbesserungen zählten mehr. (f) Schöpfen die Hospitalreformer aus einem Corpus von Metaphern, die ihnen besonders geeignet zur Veranschaulichung ihrer Argumentation scheinen? Rekurrent ist die organologische oder Körpermetaphorik: caput, corpus, membra, incorporare, Wörter aus der Medizin und Physiologie (»einschlafen«, »erschlaffen«, »hinken« …) und alle sprachlichen Bilder, die eine Hierarchie der Teile mit funktionaler Differenzierung und rationaler Verteilung der Ressourcen veranschaulichen, wie es in einem Lebewesen eben der Fall ist. Diese Metaphorik bot sich insbesondere dann an, wenn die institutionelle Ordnung von Hospitälern neu gestaltet werden sollte (so vor allem in Mailand). Sie ist keine Er3 S. oben, Einleitung, Anm. 28.

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findung der Hospitalreformer, stand vielmehr seit langem in Ekklesiologie und politischer Theorie bereit und wurde gerade in der Kirchenreform des 15. Jahrhunderts wieder aktualisiert. Aus diesem letzteren Kontext wurde sie in die Diskussion um das Pariser Hútel-Dieu importiert, das Fallbeispiel, das auf Grund der Spezifika seiner Organisation den Ordensreformen am nächsten steht. In Paris setzte man auch andere semantische Felder metaphorisch ein, um Sinn und Zweck der Reform zu verdeutlichen: das des biologischen Wachsens (»Samen«, »Blüte«) und das der ursprünglichen Reinheit (»Gold« vs. »Schlacke«).4 Diese Belege lassen sich einem Metapherncorpus der Hospitalreform zuordnen, das freilich nicht sehr reichhaltig ist, jedenfalls wenn man es von dem anders gelagerten rhetorischen Verfahren der Allegorese oder Personifikation reformrelevanter Begriffe und Metaphern (Jean Henry, Pierre Gringore) trennt. Viele unserer Quellen, vor allem Reformtexte geringer Intensität, in denen kleinteilige Reformmaßnahmen geregelt werden, verzichten auf eine metaphorische Aufladung. Der Metaphernschatz, den Hospitalreformer für nützlich halten, ist in den hier untersuchten Texten insgesamt überschaubar. Die Argumente und Argumentationsweisen, in welche die (bzw. welche in die) bisher gesammelten Elemente eingebaut wurden, sind zahlreich, aber nicht unendlich. An einige rekurrente Argumente oder Topoi, die zur Begründung von Anlass und Ziel der Hospitalreform brauchbar sind, wurde schon erinnert (a–d). Weitere materiale Topoi, die in der Hospitaldiskussion wiederholt zum Einsatz kommen, sind teils rechtlicher und teils sachlicher Art. Unter Letzteren ist der (auch juristische) Topos der (g) ›Natur der Sache‹ zu nennen: Es muss dies oder jenes verbessert werden (zum Beispiel ein getrennter Raum für Infektionskrankheiten gebaut werden), weil es die Eigenschaften des Gegenstands zwangsläufig erfordern.5 Überall präsent ist zudem die Überlegung, dass das Hospital (h) seinen guten Ruf zu wahren habe, denn ein schlechter Ruf hätte unliebsame Konsequenzen: Furcht vor göttlicher Strafe, Ehrverlust für diejenigen, die für die Missstände verantwortlich gemacht werden, vor allem aber sinkende Bereitschaft potenzieller Unterstützer, dem Hospital etwas zu spenden. Dieses Argument hört man aus Mailand (vom Erzbischof, vom Herzog), immer wieder aus Paris (vom Domkapitel), aus Straßburg (vom Münsterprediger) und aus Modena (vom herzoglichen Gouverneur, aber in Umkehrung auch von den Reformgegnern). Seine Triftigkeit lässt sich vor allem dort gut einschätzen, wo wir über die Bedingungen der öffentlichen Kommunikation informiert sind (in Straßburg und besonders in Modena). Von den materialen Topoi, die aus dem positiven Recht schöpfen, ist – neben der Berufung auf konkrete Gesetze wie Quia contingit – der mit Abstand 4 Die Zitate in diesem Absatz aus Kap. III, Anm. 142, 168 f. 5 Beispiele in Kap. I, Anm. 44, Kap. III, Text vor Anm. 204, Kap. IV, Text nach Anm. 58.

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wichtigste der bereits im Zusammenhang mit den Zeitschichten des ReformPlots erwähnte (i) Wille der Hospitalstifter. Dieses Argument wurde von den Juristen bereitgestellt, aber war auch für sie schon interpretationsbedürftig. In der Diskussion wurde es besonders gern von den Gegnern der Reform ins Feld geführt, ließ sich aber auch im Sinn der Befürworter umdeuten. Ebenfalls sehr häufig ist der Topos des (j) Appells an höhere Normen. Dieser wäre in weitere Sub-Topoi aufzugliedern (als übergeordnete Rechtsquellen können fungieren: Bibelstellen, göttliches Recht, Naturrecht, als abgeleitete Normen caritas, hospitalitas, humanitas …), doch braucht das hier nicht im Detail verfolgt zu werden. Zwar gibt es auch für ihn Parallelen in der juristischen Literatur, doch im Kontext konkreter Reforminitiativen ist er häufig der Ort, an dem theologische auf juristische (politische, administrative) Interessen prallen, etwa in Johannes Geilers oder Lukas Hackfurts Polemik gegen Statutenhörigkeit zu Lasten der Barmherzigkeit. Die beiden Topoi (i und j) sind für die Diskussion um Hospitalreformen besonders charakteristisch. Von den formalen Topoi oder Argumentationsweisen sei neben dem von den Juristen übernommenen (k) Zeugenbeweis (Paris, Straßburg) insbesondere (l) das Exemplum hervorgehoben. Dessen häufiger Einsatz – assistiert vom Sprichwort, das als ›eingedampftes‹ Exemplum fungieren kann (bei Hackfurt) – scheint für Hospitalreformen von besonderer Signifikanz gewesen zu sein. Das hängt zum einen damit zusammen, dass Reformen auf Erzählungen angewiesen sind und daher Platz für das Andocken exemplarischer Geschichten bieten. Zum anderen legt die mimetische Tiefenstruktur des christlichen Reformdenkens6 gerade dieses rhetorische Mittel nahe, denn mit seiner Hilfe ist das Prinzip des Vorbildhaften in verträglichen Dosen in den Reform-Plot einzulagern; auch die in Ordens- und Hospitalreformen üblichen Techniken des lebenden Exempels und der Besichtigung exemplarischer Vergleichsorte bedienen die mimetische Grundausrichtung der Reform. In unseren Texten werden neben traditionellen historischen oder fiktiven Geschichtlein auch zeithistorische Begebenheiten zu Exempla zubereitet (von Ghilini und besonders von Tommasino de’ Lancellotti, aber dazu mehr unter Punkt 2). Solche Exempla werden in unmittelbarer Nachbarschaft und in ganz ähnlicher Funktion gebraucht wie kurze Berichte über eigene Erlebnisse des Sprechers (so etwa bei Johannes Geiler). Das bedeutet, dass der Gesichtpunkt der Erfahrung ebenfalls in die topische Struktur der Reformdebatten integriert wird und insofern als (m) Erfahrungs-Topos bezeichnet werden kann. Auch hier gab es Deutungsbedarf, denn Erfahrung kann (siehe den Straßburger Disput zwischen Hackfurt und dem Großen Spital) auf die Kompetenz des Experten begrenzt oder aber auf die Zeugenschaft jedes aufmerksamen Beobachters ausgedehnt werden. Jedenfalls sind alle drei ge6 S. oben, Einleitung, Anm. 22 – 24.

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Resümee

nannten formalen Topoi – auf Erfahrung basierender Zeugenbeweis (k), Exemplum (l) und eigene Erfahrung des Sprechers (m) – in der Rhetorik der Hospitalreform eng aufeinander bezogen. ad (2): Wie verhält sich zu einer so beschaffenen Rhetorik der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Hospitalreformen die Antireform? Die beiden Fälle, die die besten Belege für die Meinungen von Reformgegnern bieten, sind Paris und Modena. Wir halten uns hier nicht mit dem von den Opponenten häufig beschrittenen Weg auf, die Gründe der Reformer einfach zu negieren oder umzukehren. Dies zu tun, lag bei der Debatte um die Reformziele Rationalisierung (oben b) oder Änderung des Rechtsstatus (oben d) schon deshalb nahe, weil hier besonders oft grundlegende materielle Interessen berührt waren, deren Verletzung durch die Reform auch gutmeinende Zeitgenossen zu Antireformern machte. Ähnliches gilt auch für das Umdrehen von Schlagwörtern der Reform, in erster Linie des Schlüsselbegriffs reformatio, den die Pariser Reform-›Opfer‹ an die Absender zurückschickten und die Modeneser Reformgegner für sich selbst in Anspruch nahmen. Über Antireform-Plots (vgl. oben e) lässt sich den Quellen zum Hútel-Dieu entnehmen, dass das Idealbild von Gründung und ferner Vergangenheit einer Institution nicht nur zum Maßstab für eine Reform taugt, sondern auch zur Reformkritik. Allerdings neigen die Antireformer dazu, sich die longue dur¦e zwischen Gründung und Gegenwart (Phase I – II) genau anzusehen und dem in diesem Zeitraum eingebürgerten »usus« Gehör zu schenken, während die Reformer sich eher auf normative ›Setzungen‹ (Gründung, neue Normen, Rückkehr zum Gründungszustand) verlassen, die sie gegen die (schlechten) Gewohnheiten platzieren.7 Aus den Aufzeichnungen des Modeneser Reformgegners, Tommasino de’ Lancellotti, erfahren wir wiederum, dass seine Erzählung sich sowohl in der Gegenwartsdiagnose (Phase II – III) als auch im Hinblick auf die Erwartungen an die Zukunft (Phase IV) von jener der Reformer unterscheidet. Im Zeichen der Reform, so raunt der Chronist in quasi prophetischer Attitüde, steuere alles auf ein böses Ende zu (was etwas anderes ist als warnende Prophezeiungen, die als Stütze für Reformmaßnahmen dienen können, wofür es in den hier ausgewerteten Quellen jedoch kein Beispiel gibt). Der AntireformPlot folgt mithin demselben Schema wie der Reform-Plot, doch er gelangt zu einer gegenteiligen Diagnose des gegenwärtigen Zustands und gewichtet die Zeitschichten anders. Die typischen Reformmetaphern (oben f) interessieren die Reformskeptiker nicht, sie setzen ihnen aber kein eigenes Corpus der Antireformmetaphern entgegen. Hingegen nutzen sie wie die Reformer die materialen Topoi (oben g–h), nur dass sie die Natur der Sache oder den Ruf des Hospitals ganz anders 7 »Usus«: s. oben, Kap. III, Text vor Anm. 107.

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beurteilen als jene. Sie suchen ihr Heil aber vor allem in den normativen Topoi (oben i–j). Sollte das positive Recht nicht helfen (in Modena half es zumindest zeitweise), dann kann selbst der genuin reformerische Appell an übergeordnetes Recht in den Dienst der Antireform treten: Tommasinos Zweifel an der »carit—« der Reformbefürworter beweisen es. Schließlich die verfahrenszentrierten Topoi: Erlebt haben kann man alles Mögliche, also fällt es Tommasino, der viel erlebt hat, nicht schwer, aus seinem Erfahrungsschatz (oben m) gegen die Reform zu argumentieren. Aber auch das Exemplum (oben l) setzt er für seine Zwecke ein. Die Technik der Verflechtung von zeithistorischen und biografischen Berichten, traditionellen Exempla und eigenen Erlebnissen, mit dem Ziel, dass alle diese Geschichten die rhetorische Funktion von Exempla übernehmen können, ist sogar ein besonders bemerkenswerter Zug seiner Chronik. Mit ihrer Hilfe steuert er die Rezeption seiner Darstellung der Reformgeschichte der Modeneser Hospitäler. Aus all dem lässt sich folgern, dass die Rhetorik der Antireform und die der Reform weitgehend symmetrisch gebaut sind, dass Erstere wie ein Spiegelbild der Letzteren funktioniert, wobei nicht einmal klar ist, ob die Reform-Rhetorik historisch tatsächlich den Vorrang hat. Die Abweichungen von der Symmetrie sind begrenzt: Sie betreffen nur die Gewichtung der Zeitphasen im jeweiligen Plot und die Metaphorik. Was bereits für die Reform spätmittelalterlicher Hospitäler hervorgehoben wurde, gilt e fortiori für die Antireform: Eine einseitige Fixierung auf die Restauration idealisierter Ursprünge lässt sich ihr nicht nachsagen. ad (3): Aus der oben entwickelten Reihe der Topoi, die zur Konstruktion von Argumenten benötigt werden, ragen einige für das Hospitalthema generell signifikante Leit-Topoi oder Schlüsselbegriffe heraus. Ihre Funktion in den hier untersuchten Diskussionen ist nicht eindeutig festzulegen, weil es sich um besonders umkämpfte Begriffe handelt, deren Bedeutung sich im Verlauf der Reformen wandelte. Es wurden einleitend vier solcher Leit-Topoi (mit ihren Wortfeldern) benannt: caritas, pauper/infirmus, administratio, reformatio.8 Um mit den weniger komplexen Fällen zu beginnen: reformatio ist ein Signalwort, das in den Hospitalreformen alles in allem eine eher untergeordnete Rolle spielt. In Straßburg kommt es nicht vor, was allerdings auch der Tatsache geschuldet ist, dass die dortigen Texte ganz überwiegend in deutscher Sprache geschrieben sind, in der das Wort erst mit der protestantischen Reformation und vornehmlich in deren Texten eine gewisse Popularität bekommt. Sucht man nach Wörtern wie »bessern«, »erneuern« oder »ordnen«, wird man eher fündig, doch haben diese keinen so ausgeprägten Signalcharakter wie reformatio. Anders in Paris, wo reformatio schon um 1500 ein beliebtes Schlagwort geworden 8 S. oben, Einleitung, Anm. 53 – 55.

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war, allerdings eines, das sich durch vielfältigen Gebrauch derart verflüssigt hatte, dass es sich offenbar nicht mehr lohnte, um seine Besetzung zu kämpfen. In Mailand, lange vor der Reformation, aber nach den Reformkonzilien, greifen die Hospitalreformer durchaus auf das Wort zurück, wie es auch von der kirchenrechtlichen Tradition vorgegeben war, haben für ihr Anliegen aber auch andere Begriffen parat (regulatio9 oder die Termini technici für die Hospitalvereinigung). In Modena wird es eher selten und wenn, dann beinahe ausschließlich von den Reformgegnern verwendet. Das Wort, das als Gefäß für alle Ansprüche an die Professionalisierung des Hospitalbetriebs dient, ist administratio, umgeben von einem großen Feld verwandter Termini (gubernatio, regimen, italienisch maneggio, das Partizip qualificato usw.). In spätmittelalterlichen Urkunden und Statuten aller Art ist es sehr gebräuchlich, ohne besondere Auffälligkeiten aufzuweisen. In anderen Reformtexten (Ghilini, Paris10) gewinnt man jedoch zum einen den Eindruck, dass es dort nicht nur die Tätigkeit meint, die die Administratoren ausüben, sondern auch das handelnde, personifizierte Corps der Verwalter selbst (im Sinn von Aussagen wie ›die Verwaltung ordnet an‹ oder ›die Verwaltung meint‹). Zum anderen soll die Verwaltung der Hospitäler aus Fachleuten bestehen, aus Experten, die Rechnungsbücher führen können; Tommasino macht aus dieser Anforderung eine seiner wirksamsten Waffen gegen die Modeneser Hospitalunion. ›Laien‹ sind nicht mehr erwünscht, und der Passus aus dem Pariser Prozess von 1498, an den eben erinnert wurde, ist aufschlussreich für die damals noch bestehende Reibung zwischen dem religiös konnotierten Begriff des Laien (des Nicht-Geistlichen) und dem neuen Begriff des Laien als Dilettanten, zum Beispiel des Nicht-Juristen. Der Begriff administratio kann somit eine Verbindung mit dem Topos der Erfahrung (m) eingehen, wo dieser als Expertise gedeutet wird, und passt in den weiteren Kontext des Rufes nach Fachleuten (vor allem Ärzten), der im Zuge der Hospitalreformen immer vernehmbarer wurde. An den Hospitaldebatten zeigt sich, dass administratio sich von Juristen, Kaufleuten und Politikern relativ widerstandslos in den Dienst der Professionalisierung stellen ließ. Symptomatisch dafür ist das Eingeständnis des Pariser Domkapitels von 1505, es kenne sich mit Buchhaltung nicht aus und überlasse die Verwaltung der Temporalia des Hútel-Dieu deshalb gerne der Kommune. Stärker umkämpft waren die Begriffe, mit denen die Klienten der Hospitäler bezeichnet wurden: Dieses Wortfeld wird hier unter dem Wortpaar pauper/ infirmus subsumiert, mit dem unsere Quellen die Insassen der Hospitäler am häufigsten benennen (abgesehen von volkssprachlichen Entsprechungen). Umkämpft ist dieser Leit-Topos nicht nur deshalb, weil verschiedene Interes9 S. oben, Kap. II, Anm. 67. 10 S. oben, Kap. II, Anm. 152, 186 f.; Kap. III, Text nach Anm. 107 (Punkt 3).

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sengruppen an ihm zerren, sondern auch, weil er verschiedene Wissensgebiete aufruft. Gewichtung und Kombination der beiden Bestandteile sowie ihre eventuelle Ersetzung durch andere Termini sind symptomatisch für diese Kämpfe und im Grunde für die ganze vormoderne Hospitalgeschichte. Die hier herangezogenen Quellen rechtfertigen keine simple Säkularisierungs- oder Medikalisierungsthese, nach der es eine irgendwann in der frühen Neuzeit abgeschlossene Entwicklung vom hochmittelalterlichen pauper Christi – dem Allround-Bedürftigen, den die Johanniterregel noch als »Herrn der Hospitäler« ansieht11 – zum medizinisch zu versorgenden kranken Patienten gegeben habe. Vielmehr scheint es eher vom jeweiligen Sprecher und Adressaten, von der Sprechsituation und vom lokalen Kontext abzuhängen, ob einer und welcher der beiden Aspekte bevorzugt wurde. In theologisch beeinflussten Texten oder Sprechsituationen – wenn der Bischof sich äußert, wenn man an den Papst schreibt, aber auch im reformierten Straßburg – bevorzugt man pauper oder ›arm‹. In internen Texten, vor allem solchen, die ein durch die Reform stärker auf medizinische Belange getrimmtes Hospital betreffen (Ghilini, Pariser Statuten von 1535), bekommen infirmus und seine Synonyme mehr Gewicht, ohne freilich ganz beherrschend zu werden. Für eine Abgrenzung zwischen theologischem und medizinischem Wissen wäre der Schrägstrich in pauper/infirmus mithin ein zu simples Symbol. Die neuen, professionellen Verwalter der reformierten Hospitäler werden sich noch lange nicht auf einen der beiden Aspekte festlegen. Einig waren sich fast alle Beteiligten nur über eine bewusst vorangetriebene Ausblendung: Die mit pauper/infirmus gemeinten Armen sollten ›würdig‹ sein, wie auch immer das definiert wurde (arbeitsunfähig, ortsansässig, moralisch nicht kompromittiert, durch biblische Vorbilder gerechtfertigt, am besten krank, eben pauper et infirmus); gesunde, gewohnheitsmäßige Bettler zählten nicht zu diesem Kreis. In Mailand und Modena ergab sich diese Ausgrenzung aus der Aufgabenbeschreibung der neuen Hospitalsysteme, in Paris (»maraudi«) und Straßburg (Geiler, Almosenordnung, Hackfurt) waren am Ende einer langen Debatte selbst die barmherzigsten unter den Theologen nur noch in Ausnahmefällen dafür, die öffentliche Wohlfahrt für gesunde Bettler zu öffnen. Noch heftigere Verschiebungen erfuhr das Wortfeld caritas. Dieser Schlüsselbegriff des Christentums wie der Hospitalgeschichte ist die theologische Grundlage der hospitalitas, die auch von den Juristen als selbstverständliche Basisnorm für Hospitäler propagiert wird. Alle Hospitalreformer berufen sich letztlich auf die caritas bzw. auf die aus ihr abgeleiteten Christentugenden wie Barmherzigkeit. Ihre Quelle ist außerjuridisch, doch durch ihre Migration in die kirchenrechtlichen Textcorpora bleibt eine gewisse Juridifizierung der caritas 11 Mollat, Les pauvres, S. 178.

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Resümee

nicht aus. Dies korrespondiert mit der Tatsache, dass die Werke der Nächstenliebe in der Praxis schon seit dem 12. Jahrhundert zunehmend von Laien geübt, wenn auch nicht monopolisiert worden waren. Welchen Stellenwert karitative Institutionen in der Mentalität der Laien im 15. Jahrhundert besaßen, zeigt die Bemerkung des Herzogs Francesco Sforza in einem Brief an seinen römischen Gesandten, in ein Hospital zu investieren sei verdienstlicher als in den weiteren Ausbau der Kathedrale von Mailand.12 In der evangelischen Theologie erfährt der Begriff eine Neudeutung, für die in Straßburg die Intervention Martin Bucers Zeugnis ablegt und die auch auf die Hospital- und Almosendiskussion einwirkt. Werke der Barmherzigkeit gelten nun als Zeichen des Glaubens, nicht mehr als verdienstliche Handlung zur Sicherung von Gottes Wohlwollen. Damit gerät die caritas nicht nur ins Zentrum des Streites zwischen den verschiedenen Theologien, sondern verliert auch ihre Bindung an das alltägliche menschliche Handeln. Sie ist zwar einerseits stark präsent in den Einlassungen evangelischer Theologen über die Armen- und Krankenfürsorge. Andererseits scheint gerade dieses Vakuum die Politiker und Verwalter der Hospitalreform in der Idee bestärkt zu haben, man könne Hospitäler auch anders organisieren: Mit professionellem Personal und kostendeckender Ausstattung wird Barmherzigkeit zweitrangig. Indes hat sich auch im katholischen Milieu der Begriff der caritas gewandelt. Man vergleiche den Livre de vie active von Jean Henry (1482), in dem die Verdienstlichkeit ihrer barmherzigen Werke den Schwestern des Hútel-Dieu quasi den Status von Heiligen sichert, mit den Reformstatuten von 1535: Zwar verbeugen sich deren Autoren tief vor »charit¦«, »compassion« oder »b¦nignit¦«, doch werden diese schönen Tugenden ausschließlich als persönliche Tugenden der im Hospital arbeitenden Religiosen konzipiert und nicht mehr als objektiver Weg zum Seelenheil.13 Neben diesen theologischen Reibungen im Binnenraum des caritas-Begriffs zeigen die Konflikte um Hospitalreformen, dass auch an seinen Außengrenzen etwas geschah: Zwischen caritas und der Welt der sich professionalisierenden, den Politikern und Juristen überlassenen administratio stellte sich eine wachsende Distanz ein. Zugleich verweisen die Bewegungen in den hier vorgestellten vier Schlüsselbegriffen oder Leit-Topoi auf ein generelles Problem von Reformdebatten (und allen gesellschaftlich relevanten Debatten): Je umstrittener und aufgeladener ein solcher Topos ist, umso geringer wird seine rhetorische Leistung, das heißt umso weniger kann er als Medium der Plausibilisierung fungieren.

12 S. oben, Kap. II, Anm. 102. 13 S. oben, Kap. III, Anm. 56, 167 f.

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Resümee

Was ist gewonnen, wenn die rhetorische Struktur von Diskussionen um spätmittelalterliche Hospitalreformen einer abstrahierenden Analyse unterzogen wird? Zum Beispiel dies: Ein solcher systematischer Ansatz erlaubt es, einzelne Reformelemente – wie Verfallserzählungen oder Körpermetaphern – zu kontextualisieren und auf diese Weise Mythen der Forschung neu zu bewerten, etwa den von der Rückwärtsgewandtheit der vormodernen Reform. Aber mehr noch: Das Konzept der Reform-Rhetorik ermöglicht es, bei den kulturellen Rahmenbedingungen anzusetzen, die das Handeln der Akteure orientieren. Selbst ein Herzog von Mailand musste über das, was er verändern wollte, verhandeln, musste seine Mitspieler überzeugen. Und um noch weiterzugehen: Bereits die Absicht, bestimmte Veränderungen vornehmen zu wollen, verdankte der Herzog Texten, Beispielen, Vorbildern, Bildern; sein Projekt lebte in und von rhetorischen Instrumenten. Die ›harten‹ Fakten der historischen Reformvorgänge werden in dieser Lesart nicht ignoriert, sondern in die Reform-Rhetorik integriert. Inwieweit sich die aus der Hospitaldiskussion erhobenen Befunde auf andere Reformdiskurse übertragen lassen, kann im Rahmen dieses Buches nicht ernsthaft untersucht werden. Ein Vergleich der Rhetorik der Hospitalreformen mit den Debatten über die Kirchenreform des 15. Jahrhunderts würde, so ist immerhin anzunehmen,14 ergeben, dass die Reformnarrative und auch das Arsenal der argumentativen Topoi beider Diskurse sich ähneln, aber nicht identisch sind, denn unter den an der Kirchenreform interessierten Wissensfeldern hatte die Theologie noch größeres Gewicht als in der Hospitalreform, wo das juridische Paradigma immer weiter vordrang. Gemeinsam sind beiden Reformdiskursen einige Grundmerkmale von Gerhart Ladners »christlicher Reformidee«: Gerade in Bezug auf die Kirche stehen individuelle und institutionelle Reform in einem ambivalenten Verhältnis und gilt für das Zeitregime der Reform das Bild der »Janus-Köpfigkeit«. Vermutlich ließe sich in den Diskussionen über die Kirchenreform auch die in den Hospitalreformen festgestellte Nuancierung der rhetorischen ›Intensität‹ wiederfinden – zumindest legen dies die von den Konzilien von Konstanz und Basel hinterlassenen Texte nahe: Reformentwürfe im hohen Stil und mit weitreichendem Anspruch standen auch dort neben zahlreichen pragmatischen Vorschlägen, die kleinteiliger und rhetorisch magerer (aber meist besser realisierbar) waren. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Hospitalreform und anderen Reformdiskursen betrifft auch die Auswirkungen von Luthers Reformation auf die Hospitäler. Dass die evangelische Hospitaldebatte diverse Kontinuitäten zu ihren Pendants vor 1520 aufweist, ließ sich am Beispiel Straßburg sehen. Zwar wurde die Nächstenliebe nach 1520 theologisch neu gefasst, aber Gründe, auch 14 Literatur dazu oben, Einleitung, Anm. 17 f.

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Resümee

theologische, sie in die Praxis umzusetzen, gab es nach wie vor. Im Vergleich zu den viel massiveren Einschnitten in die örtliche Hospitallandschaft, die in Mailand und Modena durchgesetzt wurden, verlief die Arbeit an der Verbesserung des Straßburger Großen Spitals zwischen 1500 und 1540 eher sanft: Sie beschränkte sich auf kleinere Interventionen zur Beruhigung von Reformern wie Johannes Geiler oder Lukas Hackfurt sowie auf die nötigen Anpassungen der geistlichen Aspekte an den neuen Glauben. In Straßburg war vor 1520 niemand prinzipiell gegen Verbesserungen im Spital, solange sie bezahlbar waren, und das blieb auch dann so, als die Hospitalreform ein Nebenschauplatz der Großbaustelle Kirche geworden war. Der eigentliche Umbruch fand auf höherer Ebene statt, auf der des gesamten Wohlfahrtssystems, zu dessen Finanzierung fast alle Klöster geschlossen wurden; auf dieser Ebene ging das protestantische Straßburg tatsächlich weiter als die katholischen Städte. Gewiss ersetzen diese Hinweise keinen gründlichen Vergleich zwischen den verschiedenen Bühnen spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Reformen. Ladners Rekonstruktion der »christlichen Reformidee« sowie bereits geleistete Forschungen zur Ordens- und Kirchenreform des 15. Jahrhunderts und zur evangelischen Reformation ermutigen dennoch zu der Hypothese, dass die Debatten über Hospitalreformen Aufschluss über signifikante Elemente des Reformdenkens im weiteren Sinn geben. Sollte sich dies erhärten lassen, hätten die Hospitalreformen exemplarische Funktion und könnten als Wegweiser zu einer Reform-Rhetorik der Vormoderne dienen.

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Stadtpläne

Plan 1: Avignon, Hospitäler im 14. Jahrhundert aus: Le Blévec, La part du pauvre 2, S. 753. Plan 2: Mailänder Hospitäler nach einer Beschreibung des Jahres 1288 aus: Cosmacini, La C— granda dei milanesi, S. 25. Plan 3: Mailand gegen Ende des 15. Jahrhunderts aus: Boucheron, Le pouvoir de b–tir, nach S. 624. Plan 4: Die Pariser Hospitäler um 1400 aus: Lorentz/Sandron, Atlas de Paris au Moyen Age, S. 179. Plan 5: Straßburg um 1500 aus: Rapp, R¦formes et R¦formation, S. 527. Plan 6: Klöster und Hospitäler in Modena, erste Hälfte des 16. Jahrhunderts aus: Peyronel Rambaldi, Speranze, S. 164 (Hospitäler ergänzt nach den Karten in Lavini/Saviano, La medicina, S. 28 f. und 76).

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Stadtpläne

Plan 1

Avignon, Hospitäler im 14. Jahrhundert

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Stadtpläne

Plan 2

Mailänder Hospitäler nach einer Beschreibung des Jahres 1288

Legende A Fortezza – B Basilica Vetus (alte Kathedrale) – C Naviglio – D Laghetto Hospitäler : 1 S. Ambrogio – 2 S. Vincenzo – 3 S. Celso – 4 S. Nazaro – 5 S. Lazzaro – 6 S. Dionigi – 7 S. Simpliciano – 8 S. Stefano – 9 S. Barnaba (8 und 9 bilden das Ospedale del Brolo) – 10 Ospedale Nuovo sopra muro

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358

Stadtpläne

Plan 3

Mailand gegen Ende des 15. Jahrhunderts

Legende (Auswahl) A Porta Comacina – B Porta Nuova – C Porta Orientale D Porta Romana – E Porta Ticinese – F Porta Vercellina 1 Dom S. Maria (neue Kathedrale) – 6 Kloster S. Simpliciano – 25 Kloster und Stift S. Ambrogio – 26 Castello Sforzesco – 30 Corte Ducale – 35 Ospedale Maggiore – 36 Palazzo Arcivescovile – 40 Lazarett

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Stadtpläne

Plan 4

Die Pariser Hospitäler um 1400

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Stadtpläne

Plan 5

Straßburg um 1500

Legende (Auswahl) 1 Münster – 12 Franziskanerkloster – 24 St. Stefan – 25 St. Marx – 28 St. Margareta – 29 St. Nikolaus in undis – 30 Elendenherberge am Alten Weinmarkt – 38 Zweite Elendenherberge – 56 Leonhardshospital (1. Standort) – 57 Großes Spital (3. Standort) – 58 Phynen- oder Barbaraspital (Standort bis 1477)

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Stadtpläne

Plan 6

Klöster und Hospitäler in Modena, erste Hälfte des 16. Jahrhunderts

Legende (Auswahl) Kirchen und Klöster : 0 Kathedrale – 2+3 Dominikanerkloster – 4+5 Augustinerkloster – 8 Franziskanerkonventualen – 13 S. Pietro (Benediktiner) – 16 Karmeliter Hospitäler : a CadÀ – b S. Maria dei Battuti – c Ospedale della Morte – d Ospedale di Ges¾ – e S. Lazzaro – f S. Giobbe – g S. Bartolomeo – h S. Antonio Stadttore: A Porta S. Agostino – B Porta Bologna – C Porta S. Francesco

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Abkürzungen

Allgemeines und Werktitel a. ad v. Art. Clm DBI

anno ad verbum Artikel Codex Latinus Monacensis (Bayerische Staatsbibliothek München) Dizionario biografico degli italiani, Rom 1960 ff. (und in: http://www.treccani.it/biografie/) den. denarius duc. ducatus fl. florenus, Gulden fr. frater Hs. Handschrift JK Jaffé/Kaltenbrunner, Regesta 1 (s. Quellenverzeichnis) JL Jaffé/Löwenfeld, Regesta 2 (s. Quellenverzeichnis) lib. libra Ms. manoscritto OSB Benediktiner OESA Augustinereremiten OM Obs. Franziskanerobservanten sol. solidus sr. soror s. v. sub verbo

Juristisches C. c. Clem. Cod. Decr. Grat.

Causa (im Decr. Grat., pars II) capitulum (in Decr. Grat., Liber Extra, Liber Sextus und Clementinen) Clementinen (s. Friedberg, Corpus iuris canonici 2) Codex Iustiniani (s. Krueger u. a., Corpus iuris civilis 2) Decretum Gratiani (s. Friedberg, Corpus iuris canonici 1)

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364 Dig. Dist. l., ll. Nov. q. VI X

Abkürzungen

Digestum (s. Krueger u. a., Corpus iuris civilis 1) Distinctio (im Decr. Grat., pars I) lex, leges Novellae Iustiniani (s. Krueger u. a., Corpus iuris civilis 3) quaestio (im Decr. Grat., pars II) Liber Sextus (s. Friedberg, Corpus iuris canonici 2) Liber Extra (s. Friedberg, Corpus iuris canonici 2)

Archive und Bibliotheken AAP AN AOM ASCMo ASMi ASMo ASV AVCUS BA BE

Archives de l’Assistance Publique, Paris Archives Nationales, Paris Archivio dell’Ospedale Maggiore, Mailand Archivio Storico del Comune di Modena Archivio di Stato, Mailand Archivio di Stato, Modena Archivio Segreto Vaticano Archives de la Ville et de la Communaut¦ Urbaine, Strasbourg Biblioteca Ambrosiana, Mailand Biblioteca Estense e Universitaria, Modena

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Unedierte Quellen Citt— del Vaticano, ASV Reg. Vat. 396, f. 293r–v ; Reg. Vat. 403, f. 36r–v ; Reg. Vat. 470, f. 159r–161v Mailand, AOM Diplomi 50, 64, 1176 (Miniati 22), 1405 (Miniati 33) Ordinazioni capitolari, vol. 1 (1447 – 1452); vol. 2 (1456 – 1461) Mailand, ASMi Atti di Governo, Luoghi pii, parte antica, cart. 339, I fascicolo (Nr. 25): Ordini appartenenti al Governo dell’Ospitale grande di Milano, gedruckt Milano (Fratelli da Meda) 1558, 42 Bll. Atti di Governo, Luoghi pii, parte antica, cart. 339, I fascicolo (s. n.): Ordini riformati, gedruckt Milano (Giovanni Battista e Giulio Cesare Malatesta) 1642 Aug. 22, 160 pp. Sforzesco, Registri ducali, 25 Mailand, BA Ms. I 399 inf. Modena, ASMo Manoscritti della Biblioteca, s. unten, Forschungsliteratur : Malmusi Gride a stampa, s. unten, Edierte Quellen: Capitoli Modena, ASCMo Ex Actis 1537, 1541, 1542 Ms. Camera Segreta, Parte IV, XI 11 Vacchette 1533, 1537 – 1359, 1541, 1542 München, Bayerische Staatsbibliothek Clm 14014: Iohannes de Lignano, Commentaria in Clementinas Clm 24164, f. 35r–48r : Baldus de Perusio, [Notizen zu den Clementinen]

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366

Quellen- und Literaturverzeichnis

Paris, AN L 591 – 595 LL 129, 139

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Personenregister Vor 1500 verstorbene Personen sind in der Regel mit dem Erstnamen angesetzt, je nach Usus entweder in lateinischer oder in volksprachlicher Schreibung. – Kursive Seitenzahlen verweisen im Personen- und Ortsregister auf Fundstellen, die auf der betreffenden Seite ausschließlich in den Fußnoten vorkommen. – Zusätzliche Abkürzungen im Personenregister : Bf. = Bischof, Ebf. = Erzbischof, Hzg. = Herzog/Herzogin, Kan. = Kanoniker, Kd. = Kardinal, Kg. = König, Ks. = Kaiser, Mag. = Magister des Pariser Hútel-Dieu, OP (Obs.) = Dominikaner (Observanz), P. = Papst.

Albergati s. Niccolý Alberti s. Leon Battista Albrecht von Bayern, Bf. 216 Alfons I. Este, Hzg. 281, 331 Alfons II. Este, Hzg. 311 Alkuin 11, 22, 34 Allegrin, Kan. 180 Alý (Eligius), hl. 13 d’Amboise, Georges, Kd. 182 Ambrosius, hl. 95 Antonio Averlino detto il Filarete 98, 107, 116 – 119, 134 Antonio da Bitonto, OM Obs. 104 Antonio Pichetti, Kan. 86 Antonius, Prior Deputati 87 Ardoin Aubert, Kd. 44 Aristoteles 29, 202, 203, 244 f. Arnaud de Verdale 45 Augustinus 19 f., 194 f. Aymery s. Emery Baldus de Perusio 38 f., 54, 70, 72 Bambasio, Raffaele 288 Bartolomasinis, Iohannes 303 Bartolus de Saxoferrato 38, 58 Beatus Rhenanus 224, 225 du Bellay, Ludovicus, Kan. 191 Bellincini (Familie) 281, 300 Bellincini, Agostino 301 Bellincini, Aurelio 329 Bellincini, Cesare 301

Bellincini, Francesco 289, 297, 301, 303, 311, 322, 325 Bellincini, Gian Battista 322 Benedikt XII., P. 27, 45, 69 Benedikt XIII., P. 45 Bernabý Visconti 80 Bernard, Pierre, fr. Hútel-Dieu 206, 207 Bernardo del Carretto, Abt 92 Berner, Alexander 263, 275 Bernhard von Clairvaux, hl. 174 Bertari, Giovanni, OP 300, 319, 334 Bertoul, Iohannes, Kan. 191, 192, 194, 198 f., 201, 206 f. Bianca Maria Visconti, Hzg. 82, 97, 100, 106 f., 111, 113, 118, 120 Bonifacius Ammannati, Kd. 41, 63 – 66, 69 f., 72 f. Bonifaz VIII., P. 40 Bordier, Jean, Abt 201, 206 f. da Borgonovo, Paolo, OM Obs 295, 334 Brant, Sebastian 160, 219, 225 BriÅonnet, Jean 189 Brinon, Prokurator 172, 175 – 177 Bucer, Martin 242, 244 – 253, 256 f., 261, 264, 269, 272 – 275, 344, 352 Bugenhagen, Johannes 249, 251 de Buliond, Maurice 208 Calixt III., P. 104, 106, 107 f., 110 f., 112, 113, 115, 141 Capito, Wolfgang 242, 252, 257, 264, 277 Carandini (Familie) 281, 300

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Personenregister

Carandini, Anna 301 Carandini, Bartolomeo 301 Carandini, Elia 288, 289, 294, 297, 301, 303, 322, 325 Carlo da Forl‡, Ebf. 110 Carlo Pallavicino, Bf. 122 – 125, 140 Castelvetro (Familie) 281 Castelvetro, Ludovico 301, 302 Castiglione s. Giovanni, Leonardo Cavallerini, Tommaso 301 Chiericati, Francesco 242 Cicero 29 Cichus Simonetta 99, 105, 114 Claustre, Guillelmus, Kan. 180 Clemens V., P. 35, 37, 40, 42 – 44, 46, 57 f., 65, 69 f., 73, 229 Clemens VI., P. 45 Clemens VII., P. 281 Codebý (Familie) 281 Codebý, Gian Battista 303 Cosimo il Vecchio de’ Medici 97, 98, 117 Cusanus s. Nikolaus von Kues Custodi, Pietro 99 de Custodia, Iodocus, Mag. 185 Diderot, Denis 143 Domenico da Catalogna, OP Obs. 104, 123 Dossi, Dosso 297, 314 Duprat, Antoine, Papstlegat 150, 156 Elisabeth, hl. 158 Emery, Iohannes, Kan. 170, 172 – 174, 176 Enrico Rampini, Ebf., Kd. 88 – 93, 95 f., 98 – 100, 101, 102 – 104, 107 f., 113, 114, 124 f., 140 f., 343, 346 Ercole I. Este, Hzg. 285 f. Ercole II. Este, Hzg. 289 – 291, 296 – 298, 306, 310 f., 313, 315, 320, 323 – 325, 326 f., 328, 330 f. degli Erri, Pellegrino, Prior 300 Este (Familie) 277, 280 f. Este, Ippolito 281, 330 Este s. auch Alfons I., Alfons II., Ercole I., Ercole II. Eugen II., P. 40

Eugen III., P.

86

Fabri, Iohannes s. Le FÀvre Falloppia, Gabriele 302 Federicus de Senis 58 Fiacrius, hl. 167 Filarete s. Antonio Averlino Filippo Maria Visconti, Hzg. 80 f., 86 de la Fontaine, Antoine, Mag. 205 f., 208 dal Forno (Familie) 300 dal Forno, Ludovico 301 dal Forno, Teofilo (Teofano), Kan. 301 Foscarari, Egidio, Bf. 283, 312 Francesco degli Atti, Kd. 54 Francesco della Croce, Kan. 86, 89, 93, 96 Francesco Sforza, Hzg. 76, 77, 82, 95, 97 f., 100 f., 103 – 108, 110 f., 112, 113 – 120, 122, 134, 137 f., 140 f., 346, 352 f. Franciscus Zabarella, Kd. 63, 66 – 69, 71 f. Franz I., Kg. 47, 192, 207, 209 Friedrich III., Ks. 280 Friedrich von Blankenheim, Bf. 216 Fritsche Closener 214 Gabriele Sforza, Ebf. 104, 106 f., 110 Gaignon, Iohannes, Kan. 179 f. Galeazzo Maria Sforza, Hzg. 77 Gebwiler, Hieronymus 236 Geiler von Kaysersberg, Johannes 47, 213, 223 – 238, 241 f., 247, 250, 257, 263, 264, 269, 272 – 275, 339, 343, 346 f., 351, 354 Ghilini, Gian Giacomo 79, 126 – 142, 337, 341, 344, 347, 350 f. Giacomo Calcaterra 107, 108 Gian Galeazzo Visconti, Hzg. 80 f., 85 Gilinus s. Ghilini Giovanni di Castiglione, Bf., Kd. 107, 108, 110 f. Giovanni (III.) Visconti, Ebf. 98, 100 – 104, 106, 140 Giovanni Maria Visconti, Hzg. 81 Grassetti, Francesco 290, 291, 295 – 298, 301, 303, 316, 319, 324, 328, 334

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395

Personenregister

de Graville, sieur, Admiraldus Francie 181 f., 183, 186 Gregor IX., P. 40 Gregor XI., P. 45, 163 Gr¦vin (Gervain), Martin, Mag. 171 – 174, 176 – 178 Grillenzoni (Familie) 300 Grillenzoni, Bartolomeo 301 Grillenzoni, Francesco 301 Grillenzoni, Giovanni 301 Gringore, Pierre 160 – 162, 168 f., 176, 212, 346 Guido de Baysio 54 de’ Guidoni, Guido, Kan. 288 f., 291, 295 f., 302, 303, 317, 321 f., 329 – 332, 333, 335 f. de’ Guidoni, Lodoviga 329 de’ Guidoni, Tommaso 329 Guilelmus de Monte Lauduno 58, 59 f., 61, 71 Hackfurt, Lukas 257 f., 260 – 262, 264 – 275, 347, 351, 354 de Hacqueville, Nicolaus, Kan. 183 Hedio, Caspar 242, 250, 257, 261 Heinrich II., Kg. 209 Heinrich III., Kg. 209 Heinrich von Homburg 219, 221 Henricus de Segusio, Kd. 52, 58, 59, 65, 72 Hieronymus, hl. 31 Homer 245 Hostiensis s. Henricus de Segusio Hugo, Victor 143, 160 Innocenz IV., P. 64, 68, 196 Iohanna l’Asseline, Priorin Hútel-Dieu 164 Iohannes de Aplano, Notar 88 Iohannes de Daverio, Notar 88, 93 f. Isidor von Sevilla 230 Jacopino de’ Lancellotti (Bianchi) 279 Jakob Twinger von Königshofen 214, 236 Jakob von Vitry, Bf. 14 Jean Gerson, Kan. 153 Jean Henry, Kan. 28, 157 – 160, 164,

168 f., 172 f., 176 f., 183 – 185, 212, 346, 352 Jesselinus de Cassanis 51, 58, 60 Johannes XXII., P. 43, 45 Johannes XXIII., P. 66 Johannes Andreae 41, 50, 58 – 63, 64, 65, 67, 71 Johannes Chrysostomos 234, 250 Johannes de Imola 63 Johannes de Lignano 37, 60 f. Johannes von Salisbury, Bf. 29 Johannes von Segovia 20 Jonas (Prophet) 26 Justinian I., Ks. 37 – 39, 343 Karl V., Ks. 267 Karl V., Kg. 148, 154, 163 Karl VIII., Kg. 171 Karl IX., Kg. 209 Karl der Große, Ks. 22 Karsthans 242 Kienast, Jörg 221 f., 236 Kniebis, Nikolaus 264 de Lailly, Iohannes, Kan. 179 f. Lanbine, Alis, sr. Hútel-Dieu 199 de’ Lancellotti (Bianchi), Tommasino 278 f., 281, 282, 284, 286 – 301, 303, 305, 306, 307 f., 309, 313 f., 315, 316 – 324, 326, 328 – 340, 342, 347 – 350 de’ Lancellotti (Bianchi) s. auch Jacopino Lapus Abbas (Lapus Tactus) 53, 58, 60 f., 63, 67 Lapus de Castellionio 37, 39, 45, 47 – 58, 60 f., 63, 66, 71, 73 Laurentius l’Aisn¦, fr. Hútel-Dieu 169, 170 f., 178 Le Blanc, Laurens 175 f. Le FÀvre, Jean, Mag. (1) 164, 165, 170 – 178, 187 f. Le FÀvre, Jean, Mag. (2) 178 Leo X., P. 286, 330 Leon Battista Alberti 116 Leonardo di Castiglione, Kan. 108, 110 Ludovico il Moro, Hzg. 126 Ludwig IX., Kg. 149

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396

Personenregister

Ludwig XI., Kg. 155 Ludwig XII., Kg. 126, 178, 181 f., 184, 186, 188, 209 Luther, Martin 17, 240, 241 f., 249, 251 f., 282 f., 299, 301, 303, 305, 340, 353 Maginus, hl. 167 de Mailly, Charles 208 Mailly, Iohannes, Mag. 198 Marie de Bretagne, Äbtissin 158, 159 Mattheus Romanus 61, 64 Maximilian I., Ks. 278 Medici s. Cosimo Menenius Agrippa 128 Merlin, Iacobus, Kan. 191, 192, 194, 198 f., 201, 206 f. Michele da Carcano, OM Obs. 104, 134 Molza (Familie) 281, 303, 334 Molza, Niccolý 288 Morillon, Kan. 180 Morone, Giovanni, Bf., Kd. 281 – 283, 284, 295 – 300, 301, 302, 305 f., 308, 310, 312, 314 – 316, 318 – 320, 322 – 325, 328, 338 Mulpius, Iohannes Baptista 303 Muratori, Ludovico Antonio 277 Niccolý Albergati, Kd. 19 Nicolas de Clamanges 25 Nicolaus de Tudeschis 63 Nicolý Amidano, Ebf. 104 Nikolaus V., P. 46, 89, 98 – 100, 103, 106, 107, 113, 120, 285 Nikolaus von Kues, Kd. 18, 19 f., 27, 78 NoÚl, Nicolaus, Mag. 178, 185 Odysseus 28 Ottone del Carretto 114 f., 120, 122

108, 110 f., 112,

Pallavicino s. Carlo Panormitanus s. Nicolaus de Tudeschis Paris, Claudius, fr. Hútel-Dieu 199 Paul III., P. 207 f., 283 Paulus (Apostel) 19 f., 24, 269 Paulus de Castro 38 f.

Paulus de Liazariis 58, 60 – 63, 64, 73 Petrus de Ancarano 63 Petrus Bertrandus 52 Pfarrer, Mathis 253 Pierre de Foix, Kd. 46 Pius II., P. 46, 79, 110, 111 – 114, 115, 119, 123, 125 f., 139, 141 Porto, Francesco 298 Prignanus, Ludovicus 303 Quattrofrati, Girolamo 289, 291, 294, 297, 302, 318, 334 Rampini s. Enrico Rangoni (Familie) 280, 303, 334 Rangoni, Ercole, Bf. 281 de Refuge, Petrus, Kan. 172 – 176, 177, 183 Ricci, Lodovico 277 Robert von Bayern, Bf. 216 Rulmann Merswin 219 Ruz¦ (Familie) 153 Ruz¦, Gaillardus, Kan. 179 f. Savonarola, Girolamo 18, 19 di Secchia, Geminianus 296 Sforza s. Francesco, Gabriele, Galeazzo Maria, Ludovico Sigibaldi, Gian Domenico, Vikar 281, 282, 291, 296, 302, 315 Sigismund, Kg., Ks. 81 Sixtus IV., P. 77 f. Stamegnone, Hospitalar Perugia 13 Stephanus Hugoneti 61 Stine, Guillelmus, Mag. 178 Tassoni (Familie) 300 Tassoni, Antonio 302 Tassoni, Gian Battista 301, 302 Teggia, Girolamo 300 Tenon, Jacques 155 Thomas von Aquin 58, 244, 246 de Thoulouse, Jean 208 Timoteo Maffei, Kan. 120 f., 125 Tiraboschi, Girolamo 277 Tommaso Tebaldi 118

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397

Personenregister

Ulpian 66 Urban III., P. 40, 52 Urban V., P. 45, 48, 56 f., 69, 71, 73 Valentini (Familie) 281, 300 Valentini, Bonifacio, Kan. 300, 302 Valentini, Filippo 289, 302 Valerandus de Varanis 160, 162 Villa, Francesco 289 – 291, 294, 295 – 298, 302, 306, 313, 323 – 328, 330, 334, 346 Visconti s. Bernabý, Bianca Maria, Filippo Maria, Gian Galeazzo, Giovanni (III.), Giovanni Maria

Vives, Juan Lu†s

261

Wencker, Jakob 219 Wenzel, Kg. 80 Wilhelm von Diest, Bf. 216 Wilhelm von Honstein, Bf. 216 Wimpfeling, Jakob 224 Zabarella s. Franciscus Zell, Matthäus 242 Zwingli, Ulrich 251

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Ortsregister

Aigueperse 158 Angers 47 Ansbach 263 Arles 45 Assisi: Hospital S. Stefano 36 Augsburg 249, 263 Avignon (Stadt, Kurie) 25, 37, 41, 43 – 46, 63, 64, 69, 77, 82, 83, 355 f. – Hospital der Kathedrale 43 – Hospital St-Lazare 46 – Hospital Ste-Marthe 44 – Hospital du Pont, St-B¦n¦zet 43, 44 – Hospital du Pont-Fract 43 – Petit Húpital 46 Baden 263 Basel (Konzil, Stadt) 17 f., 242, 263, 353 Bergamo 77 Blois: Domus Dei 169 Bobbio 92 Bologna 58 f., 78, 80, 277, 286 Brescia 76 f. Brixen 27 Burgund 216, 218 Chaise-Dieu-du-Theil 157 f. Chalkedon (Konzil) 194 Como 77 Crema 77 Cremona (Stadt, Bistum) 76, 77, 81, 120 – 122, 125, 141 – Hospital S. Maria della Piet— 97, 120 – 122, 140

Cusago

95

Dänemark 249 Deutschland, Hl. Römisches Reich 17, 35, 214 – 216, 249, 251, 263, 268, 275, 280 – 282, 299 Dinkelsbühl 263 Ferrara (Konzil, Stadt) 18, 77, 278, 280, 289, 296 f., 324 f. – Hospital S. Anna 317, 330 Florenz (Konzil, Stadt) 15, 18, 37, 45, 48, 53 f., 77, 83, 98, 104, 116, 124, 189 – Hospital S. Gallo 48 – Hospital S. Maria Nuova 48, 50, 77, 98, 121, 141, 317, 330 – Hospital S. Miniato 48, 56 – Hospital S. Salvi 48, 53 – Hospital S. Sebio 48 – Kloster S. Miniato 61 Foligno 39 Fontevraud 157 – 159 Frankreich 15, 16, 17, 28, 44 – 46, 47, 69, 143 – 145, 147 f., 158, 162, 168, 182, 207, 209 f., 216, 267, 280 Freiburg im Breisgau 221, 236 Genua

77, 226

Isny 263 Italien 14 f., 16, 36 f., 40, 45 f., 69, 75 – 78, 80, 82, 83, 95, 97, 104 f., 166, 218, 226, 277 – 280, 283, 304, 337, 341

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400 Jerusalem

Ortsregister

25

Kirchenstaat 78, 80 Kleve 267 Konstanz (Konzil, Stadt) 17, 18, 21 f., 24, 32, 263, 353 La Rochelle: Domus Dei 169 Lindau 233, 263 Livry 171 Lodi (Stadt, Bistum) 47, 75, 76, 77, 81, 104, 122 – 125, 140 – Ospedale Maggiore, S. Spirito della Caritate 47, 123 – 125, 133, 140, 142 Lombardei 76, 78 f., 82, 88, 116, 123, 142 Lucca 189 Maas 12, 83 Mailand (Stadt, Dukat, Erzbistum) 32 f., 47, 75 f., 80 – 83, 85 f., 88, 90, 95 f., 98, 104 f., 110 – 112, 115, 117, 120 – 122, 133, 140, 142, 178, 189, 209, 211 f., 272, 277, 324, 337, 340 f., 343 – 346, 350 f., 354 f., 357 f. – Bauwerke – Castello Sforzesco 98, 117 f. – Palatia de Brolio et Lagetto 99 f., 104 f. – Bruderschaften (generell) 91, 109, 127 – Carit— 90 – Divinit— 83, 90 – Misericordia 90 – Piet— 90 – Quattro Marie 83, 90 – Umilt— 90 – Hospitäler (generell) 81 – 83, 85, 87, 89 – 92, 94 – 96, 101, 127 – S. Ambrogio 83, 84, 108, 128 f. – S. Antonio 109 – S. Bernardo 84, 94, 109 – Brolo 83, 84 f., 87, 91 – 93, 100, 101, 108, 128 – 130, 135 – S. Caterina 83, 84, 100, 109, 128 f. – S. Celso 84, 108, 128 – Colombetta 84

– S. Dionigi 46, 83, 84 – 86, 100, 108, 128 – Lazarett 128, 135 – S. Lazzaro 84, 86, 109, 113, 126, 128 – S. Maria Maddalena 84, 94, 109, 113, 114 – S. Martino 84, 86, 94, 108 – S. Nazaro, S. Antonio, „Porci“ 84, 109, 113 – Ospedale Maggiore, C— Granda 75 – 79, 82, 84, 97, 99 f., 103, 105 – 107, 109, 112 f., 115 – 119, 123, 126 – 130, 133 – 135, 137 – 139, 141, 352 – Ospedale Nuovo 83, 84 f., 109, 128 – Piet— 84, 108 – S. Simpliciano 83, 84, 94, 100, 103, 108 f., 114, 128 – S. Vincenzo in Prato 83, 84, 109, 128 – Kirchen u. Klöster – S. Celso 86, 110 – Dom, Domfabrik 87, 108 – 110, 115, 352 Mantua 77, 116 Meaux 169 Memmingen 263 Modena (Stadt, Bistum) 32 f., 78, 108, 277 – 284, 285, 286 f., 291, 293, 295 f., 298 f., 302 – 305, 311, 316, 321, 323 f., 326, 328, 330 f., 333 f., 337 – 344, 346, 348 – 351, 354 f., 361 – Bruderschaften (generell) 285 f., 290, 304, 307 – 309, 311 f., 314 f., 317, 320, 321 f., 324 – 326, 331, 337 f. – Annunziata 285, 293 – S. Bernardino 285, 293 – Dompriester 330 – S. Erasmo 293 – S. Geminiano 293 – Ges¾ 285 – S. Giovanni della Morte 285, 291, 295 – 297, 307 f., 314, 316, 325 – S. Lazzaro 284, 285, 301, 330 – S. Maria Battutorum 285 f., 288 f., 290, 300, 301 f., 303, 326, 332

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401

Ortsregister

– S. Pietro Martire 285, 286, 289, 297, 303, 316, 334 – S. Rocco 284 – Hospitäler (generell) 284, 286, 314 – 316, 318, 320, 321, 324 – 326, 330 f., 337 – Antoniter 284, 285, 293, 330 – S. Bartolomeo 285, 292 – CadÀ 285, 287, 292, 294 – 297, 319, 320, 324, 327, 330 – Ges¾ 284, 292 – S. Giobbe 285, 292, 330 – S. Girolamo 293 – S. Lazzaro 284, 285, 287, 292, 294, 326, 330 – S. Leonardo, Cruciferi 284 – S. Maria Battutorum 284 f., 287 f., 292, 294, 295 f., 299, 329 f. – Morte 284 f., 292, 316 – S. Rocco 284 – S. Spirito 284 – Unione 47, 277, 278 f., 284, 286 – 333, 334, 336 – 340, 343 – Kirchen u. Klöster – Dom, Domkapitel 282, 295, 307 – S. Pietro 300, 335 – Reuerinnen, Convertite 307, 308, 309, 332 – S. Sepolcro 293 – Wohltätige Stiftungen (generell) 331 – Desco dei poveri 293 – Opera Pia 293 – Opera del Priatto 293 f., 316, 318, 330 – Pater Pauperum 293 f. – Ponte Alto, Ponte Basso 293, 294, 330 Monza: Hospital S. Gerardo 83, 129 Mosel 12 Narbonne 45 Neapel 289 Nonantola 330 Nürnberg 242, 243, 253 – 255, 256, 257, 263

Orl¦ans 169, 190 Orvieto 78 Padua 48, 66 f., 75 Paris (Stadt, Bistum) 32 f., 145 – 149, 152, 154, 158, 161, 163, 164, 165 – 168, 169, 172 f., 177 f., 180, 182, 185 – 187, 193, 196, 200, 211, 226, 272, 337, 339 – 341, 343 f., 346 – 351, 355, 359 – Bauwerke – Ch–telet 149 – Hútel-Dieu (modern) 143 f. – Hútel de Ville 148 – Louvre 149 – Petit-Pont 143, 150 – Hospitäler (generell) 149 – Ste-Catherine 169, 170 – St-Eloi 149 – St-Esprit 149 – St-Eustache 167 – Hútel-Dieu de Paris 14, 33, 102, 143 – 212, 344, 346, 348, 350, 352 – Incurables 167 – Petit-St-Antoine 149 – Quinze-Vingts 149 – Kirchen u. Klöster – St-Germain-des Pr¦s 166 f. – St-Lazare, St-Ladre 192, 199, 205 – 207 – St-Martin-des-Champs 170 – Notre-Dame, Dom, Kapitel 143, 146 f., 148, 149 f., 152 – 154, 160, 162 – 166, 168 – 188, 190 – 194, 196 – 198, 202, 204 – 212, 341, 346 – St-Victor 189, 192 – 194, 196 f., 199, 201 – 212 Parma 75, 77 f., 81 Pavia (Stadt, Bistum) 75, 76, 81, 88, 107, 108, 110 f., 124 – Hospital S. Matteo 76, 97, 104, 116, 123, 124, 125, 133, 142 Perugia 13, 225 – Hospital Sant’Alý 13, 16 Piacenza 77, 81 Pistoia 48 Pontoise: Domus Dei 169

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402 Prato

Ortsregister

48, 56 f.

Ravenna (Synode) 41 Reggio Emilia 278 Rhein 12, 83, 218, 260 Rimini 40 Rom (Stadt, Kurie) 40, 47, 78, 82, 83, 85, 103, 107 f., 110, 112, 116, 120, 122, 179, 192, 208, 280, 283, 331, 352 – S. Clemente 88 – Hospital S. Spirito in Sassia 14, 189, 317, 330 Sankt Gallen 263 Schweiz 244 Siena (Stadt) 77, 104, 124, 189 – Hospital S. Maria della Scala 78, 81, 83, 99, 121, 141, 317, 330 Straßburg (Stadt, Bistum) 18, 32 f., 166, 213 – 228, 230 f., 236, 239, 240 – 244, 249 – 253, 255 – 258, 260 f., 262, 263, 267, 271 – 275, 277, 328, 337, 339, 341 – 344, 346 f., 349, 351 – 355, 360 – Hospitäler (generell) 219, 221, 225, 227, 258 – Blatter-(Syphilis-)Haus 219, 222, 255, 258, 261, 266, 268 – Elendenherbergen 218 f., 222, 227, 242, 255 f., 258, 260 f., 268 – Großes Spital, St. Leonhard 47, 213, 218 – 221, 222, 223 – 231, 232, 235 – 241, 243, 244, 258 – 275, 347, 354 – Phynen-(Barbara-)Spital 218 f. – Waisenhaus 219, 222, 255, 258, 261, 263, 268

– Kirchen u. Klöster – St. Arbogast 243, 258 – Dominikaner 258 – St. Erhard 219, 240 – Franziskaner 261 – Johanniter-Kommende 219 – Karmeliter 222 – Kartause 243 – St. Margaretha 243 – St. Maria Magdalena 243 – St. Marx 258 – Münster, Dom, Münsterfabrik 217, 227 – St. Nikolaus in undis 242, 243 – St. Stefan 243 – St. Wilhelm 243 Toskana 48, 77 f., 80, 121 Toulouse 59 Treviso 77 Trient (Konzil) 36, 283, 298, 299 Ulm

249, 263

Varese 77 – Ospedale Nifontano 129 Venedig 77, 82, 98, 124 Veneto 77, 80 Vienne (Konzil) 14, 27, 35, 40, 45, 59, 70 Viterbo 78, 83 Windesheim 192, 201 Wittenberg 244, 249, 251 f. Württemberg 263 Zürich

263

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