Heidegger und die Tradition: Eine problemgeschichtliche Einführung in die Grundbestimmungen des Seins [2 ed.] 9783787322961, 9783787304981

Worin liegt der "andere" Sinn von Sein und Wesen und des Wesens des Menschen bei Heidegger? Werner Marx unters

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German Pages 260 Year 1980

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Heidegger und die Tradition: Eine problemgeschichtliche Einführung in die Grundbestimmungen des Seins [2 ed.]
 9783787322961, 9783787304981

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Werner Marx Heidegger und die Tradition

Meiner · BoD

W ER N ER M A R X

Heidegger und die Tradition Eine problemgeschichtliche Einführung in die Grundbestimmungen des Seins

Zweite, durchgesehene Auflage

FELIX MEIN ER V ER LAG H A M BU RG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-0498-1 ISBN eBook: 978-3-7873-2296-1

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1980. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem www.meiner.de Zellstoff. Printed in Germany.

Dem Gedächtnis meines Freundes Rudolf Strauss

V O R W O R T ZU R Z W EIT E N AUFLA G E

Das Hauptanliegen dieses Buches war, eine Antwort auf die Frage zu finden, worin für Heidegger der von der Tradition abweichende andere Sinn von Sein und Wesen und des Wesens des Menschen liegt. Diese Frage wurde nicht aus historischem Interesse gestellt ; die Entfaltung der durch die Frage bezeichneten Aufgabe und die kritische Verdeutlichung der Problematik des von Heidegger voll­ zogenen Bruchs mit der Tradition wollte ein Weiterdenken der Grundbestimmungen veranlassen, die Heidegger in seiner Spät­ philosophie vorgelegt hat. Solch ein Weiterdenken ist jedoch seit dem Er�cheinen dieses Buches nur in begrenztem Umfang erfolgt, weil das Interesse an Heidegger sehr hinter das an anderen Rich­ tungen der Gegenwartsphilosophie zurücktrat. Es bleibt jedoch ein Desiderat, dessen Erfüllung von großer praktischer Bedeutung wäre - in Heideggers Sinn von Praxis als eines "handelnden Den­ kens", das die Ankunft eines "anderen Anfangs"

vorbereiten

könnte. Hierfür bieten die in diesem Buch entfalteten Grundbe­ stimmungen Heideggers - gerade in ihrem Verhältnis zur Tra­ dition - noch immer die geeignete Ausgangsbasis. Darum wurde von einer Neufassung abgesehen. Auch wenn die Zeit für ein "eigentliches " Weiterdenken an­ scheinend noch nicht gekommen ist, stehen einem es vorbereiten­ den Denken unterschiedliche Wege offen, die geeignet sind, Hei­ deggers Grundgedanken in Bewegung zu halten. Ein Weg ist, sich stets von neuem um die Gesamtdeutung seines Werkes zu bemühen. Dies wird schon durch das fortlaufende Er­ scheinen der Bände der Gesamtausgabe nahegelegt. Mein letzter Ver­ such in dieser Richtung war die Gedenkrede Das Denken und seine Sache (in : Heidegger, Freiburger Universitäts'lJorträge zu seinem Gedenken, hrsg. v. Werner Marx, Freiburg 21979, S. l1-14). Sie wäre zu vergleichen mit meiner früheren Gesamtdeutung Die Bestimmung des andersanfänglichen Denkens (in : Werner Marx, Vernunft und Welt, Den Haag 1970, S. 78 ff.; Englisch : Nyhoff, The Hague 1971).

Vorwort zur zweiten Auflage Ein anderer Weg ist, die Entwicklung zu verfolgen, die einzelne wichtige Grundbestimmungen in Heideggers Denken genommen haben, wie die von Ereignis und aletheia sowie insbesondere seine Auffassung vom Wesen der Sprache. Als Beispiel für diesen Weg sei auf meine Abhandlung Die Welt im anderen Anfang - die Rolle des Dichters und das "Dichterische Wohnen« verwiesen (ebd. S. 98

ff.). Noch wichtiger aber scheint mir ein dritter Weg zu sein : solche

Möglichkeiten in Heideggers Grundbestimmungen zu entfalten, die über das von ihm selbst Gesagte hinausführen. Dies war die Absicht meiner Abhandlung Die Sterblichen (in: Nachdenken über Heidegger, Hildesheim 1979, S. 160-175). Was den Rückblick auf die " Tradition" in diesem Buch angeht, so habe ich seit seinem Erscheinen die Kategorien des Aristoteles in einer umfassenderen Weise dargestellt, in Einführung in Aristo­ teles' Theorie des Seienden (Freiburg 1972, übernommen von Felix Meiner, Hamburg ; Englisch : Den Haag 1972). Einige der hier er­ örterten Kategorien Hegels wurden ausführlicher behandelt in mei­ nem Buch Hegels Phänomenologie des Geistes (Frankfurt 1971 ; Englisch : Harper & Row, New York 1975). Freiburg/Brsg. im November 1979 .

Werner Marx

V O R W O R T Z U R E RS T E N AU F LA G E

Diese Abhandlung ist aus Vorlesungen und Seminaren a n der Grad­ uate Faculty (University in Exile) der New School for Social Re­ search, New York, hervorgegangen. Während des Sommersemesters 1958 wurden ihre Grundgedanken an der Universität Heidelberg vorgetragen ; sie sind seitdem in vielfacher Hinsicht ausgearbeitet worden. Mein Interesse an Heideggers Problematik ist durch Karl Löwith erweckt worden ; ihm gebührt mein besonderer Dank. Die erste Hälfte der nachfolgenden Einleitung erschien unter dem Titel Heidegger und die Metaphysik in der Festschrift für Wilhelm Szilasi Beiträge zur Philosophie und Wissenschaft (Francke Verlag Mün­ chen 1960) . New York, 11. Juli 1960

Wuner

Marx

I N HALT Einleitung

11 f. Hauptteil: Die Tradition

Erstes Kapitel : Gestalt und Sinn der aristotelischen ousia 1. Die Gestalt der ousia . . . 2. Der Sinn der "Ewigkeit" der ousia ... ..... . . . ...... 3. Der Sinn der Notwendigkeit der ousia . 4. Der Sinn der Selbigkeit der ousia ................... 5. Der Sinn der Intelligibilität der ousia .... . .......... .

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Zweites Kapitel : Der Sinn von Sein, Wesen und Begriff bei Hegel 52 1. Das Seinsgeschehen als Wahrheitsgeschehen 55 2. Der Grundzug der Selbigkeit des Seins . . . .. . ..... .. 68 .

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81 Drittes Kapitel : Sein, Wesen und das Wesen des Menschen . 1. Sein, Wesen und das Wesen des Menschen . . . . ... 82 bei Aristoteles 2. Sein, Wesen und das Wesen des Menschen bei Hegel .. 86 .

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Il. Hauptteil: Die .,Oberwindung" der Tradition

Erstes Kapitel : Der Versuch einer " überwindung" von Sub­ stanz und Subjekt in den Frühwerken ... ............. . 93 .

Zweites Kapitel: Zeitlichkeit, Geschichtlichkeit

derholung

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und die Wie. 108

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Drittes Kapitel : Die Struktur des Andenkens und Vordenkens 12 1 und die Aufgabenbereiche .

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IIf. Hauptteil: Die erstanfänglichen Grundzüge des Seins

Erstes Kapitel : Der "Unterschied" von Sei� und Seiendem

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Zweites Kapitel : Der zeitliche Sinn des Seins : das Anwesen

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Drittes Kapitel: Physis.

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Viertes Kapitel: Aletheia Fünftes Kapitel: Logos

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IV. Hauptteil: Die Seinsgeschichte und die ,.Kehrec Erstes Kapitel: Die Struktur der Seinsgeschichte

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Zweites Kapitel: Das Wesen der Technik und die .. Kehre" V. Hauptteil:

Die andersanfänglichen Grundzüge des Seins

Erstes Kapitel: Die Welt

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Zweites Kapitel: Welt und Ding

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Drittes Kapitel: Das Wesen der Sprame

VI. Hauptteil: Das Wesen des Menschen Erstes Kapitel: Das .. Verhältnis" des Seins zum Wesen des Mensmen 209 .

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Zweites Kapitel: Die erstanfänglichen Grundzüge des Wesens des Menschen .. ................................... 214 .

Drittes Kapitel: Die andersanfänglichen Grundzüge des Wesens des Mensmen ................................. 222 .

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Viertes Kapitel: Das Wesen des Dichtens und das .. dichterische Wohnen" .. . 229 .

Smluß

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Bibliograpie der zitierten SchriA:en Register

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EINLEITUNG

"Die Frage, die man von alters her fragt, die man heute fragt, wie in all·� Ewigkeit fragen wird, und die uns ewig beunruhigen wird, die Frage: ti to on - was ist das Sein eines Seienden - dies ist die Frage : tis he ousia - was ist das Wesen eines Seienden" . I n diesem berühmten Satz aus dem 7. Buche der Metaphysik erklärt Aristoteles somit : Die Frage nach dem Sein eines Seienden ist die Frage nach dessen Wesen. Und er sagt voraus, die Seinsfrage werde ewig als Wesensfrage gestellt werden und damit wiederum, daß das Wesen ewig die Bedeutung von ousia beibehalten werde 1 • Aristoteles hat mit diesen zwei Voraussagen in einem erstaun­ lichen Grade recht behalten. Die abendländische Philosophie hat vorwiegend aus der Voraussetzung dieses Ansatzes der Seinsfrage als der Wesensfrage weiterphilosophiert. Wenn sie die Seinsweisen eines Seienden bedachte, hat sie in erster Linie auf die Wesensver­ fassung des Seienden geachtet. Und das heißt zunächst einmal ganz allgemein gesagt : sie hat nach dem Was-sein bzw. der Was-heit des Seienden gefragt. Die Wirkung des Aristoteles war in dieser Hin­ sicht in der Tat entscheidend und weitreichend. Sie reimt bis in die zeitgenössische Philosophie. Sie bestimmt - in der Gestalt der An­ erkennung oder der Abwehr - das zeitgenössische Fragen nach Sein und Wesen. Deshalb müssen wir, die wir von der Seins- und We­ sensfrage im zeitgenössischen Denken handeln wollen, verwundert fragen : Wie erklärt es sich, daß wir noch nach fast zweieinhalb Jahrtausenden die Wirkungskraft: dieses aristotelischen Gedankens 1 Metaphysik 1 02 8 b-2 ff. Diese Lesart trifft am besten den Sinn dieser einen Auffassung der Bedeutung der ousia, die problemgeschidltlich entscheidend wurde. Vgl. zum Folgenden vom Verf. The Meaning 0/ Aristotle's ·Ontology·. Bezüglich der Auffassung, die die vielfältige Aussagbarkeit des Seins, das on leg etai pollachos radikaler faßt, vgl. Meta. 1 026 a-33 ff., 1 045 b-35 ff. ; und mit Bezug auf die Auffassung der ousia, die zur scholastischen Transzendentalienlehre führt, vgl. ibid. 1 053 b-l0 fI. 11

Einleitung

verspüren, wie erklärt es sich, daß Aristoteles weitgehend mit der Voraussage recht behielt, daß die Seins frage immerfort als Wesens­ frage gefragt werden würde? Eine wirklich überzeugende Erklärung würde der Nachweis sein, daß die Sache selbst die Rückführung der Seinsfrage auf die Wesens frage verlangt, daß es also sachgemäß und deshalb notwendig ist, in dieser Weise zu philosophieren. Man darf behaupten, daß Aristoteles im Rahmen des traditio­ nellen Sinnes von Sein und Wesen tatsächlich diesen Nachweis im vierten Buch der Metaphysik erbracht hat 2• Das Sein eines Seienden ist vielfach gegliedert und deshalb ist es vielfältig aussagbar legetai pollachos -, z. B. gemäß der Kategorie der Quantität in seinem Groß-sein oder gemäß der Kategorie der Qualität in seinem Schwer-sein . Aber diese und alle anderen Weisen eines Seienden zu sein 8 sind von einem bestimmten Bezug durchwaltet, einer be­ ziehenden Bewegung, die die verschiedenen Seinsweisen eines Seien­ den zurückführt auf die sie alle bestimmende und einende "eine gewisse physis", auf die ousia, das Wesen. Dies geschieht - so erklärt Aristoteles - genauso, wie eine gesunde Hautfarbe oder eine gesunde Medizin oder ein gesunder Fußmarsch sich von selber auf den all diese Weisen bestimmenden Sinn, auf die Gesundheit zurückbe­ ziehen '. Nur weil das Sein eines Seienden selbst von dieser be­ ziehenden Bewegung zum Wesen hin durchwaltet ist, nur weil die Sache selbst es so verlangt, fordert Aristoteles 6 von jedem Philo­ sophen, er müsse in erster Linie nach den Prinzipien und letzten Gründen der ousia, des Wesens, fragen, er müsse die Wesensfrage stellen, wann immer er die Seinsfrage stellt. Daß die dem Aristoteles nachfolgende abendländische Philosophie - von gewissen Ausnah­ men abgesehen - dieser Forderung entsprochen hat, erklärt sich aber des weiteren daraus, daß Aristoteles das Wesen der ousia in tiefgründiger Weise durchdacht und in seiner großen "Leistungs­ kraft:" für das Verstehen von Seiendem darzustellen vermocht hat. Kann man aber behaupten, Aristoteles habe auch mit seiner Vor­ aussage recht behalten, insofern in ihr lag, daß das Wesen des -

2 Ibid. 1 003 a 3 3 ff. 3 Es sei erwähnt, daß sim nach einer anderen Lesan diese "anderen Weisen- nimt auf die ousia beziehen. 4 Dies ist nur ein kurzer Hinweis auf das smwierige Problem, wie die vielfältigen Seinsweisen auf die nimt gattungsmäßige pros ben Einheit hin ausgesagt wurden. Vgl. hierzu J. Owens Tbe Doctrine 0/ Being in tbe Aristotelian Metapbysics S. 49 ff. S Meta. 1 003 b-1 8 . -

12

Einleitung

Wesens ewig als ousia gedacht werden würde ? Bestimmte das Wesen in dieser Bedeutung die abendländische Denkgeschichte und be­ stimmt sie ebenso noch das zeitgenössische Denken? Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die in substantia übersetzte ousia in der Denkgeschichte des Abendlandes vielfache Wandlungen durchge­ macht hat. Und trotzdem sind - mit wenigen Ausnahmen - die verschiedenen Spielarten der Substantialitätslehren an den Grund­ bedeutungen der aristotelischen ousia zumindest orientiert geblie­ ben. So entstammen zum Beispiel noch maßgebliche Kategorien der letzten großen »Seins- und Wesens lehre" , der Hegelschen Logik, gewissen Grundweisen der aristotelischen ousia - und dies trotz ein­ schneidender denkgeschichtlicher Wandlungen. Wenn Aristoteles somit im wesentlichen mit jenen zwei Voraus­ sagen recht behalten hat, wenn in der abendländischen Denkge­ schichte die Seins frage vorwiegend als Wesensfrage angesetzt blieb, wenn das Wesen viele Charakterzüge der ousia beibehielt, wenn so die Wirkungskraft der aristotelischen Gedanken durchgängig bis in unsere Zeit hineinreicht, dann muß es in der Tat als der Versuch einer wahrhaften Revolution angesehen werden, wenn in unseren Tagen ein Philosoph die Seinsfrage ausdrücklich nicht mehr als eine solche»Wesensfrage" ansetzt und das Wesen ausdrücklich nicht mehr im Sinne der ousia oder der Substanz denkt. Ungeachtet der Voraussage des Aristoteles - und entgegen der abendländischen Tradition - hält Martin Heidegger sich nicht mehr an jene strenge Forderung des Aristoteles gebunden, bei der Frage nach dem Sein in erster Linie nach den Gründen und Prinzipien des Wesens eines Seienden zu fragen. Zwar ist sein Denken - wie Aristoteles dies ja auch voraussagte - noch von der Frage nach dem Sein und Wesen beunruhigt, aber nicht von der Seinsfrage, die nach dem ti, dem »Was" eines Seienden fragt, wobei dieses »Was" die Bedeutung von Wesen, und Wesen die Bedeutung von ousia oder von Substanz hat. Es wird die Aufgabe dieser Ausführungen sein, darzustellen, wie Heideggers Frage nach Sein und Wesen durch eine von der aristotelischen Frage abweichende Richtung in einen ande­ ren Bereich, in eine andere Dimension gelangt. Und es soll gezeigt werden, wie in diesem anderen Bereich die Grundworte »Sein" und »Wesen" einen gegenüber der Tradition derart veränderten Sinn erhalten, daß jene grundsätzliche aristotelische Forderung eines Ansatzes der Seinsfrage als Wesensfrage gegenstandslos wird. Heidegger hat sich schon in den Frühschriften zu zeigen bemüht, 13

Einleitung

daß die traditionelle Philosophie die Leistungskraft des Wesens in der Bedeutung von Substantialität durmaus übersmätzt hat. In Sein und Zeit suchte er die Allherrsmaft der Substanz durch den Nachweis zu brechen, daß diese Kategorie weder das Wesen des Menschen noch das Wesen solcher Dinge samgerecht erfassen kann, mit denen der Mensm in seiner Welt umgeht. Zwar richtete sich der Hauptangriff in Sein und Zeit gegen die Substanz in cartesismer Prägung, aber er sollte zugleim die aristotelische ousia treffen. Eine Zeitlang stand man unter dem Eindruck, als leugne Hei­ degger überhaupt, daß es so etwas wie "das Wesen" gäbe. Oder man mißverstand gewisse paradoxe Wendungen in Sein und Zeit so, als hätte Heidegger den Vorrang einer smolastism verstandenen Existenz des Menschen vor seiner Essenz, d. h. seinem scholastism verstandenen Wesen etwa in dem Sinne behauptet, wie dies Sartre später tat. Man hat indessen aber allgemein anerkannt, daß jene Analysen von Seinsstrukturen, �i es des Daseins, des Mitseins, des Seins der Dinge, oder die Frage nam der "Idee von Sein überhaupt" irgendwie "Wesensfragen" waren, obwohl nicht klar wurde, wie sich der diesen Analysen zugrunde liegende Wesensbegriff von dem traditionellen Wesensbegriff unterscheidet. Vielleicht hätte man schon aus der Antrittsvorlesung: �s ist Metaphysik erkennen können, daß Heideggers Anliegen darauf ging, den Sinn v,on und von Wesen anders zu denken. Denn dort versuchte er I zu zeigen, warum - entgegen der traditionellen Auffassung - das Nichts, in seinen sogenannten "nimtenden" Weisen zum Sein ge­ hört. Einen deutlichen Hinweis auf Heideggers Hauptbestreben gab aber erst der letzte Abschnitt der im Jahre 1943 veröffentlim­ ten Abhandlung : Vom 'Wesen der �hrheit. Darin heißt es : "Der hier vorgetragene Versum führt die Frage nach dem Wesen der Wahrheit über das Gehege der gewöhnlichen Umgrenzung im üb­ lichen Wesensbegriff hinaus und verhilft zum Namdenken darüber, ob die Frage nam dem Wesen der Wahrheit nicht zugleich und zuerst die Frage nach der Wahrheit des Wesens sein muß"; und Heidegger fügt hinzu : " im Begriff des Wesens aber denkt die Philo­ sophie das Sein"6a. Hier zeigte sim das Anli egen, sowohl aus dem aristotelischen Ansatz des Seins als Wesen wie aus dem traditio­ nellen Begriff des Wesens herauszukommen. Erst aus Heideggers Spätschriften wird es aber ganz deutlich, daß seine Bemühungen um 6 VgI. bes. S. 3-2 und 36.

6a W. d. W. S. 27 f. 14

Einleitung

dieses einzige Ziel kreisen : den Sinn von Sein und Wesen anders zu erfahren und zur Sprache zu bringen. Um die Bedeutung dieser Bemühungen um eine andere Seins­ erfahrung abschätzen zu können, muß man sich gleich zu Beginn vor Augen halten, daß es sich für Heidegger bei diesem Ziel nicht um die Lösung eines akademischen Problems handelt. Es ist nicht die Aufgabe für ein Philosophieren, das sich noch als eine beschau­ ende theoria im Sinn von Platon oder Aristoteles oder als eine begreifende Wissenschaft in Hegels Sinn oder als eine beobachtend beschreibende Wissenschaft in Husserls Sinn versteht. Heidegger begreift zwar sein Denken nicht etwa als das "Produkt" seines eigenen menschlichen "Vermögens", und doch sieht er in ihm ein höchstes "Handeln und Vollbringen" . Es ist offenbar, daß auf den von Heidegger angegriffenen Be­ deutungen der ousia und der Substanz die traditionellen Ontolo­ gien, Anthropologien, Kosmologien und Theologien beruhen und daß die geistesgeschichtliche Tradition des Abendlandes von diesen philosophischen Disziplinen stark beeinflußt ist. Es scheint aber, daß Heidegger selber die "handelnde und vollbringende" Macht seines Denkens nicht einmal so sehr in einer revolutionär um­ stürzlerischen Richtung sieht, sondern darin, daß es umwandelnd und ..bauend" einen anderen Sinn von Sein und Wesen vorzube­ reiten vermöge. Das Denken eines anderen, ankommenden Sinnes von Sein und Wesen bereite seiner Ankunft den Weg und vermöge nichts Geringeres als bei der .. Rettung des Menschenwesens" mitzu­ helfen 7. Heidegger hat insbesondere in der Abhandlung : Die Frage nach der Technik die ungeheuren Gefahren beschrieben, durch die das Wesen der Technik das Wesen des Menschen bedroht. Der Mensch steht einmal in der Gefahr, vollkommen zu vergessen, daß er allein wesensmäßig dazu ausersehen ist, den Sinn des Seins zu erfahren, daß er allein diesem Sinn entsprechen kann und deswegen eine be­ stimmte Rolle im Seinsgeschehen spielt. Der Mensch steht in der Gefahr, sich selbst nur noch als Material, als Bestand aufzufassen. Und zugleich befindet sich der Mensch in einer zweiten, noch größe­ ren Gefahr, daß er - nahezu umgekehrt - sich selber für den allei­ nigen Herrn des Universums hält und meint, daß alles, was ihm begegnet, nur insofern besteht, als es sein .. Gemächte" ist. 7 Vgl. vom Verf. HeiJegger's New Conception 01 Philosophy, Soda! Research, 1 955 ; S. 451 ff. 15

Einleitung

Nun ist es aber nach Heidegger gerade dieses gefahrbringende Wesen der Technik, das uns dazu nötigt, "das, was man gewöhnlich unter Wesen versteht, in einem anderen Sinne zu denken'" 8. Und diese so ernötigte Erfahrung eines "anderen Sinnes" von Sein und Wesen hat die Macht, "das Rettende wachsen zu lassen" 9 oder, wie es in der Einleitung zu dem Vortrag : was ist Metaphysik hieß 1 0 : "einen Wandel des Wesens des Menschen mitzuveranlassen". Ahnlich erklärte Heidegger auch schon in den Vorlesungen des Jahres 1935, die unter dem Titel Einführung in die Metaphysik erschienen sind, es gehe darum, "das Sein von Grund aus neu zu erfahren" 11, denn "das Wort Sein und seine Bedeutung" - so bemerkt er dort vorher 1 2 - "birgt das geistige Schicksal des Abendlandes"'. In welcher Bedeutung von Wesen das " Wesen der Technik'" "höchste Gefahr" und zugleich das Versprechen von "Rettung" sein kann - ob wirklich von der Erfahrung eines anderen Sinnes von Wesen das geistige Schicksal des Abendlandes abhängt - ob eine denkende Seinserfahrung tatsächlich eine "handelnde und voll­ bringende Macht" hat, über diese und ähnliche Bedenken läßt sich offenbar erst vernünftig streiten, nachdem zunächst einmal Klarheit über die Frage gewonnen worden ist : "Worin liegt denn eigentlich der von der Tradition abweichende andere Sinn von Sein und Wesen bei Heidegger"? eine Frage, die immer diejenige nach dem Wesen des Menschen einschließt. Wir glauben, daß eine Antwort auf diese Frage - unter Wahrung des geschichtlichen Gefüges des Heideggerschen Denkens - einmal in einer "systematischen" Weise gesucht werden muß. Sie wäre, erstens, für das Verständnis Heideggers zentral ; die "Erörterungen" und "Besinnungen" während der zweiten Phase seines Denkwegs bewe­ gen sich nämlich bereits an einem anderen "Ort" und innerhalb eines anderen "Sinnes" von Sein und Wesen, während der Leser oft unter dem Eindruck steht, daß es sich noch um den traditionellen Bereich und Sinn handelt. Eine Antwort auf unsere Frage könnte, zweitens, über dieses in­ terpretatorische Anliegen hinaus einem kritischen Interesse dienen. Denn schließlich muß sich Heideggers Werk daran bewähren, ob 8 V. u. A., S. 38. S. 3 6 ff. 1 0 W. i. M. S. 9. 11 E. M. S. 1 55. 12 lhid. S. 28 und S. 32. 9 Ibid .

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Einleitung

es -den eigenen Intentionen entspredlend - wirklich einen anderen Sinn von Sein und Wesen darstellt. Der dritte Grund dafür, daß sich diese Ausführungen auf die Seins- und Wesensfrage bei Heidegger konzentrieren, liegt jenseits eines interpretatorischen und kritischen Interesses an Heidegger. Wir sind davon überzeugt, daß es das heutige "Bedürfnis der Philo­ sophie" ist, die Frage nach dem �sen des �sens in Bewegung zu halten. Zwar hat sich das philosophische Bewußtsein unserer Zeit bereits weitgehend von den historizistischen, relativistischen und positivistischen Tendenzen der jüngsten Vergangenheit zu der Ein­ sicht zurückgefunden, daß es "das Wesen" und womöglich eine "Wesensordnung" geben muß. Aber es ist doch durch die Nachwir­ kungen des "geschichtlichen" oder "epochalen" Denkens seit Hegels Tod, vornehmlich durch die Einwirkungen von Kierkegaard, Marx und Nietzsche, durch die Einsichten der Naturwissenschaften und durch die erschütternden Erlebnisse des letzten Jahrhunderts so grundlegend beeinflußt, daß es nicht einfach zu den traditionellen Wesenslehren, der aristotelischen ousia oder den auf ihr gründenden Substantialitätsauffassungen zurückgehen kann. Die Philosophie hat sich fernerhin - erweckt durch die transzendentale Wende, ins­ besondere aber durch Hegels Einsichten in der Phänomenologie des Geistes immer stärker dazu genötigt gesehen, das Wesen des Menschen als eines 'Teiters, wenn nicht gar eines Schöpfers oder Mit­ sch öpfers zu denken, der nicht nur seine Welt verändern, sondern sogar Neues schaffen kann. Will die Philosophie heute zu einer ."Wesenslehre" zurück, so muß sie versuchen, ein "anderes" Wesen zu denken, also nicht ein Wesen, das etwa wie die aristotelische ousia "ewig" ist und "selbig" jedem Wechsel, allem Entstehen und Ver­ gehen zugrunde liegt. Die ungeheuer schwierige Aufgabe liegt viel­ mehr darin, das Wesen des Wesens so zu fassen, daß Neues ank!Jm­ men kann und daß das Wesen des Menschen bei ei n em solchen Wandel eine Rolle spielt, ohne daß durch solche Ankunft des Neuen und durch solches Mitspiel des Menschen das Wesen wieder .. historisiert" und " vermenschlicht" würde. Das zu denkende Wesen müßte auch das Wesen unserer "Dinge" so aufzeigen, daß sie nicht in völlige Wesenslosigkeit versinken. Eine Antwort auf die Frage, worin denn eigentlich der andere Sinn von Sein und Wesen bei Heidegger liegt, wird vielleicht zu einem Urteil darüber führen, ob Heideggers Beitrag diesem "Bedürfnis der Philosophie" gerecht wird. -

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Einleitung

Es mag eigentümlich anmuten, daß bei einem Denker, der über solch eine außergewöhnliche Sprachgewalt und Gestaltungskraft ver­ fügt und der sich wiederholt selber interpretiert hat, nicht eine zweifelsfreie Klarheit über diese von uns gestellte zentrale Frage bestehen sollte. Heidegger hat in der Abhandlung Zur Seins/rage hierfür selber eine Erklärung gegeben. Ober das Wesen des Wesens könne man keine Auskunft erteilen, die in der Form von Aussage­ sätzen griffbereit vorgelegt werden kann. Der Sinn von Sein und Wesen bei Heidegger ist in der Tat kein Begriff, der sich in einem horismos, einer Definition einfangen und wiedergeben ließe, und er ist auch kein Begriff in Hegels Sinne. Er läßt sich aber auch nicht aristotelisch in der Weise der rüdtbeziehenden Entsprechung oder in Hegelscher Art als spekulativer Satz aussagen. Heidegger hat oft betont, daß die "Ergebnisse" seines Denkens keine " Antworten " sein sollen, sondern daß sie "Fragen" bleiben wollen, Fragen "denk­ würdiger", und "zu-denkender" SaChverhalte. Wenn dem so ist, dann hätte auch nur eine mit/ragende Einstel­ lung Aussicht, den von der Tradition abweichenden Sinn von Sein und Wesen zu verstehen. Solch ein Mit/ragen muß sich bemühen, den Blidt auf diesseibe Sache zu richten, auf die ihn Heidegger gerichtet hält. Solange es ihm nur darum zu tun ist, die von Hei­ degger gedachte Sache zu verstehen, wird es die "Erfahrungen nach­ vollziehen ", die ihn zu einem anderen Sinn von Sein und Wesen geführt haben. Jedes Mitfragen muß aber zu einem Mitdenken werden, das die Problematik, die Heideggers Fragen eröffnet hat, um ihrer selbst willen mitdenkt. Solch ein Mitdenken kann aber nur glüdten, wenn es sich in einem Verhältnis der krisis, des Geschiedenseins von seinem Gedachten aufhält, freilich so, daß es ihm dennoch nahe bleibt und nicht die Absicht des Mitdenkens preisgibt. Wir glauben, daß das Gedachte der Tradition den gesuchten Ab­ stand gewährt. Es kann sich freilidi für uns hier nicht darum han­ deln, die traditionelle Problematik von "Sein und Wesen" und vom "Wesen des Menschen" in ihrer Gesamtentwiddung darzustellen. Vielmehr gilt es die Tradition dort zu fassen, wo sich ihr Leit­ gedanke, der Gedanke der Substanz, erstmalig begrifflich ausgebil­ det hat und dann wieder dort, wo er sich aufzulösen beginnt. Auf der Grundlage des platonischen Gedankenwerks hat" Aristoteles zum erstenmal die Substanz in einer umfassenden Weise gedacht ; und zwar hat er sie aus der für die gesamte nachfolgende Philosophie 18

Einleitung

maßgeblim gebliebenen Frage Richtung auf das on he on ent­ faltet, geleitet von seinem Interesse an der Seinsverfassung von einzelnen Seienden. Die ousia des Aristoteles blieb Vorbild, insofern sie als das "Zugrundeliegende", d. i. als "Substanz" oder als "Sub­ jekt" die Verfassung eines Seienden ausmachte. Hegel stellt für uns deswegen das "Ende" dieser aristotelismen Tradition dar, weil auch sein Denken noch von dem Ansatz des Seins als Substanz und Subjekt bestimmt war. Insofern gehört er nom dieser Tradition an. Aber er denkt sie "zu Ende", weil er in­ folge einer anderen Fragerichtung in einen anderen Bereich gelangt, in dem Substanz und Subjekt nimt mehr nur die Seinsverfassung eines Seienden kennzeichnen, sondern in erster Linie Kategorien des "Seins" selbst ausmachen. Dieser "Bereich" wird näher gekenn­ zeichnet werden, weil er bei aller Verschiedenheit der Bereich ist, in dem sim auch Heideggers Denken bewegt. Hierin liegt die Recht­ fertigung für die Auffassung, daß uns Hegels Wissenschaft der Logik das Verständnis für den radikal anderen Sinn des Seins bei Hei­ degger vermitteln kann. Im ersten Hauptabsmnitt dieser Arbeit wird die Gestalt und der Sinn der aristotelischen ousia herausgearbeitet. Danam wird auf vier ihrer Grundzüge reflektiert, auf ihre "Ewigkeit" , ihre Not­ wendigkeit, ihre Selbigkeit und ihre Intelligibilität. Es sind die­ selben Grundzüge, die wir - innerhalb einer radikal veränderten Problemlage - noch an Hegels "Sein" wiedertreffen werden. Dies ist der wesentliche Grund dafür, daß wir uns für berechtigt halten, das Denken von Platon und Aristoteles bis zu Hegel schlechthin die "Tradition" zu nennen und daß wir andererseits Heideggers Denken als den Versuch einer "Abkehr" von dieser Tradition an­ sehen. Hieraus entnehmen wir die Rechtfertigung für den Titel dieser Abhandlung. Nachdem diese Grundzüge von Hegels "Sein" entwidtelt wurden. wird das Wesen des Menschen sowohl bei Aristoteles wie bei Hegel behandelt. Alle diese Ausführungen dienen aber nur dem Anliegen. in die Problematik bei Heidegger einzuführen. Deshalb können hier nur Fragen aufgenommen werden. die, wenn aum nur von fern her, diese Problematik ankündigen. In den folgenden Hauptabsmnitten werden dann im Lichte jener traditionellen Grundzüge die anderen Grundzüge des Seins und Wesens und das andere Wesen des Menschen bei Heidegger a�ge­ hoben. Diese vergleichende Darstellung wird aber weder die Ent-

19

Einleitung

wicklung von Heideggers Denken in ihren einzelnen Stadien ver­ folgen, noch wird sie die verschiedenen Interpretationen 13 vorsokra­ tischer und anderer philosophischer Texte referieren, aus denen er jene anderen Grundzüge des Seins und des Wesens des Menschen gewonnen hat und aus denen er sie einsichtig gemacht hat. Wir sehen vielmehr unsere Aufgabe darin, die in ihrer Gesamtheit jetzt vorliegenden Grundbestimmungen so vorzulegen, als ob sie "Kate­ gorien" wären. Der Leser soll unmittelbar in den "Bauplan" des "Gesamtentwurfs" eingeführt werden. Es soll ihm die Gelegenheit geboten werden, den Gesamtzusammenhang der bisher von Hei­ degger vorgelegten Bestimmungen zu übersehen und zu prüfen. In dieser " instrumentalen Methode" liegt ein bewußter Verstoß gegen die geschichtliche und auch in einem bestimmten Sinne "dichteri­ sche" Denkweise Heideggers. Wir glauben aber, daß dieser Preis bezahlt werden muß. Ein " Weiterdenken " kann nur dadurch vor­ bereitet werden, daß das geschichtliche und dichterische Gefüge einmal nüchtern auf sein "Gerüst" hin freigelegt wird. Nur dann kann sich der Blick dafür öffnen, was an Heideggers Werk viel­ leicht noch unfertig, versäumt oder gar unstimmig ist und was in einem prägnanten Sinne für unsere Generation das "zu-Denkende" ist. Nur so lassen sich auch die Ansatzstellen finden, von denen die Fragen an Heidegger auszugehen haben, wie etwa die die zeit­ genössische Philosophie so sehr beunruhigende Frage, woraus sich eigentlich s ein Denken und das von ihm Gedach.t e "legitimiert" und ob es " verbindlich" ist. Wir werden im Verfolg unserer derart " nachkonstruierenden" Darstellung und im Schlußkapitel auf Pro­ bleme hinweisen, die einem " Weiterdenken" zur Aufgabe werden könnten. In dieser Weise wird der zweite Hauptabschnitt zeigen, wie Heidegger in Sein und Zeit den traditionellen Sinn von Sein und Wesen, die Substanz und das Subjekt, zu " überwinden" versuchte und wie er in einem nächsten Schritt aus der Einsicht in die Zeit­ lichkeit und die "Geschichtlichkeit" des Menschen die Strukturen für ein auslegendes Denken entwickelte. Unser Interesse gilt aber vornehmlich dem Spätwerk Heideggers, das den "anderen" Sinn von Sein und Wesen zu denken sucht. Wir werden deswegen zunächst das Wesen, die Methode sowie den Aufgabenbereich des Denkens zu klären haben, das ihn entfaltet 13 Vgl. hierzu unten S. 117, 127. 20

Einleitung

und das Heidegger das "Andenken" und " Vordenken" nennt. Der Aufgabenbereich dieses Andenkens und Vordenkens schreibt den Gang der nachfolgenden Hauptteile dieser Untersuchung vor. Dem Andenken folgend bestimmt der dritte Hauptteil den " anderen Sinn von Sein und Wesen" in der Richtung des "ersten Anfangs" der abendländischen Seinserfahrung. Der nächste Haupt­ teil sucht ihn in der Richtung der auf diesen angedachten Erfah­ rungen beruhenden "Seinsgeschichte" , vor allem in der Endgestalt dieser "Geschichte", die Heidegger in dem jetzt herrschenden "Sein" oder "Wesen" der Technik sieht. Und die Darstellung bestimmt schließlich, dem Vordenken folgend, in einem weiteren Haupt­ abschnitt den im eigentlichen Sinne " anderen", d. i. "andersanfäng­ lichen" Sinn von Sein und Wesen und erreicht damit das wirkliche Ziel dieser Arbeit. Der letzte Hauptabschnitt behandelt das "Wesen des Menschen" , und zwar zunächst das vom Andenken gedachte, " erstanfängliche" Wesen des Menschen und danach das vom Vordenken gedachte "andersanfängliche" Wesen des Menschen. Es sei hier bereits her­ vorgehoben, daß die getrennte Behandlung des Sinnes von Sein und Wesen und des Wesens des Menschen nur im Interesse einer besseren Darstellung erfolgt, und daß sie eigentlich der Sache und Heideggers Intentionen widerspricht. Die vorliegende "Einführung" handelt nur von der "Problema­ tik" bei Heidegger und nicht von der Person Heideggers. Deshalb werden biographische Tatsachen nicht berücksichtigt, selbst wenn sie an sich für die Entwicklung und die nähere Bestimmung philo­ sophischer Probleme von Bedeutung sind 14. Insofern sich diese vergleichende Darstellung ausschließlich von bestimmten traditio­ nellen Problemen bei Aristoteles und Hegel leiten läßt, werden andere Philosophen nicht ausführlich oder überhaupt nicht behan­ delt, selbst wenn sie Heidegger vielleicht viel unmittelbarer beein­ flußt haben. So bleiben Augustin, Kant, Schelling, Kierkegaard und 14 Hierzu gehören auch die immer wieder zutiefst bestürzenden Bekennt­ nisse Heideggers zum Nationalsozialismus während der ersten Jahre des Regimes. Zu seiner Rede Die Selbstbehauptung der deutschen Uni­ versität und zu den Verlautbarung en des Rektors (Freiburgei' Studen­ tenzeitung) vgl. vornehmlich Karl Löwith, Les implications politiques de la philosophie de l'existence in Les Temps Modernes, November 1 946 und August 1948 ; Heideg ger-Denker in dürftiger Zeit, S. 50 ff. ; Gesammelte Abhandlungen, S. 1 1 7 ff. Vgl . auch unten S. 246. 21

Einleitung

insbesondere Husserl lS unberücksichtigt, und von Nietzsche 18 , der Heideggers späteres Denken besonders stark bestimmt hat, ist nur kurz die Rede. Da es sich hier nicht um eine "ideengeschichtliche Reflexion" über Heidegger handelt, sondern vielmehr um eine vergleichende Dar­ stellung und um eine nachkonstruierende Untersuchung des Gesamt­ zusammenhanges der Grundbestimmungen des Seins, werden diese Bestimmungen nicht umschrieben, sondern laufend im Text zitiert. Dieses Verfahren scheint in diesem besonderen Fall der einzig "zuverlässige" Weg zu sein. Denn Heidegger hat - wie kein anderer vor ihm - von einer ganz bestimmten Einsicht in das Wesen der Sprache ausgehend, sein Denken so innig mit seinen besonderen Sprachprägungen verbunden, daß jeder Versuch einer Umschrei­ bung sachlich zu Schwierigkeiten führen muß. Wenn sich diese Ab­ handlung aus diesem sachlichen Grunde eng an Heideggers Text hält, so bedeutet dies nicht, daß sie den "Abstand" aufgeben will, aus dem sie Heideggers Werk mitdenkend zu untersuchen wünscht. Zum Schluß sei noch ein Hinweis für den Leser erlaubt, der in erster Linie an der Problematik von Heideggers Werken interessiert ist. Da diese Abhandlung nicht nur untersuchen, sondern auch "einführen" will, werden aus didaktischen Gründen die traditio­ nellen Bestimmungen häufig wiederholt, die in dem problemge­ schichtlichen ersten Hauptteil ausführlicher entwickelt worden sind. Deswegen ist es möglich, bei der Lektüre mit dem zweiten Haupt­ teil zu beginnen und danach zu den problemgeschichtlichen Kapiteln zurückzugehen.

15 Vgl. hierzu neuerdings insbesondere H. G. Gadamer, 'Wahrheit und Methode S. 240 ff. 1 6 Heideggers jüngste Veröffentlichung Nietzsche Bd. I und Bd. Tl (pfullingen, Mai 196 1) erschien während der Drucklegung dieser Ab­ handlung und konnte deshalb nicht mehr innerhalb des Textes be­ rücksichtigt werden. Der Anhang (s. unten S. 253) behandelt jedoch die "Methode" und den Bereich dieser Nietzsche-Auslegungen und gibt Hinweise auf Gedanken, die das hier Vorgetragene weiter verdeut­ lichen und die Entwicklung von Heideggers Denken kenntlich machen. Vor allem wird dort auf eine Reihe erstmalig veröffentlichter Be­ stimmungen aufmerksam gemacht, die die in dieser Abhandlung ver­ tretene Auslegung der Seinsauffassung Heideggers bestätigen. 22

Erster Hauptteil

Die Tradition

Erstes Kapitel

G E S TA LT U N D S I N N D E R A R I S T O T E LI S C H E N OUSIA Heidegger will das Wesen von Sein und Wesen in einer von der Tradition abweidtenden Weise denken. Da nahezu alle Spielarten der Substanzlehren der abendländischen Philosophie an der aristo­ telischen ousia orientiert geblieben sind, erscheint es geboten, auf die Gestalt und den Sinn der aristotelisdten ousia zu reflektieren, um in deren Licht die ousiafeindliche Gestalt und den ousiafeindlichen Sinn von Sein und Wesen bei Heidegger mitdenken zu können. Eine derartige Reflexion auf den Sinn des Wesens ist an sich völlig "unaristotelisdt". Denn die Frage des Aristoteles richtete sich gerade nicht auf den Sinn von Sein und Wesen. Die Richtung seiner Frage ging auf das Seiende als solches. Er wollte wissen - wie er im ersten Kapitel des 4. Budtes der Metaphysik erklärt - was ein Sei­ endes ist, insofern es ist - on he on. Er blickte nur mit Rücksicht auf dieses Seiende und von ihm aus zu dessen Sein und Wesen hin. Heidegger hat diese aristotelisdte Frageridttung als "metaphy­ sisch" gekennzeichnet, weil sie, um das Seiende als Seiendes vorzu­ stellen, "über das Seiende hinweg" meta ta physika zum "Sein" hinübersteigt 1 , weswegen er die von Aristoteles gesichtete "Seiend­ heit" 2 "den überstieg" oder "die Transzendenz" genannt hat 8. Wir sind mit Heidegger der Auffassung, daß Aristoteles infolge dieser bestimmten Fragerichtung nur eine bestimmte "Seite" des Seins sehen konnte. Die eingangs zitierte Frage ti to on was ist das "Sein" - war nur an der "Seinsverfassung" des göttlichen, menschlichen und nidtt-menschlichen Seienden interessiert. Sie fragte nicht danadt, was das Seinsgeschehen selber ist. Sie fragte nicht in erster Linie nach dem "Wesen" und überhaupt nidtt nadt dem "Sinn" des Seins, sondern nach dem " Was" des "Ermöglichten" , des Seienden. Im Folgenden sei auf den Sinn der ousia reflektiert, indem einige ihrer maßgebenden Grundzüge herausgearbeitet wer-

-

-

t W. h. D. S. 1 35, vgl. auch W. i. M. S. 35. 3 W. h. D. S. 1 3 5 ; SF S. 33. 2 Hw. S. 163. 25

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I. Hauptteil: Die Tradition den, an denen sich danaCh jene Grundzüge des anderen Sinnes von " Sein und Wesen" abheben sollen, die Heidegger zu entfalten sucht. Die Grundzüge der Ewigkeit"', Notwendigkeit, Selbigkeit und In ­ telligibilität der ousia sollen behandelt werden. Wir werden diese Grundzüge - nach einer Denkgeschichte von etwa zwei Jahrtausen­ den - an Hegels "Sein", wenn auch in veränderter Form, wieder­ erkennen. Im Verfolg dieser Reflexion auf den Sinn der ousia sollen aber nur solche Probleme entwickelt werden, die in einer radikal ver­ änderten Problemlage noch für Heidegger bedeutungsvoll geblieben sind. Die nachfolgenden Hinweise auf die aristotelischen "Antwor­ ten'" auf diese Probleme wollen das Verständnis für die anders­ artigen "Antworten" Heideggers vorbereiten. Die aristotelische ousia kann die für ein aktives Mitdenken not­ wendige lebendige Gestalt nur dann gewinnen, wenn sich die Dar­ stellung darauf beschränkt, ihre Konturen mit einigen wenigen Strichen zu skizzieren, unter ausdrücklichem Verzicht auf eine Rechtfertigung der hier vorgetragenen Auffassungen ". Dabei wer­ den nur diejenigen Strukturen behandelt, die in dem uns heute noch geläufigen Wesensbegriff lebendig sind. ..

1.

Die Gestalt der ousia.

In aller Kürze sei an die Gestalt der ousia erinnert, an die We­ sensverfassung von Seiendem im sublunaren Bereich, wie AristoteIes sie aus der bestimmten Richtung seines Fragens dachte. Indem er seinen Blick auf das Seiende gerichtet hielt, fragte er, von ih� ausgehend, nach dessen Wesensverfassung. In der Abhandlung Categoriae wird zwischen einer "ersten ousia" und einer "zweiten ousia'" unterschieden '. Als Fälle der zweiten ousia nennt er dort die Gattung und die Spezies 8 . Ihnen entstammt der "Universalbegriff", durch den die Scholastik die quidditas, die "Washeit" eines Seienden bestimmte. Die Quidditas etwa eines Menschen ist sein genus, der Allgemeinbegriff "Lebewesen"', unter den auch die Tiere fallen, seine Spezies ist seine Bestimmung als "zweibeiniges Lebewesen"; unter sie fällt jeder Mensch ohne Unter­ schied. Der genus eines Kruges ist der "Behälter", unter den auch Tassen und Kannen usw. fallen und unter die Spezies "Krug" 4 Vgl. hierzu ausführlidt 5 Categoriae 2 a 1 3 ff. -

v.

Verf. op. eit. 6 IbiJ. 2 b-7 ff. 26

I.

Gestalt und Sinn der aristotelischen ousia

fallen ebenso Wasserkrüge, Weinkrüge und solche Krüge, die einst­ mals für Opferzwedte verwandt wurden und in den Museen stehen, oder die Spezies "Brücke" umfaßt jeden Fluß übergang, ob es sich um eine von der modernen Tedmik erbaute Brücke handelt oder etwa um die Brücke über den Neckar in Heidelberg, die von den Dichtern besungen wurde. Heidegger hat mit Recht darauf hingewiesen 7, daß dieser Univer­ salbegriff, die Quidditas oder die Essentia, dem heute geläufigen Wesensbegriff zugrunde liegt. Auch wenn wir nicht syllogistisch ver­ fahren und auch wenn wir nicht in einer Definition die Spezies aus dem genus ableiten, bestimmt doch diese Auffassung der "Essenz" unser alltägliches und wissenschafHiches Denken. Dies schließt nicht aus, daß das Unzureichende dieser Wesensbestimmungen oft emp­ funden worden ist, weil sie nur das für alle in gleicher Weise gültige Allgemeine nennen. Aristoteles hatte vermutlich bereits deswegen das " Wesen" tiefer von der ersten ousia her entwickelt. Der " Philo­ soph" begnügt sich nicht wie der "Wissenschaftler" damit, die "Klassen" kath hen 8 "gemäß dem Einen", dem allgemein Gültigen, ordnend einzuteilen. Er will vielmehr pros hen' beziehungshaft in einer philo-sophischen Einstellung 10 ein andersartiges "W esen" erfassen. Er will die " gewisse physis" 11 denken, die alle aussag­ baren Weisen von Seiendem, all seine Kategorien bezughaft be­ stimmt. Diese "Natur" eines Seienden, sein "Ermöglichendes" , seine arche 12, dieser " erste Grund seines Seins", das aition proton tou einai 18 ist die ousia. Sie ist die rätselhafte Einheit eines "Dieses­ Da", des tode ti u, des bloßen " Seiendseins" eines Seienden und seines " Was-Ist", seines ti estin 1 5, genauer seines " Immer-schon­ Gewesenseins", seines ti en einai 18• In der Kategorienlehre 17 nennt Aristoteles als Beispiele der "ersten ousia": " dieser Mensc:h" oder " dieses Pferd". " Dieser Mensch" oder " dieses Pferd" ist jeweils eine "physis" 18 , die es "ermöglicht", daß nicht etwa eine Summe von "Elementen", etwa Fleisch und Knochen, sondern ein bestimmter Mensch oder ein bestimmtes Pferd "ist" 19. 7 8 9 10 11 12 13

V. u. A. S. 37; Hw. S. 39. Meta. 1003 b-12. Ibid. 1003 a-3 3 ; 1003 b-16. cf. hierzu vom Verf. op. eit. S. 8 ff. Meta. 1003 a-34. Ibid. 1003 b-6; 1 041 b-32. Ibili. 1041 b-29.

27

14 15 16 17 18 19

Ibili. 1 028 a-12. Ibid. Ibid. 1028 b-34. Cat. 2 a-13. Meta. 1041 b-31. Ibid. 1041 b-ll ff.

I. Hauptteil: Die Tradition

Nur weil diese physis "präsent" (hyparchein) 20 ist, nur weil es dieses .. Einfache", dieses haploun 2 1 oder asyntheton 22 gibt, das ein Etwas in einem, in seinem "Seiendsein " und seinem "Was-Ist", bestimmt, gibt es sinnhaftes Seiendes. Man kann diese " erste ousia", diese ermöglichende Einheit somit auch ein "Ganzes" nennen. Diese Benennung mag vor allem mit Rücksicht auf die ganz anders ge­ dachte "Ganzheit" von Nutzen sein, aus der Heidegger das Wesen der "Dinge" bestimmt. Halten wir fest, daß es sich bei der ousia des Aristoteles um ein solches " Ganzes" handelt, das "von innen heraus" - aus seiner "Herzmitte" - das bedeutungshafte Seiende ermöglicht. Es hat sich problemgeschichtlich als entscheidend erwiesen, daß Aristoteles diese ganzhafte physis als das hypokeimenon, als das Zugrundeliegende aufgefaßt hat. Damit wurde die phäno­ menal erfahrbare Tatsache denkerisch erfaßt, daß sinnhafte Seiende, vornehmlich Gebrauchs- und Naturdinge, als insichstehende und selbständige Einheiten vor uns liegen 28. Die " erste ousia" liegt so vor, daß sie allem bloß Zufälligen und Möglichen, allem Veränder­ lichen, allen Akzidenzien "zugrunde" liegt 24. Oder - gramma­ tisch ausgedrückt - alle Prädikate können von ihr ausgesagt werden, während es selbst niemals Prädikat sein kann 25• Das erste Wesen ist in diesem Sinne eines zugrundeliegenden und vorliegenden Seins der "Träger von Eigenschaften" oder der "Kern" des Seienden. Es wird sich aus den nachfolgenden Erörterungen ergeben, daß Aristoteles diese Trägerschaft, Kernhaftigkeit und "Eigenschaftlich­ keit" des Seienden keineswegs statisch oder gar starr, sondern als einen höchst bewegten Bezug verstanden hat. Das hypokeisthai des hypokeimenon wurde später mit substare und subicere übersetzt und unter dem Einfluß des cartesischen Denkens kam es dazu, daß die "Substanz" und das " Subjekt" durchaus nicht mehr "bezug­ haft" , sondern nur starr in sich stehend " reshaft" aufgefaßt wur­ den, ein Wandel, der vermutlich die zunehmende "Reifikation" des Menschen und seiner Dinge mitbestimmt hat. Bedenkt man, 22 Ibid. 1051 b-18 . 20 lbid. 1041 b-7. 21 Ibid. 1041 b-10. 23 cf. hierzu vom Verf. op. eit. S . 4 1 . 2 4 Meta. 1025 a-13 ff . vgl. hierzu die wichtige Untersuchung von E. Tu­ gendhat TI KATA TINO� S. 13 ff., die den Strukturzusammenhang des Anwesungsgeschehens bei Aristoteles durm eine gen aue Exegese der einschlägigen TextsteIlen entwickelt. 25 Cat. 2 a-12 ; Meta. 1029 a-22. 28

I. Gestalt und Sinn der aristotelischen ousia

daß in der nachfolgenden Zeit nicht nur leblose Naturdinge, Ge­ brauchsdinge, sondern auch Kunstdinge sowie beseeltes Seiendes, vor allem aber auch das Wesen des Menschen von derart reifizierten Kategorien erfaßt wurden, dann versteht man erst das Anliegen, das Heidegger in seinem Frühwerk Sein und Zeit verfolgte. Er wollte diese Auffassungen von Substanz und Subjekt insofern von einer "ursprünglicheren« Ebene aus "überwinden«, als sie das Wesen des Menschen und solcher Dinge bestimmten, mit denen der Mensch bedeutungshafl umgeht. In einem späteren Kapitel wird dieser Versuch Heideggers ausführlich behandelt werden und es wird sich zeigen, daß sich seine Angriffe vor allem gegen den "reifi­ zierten" Seinssinn richteten, der den Kategorien der Substanz und des Subjekts in cartesischer Prägung zugrundelag. Einige Stellen in Sein und Zeit!8 erwec:ken den Eindruc:k, als ob für Heidegger damals auch das hypo keimen on des Aristoteles einen "reifizierten" Seinssinn hatte 27• Die folgenden Grundweisen der ousia bezeugen jedoch, daß Aristoteles sie als eine höchst bewegte Macht auffaßte. Die Weise, in der die " erste ousia« das wesenhafle Seiende " er­ möglicht", ist von ihm in mehrfacher Hinsicht bestimmt worden. Jede dieser Bestimmungen ist Ausdruc:k einer höchsten "Bewegung", · womit nicht eine Bewegung, eine kinesis in dem engeren aristotelischen Sinne gemeint ist. Auch die meist statisch interpretierte eidos (mo rp he) hy le Bestimmung 28 ist ein Bewegungsbegriff. Denn die Form muß die Materie " formen" ; sie " formiert" etwa ein zum Sägen geeignetes Material, indem sie in ihm als die Gestalt (morphe) einer Säge hervortritt und sich als das Aussehen ihres Wasseins, als das eidos einer Säge zeigt. Diese Bewegung, in der die Form und die Materie zum synholon zusammenwachsen, endet nicht in einem "bewegungslosen" Seien­ den. Das synholon bleibt seiner individuellen Materie, seiner hyle wegen vergänglich und veränderlich. Ferner bleibt seine jeweils "anwesende" Gestalt und Form zugleich auf die "abwesende" Ge­ stalt und Form bezogen, aus der sie herkommt und in die sie wieder umschlagen kann. Im Sinne dieses Bezuges "ist« ein jetzt anwesen­ des warmes Seiendes auch das "abwesende" kalte Seiende, aus dem es als ein Warmes hergekommen ist und in das es wieder umschlägt. Diese Spannung von eidos und seiner Privation, steresis, bezeugt -

-

-

26 S. u. Z. S. 46 ff., 3 1 9; vgl. unten S. 95. 27 Vgl. aber S. u. Z. S. 25, 26. 28 cf. hierzu vom Verf. op. eit. S. 45. 29

I. Hauptteil : Die Tradition

besonders den bewegten Charakter der " ersten ousia " 28. Aristoteles hat ihn aber noch dadurch verdeutlicht, daß er das eidos als energeia und die hyle als dynamis bestimmte 30 • Es ist im Rahmen dieser Skizze der Gestalt der ousia nicht nötig genauer darzustellen, wie sich die "erste ousia" "wirkend-wirklich" als energeia zu der Einheit ihres Seiendseins und Wasseins hervor­ bringt und hierdurch ihre dynamis, ihre "Anlagen" und " Vermö­ gen" und " Kräfte" innerhalb des Spielraums ihrer "Möglichkeiten" verwirklicht. Als entelecheia 8 1 ist sie von Aristoteles ferner als die Bewegung aufgefaßt worden, die ihre "Produkte" (tele) so in sich behält, daß diese immer als erneute Vermögen zu erneuten Ver­ wirklichungen führen. Durch diese Bestimmungen wurde die " erste ousia" in der Tat als so stark in sich bewegt aufgefaßt, daß man von ihr eigentlich nicht nominal sondern nur "verbal" sprechen sollte. Der besondere Gang der inneren Bewegung der " ersten ousia" wurde ferner als telos 32 bestimmt. In wesenhaften Phasen bringt die ousia ihre Anlagen zur Voll-endung, verwirklicht sie in Kreis­ form diesen "Anfang" (arche) durch ihr Ende, sie geschieht als die "Geschichte" eines Bezuges, der "zu sich selbst zurückkehrt" . Diese Gestalt der "ersten ousia" wird im Zusammenhang der folgenden Darstellung der Grundzüge der ousia näher bestimmt werden. Die Gestalt der "ersten ousia" eines synholon zeichnet sich nach dem bisher Gesagten in folgender Weise ab : sie ist ermöglichende Macht, einheitliches " Ganzes" von Seiendsein und Was-Ist, selb­ ständig, ein in sich ruhend allen Bestimmungen und Akzidenzien Zugrundeliegendes und Vorliegendes. Die ousia ist die in sich be­ wegte abwesend-anwesende Form der ihr zugehörigen Materie, sie ist die Bewegungseinheit von energeia und dynamis, sie ist ente­ lecheia und die in ihrem Phasengang sich realisierende Voll-endung, (telos). Die innere Bewegtheit der ousia wird dadurch weiter bezeugt, daß die genannten Bestimmungen im wesentlichen an der genesis der ousia entfaltet worden sind. Deswegen sind Form, Materie und Voll-endung "Gründe" , aitiai, die, jeder für sich, oder zusammen mit der causa efficiens, der arche tes metaboles, dafür bestimmend ist, daß und wie ein wesenhaftes Seiendes hervortritt 88. Es ist wesentlich diesem Interesse des Aristoteles an der genesis 29 Ibid. S. 49. 30 Ibid. S. 50 ff.

3 1 Ibid. S. 52 ff. 32 Ibid. S. 57 ff.

30

33 Ibid. S. 54 ff.

I. Gestalt und Sinn der aristotelisc:hen OUS;'

der ousia Zu verdanken, daß so viele Hinsichten eines einzelnen Seienden aufs gründlichste erfaßt wurden. Hierzu gehören ins­ besondere noch die Schemata der Kategorien, die in einer für die gesamte Tradition grundlegenden Weise in dem Buch Categoriae dargestellt wurden, in denen die erste ousia als die erste Kategorie den anderen Kategorien in dem dort entwickelten "logischen" Auf­ bau des Seienden I' zugrundeliegt. Die Vorherrschaft der genetischen Hinsicht mag dazu geführt haben, daß die Frage nicht genügend behandelt wurde, wie denn das Seiende in seinem Sein "ist", nach­ dem es ins Sein getreten ist. Die besondere Richtung der aristo­ telischen Frage ließ das Problem nicht aufkommen, ob das hervor­ getretene wesenhafte Seiende dieses "Ganze", diese Einheit des "Seiendseins" und des Was-Ist nicht auch sinnhaft von jener großen .. Ganzheit" bestimmt wird, in die es gehört, die es umfängt und die es unterläuft, von jenem Gesamt, das Aristoteles als die physis (in einem weiten Sinn) 15 aufgefaßt und im Rückblick auf die vorangegangenen Denker als den kosmos, die Welt 18 bezeichnet hatte. In den veröffentlichten Auslegungen zu Aristoteles hat Heidegger dieses .. Versäumnis" nicht erwähnt 17; wohl wird er selber ver­ suchen, das Seiende, insofern es ein "Ding" ist, von den Hinsichten der es umfangenden Welt her zu bestimmen. Im folgenden seien vier Grundzüge der ousia entwickelt, die freilich keineswegs die reiche Ousiaproblematik erschöpfen. Sie sollen lediglich den Zwecken einer problemgeschichtlichen Einfüh­ rung in die Problematik bei Heidegger dienen. Wegen dieses be­ stimmten Anliegens wird nur auf die ousia eines synholon im sub­ lunaren Bereiche abgestellt und es werden viele wichtige Gedanken des corpus aristotelicum zur prote ousia überhaupt und zur unbe­ wegten ousia sowie der nicht entstehenden, aber bewegten ousia unberücksichtigt gelassen. Und deswegen wird auch bei der fol­ genden Darstellung der Grundzüge der ousia mehr Gewicht darauf gelegt, daß die ousia ein ti en einai 1e ist als darauf, daß sie ein hypokeimenon ist. 34 lbül. S. 39 ff. 35 Meta. 1072 b-14. 36 lbül. 984 b-16. 37 Die Vorlesungen Heideggers über Aristoteles sind dem Verf. nic:ht bekannt. 38 Insofern die anderen Kategorien und die an sic:h beiläufig "Mit­ seienden" auc:h ein ti en einai haben, gelten viele Aspekte der nac:h­ stehenden "Grundzüge" auc:h für sie. 31

2.

Der Sinn der »Ewigkeit" der ousia

Es gehört zu den wichtigsten Charakterzügen der aristotelischen Philosophie, daß sie anerkannte, daß alle Körper im sublunaren Bereich vergänglich sind. Die Tatsache, daß die irdischen Seienden, die Menschen, die Tiere, die Dinge "kommen und vergehen" (genesis kai phthora) war eine Grunderfahrung, der Aristoteles gerecht zu werden suchte. Hieraus erklärt sich sein Fragen nach dem Wesen der Bewegung, des Stoffes und insbesondere der Zeit. Sein Denken war aber von der zweiten, noch stärkeren Grund­ erfahrung bewegt, daß trotz aller Vergänglichkeit kein Chaos herrscht, sondern daß das Sein geordnet (taxis) ist, und daß es die schöne Gefügtheit gibt, den kosmos, die Welt. Diese Erfahrung ist ihm vermutlich aus dem gewaltigen Anblick des ouranos erwach­ sen, der gestirnten Himmelsschaie, die die Inseln Griechenlands umwölbt. Sie bietet sich der Sicht als festbegrenzt (peras), als un­ geworden und unvergänglich dar (aidion, aei), als ein wahres Sinn­ bild der Ordnung. Und - wichtiger noch - diese sinnfällige Ord­ nung ist keine starr in sich ruhende, sondern offensichtlich eine bewegte Ordnung. Die großen Himmelskörper, die Sonne, der Mond und die Sterne zeigen sich in ihrem gleichmäßig rhythmisch­ kreisenden periodischen Umschwung, der auf Erden den Kreislauf des großen Weltjahrs verursacht, die Wiederkehr der Jahreszeiten und den Wechsel vom Tag zur Nacht und von der Nacht zum Tag. An diesem Sinnbild einer Einheit von Ordnung und Bewegung hat Aristoteles das Seinsideal als eine Synthese von Sein und Wer­ den gedacht 88. Die selbstverständliche Tatsache einer derartigen kosmischen Ordnung blieb seinem Denken vorgegeben. Wir werden sehen, wie anders sich jede Problematik einem Denken . zeigt, das sich nicht mehr an einem sinnfällig vorgegebenen kosmischen Leit­ bild einer "bewegten Ordnung" zu orientieren vermag. Aristoteles hat die Synthese zwischen Sein und Werden rur viele Bereiche gedacht. Von besonderer Wirkung für das abendländische Denken waren aber vor allem seine Bemühungen, sie selbst für den Bereich zu denken, der, nach seiner eigenen Grunderfahrung, von Vergänglichkeit beherrscht ist, den Bereich der irdischen Seienden. Es gehört zu seinen großen denkerischen Taten, daß er das bewegte, 39 Dieser Annahme einer vornehmlich phänomenalen Bestimmtheit des aristotelischen Denkens widerspricht nicht, daß A. von den Lehren des Eudoxus beeinflußt war. 32

I.

Gestalt und Sinn der aristotelismen ousia

vergänglime Seiende, das on gignomenon nicht - wie Platon - als ein Nimtseiendes, ein me on oder gar als ein ouk on bestimmte, sondern in ihm ein unvergängliches Sein und Wesen erschaute und damte und dadurm das vergänglime Einzelne in die " ewige" Seins­ wirklimkeit einer "bewegten Ordnung" hinübergerettet hat. Die Grundeinsimt des Aristoteies liegt somit darin, daß die ousia selbst weder "kommt noch vergeht" ; sie ist nimt dem Entstehen, der genesis, und dem Vergehen, der phthora, unterworfen. Die An­ nahme wäre absurd, daß der Künstler, der eine Bronzestatue her­ stellt, etwa aum die Formen des Sphärischen oder des Runden er­ zeugte. Denn das würde bedeuten, daß der Prozeß der Herstellung niemals an ein Ende gelangen würde 4 0 . Aber nicht nur derartige Formen, sondern auch z. B. das Wesen "Haus" ist - nam Aristo­ teles - ungeworden und unvergänglich. "Ein Haus entsteht immer nur aus einem Haus" 41, "Gesundheit immer nur aus Gesundheit" 42 oder allgemein .. ein Gleimnamiges aus einem Gleichnamigen" 43 . Im Bereich . der natürlimen Seienden ist die Unvergänglimkeit des Wesens dadurch erwiesen, daß etwa "der Mensch immer den Mensmen erzeugt" 44. Durm die Kette der Erzeugungen und Ge­ burten bleibt das Wesen "Mensm" jenseits allen Werdens und Ver­ gehens, obwohl der einzelne Mensm wegen seiner Materie 46 "kommt und vergeht", geboren wird und stirbt. Der entsmeidende Gedanke des Aristoteles, der den platonismen Dualismus von unvergänglimer Idee und vergänglimem Seienden, den chorismos, endgültig überwinden sollte, beruhte aber darin, daß im sublunaren Bereim das ungeworden e und unvergänglime, " ewige" Wesen nur im konkreten Seienden, dem vergänglichen synholon, vorliegt. Somit stellt sim die Frage nach dem Sinn der "Ewigkeit" der ousia eines synholon . Wie wurde das "ewige" Wesen gedacht, sofern es im Bereime des " Werdenden und Vergehenden" "ist" ? Welmes ist der Sinn seiner "Ewigkeit"? Da es sich hier um das Verhältnis zu der Sphäre des Werdenden und Vergehenden, also des Bewegten handelt, läge es nahe, den Sinn der Ewigkeit durch eine Reflexion auf die aristotelische Bestimmung des "Un­ bewegtseins" zu sumen. Der Frage sei hier aber nimt in dieser Rimtung namgegangen, vielmehr sei versumt, sie innerhalb einer 40 Meta. 1 033 b-5 ; 1 033 b-1 7 ; 1 039 b-23 ff. ; vgl. hierzu auch 1 043 b- 17; 1 05 1 b-30; 1069 b-35 ff. 43 Ibid. 1 034 a-22. 45 Ibid. 1033 b-1 9. 4 1 Ibid. 1 034 a-24. 44 Ibid. 1 032 a-2 5 ; 1 033 b 33. 42 Ibid. 1 034 a-29. 33

I.

Hauptteil: Die Tradition

Problematik zu beantworten, die uns dicht an den maßgebenden Fragebereich Heideggers heranführt, an die Problematik von " Sein und Zeit" . I n der Abhandlung über das Wesen der Zeit i n der Physik 48 wird die "Ewigkeit" der aei onta, zu denen die ousiai gehören, aus dem Hinblick auf die "Zeit" bestimmt. Im Gegenhalt gegen die "in-der­ Zeit-Seienden" 47 werden die "nicht-in-der-Zeit-Seienden" 48 in einer doppelten Hinsicht gekennzeichnet. Die "ewigen Seienden" sind nicht "von der Zeit umfaßt" (periechetai) 4' und ihr Sein ist "nicht von der Zeit gemessen" 50 . Um die Bedeutung dieser Abgrenzungen verstehen zu können, sei näher ausgeführt, wie Aristoteles die "in-der-Zeit-Seienden" gedacht hat. Dadurch wird seine Auffassung vom Wesen der Zeit verdeutlicht, die Heidegger veranlaßt hat, das Wesen der Zeit in anderer Weise zu denken. Die in-der-Zeit-Seienden sind von der "Zeit umfaßt" 51. Dieses Vermögen zu umfassen, kennzeichnet den zerstörenden Charakter d er Zeit. "Die Dinge leiden (paschein) durch sie" ; die Zeit "macht die Dinge dahinschwinden und alles wird durch die Zeit alt und durch den Ablauf der Zeit vergessen" 52. Die Zeit wird somit in erster Linie als eine "Macht" aufgefaßt. Aber zugleich wird diese Macht als begrenzt verstanden, denn Sein und Wesen, die erste ousia ist ihr als solche nicht unterworfen. Hier begegnet uns jene grundsätzliche Auffassung, die sich bei Platon und Aristoteles ausbildete und die das abendländische Denken seit­ her beherrscht hat. So schreibt noch Hegel am Ende der Tradition : " der Begriff (sc. das erfüllte ,Sein') ist die Macht der Zeit". Heidegger wird gerade diese Grundposition der Tradition zu über­ winden suchen. Er wird zu der Auffassung gelangen, daß umgekehrt " die Zeit die Macht des Seins ist", wobei sich freilich der Sinn von Sein (Wesen) wie von Zeit radikal verändert hat. Aristoteles hat das Wesen der Zeit aber nicht nur als eine "Macht", sondern auch als eine "Zahl" aufgefaßt und es war diese Zeitauffassung, die für das .. natürliche Verständnis" bestimmend geblieben ist und die das philosophische Denken bis zu Hegel ge­ prägt hat 5!a. Auf die vielen Fragen: die mit ihr zusammenhängen, 46 Physik 2 1 7 b-29 ff. 47 lbid. 22 1 a-27 ff. 48 lbid. 221 b-3.

49 Ibid. 221 a-29. 50 lbid. 221 b-7. 5 1 Ibid. 221 a-29. 34

52 lbid. 221 a-30 ff. 52a Vgl. unten S. 78, S. 1 1 1 .

I.

Gestalt und Sinn der aristotelischen ousia

wird hier nur insofern eingegangen, als sie Probleme anzeigen, die Heidegger in anderer Weise behandelt. Nach der grundlegenden aristotelischen Definition ist die Zeit " die Zahl (arithmos) der Bewegung (kinesis) nach ihrem Vorher und Nachher (kata to proteron kai hysteron) 53. Aristoteles hat diese Definition selber dahingehend erläutert, daß Zahl hier das "Gezählte" bedeutet, eine Anzahl zählbarer Einheiten, die an einer bestimmt verlaufenden Bewegung gezählt werden. Die Bewegung muß in ihrem Vor und Nach eindeutig, geordnet, grenzenlos (apeiron), kontinuierlich (syneches) und teilbar sein. Sie muß durch punkthafte (stigmai) Größeneinheiten (megethe) verlaufen. Dies ist, genauer gesagt, die Bewegung des Himmelsumschwungs, die peri­ phora. Das Wesen der Zeit wird somit aus einem bestimmten Fundie­ rungszusammenhang mit der teilbaren Ortsbewegung, der Größe und dem Punkt, also mit dem Raum verstanden. Hierdurch gerät sie in eine gewisse Abhängigkeit vom Raum. Demgegenüber wird Heidegger versuchen, den Raum in einer Abhängigkeit von der Zeit und später als mit der Zeit gleichrangig zu denken, wobei freilich das Wesen der Zeit unaristotelisch aufgefaßt wird. Wenn ein Bewegtes in der geordneten Bewegung zwei nachein­ anderfolgende Größenpunkte durchläuft, wird das Sein der Zeit erfahrbar. Der vorherige Punkt wird dann als das " Früher-sein" , der nachfolgende Punkt als das "Später-sein" verstanden und die Strecke, durch die das Bewegte verläuft, erhält den Sinn einer "Dauer" oder einer " Weile" . Diese Dauer oder Weile stellt in der aristotelischen Zeitauffassung eine Zeitstrecke dar, ein Quantum, das meßbar ist. Das gezählte oder gemessene " Wielange" der Dauer oder Weile erfüllt das Wesen der aristotelischen Zeit. Heidegger wird sich gegen diese Auffassung der Zeit als eines meßbaren Quantums richten und zu zeigen versuchen, daß sie nur das "vul­ gäre" Derivat einer qualitativ zu denkenden originären Zeitauf­ fassung ist. Diese "originäre" Zeit wird er in Sein und Zeit als Bedingung der Möglichkeit des seinsverstehenden Daseins entwik­ kein. In den Spätschriften hat Heidegger einen " qualitativen" Zeit­ sinn als einen Grundzug des Seins oder genauer der Welt gedacht und dadurch diesen aristotelischen "quantitativen" Sinn zu "über­ winden" versucht. 53 Ihid. 219 b-l ff. 35

1.

Hauptteil: Die Tradition

Die aristotelische Auffassung der Zeit als eines meßbaren Quan­ tums besagt vor allem, daß sie gegenüber jedwedem "Inhalt" gleich­ gültig ist ; ob gemessene zehn Minuten ereignisvoll oder ereignislos verlaufen, geht dieses Wesen von Zeit nichts an. Dieser Zug der Gleichgültigkeit der Zeit hat die gesamte Tradition bis Hegel be­ stimmt, für den die Zeit ein gleichgültiges " Einfaches " 54 war, die dürftige Kategorie des unmittelbaren Seins. Es ist wichtig, den tieferen Grund für diese Gleichgültigkeit der Zeit hervorzuheben, weil er - mit wenigen Ausnahmen - für die traditionellen Zeitauffassungen bestimmend geblieben ist. Er liegt in der Wesensstruktur jener Punkte an der geordneten Bewegung, die Aristoteles als "Zeitpunkte" verstand und "Jetztpunkte" nannte. Das Wesen eines Jetzt, eines nyn, eines nunc und eines Punktes liegt darin, ein "Selbiges" zu sein, das zugleich ein " Ande­ res" und "wieder Anderes" ist 55. Jeder Jetztpunkt an der Bewe­ gung hat den Charakter des selben Jetzt und doch ist er als solcher immer ein "anderer Jetztpunkt" . Hierin liegt, die Gleichgültigkeit, mit der ein Jetztpunkt einem anderen folgt, und mit dem jedes Jetzt-Hier immer schon wieder ein anderes ist. Im Sinne solch einer Gleichgültigkeit spricht man vom "Fluß der Zeit". Heidegger wird diese Gleichgültigkeit der Zeit dadurch zu über­ winden versuchen, daß er die Orientierung der Zeitauffassung am Punkt und am Jetzt aufgibt. Dadurch erhält der " Zeitraum" eine andere Bedeutung als das aristotelische Jetzt-Hier, das von allem Inhalt abstrahiert. Das Jetzt kennzeichnet die Zeitdimension der Gegenwart. Die Gegenwart ist für Aristoteles das maßgebende Kriterium. Von ihr aus ist die " Vergangenheit" das Jetzt, das "war" und die Zukunft das Jetzt, das "sein wird" . Das Jetzt als Gegenwart ist die Grenze (peras) 5 8 , die die Gegenwart von der Vergangenheit und der Zukunft abgrenzt und sie ist zugleich als Grenze der "übergang", von dem aus alles Zukünftige zum Jetzt werden muß genauso, wie alles Vergangene einmal ein Jetzt war. Diese Vor­ herrschaft der Zeitdimension der Gegenwart ist für das abend­ ländische Denken bestimmend geblieben. Heidegger wird dem­ gegenüber in Sein und Zeit versuchen, diese Gegenwart als einen abkünftigen "uneigentlichen" Modus einer " eigentlichen Gegen54 Ph. d. G. S. 8 1 , 86. 55 Physik 219 b-12-1 5.

56 Ibid. 222 a-12.

36

I. Gestalt und Sinn der aristotelismen ousia

wart" des ,.Augenblicks" aufzuzeigen. Er wird außerdem der "Zu­ kunft" einen Vorrang gegenüber der "Gegenwart" einräumen, wo­ bei allerdings Zukunft nic:nt als das "noc:n-nic:nt-Jetzt" aufgefaßt wird. Er wird ferner diese Zukunft mit der Gewesenheit, die für ihn nic:nt das "nic:nt-mehr-Jetzt" ist, in einem bestimmten Zusamm en ­ hang zusammendenken. In den Spätsc:nriften wird er schließlic:n die anders verstandene Gegenwart als ,.gleichzeitig" mit den anderen Zeitdimensionen bestimmen. Heidegger hat in Sein und Zeit diese Besinnung auf ein ursprüng­ lic:nes Wesen der Zeit nur aus der Hinsic:nt auf das Wesen des Mensc:nen, das Dasein durc:ngeführt. Damit bewegte er sic:n inso­ fern innerhalb der aristotelisc:nen Tradition, als auc:n für Aristoteles das Wesen des Mensc:nen mit zur vollen Bestimmung des Wesens der Zeit gehörte. Der "nous der Seele" 57 muß die zwei Größen­ punkte an der Bewegung eines Bewegten auseinanderhalten und das Wielange der Dauer der Bewegung messen, damit "Zeit" ist. Das Auseinanderhalten und das Messen sind somit "Bedingungen der Möglic:nkeit" der aristotelisc:nen Zeit. Für Heidegger wird frei­ lic:n solc:n ein messendes Auseinanderhalten gerade nic:nt die "eigent­ lic:ne" Vollzugsweise des Mensc:nen ausmachen, die in einem Bezug zu der "ursprii nglic:nen Zeit" steht. In der angeführten Stelle aus der Physik 58 hatte Aristoteles die Region der "nic:nt-in-der-Zeit-Seienden" , der "ewigen" Seienden, der aei onta, zu denen die ousia gehört,von der Region der "in-der­ Zeit-Seienden" abgegrenzt. Der Sinn der Ewigkeit der ousia be­ stimmt sic:n somit daraus, "nic:nt-zeitlich" oder "außerzeitlic:n" zu sein. Dabei handelt es sich aber nur um eine Nichtzugehörigkeit zu der bestimmten Zeit, deren Wesen soeben entfaltet wurde. In dieser negativen Weise läßt sic:n die Ewigkeit der ousia dahingehend kenn­ zeichnen, daß sie weder der zerstörenden Mac:nt der Zeit unterliegt, noc:n als Zahl an einer räumlic:nen Bewegung meßbar ist und ins­ besondere nicht vom Jetzt, der Gegenwart her aufzufassen ist. Wenn die nac:naristotelisc:ne Philosophie die Ewigkeit der Wesen doch immer wieder aus der Hinsic:nt auf das "Jetzt" und die "Ge­ genwart" bestimmte, dann gesc:nah dies aus dem christlichen An­ liegen, der "Omnipräsenz" des Schöpfergottes Ausdruck zu ver­ leihen. Deshalb wurde seine Ewigkeit als das "stehende Jetzt" , das nunc stans und als "ewige Gegenwart" aufgefaßt. Für die Griechen 57 Ibia. 223 a-25.

5 8 Siehe S. 34. 37

I. Hauptteil: Die Tradition

aber gab es keinen Gott, der ex nihilo creat. Weder der Kosmos rioch die Wesensordnung sind "geschaffen" . Ihnen stellte sich nicht die Aufgabe, die Ewigkeit des höchsten Seienden gegenüber seiner vergänglichen Schöpfung zu sichern. Der Versuch einer positiven Bestimmung des Sinnes der Ewigkeit der ousia müßte verschieden verfahren, je nachdem es sich um eine unbewegte oder eine nicht entstehende,. aber bewegte oder um eine entstehende (sub lunare) ousia handelt und bei dieser letzteren kann auf die prote ousia 59 oder nur auf das synholon abgestellt werden. Uns interessiert hier nur die Frage, wie sich der Sinn der Ewigkeit der ousia eines synholon positiv innerhalb der bestimmten aristo­ telischen Unterscheidung der zwei Regionen der Außerzeitlichkeit und Zeitlichkeit bestimmen läßt. Aristoteles hat aber nicht aus­ drücklich gefragt, wie die " Synthese" der " nicht-in-der-Zeit" Seien­ den und der "in-der-Zeit" Seienden im synholon, zu denken ist. Er hat nicht erörtert, ob jene " Ewigkeit" durch dieses "In-Sein" etwa "verzeitlicht" wird und er hat . die "Art von Zeit" nicht be­ stimmt, die hier herrschen würde. Diese Frage wird hier nur des­ halb aufgeworfen, weil sie ein Beispiel dafür ist, daß die Sache selbst das Denken dazu veranlassen kann, nach einer "Art von Zeit" jenseits der aristotelischen Zeitbestimmungen zu suchen und weil unsere Antwort uns in die Nähe eines wichtigen Problems bei Heidegger führt. Bei der technischen Herstellung tritt etwas ins "Sein oder We­ sen", wenn die vier Gründe zusammen vorliegen. Dann ist das synholon, das techne on und somit diese ousia da. Sie ist "ange­ kommen" . Und nach erfolgter Herstellung bleibt dieses Wesen, es "währt", bis das konkrete Seiende vergeht. Da es bei einer erneuten technischen Herstellung wieder ankommt und wieder währt, gilt fernerhin, daß die ousia "wiederkehrt", daß sie in diesem Sinne " fortwährt" . Bei der genesis der physei onta zeigt sich das selbe Ankommen, Währen und wiederkehrende Fortwähren der ousia. Die ousia, "das Menschsein" kommt bei der Geburt dieses Men­ schen an, sie währt, bis " dieser Mensch" stirbt und sie kehrt durch die Kette der Erzeugung und Geburten immer wieder, sie währt durch die Geschlechter fort. Während der Einzelne für Aristoteles als ein "in der Zeit" Seiender " vergänglich" ist, kehrt das Mensch­ sein wieder und währt fort. 59 Meta. 1035 a-29 ff., 1 039 b-23 ff., 1 043 b-1 4 ff. 38

I. Gestalt und Sinn der aristotelisdten ausia

Dem Ankommen, Währen und wiederkehrenden Fortwähren liegt ein gemeinsamer Sinn zugrunde. Es sind drei Weisen, in denen sid!. die ousia in ihrem " Seiendsein" und ihrem " Was-sein" als das "Gleid!.e'" präsentiert. Vielleid!.t darf man behaupten, daß in die­ sem "sid!. präsentieren'" der "zeitlid!.e Sinn'" einer Art von "Prä­ senz" liegt 80. Diese Präsenz ist freilid!. nicht mit der aristotelisd!.en Zeitdimension identisd!., denn bei diesen Weisen, in denen sid!. die ousia "präsentiert"', handelt es sich nicht um ein nyn, nicht um ein " Jetzt" als "Grenze'" oder " übergang" mit Bezug auf ein "nicht­ mehr-Jetzt'" und ein " noch-nicht-Jetzt". Dennoch ist offenbar diese "Präsenz, die einem Ankommen, Währen und wiederkehrenden Fortwähren zugrundeliegt, nicht eine Form von "Außerzeitlich­ keit"' . Die ousia eines synholon trägt nicht den Grundzug einer "außerzeitlichen" Ewigkeit. Das Wesen der hier waltenden Art von "Zeit'" bleibt ungeklärt, aber für unsere Zwecke genügt der Hin­ weis, daß die aristotelische Zeitbestimmung für die Erfassung ·des Verhältnisses von "Sein und Zeit" selbst innerhalb der aristote­ lischen Problematik nicht ausreicht. Heidegger hat in Sein und Zeit nicht nach dem Sinn der "Ewig­ keit" der ousia des synholon gefragt. Er versuchte vielmehr, die Zeitlichkeit der Blidtbahn zu bestimmen, innerhalb derer Aristoteles die ousia erfaßte. Er hat von dort her die erste ousia überhaupt tem­ poral als eine "Präsenz'" bestimmt, deren Sinn gleichfalls außerhalb der aristotelischen Zeitbestimmungen liegt. Es sei angemerkt, daß Heidegger in der neuerdings veröffentlichten Interpretation des aristotelischen Begriffs der physis 81 ohne Bezug auf die Zeitlichkeit des Seinsverstehens den Sinn der "Ewigkeit" der prote ousia daraus zu bestimmen sucht, daß sie als ein hypokeimenon "jeweils von sich her" vorliegt oder "anwest"', d. h. sich in einer Weise "zeitigt", die · sich ebenfalls nicht durch die aristotelischen Zeitdimensionen erfassen läßt &2. Der Sinn der Notwendigkeit der ousia

3.

Das kosmische Leitbild einer "bewegten Ordnung", das den Sinn des Grundzugs der "Ewigkeit" der ousia vorbestimmte, hat vermut­ lich auch den Sinn des zweiten Grundzugs der ousia, der Notwen60 S. u. Z. S . 25 26, 1 9. cf. E. Tugendhat, ap. eit., der die "Präsenz'" genauestens erörtert. Die Frage ihres temporalen Sinnes wird nidtt be­ handelt. 62 S. unten S. 135 ff . 6 1 Il Pensiero I, S. 155. ,

39

I.

Hauptteil : Die Tradition

digkeit geprägt. Ein äußerliches Zeugnis hierfür sind die zahlreichen TextsteIlen, in denen Aristoteles das ex anankes mit dem aei zu­ sammen nennt 89• Im 5. Abschnitt des fünften Buches der Metaphysik wird zu­ nächst der allgemeine Sinn von Notwendigkeit wie folgt umris­ sen 84 : "Wir sagen von dem, was sich unmöglich anders verhalten kann, daß es notwendig ist" . Im gleichen Abschnitt wird dann erklärt, das eigentlich Not �endige (anankaion) das "Einfache" (to haploun) ist 85. Das Einfache ist das unteilbare Was-sein eines Seienden, die ousia. Die ousia ist somit "notwendig", weil sie sich "nicht auf mehrfache Weise verhalten und darum nicht andeTs und andeTs sein" 68 kann. Zum Verständnis dieser Bestimmung der Notwendigkeit 81 der ousia gehört der Hinblidt darauf, daß - komplementär zu ihr - die Seinsweise des " anders-und-anders-seins", die " Veränderbarkeit" , eigens behandelt wird. Die veränderlichen Seienden, die endech o ­ menona allos echein, haben die Seinsweisen, die wir heute katego­ rial als "Möglichkeit" und " Zufälligkeit" kennzeichnen und ins­ besondere .als "Akzidentialität" 88. Der Sinn der Notwendigkeit der ousia bestimmt sich somit zunächst aus einer AbwehT der Ver­ änderbarkeit und ihrer Seins weisen. Notwendigkeit des Wesens bedeutet Nichtveränderbarkeit. Man muß aber beachten, daß hier die Veränderbarkeit als ein "anders und anders Werden" aufgefaßt wird, in dem ein Anderes unendlich in ein anderes Anderes übergeht. Aristoteles hat aber außerdem eine Art von "Veränderung" gekannt, bei der die Be­ wegung "zu sich selbst zurüdtkehrt" ". Eine solche Rüdtkehr zu sich selbst ist eine Veränderung, in der eine bereits vorbestimmte was­ hafte Anlage verwirklicht wird. Sie ist ein Gang, der durch geord­ nete Phasen verläuft und zu einer von diesem Anfang an vorbe­ stimmten Vollendung führt. Diese Art von " Veränderung" gibt es 63 Z. B. De Gen. et Corr. 338 a-20. 65 Ibid. 1 01 5 b- 12 ff. 66 Ibid. 1 0 1 5 b-1 4. 64 Meta. 1 0 1 5 a-32 ff. 67 Vgl. hierzu Karl Ulmer, Wahrheit, Kunst und Natur bei Aristoteles S. 91 ff. 68 Es .5ei angemerkt, daß AristoteIes auch die "notwendig- Akzidentiel­ len, die "an sich beiläufig Mitseienden-, die symbebekota kath hauta kennt. Die hierzu gehörigen Fragen sind aber für die grundsätzliche Sinnbestimmung der Notwendi gk eit nicht relevant. 69 De Gen. et COTT. 338 b-1 4. 40

I. Gestalt und Sinn der aristotelischen ousia

im Wesen, in der ousia selbst 70. Sie ist als telos das in seinem Was­ sein fest umrissene, begrenzte und vorbestimmte "Ende" dieser Be­ wegung und zugleidt deren "Anfang" . Sie ist der "Grund", um . dessen twillen die vorbestimmte Anlage sidt in einem Stufengang verwirklidtt. Die ousia als das telos eines SeiEmden verwirklidtt sich zugleidt auch in dem Sinne, daß es der " Zwedt" für ein anderes Seiendes und dessen telos ist, daß es in dieser Beziehung des "Einen und seinem Anderen" zu sich zurückkehrt. Diese Beziehung madtt die Struktur des inneren Zusammenhangs aus, der "teleologisdten" OrdItung. In dieser Bewegung des Bezuges des telos auf sich und seine Phasen sowie auf das Andere liegt eine bestimmte Weise von "Müssen" und " Zwang". In diesem Müssen liegt der positive Sinn des Grundzuges der Notwendigkeit der ousia. Daß dieser positive Sinn von Notwendigkeit vom telos her zu verstehen ist, bezeugt der Begriff der "Notwendigkeit aus Vor­ aussetzung" (ex anankes ex hypotheseos) 7 1. Damit ein von Natur aus Seiendes, ein physei on, und ein aus menschlidter Herstellung Seiendes, ein techne on, ins Sein und Wesen treten k.ö nnen, müssen alle vier Gründe vorliegen . Dieses Geschehen ist aber ein "not­ wendiges" nur aus der " Voraussetzung" oder im Hinblidt auf das Vorliegen des einen der vier Gründe, des telos. Nur unter der " Voraussetzung", daß z. B. bei der menschlidten Herstellung das telos eines vollendeten Hausseins die anderen drei Gründe be­ stimmt und leitet, gesdtieht diese "notwendig" . Die Hölzer oder Ziegel (hyle), der Beginn der Arbeit (arche), die Gestalt (mor­ phe) und das Aussehen (eidos) sind " notwendige" Gründe dieser Produktion, weil sich das telos, das vollendete Haussein auf sie bezieht. Audt dieser Bezug des telos zu den anderen drei Gründen hat den Charakter eines " Zwanges " . Der Zwang des telos hat aber nidtt etwa die Strenge des "Müs­ sens·, jener "Art" von Notwendigkeit, die später für die Natur­ wissensdtaft den Zusammenhang von "Ursache und Wirkung" sowie von "Grund und Folge" kennzeidtnete. Denn innerhalb des teleologischen Bezuges der physis war die Möglidtkeit von Ver­ fehlungen (hamartemata) 72 und von Hindernissen 73 anerkannt. Bei der hier herrschenden Art von Notwendigkeit genügte es, daß 70 Auch die Himmelskörper bewegen sich in sich; dies ist die kinesis kata topon. 71 Physik 1 99 b-33 ff. vgl. hierzu K. Ulmer op. eit. S. 1 0� ff. 73 lbid. 199 b-26. 72 Physik 1 99 b-4. 41

I. Hauptteil: Die Tradition

alles Natürliche entweder immer oder " meistenteils " zu seiner vorbestimmten Vollendung gelangt 74. Sowohl das Naturgeschehen wie auch die menschliche Herstel­ lung war eine poiesis. Es ist für das Verständnis des "anderen Sin­ nes von Sein und Wesen" bei Heidegger von großer Wichtigkeit hervorzuheben, daß Aristoteles das " Schöpferische" , das "Poieti­ sche" des Geschehens der physis und der teclme somit als von dem dargelegten Zwang der Notwendigkeit gebunden aufgefaßt hatte. Im Naturgeschehen ist sowohl das poiein, das das Seiende "von sich her beginnend" 75 zu seinem telos hervorkommen läßt "aus Voraussetzung notwendig" als auch das poiein, das auf ein ande­ res Seiendes einwirkt und zu dessen eigenem Wesen mithervor­ kommen läßt 78 • Die teleologische Grundauffassung des Aristoteles und die in ihr gründende "Art" von Notwendigkeit hat das abendländische Den­ ken in manchen Bereichen bis in unsere Zeit hinein bestimmt. Auch nachdem durch Galilei und Descartes das "naturwissenschaftliche Denken" einen vollen Sieg der causa efficiens über den teleologi­ schen Grund, die causa finalis, �rrang und die aristotelische Sicht einer teleologischen Ordnung ad absurdum geführt worden war, lebte die Struktur des telos in den Aufassungen eschatologischer Prozesse fort. Sie blieb - zumindest in formaler Hinsicht - weiter­ bestimmend für den theologisch-christlichen Gedanken einer Escha­ tologie, wie sie auch der Struktur der atheistisch-marxistischen Eschatologie des historischen Materialismus zugrundeliegt. Es ist für das "heutige Bedürfnis der Philosophie" bezeichnend, daß zahlreiche zeitgenössische Philosophen bewußt den Weg zu­ rück zur aristotelischen Teleologie und der auf ihr beruhenden "Art" von Notwendigkeit gehen. Dies geschieht aus einem anti,· relativistischen und anti-historizistischen Drang und aus derr. Wunsch nach einer neu,en "Wesensordnung" . Es läßt sich aber fragen, ob es wirklich möglich ist, einfach zu der aristotelischen Ousiologie zurückzukehren, nachdem ihr kosmisches Vorbild völ­ lig diskreditiert worden ist. Heidegger versucht demgegenüber einen anderen Weg zu gehen und sucht deshalo nach einem " an­ deren Sinn von Sein und Wesen" . Darum bemüht er sich zunächst, alle Auffassungen von Wesen und Substanz zu "überwinden" , die auf der aristotelischen ousia gründen. Hierin liegt aber, daß dieser 75 lbid. 1 92 b-1 5 . 74 lbid. 199 a-33 ff. 76 D e Gen. et COTT. I 6- 9 vgl. K. Ulmer o p . dt. S. 101 ff . 42

I. Gestalt und Sinn der aristotelischen ousia

"andere Sinn von Sein und Wesen" nicht die Grundzüge tragen kann, die die ousia gekennzeichnet haben. Die Frage wird sidt uns somit stellen, ob dieser Sinn von Sein überhaupt von einer "Notwendigkeit" bestimmt ist, bzw. welche " Art" von Not­ wendigk eit herrscht. Die Bezugsstruktur des telos, aus dem sich uns der Sinn der Notwendigkeit bestimmte, verweist auf einen dritten Grundzug der -ousia, auf die Selbigkeit. 4.

Der Sinn der Selbigkeit der ousia

Der Sinn des Grundzugs der Selbigkeit (he tautotes) der ousia muß sich entweder aus dem "Gegensatz" oder aus dem "Bezug" zur Unselbigkeit, d. i. der Mannigfaltigkeit, dem Wechsel und dem Wandel bestimmen. Bei Platon bestimmt er sidt gemäß seiner Frage nadt dem "Einen und den Vielen" (hen kai polla) aus dem "Gegensatz" zu den Vielen, bei Aristoteles hingegen aus dem "Bezug" zu den Vielen, den beiläufig Mitseienden, den symbebe­ kota. Dieses Verhältnis findet bei Aristoteles seinen entscheidenden Ausdrudt in der Problematik des "Wechsels am Wesen" und der "Entstehung von Wesen" (genesis haplos). Diese Problematik verdeutlicht, wie ein an einem kosmischen Leitbild vorbestimmtes Denken das Chaos rastlosen Wechsels und Entstehens in eine "be­ wegte Ordnung" umdenkt und sie zeigt erneut, warum ein Den­ ken, das nidtt mehr von einem kosmischen Seinsideal bestimmt ist, mit diesen Auffassungen brechen muß. Aristoteles hat den Wechsel am Wesen eines bestimmten kon­ kreten Seienden mit Hinblidt auf drei Kategorien gedadtt 77• Die qualitativen Bestimmungen des Wesens können sidt ändern ; dies ist der Fall der Veränderung im engeren Sinne, der alloiosis. Oder die quantitativen Bestimmungen ändern sidt, die Zu- oder Ab­ nahme (auxesis-phthisis) oder das konkrete Seiende ändert seinen Ort, es gesdtieht ein Ortswechsel (phora). Ein Beispiel für den ersten Fall ist der Wechsel eines "ungebildeten" Mensdten zum " gebildeten" Menschen. Hier findet die Veränderung, der Umsdtlag (metabole) einer beiläufig mitseienden Bestimmung in eine "andere" (allo) so statt, daß das Eine untergeht, indem das Andere entsteht. n

De Gen. et Corr. 3 1 9 b-32 fF. 43

I.

Hauptteil : Die Tradition

Diese Seinsweise der " Unselbigkeit" steht aber in einem engen Bezug zur Selbigkeit und erhält von ihr die Gestalt einer "ge­ ordneten Bewegung". Denn erstens verläuft sie an dem " Zugrunde­ liegenden", der ersten ousia, etwa an " diesem Menschen" . "Dieser Mensch" als solcher beharrt. Er hält sich durch als ein "Selbiger" in seinem Verhältnis, seinem Bezug zu den wechselnden Bestim­ mungen 78. Er bleibt - um mit Hegel zu spredten - "bei sich selbst im Anderssein" . Er bleibt derselbe, ob er geht oder sitzt, jung oder alt ist. Der qualitative Wechsel vermag der grundsätzlich sich selbst gleichbleibenden Ordnung der washaften Wesen somit nichts anzuhaben. Darüber hinaus verleiht das zugrundeliegende Wesen in seiner Selbigkeit auch den "unselbigen", wedtselnden Bestim­ mungen eine Ordnung. Die "Umschläge" finden nur zwischen ge­ genüberliegenden Gegensätzen enantia und antikeimena statt, deren Möglichkeiten von der zugrundeliegenden ousia vorbestimmt sind ; so kann ein Mensch zwar vom Ungebildetsein in ein Gebildetsein "umschlagen", aber niemals - als wäre er das Blatt einer Pflanze ­ vom Grünsein ins Gelbsein. Aristoteles hat aber auch einen Wandel im Hinblick auf die erste Kategorie, die ousia selbst gedacht. Dies ist das schwerwie­ gende Problem der Entstehung des Wesens qua synholon (genesis haplos). In diesem ins-Sein oder ins-Wesen-treten eines Menschen, eines Tieres, eines Dinges oder eines Kunstwerks, liegt das eigent­ liche Problem der genesis. Man muß feststellen, daß Aristoteles diese gegenüber der bloßen Veränderung am Wesen ganz andere Problematik in der Abhand­ lung De Generatione et Corruptione trotz allem tiefgründigen Forschen und Erwägen doch am Modell der alloiosis auffaßte und man versteht auch, warum er hierzu zur Wahrung seines Seins­ ideals genötigt war. Er wollte dem eleatischen Prinzip treu blei­ ben, ohne aber die Möglichkeit von Bewegung und Werden von "bestimmtem Sein" in "bestimmtes Sein" zu leugnen. Zunächst gilt, daß es auch hier ein Zugrundeliegendes geben muß, ein immer schon Vorliegendes, ein hypokeimenon, damit überhaupt etwas werden kann. In der Physik 78 wird auf "wahrnehmbare" Zugrundeliegende wie den Samen hingewiesen, der bei Pflanzen und Tieren immer schon vorhanden ist, bevor ein neues wesen­ haftes Seiendes entstehen kann. Oder das Erz ist das Zugrunde78 Physik 1 90 a-14.

79

IbiJ. 1 90 b-3. 44

I.

Gestalt und Sinn der aristotelischen ousia

liegende, insofern es aum immer smon da ist, bevor die Statue hervortreten kann 80 . So gesehen, wäre alles Entstehen nur ein Umformen, Hinzufügen oder Zusammensetzen dieses Zugrunde­ liegenden, das sim als solmes durmhält. Die Abhandlung De Generatione et Corruptione geht über diese massive Position hin­ aus ; hier wird anerkannt, daß das Zugrundeliegende keineswegs nur ein sinnlim Wahrnehmbares sein muß 81. Als Zugrundeliegen­ des wird vielmehr verstanden, was der Möglimkeit nam immer smon da ist und sim durmhält, so z. B. das Sein des Lebewesens in der tierism-mensmlimen genesis. Dieses Sein ist getreu dem eleatismen Prinzip "jenseits allen Entstehens und Vergehens" 82. Es ist das, was im Bezug auf die Vielen, auf die Folge der Ge­ smledJ.ter, dasselbe bleibt. Aber insofern es sim bei der genesis haplos um das Werden von "bestimmtem Sein" in "bestimmtes Sein" handelt, gehören zu dem Gesamtgesmehen nom die zwei weiteren Strukturmomente : die Form (eidos), das Wohin der Be­ wegung der genesis und die privative Form, die steresis, das " Wo­ her" der Bewegung 83. Diese aufeinander bezogenen Bestimmun­ gen haben zusammen mit dem Zugrundeliegenden, dem hypokei­ menon, den Prozeß der genesis immer weitgehend vorstrukturiert, so daß das aristotelisme Ideal einer in sim bewegten " Ordnung" in keiner Weise durm diese Möglimkeit einer "Wandlung" ge­ fährdet wird. Hierin liegt die Konsequenz, die problemgesmimt­ lim so entsmeidend wurde, daß aum der Wandel des Wesens ni mt die Heraufkunft von wirklim Neuem, Niedagewesenem erlaubt. Diese Wesensfolge des Grundzuges der Selbigkeit der ousia hat die namfolgende Philosophie bestimmt und sie immer erneut in große Smwierigkeiten verstrickt, wenn die Ankunft von Neuem geremt­ fertigt werden sollte. Sie hat alle Ansätze " gesmimtlimen" oder " epomalen" Denkens in Widersprüme versetzt, sie hat die Ergeb­ nisse der Naturwissensmaften, etwa die Einsimten in die Ent­ stehung "neuer Arten" und Mutationen unerklärt gelassen und sie hat das Geheimnis des Kunstwerks, das radikal Neues smaffi, immer wieder dem philosophierenden Zugang versperrt. Vor allem aber hat der Grundzug einer so gedamten Selbigkeit der ousia die Rolle des Mensmen in einer Weise entsmieden, die keinen Raum für die Tatsame zuläßt, daß er an der Erstehung von Neuem, etwa in der Kunst oder der TedJ.nik mitbeteiligt ist. 82 Physik 1 92 a-29; Meta. 1 009 a-37. 80 Ibid. 1 90 b-5 ff. 8 1 De Gen. et COTT. 318 b-21-27. 83 Physik 1 91 b-1 5 ff. 45

5.

Der Sinn der lntelligibilität der ousia

Nur was sim im Zeitlimen und Vergänglimen "präsentiert" � in diesem Sinne " ewig" ist, nur was in seinem Gang vom Ziel her vorbestimmt, zwingend einbehalten und in diesem Sinne " not­ wendig" ist, nur was sim in allem Wemsei und Wandel bei sim selbst bleibend durmhält und in diesem Sinne "selbig" ist, ist auch voll und ganz wißbar, ist " intelligibel" . Der Sinn des vierten Grundzugs der ousia liegt in dem Sinn der drei erörterten Grund­ züge. Und sofern jene drei Grundzüge letztlich am Leitbild der kosmisch "bewegten Ordnung" gedamt waren, so beruht aum die­ ser Grundzug der ousia auf dieser aristotelismen WeItsicht. Die Griechen haben schon früh die Wißbarkeit als den logos gedacht, der zugleich die Ordnung selbst und das Wissen der Ord­ nung bezeimnet. Und aum heute noch bedeutet "das Logisme" zugleich das "Wißbare" und das " Geordnete", wenngleich die Art und Weise der Ordnung nimt mehr an einem griechismen Kosmos, sondern an einem neuzeitlichen Sinn von ratio orientiert ist und die Bedeutung des "Rationalen" erhalten hat. Heideggers Denken richtet sich vornehmlich gegen das "Rationale" . Sofern aber für ihn das Rationale bedeutungsgesmimt1im im logos und dem "Lo­ gischen" des Aristoteles seinen Ursprung hat, so sah er bereits in Sein und Zeit seine Aufgabe darin, die mit Aristoteles beginnende Bedeutungsgesmimte zu "destruieren" d. h. nachzuweisen, daß auch der . von allen "Verde