Handlungsmotive bei Herodot 9783515104111

Wie kam Xerxes zu seiner fatalen Kriegsentscheidung? Die Frage nach den Handlungsmotiven ist für den griechischen Geschi

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German Pages 226 [230] Year 2013

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Table of contents :
VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
TERMINOLOGIE
ANSÄTZE EINER ANTIKEN MOTIVATIONSTHEORIE
ZUR FORSCHUNGSSITUATION
AUFBAU
STELLENAUSWAHL
1. TYPOLOGIE
1.1. EMOTIONAL UND CHARAKTERLICH BEGRÜNDETE HANDLUNGSMOTIVE
1.2. GESELLSCHAFTLICH BEGRÜNDETE HANDLUNGSMOTIVE
1.3. POLITISCH BEGRÜNDETE HANDLUNGSMOTIVE
1.4. WIRTSCHAFTLICH BEGRÜNDETE HANDLUNGSMOTIVE
1.5. ÄSTHETISCH BEGRÜNDETE HANDLUNGSMOTIVE
1.6. RELIGIÖS BEGRÜNDETE HANDLUNGSMOTIVE
1.7. EXTERNE FAKTOREN ALS HANDLUNGSMOTIVE
1.8. DAS MOTIVSPEKTRUM DER HISTORIEN
1.9. HANDLUNGSLEGITIMATION DURCH KONSENSFÄHIGE MOTIVE
2. ERKLÄRUNGSMUSTER
2.1. DIE HANDELNDEN IM LICHT IHRER BEWEGGRÜNDE
2.2. ERKLÄRUNGSMUSTER FÜR POLITISCHE ENTSCHEIDUNGEN
3. XERXES
3.1. DIE MEGALOPHROSYNE DES XERXES
3.2. GUTE GRÜNDE FÜR DEN KRIEG
3.3. EIN AMBIVALENTES BILD?
3.4. HERODOT UND DIE SELBSTDARSTELLUNG DER ACHÄMENIDEN
3.5. DIE KUNST DER ERZÄHLERISCHEN METHODE
4. ZWISCHENBILANZ: DER HISTORIKER BEI DER ARBEIT
4.1. WOHER KOMMEN DIE ZUSCHREIBUNGEN?
4.2. WAS SETZEN HERODOTS ERKLÄRUNGEN BEI DEN LESERN VORAUS?
4.3. WOZU ÜBERHAUPT MOTIVZUSCHREIBUNGEN?
5. HANDLUNGSMOTIVE BEI AISCHYLOS UND BEI THUKYDIDES
5.1. DIE „PERSER“ DES AISCHYLOS
5.2. DAS GESCHICHTSWERK DES THUKYDIDES
6. ERGEBNISSE
ANHANG
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
REGISTER
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Handlungsmotive bei Herodot
 9783515104111

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Susanne Froehlich Handlungsmotive bei Herodot

COLLEGIUM BEATUS RHENANUS Schriften des Oberrheinischen Forschungsverbundes Antike der Universitäten Basel, Freiburg im Breisgau, Mülhausen, Straßburg / Cahiers du Groupement de recherche du Rhin supérieur sur l’Antiquité des Universités de Bâle, Fribourg-en-Brisgau, Mulhouse, Strasbourg herausgegeben von / édités par Marianne Coudry, Jean-Michel David, Gérard Freyburger, Marie-Laure Freyburger-Galland, Hans-Joachim Gehrke, Michel Humm, Anne Jacquemin, Jean-Yves Marc, Doris Meyer, John Scheid, Thomas Späth, Jürgen von Ungern-Sternberg, Eckhard Wirbelauer Schriftleitung / coordination Doris Meyer, Eckhard Wirbelauer BAND / VOLUME 4

Die deutsch-französisch-schweizerische Schriftenreihe CBR veröffentlicht die Arbeiten der wissenschaftlichen Projekte des Collegium Beatus Rhenanus, Arbeiten von Altertumswissenschaftlern der vier CBR-Partneruniversitäten Basel, Freiburg im Breisgau, Mülhausen und Straßburg sowie andere wissenschaftliche Arbeiten von grenzüberschreitendem Charakter. Die Schriftenreihe CBR wird unterstützt von der UMR 7044 Archéologie et histoire ancienne : Méditerranée – Europe (ArcHiMedE). La collection CBR, à la fois allemande, française et suisse, a pour vocation de diffuser des productions scientifiques issues de programmes de recherche conduits par le Collegium Beatus Rhenanus, ou des travaux individuels d’antiquisants des quatre universités partenaires du CBR Bâle, Fribourg-en-Brisgau, Mulhouse et Strasbourg, ainsi que d’autres travaux ayant un intérêt scientifique transfrontalier. La collection CBR est soutenue par l’UMR 7044 Archéologie et histoire ancienne : Méditerranée – Europe (ArcHiMedE).

Susanne Froehlich

Handlungsmotive bei Herodot

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © 2013 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10411-1

Peter Rasche gewidmet

VORWORT Die vorliegende Studie ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die ich im August 2010 eingereicht und am 21. Oktober 2011 vor einer Prüfungskommission der Universitäten Freiburg und Strasbourg verteidigt habe. Die Universität Strasbourg hat mir dafür am 30. Mai 2012 den Doktorgrad zuerkannt. Die Publikation der Arbeit, die nun auch der Freiburger Promotionsordnung Genüge tut, gibt mir die Möglichkeit, allen zu danken, die an ihrer Entstehung beteiligt waren. Mein Doktorvater, Hans-Joachim Gehrke (Freiburg), hat mein Projekt angeregt, betreut und durch viele Ideen bereichert. Obwohl sich meine Arbeit zunehmend von dem entfernt hat, was ihm ursprünglich im Sinn lag, hat er sich stets von neuem mit großem Interesse auf meine Überlegungen eingelassen. Dafür bedanke ich mich sehr herzlich. Mein directeur de thèse, Eckhard Wirbelauer (Strasbourg), hat meine Arbeit ebenfalls von Anfang an engagiert und zuverlässig begleitet. Auch ihm sei sehr herzlich gedankt, insbesondere für die Hilfe bei der Bewältigung aller mit der deutschfranzösischen cotutelle verbundenen Formalitäten. Nino Luraghi (Princeton) hat mein Vorhaben besonders in der schwierigen Anfangsphase eingehend mit mir diskutiert. Für das entgegengebrachte Interesse und zahlreiche wertvolle Hinweise möchte ich mich vielmals bedanken. Sophia Bönisch (München), Elisabetta Lupi (Freiburg), Nadine Metzger (Erlangen) und mein Vater Peter Pilhofer (ebenfalls Erlangen) haben große Teile des vorliegenden Textes in verschiedenen Fassungen gelesen und mit mir diskutiert. Sitta von Reden (Freiburg) und Rene Pfeilschifter (Würzburg) haben einzelne Teile gelesen und mir dazu hilfreiche Anregungen gegeben. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Auch die Diskussion meines Projekts in diversen Forschungskolloquien ist in die Arbeit eingeflossen; zu nennen sind vor allem das Promotionskolleg „Geschichte und Erzählen“ der Graduiertenschule Kultur- und Sozialwissenschaften an der Universität Freiburg, das deutsch-französische Doktorandenkolloquium von Eckhard Wirbelauer und das Bonner Forschungskolloquium, zu dem mich einzuladen Winfried Schmitz die große Freundlichkeit hatte. Bei der Verteidigung der Dissertation habe ich von meinen Betreuern sowie von Évelyne Scheid-Tissinier (Paris) und Astrid Möller (Freiburg) weiterführende Vorschläge für die Druckfassung meiner Arbeit erhalten. Auch wenn leider nicht alles umgesetzt werden konnte, was vielleicht noch wünschenswert gewesen wäre, gilt den Beteiligten mein bester Dank. Ich freue mich, daß meine Studie in die deutsch-französisch-schweizerische Schriftenreihe des oberrheinischen Forschungsverbundes Collegium Beatus Rhenanus aufgenommen wurde, wofür ich den Herausgebern und namentlich den Schriftleitern der Reihe, Doris Meyer und Eckhard Wirbelauer, zu danken habe. Mein Dank gilt außerdem Katharina Stüdemann, Sarah Schäfer und Susanne Szora-

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Vorwort

di vom Franz Steiner Verlag, die in zuvorkommender Weise die Drucklegung betreut haben. Bei der TEXnischen Umsetzung der Formalia hat mich in bewährter Weise mein Bruder Philipp Alexander Pilhofer unterstützt, dem ich außerdem für die Erstellung der Registervorlagen danke möchte. Maren Allmers, Jana Meinke und Julia Pauli haben einzelne Kapitel Korrektur gelesen. Dieses Buch wäre schließlich nicht zustandegekommen ohne die finanzielle Förderung meiner Dissertation zunächst für drei Monate durch das Freiburger Promotionskolleg „Geschichte und Erzählen“ und dann vor allem durch die Gerda Henkel Stiftung. Für die großzügige Finanzierung, für die anregenden Doktorandentreffen im Hause der Gerda Henkel Stiftung in Düsseldorf und für das jederzeit ermunternde Interesse an meinem Vorhaben möchte ich auch an dieser Stelle herzlichen Dank sagen. Ich freue mich besonders, daß die Gerda Henkel Stiftung nun auch die Publikation meiner Arbeit durch eine Druckkostenbeihilfe gefördert hat. Die Liste derer, denen ich Dank abzustatten habe, wäre unvollständig ohne die Nennung meines Lehrers Peter Rasche in Greifswald. Seit Judith Schalanskys Greifswald-Roman „Der Hals der Giraffe“ kann als bekannt gelten, was es heißt, an einem vorpommerschen Gymnasium zu unterrichten; wie man das beste daraus macht, zeigt Peter Rasche seit vielen Jahren mit selten erschöpfter Geduld. Sein kundiger Latein-Leistungskurs bot die willkommene Ergänzung zu einem Geschichtsunterricht, in dem das alte Griechenland noch als eine »Sklavenhaltergesellschaft« besprochen wurde. Herr Rasche begleitete uns nicht nur auf dem Forum Romanum und entlang der Via Appia, sondern besuchte mit uns auch das Greifswalder IfA, das Institut für Altertumswissenschaften in der Rudolf-Petershagen-Allee 1. Dort führte uns Martin Hose durch die ehrwürdigen Räume, in denen ich einige Jahre später von Wolfgang Blösel in die Tücken der herodoteischen Verfassungsdebatte eingeführt werden sollte, bei Boris Dunsch die griechische Metrik und bei Thomas Schäfer die archaische Plastik kennenlernte – die legendären Flaigschen Vorlesungen fanden an anderem Ort statt –, und wo ich, wiederum einige Jahre später, alte Greifswalder Dissertationsschriften über Herodot exzerpierte. Herr Rasche ist es schließlich auch, dem ich meine ersten Griechischkenntnisse verdanke: Unverdrossen hielt er für ganze drei Teilnehmer einen Altgriechischkurs ab, welchem der undankbare, durch das Fehlen jeglicher Mittagspause eigentlich unmögliche Termin der 9. und 10. Schulstunde zugewiesen worden war. Dieses Buch ist Peter Rasche gewidmet.

Ihringen am Kaiserstuhl, August 2012

Susanne Froehlich

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . Ansätze einer antiken Motivationstheorie . Zur Forschungssituation . . . . . . . . . . Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenauswahl . . . . . . . . . . . . . .

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1. Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Emotional und charakterlich begründete Handlungsmotive 1.2. Gesellschaftlich begründete Handlungsmotive . . . . . . 1.3. Politisch begründete Handlungsmotive . . . . . . . . . . 1.4. Wirtschaftlich begründete Handlungsmotive . . . . . . . 1.5. Ästhetisch begründete Handlungsmotive . . . . . . . . . 1.6. Religiös begründete Handlungsmotive . . . . . . . . . . 1.7. Externe Faktoren als Handlungsmotive . . . . . . . . . . 1.8. Das Motivspektrum der Historien . . . . . . . . . . . . . 1.9. Handlungslegitimation durch konsensfähige Motive . . .

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2. Erklärungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Die Handelnden im Licht ihrer Beweggründe . . . . . 2.1.1. Personen in ferner und naher Vergangenheit . . 2.1.2. Griechen und Nichtgriechen: Ethnizität . . . . 2.1.3. Männer und Frauen: Geschlechtervorstellungen 2.1.4. Gruppen und Gemeinschaften als Akteure . . . 2.1.5. Die Motive der Götter und Heroen . . . . . . . 2.2. Erklärungsmuster für politische Entscheidungen . . . 2.2.1. Kriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Aufstände und Herrscherwechsel . . . . . . . . 2.2.3. Koloniegründungen . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Xerxes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Die Megalophrosyne des Xerxes . . . . . . . . . . 3.2. Gute Gründe für den Krieg . . . . . . . . . . . . . 3.3. Ein ambivalentes Bild? . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Herodot und die Selbstdarstellung der Achämeniden 3.5. Die Kunst der erzählerischen Methode . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

4. Zwischenbilanz: Der Historiker bei der Arbeit . . . . . . . . . 4.1. Woher kommen die Zuschreibungen? . . . . . . . . . . . 4.1.1. Die Ebene der Handlungslogik . . . . . . . . . . . 4.1.2. Die Ebene des Materials . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3. Die Ebene der Gegenwartsbezüge . . . . . . . . . 4.1.4. Die Ebene der historischen Akteure . . . . . . . . 4.2. Was setzen Herodots Erklärungen bei den Lesern voraus? 4.3. Wozu überhaupt Motivzuschreibungen? . . . . . . . . . .

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5. Handlungsmotive bei Aischylos und bei Thukydides . . . 5.1. Die „Perser“ des Aischylos . . . . . . . . . . . . . 5.1.1. Das Motivrepertoire . . . . . . . . . . . . . 5.1.2. Erzählperspektiven und Gattung . . . . . . . 5.2. Das Geschichtswerk des Thukydides . . . . . . . . 5.2.1. Das Motivrepertoire . . . . . . . . . . . . . 5.2.2. Der Stellenwert politischer Handlungsmotive 5.2.3. Motive der Zeitgeschichte . . . . . . . . . .

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6. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Anhang: Die Motive im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . Emotional und charakterlich begründete Handlungsmotive Gesellschaftlich begründete Handlungsmotive . . . . . . . Politisch begründete Handlungsmotive . . . . . . . . . . . Wirtschaftlich begründete Handlungsmotive . . . . . . . . Ästhetisch begründete Handlungsmotive . . . . . . . . . . Religiös begründete Handlungsmotive . . . . . . . . . . . Externe Faktoren als Handlungsmotive . . . . . . . . . . .

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Quellen- und Literaturverzeichnis Antike Quellen . . . . . . . . Hilfsmittel und Kommentare . Forschungsliteratur . . . . . .

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Register . . . . . . . Stellen . . . . . . Antike Personen . Orte und Völker . Handlungsmotive

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EINLEITUNG Herodot interessiert sich sehr lebhaft für die Frage nach Ursachen und Gründen. Das zeigt schon ein Blick ins Proömium der Historien, wo er programmatisch ankündigt, sich mit dem Grund (αἰτίη) zu beschäftigen, der zu den Kriegen zwischen Barbaren und Hellenen geführt hat.1 Doch nicht nur die großen historischen Fragen, sondern auch die oft ganz trivialen Beweggründe seiner Protagonisten beschäftigen den Autor. Gerade bei scheinbar unsinnigen Handlungen und Entscheidungen ist Herodot sehr daran gelegen, seinen Lesern2 glaubhafte und plausible Erklärungen anbieten zu können: An etwa 600 Stellen thematisiert er ausdrücklich, was jemanden zu einer bestimmten Handlung bewegt hat, und immer wieder widmet er dieser Frage eine eigene Diskussion. Diese Abschnitte nehmen mehrfach eine Schlüsselposition ein und gipfeln in der kunstvollen Darstellung der reichen Palette von Motiven, die Xerxes zu seiner Entscheidung für den Zug nach Griechenland führen (VII 5–19). Es erscheint daher als ein lohnenswertes Unterfangen, dieser Schwerpunktsetzung nachzugehen und näher zu beleuchten, warum dem Historiker so sehr an den Beweggründen der von ihm dargestellten Personen gelegen ist. Lange Zeit galten Herodots historische Erklärungen als naiv. In seinem grundlegenden RE-Artikel moniert schon Felix Jacoby die Mißachtung »historischer« Motive bei Herodot: Der „ganz alte naive Glaube“ Herodots, so Jacoby, wirke „durchaus in dem Sinne, daß H.[erodot] historische Motive und Erklärungen garnicht einmal sucht, wo ihm theologische zur Verfügung stehen, und in jedem Falle in den theologischen Motiven die eigentlich entscheidenden sieht.“3 Die „gelegentlich sehr seltsamen Motive, die er aus eigener Vermutung oder öfter seinen Gewährsmännern folgend, den historischen Geschehnissen unterlegt“, sind Jacoby in diesem Zusammenhang nur eine Randbemerkung wert.4 Der heutige Historiker ist durchaus geneigt, sich Jacoby in diesem Punkt anzuschließen: Ein Traum oder gar Langeweile, wie es bei Herodot mitunter heißt – das

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῾Ηροδότου Ἁλικαρνησσέος ἱστορίης ἀπόδεξις ἥδε, ὡς µήτε τὰ γενόµενα ἐξ ἀνθρώπων τῷ χρόνῳ ἐξίτηλα γένηται, µήτε ἔργα µεγάλα τε καὶ θωµαστά, τὰ µὲν ῞Ελλησι, τὰ δὲ βαρβάροισι ἀποδεχθέντα, ἀκλεᾶ γένηται, τά τε ἄλλα καὶ δι’ ἣν αἰτίην ἐπολέµησαν ἀλλήλοισι. (Dies ist die Veröffentlichung der Forschung von Herodot aus Halikarnassos, damit das, was von Menschen getan wurde, nicht mit der Zeit verlorengeht, und damit große und erstaunliche Taten – einige von Hellenen, einige von Barbaren – nicht vergessen werden, vor allem auch nicht der Grund, aus dem sie gegeneinander Krieg zu führen begannen.) Ich gehe davon aus, daß die Historien, wie sie uns heute vorliegen, für ein lesendes Publikum konzipiert sind. Diesbezüglich und zur Frage nach Mündlichkeit und Schriftlichkeit siehe p. 156. Jacoby 1913, col. 482. Als Beispiel nennt er Hdt. VIII 132,3 (ibid., col. 484). Dessenungeachtet schätzt Jacoby die Historien als „das erste europäische Geschichtswerk, ein Geschichtswerk in unserem Sinne“ (col. 485).

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Einleitung

sind doch keine Gründe, einen Krieg zu beginnen!5 Tatsächlich hat die moderne Geschichtsschreibung Herodot streckenweise sehr selektiv benutzt. Während sie seiner Darstellung bei der Schilderung der »Ereignisse«6 über weite Strecken folgt, werden die Gründe, Motive und Erklärungen, die Herodot für das Handeln der Akteure bietet, in der Regel wenig beachtet oder nicht ernstgenommen.7 So konnte Walter Marg mit Recht feststellen: „Die modernen Darstellungen lassen fast einhellig die herodoteische Deutung beiseite und arbeiten mit seinem Material.“8 5

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Beispielsweise II 141,3.4 (Traum) und I 66,1 (Überdruß). Wie Hans van Wees zutreffend bemerkt, unterscheidet Herodot – anders als nach ihm Thukydides – nicht systematisch zwischen unmittelbaren Anlässen und tieferen Ursachen von Kriegen: „If his explanations often seem less than adequate to the modern reader, this is mainly because he tended to concentrate on what we would call immediate causes – in his view usually insults and injuries which called for revenge or punishment – although he was aware of, and often alluded to, underlying causes such as expansionism, acquisitiveness, and old rivalries“ (van Wees 2002, 343f., Zitat 343). Auf die Frage, inwieweit auch die sogenannten hard facts kulturelle Konstrukte sind, soll hier nicht näher eingegangen werden. Probleme und Grenzen der Rekonstruktion von Ereignissen zeigt Bichler 2009 am Beispiel antiker Schlachten auf. Daß dies methodisch problematisch ist, bemerkt auch Walter 1993, 263. Cf. außerdem Harrison 2003, 143. Der Verfasser bezieht sich konkret auf die Forschung über die Folgen von Salamis (Marg 1953, 206, siehe auch 208f. und die entsprechenden Literaturangaben (206f., n. 2) mit zahlreichen Beispielen für diese Herangehensweise). Cf. auch Stahlenbrecher 1952, 1. Daß moderne Historiker zu anderen Einschätzungen gelangen als Herodot, ist selbstverständlich legitim (wenn nicht sogar notwendig); als Beispiel für eine gelungene Auseinandersetzung dieser Art sei Funke 2007 genannt. Ich halte es jedoch für problematisch, wenn eine ernsthafte Beschäftigung mit den in den Historien gebotenen Erklärungen gar nicht erst stattfindet. Einige willkürlich gewählte Beispiele (aus an sich sehr nützlichen Büchern!), in denen es um die Gründe der persischen Invasionen in Griechenland geht: Hignett 1963, 90–94 und öfter, Lazenby 1993, 45 und öfter, Balcer 1995, 156 und öfter. Auch Peter Green, der Herodots Motivangaben sonst sogar häufig übernimmt, läßt bei der Diskussion von Xerxes’ Beweggründen für seinen Hellaszug die in den Historien geschilderten Träume ohne jeden Hinweis einfach weg (Green 1996, 50–53, 66). Bei Wallinga 2005 wird Herodot als Quelle für die Abläufe historischer Ereignisse durchaus wörtlich genommen, aber in bezug auf die Vorstellungen der Griechen über die Motive des Xerxes urteilt der Verfasser, diese seien „not to be taken seriously“ (21). Verwiesen sei schließlich auch auf die diametral entgegengesetzte Außenseiterposition des Journalisten Robert D. Kaplan, der in seinem mitunter kuriosen Beitrag Herodots Wert gerade in den anekdotischen Passagen mit entsprechend intrigenhaften Beweggründen sieht. Er hält es ohne weiteres für denkbar, daß das entscheidende Motiv für Xerxes’ Kriegsentscheidung ein Traum gewesen sein könnte (Kaplan 2007). – Es kommt auch vor, daß Herodots Erklärungen scheinbar zustimmend, dabei aber ganz unzutreffend zitiert werden. So meint Theresa Miller, es ginge aus Herodots Bericht hervor, daß Kyrene aufgrund einer Hungersnot auf Thera gegründet worden sei (Miller 1997, 32). Das schreibt Herodot aber gerade nicht: Den Historien zufolge ist es der Gott Apollon, der die Theraier zu dem Kolonisationsunternehmen zwingt. Als sie seine Weisungen mißachten, fällt auf ihrer Insel sieben Jahre lang kein Regen, bis alle Bäume, von einem einzigen abgesehen, verdorrt sind, so daß sich die Theraier schließlich einem erneuten Befehl des delphischen Orakels beugen (IV 150–153, siehe dazu auch unten, p. 127). Daraus eine »Hungersnot« zu machen, erscheint zumindest gewagt, da es Herodots Interpretation und Gewichtung der einzelnen Faktoren völlig außer acht läßt. Das Orakel gibt bei Miller denn auch nur noch einen »Anlaß« zur Gründung Kyrenes; da die Verfasserin jedoch der Ansicht ist, die Orakelsprüche seien „normalerweise erst nachträglich [. . . ] erfunden“ worden (Miller

Einleitung

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Dies gilt insbesondere für zwei Gruppen von Motiven: für diejenigen, die in der Persönlichkeit der historischen Akteure begründet sind, und für diejenigen, die auf das Wirken der Götter zurückgehen.9 Leidenschaften des Individuums wie Zorn, Selbstüberschätzung, Ruhmsucht, Neid, Angst, Mißtrauen oder Liebe, die bei Herodot häufig als Beweggründe angegeben werden, kommen in der modernen Historiographie allenfalls in der Rubrik der Hofintrigen vor, nicht aber als ernstzunehmende Gründe für politisches Handeln – von göttlichen Zeichen, Träumen oder Orakeln zu schweigen. Handlungsmotive wie diese werden als nicht »historisch« angesehen.10 Es handelt sich hier – wie der Vergleich zum historischen Roman nahelegt, wo gerade »unhistorische« Motive wie die genannten Leidenschaften erfolgreich aufgegriffen werden11 – um eine Frage der Gattung: Der moderne Leser ist geneigt, von der seriösen Geschichtsschreibung komplexe Ursachenanalysen12 zu erwarten statt psychologisierender Anekdoten.13 Jedoch erscheint es wenig hilfreich, heutige Vorstellungen von Historiographie zum Maßstab der Beurteilung antiker Geschichtsschreiber zu machen. Diese Vorstellungen sind historisch gewachsen und können keine absolute Gültigkeit beanspruchen; Herodot entspricht ihnen nicht. Daher kann Jacoby im eingangs zitierten Zusammenhang nur zu dem Urteil kommen: „So ist das erste griechische Geschichtswerk noch sehr weit entfernt von dem Ideal einer historischen Darstellung.“14 Doch so, wie der heutige Historiker sich kaum das Geschichtsbild Herodots zu eigen machen wird, kann er umgekehrt seine eigenen Ansichten über Geschichtsschreibung (die sich vom Ideal eines Felix Jacoby schon wieder unterscheiden dürften) nicht auf Herodots Historien übertragen.15 Spätestens an dem Punkt, wo die vermeintlich »unhistorischen« Motive als Beleg dafür dienen, daß Herodot es eben

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1997, 34, siehe auch 54), geht sie nicht näher darauf ein. Das Beispiel zeigt, wie in einzelnen Fällen eigene Vorannahmen und Deutungen den Blick auf den Text verstellen können. Siehe dazu auch Forrest 1979, 311. So betrachtet Jacqueline de Romilly die von Herodot überaus häufig angeführten Rachemotive „plutôt comme une liaison commode que comme une analyse sérieuse“ (de Romilly 1971, 318). Zum Verhältnis von Historiographie und Geschichtsdarstellung im Roman siehe E. Lämmert, Geschichten von der Geschichte. Geschichtsschreibung und Geschichtsdarstellung im Roman, Poetica 17, 1985, 228–254: „Der besondere Reiz aber, der diesen Romanen hohe Auflagen bringt und ihre Autoren vielfach zu Fortsetzungen nötigt, beruht darauf, daß diese Geschichtsdarstellungen farbiger und zugleich tiefer in das Leben [. . . ] eindringen“ (237). In bezug auf Handlungsmotive im historischen Roman siehe ibid., 241. Walter Marg spricht von der „pragmatischen Motivierung“, durch die die modernen Darstellungen sich auszeichneten (Marg 1953, 210, cf. 206). Zur unterschiedlichen Erwartung moderner und antiker Leser an die Fiktionalität bzw. Faktualität bestimmter Textsorten siehe Wesselmann 2011, 319–322. Jacoby 1913, col. 484. Grundsätzlich dazu schon Pohlenz 1937, 177–221, der den Vorwurf der Naivität an Herodots Kritiker zurückgibt (177): „Naive Gemüter lächeln heute mitleidig über jeden, der Herodot für einen Historiker hält, weil ihnen ihre eigene historische Bildung erlaubt, den Maßstab einer Wissenschaft an ihn zu legen, die eine mehr als zweitausendjährige Entwicklung hinter sich hat.“ Cf. Bichler 1995, 32: Wir laufen Gefahr, „die große Kunst der antiken Historie zu verkennen, wenn wir sie in unangemessener Weise an moderne Reglements über die Anforderungen von Historie binden wollen.“

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mit der historischen Wahrheit und Sorgfalt nicht so genau genommen habe,16 kommt es in meinen Augen zu methodisch schwer handhabbaren Problemen.17 Golo Mann hat in seinem brillanten „Plädoyer für die historische Erzählung“ überzeugend dargelegt, daß es sich bei der Auffassung, Geschichte müsse als Strukturanalyse geschrieben werden, um ein reines Vorurteil handelt: „Unsere neuen Theoretiker [. . . ] lieben die erzählerische Methode nicht, weil sie ihnen als altmodisch, als reaktionär, elitär, erfolgsverherrlichend, beschönigend, oberflächlich gilt, als blind gegenüber dem Hintergrund wirtschaftlicher, sozialer Bedingungen, welche allein den Gang der Ereignisse verstehen lassen.“18

Golo Mann führt aus, daß wir es in der Geschichte jedoch „mit einem Wirrsal miteinander, aufeinander, gegeneinander wirkender Mächte und Motive zu tun haben; Verteilung von Eigentum und Produkten ist eines; Stolz, ständischer, nationaler oder persönlicher, Ehrgeiz, Gier und wieder Gier, Angst, Krankheit, Rechthaberei, Selbstüberschätzung, Maßlosigkeit, Leichtsinn, Fanatismus, Fehlkalkulationen, Glaube und Aberglaube, Unkenntnis des Gegners, Unkenntnis der Verbündeten, modische, dumme Ideen und so weiter und so weiter sind andere.“19

Eine solche Vorstellung von Geschichtsschreibung wäre von dem, was wir bei Herodot vorfinden, nicht weit entfernt.20 Die Trennung des vermeintlich Unhistorischen bei Herodot von dem, was die moderne Geschichtsschreibung glaubte brauchen zu können, ist meines Erachtens in der Tat der einzige Grund dafür, daß die dem herodoteischen Personal zugeschriebenen Handlungsmotive bislang kaum untersucht sind: Während die sogenannten »tieferen«, die »eigentlichen« Motive und Gründe von Herodots Akteuren Gegenstand zahlreicher Untersuchungen waren, ist bisher kein Versuch gemacht worden, die einzelnen Beweggründe so, wie Herodot sie darstellt und explizit benennt, systematisch zu erforschen.21 Eine solches Herangehen legt Uwe Walter nahe, der in 16 17 18

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Etwa bei Balcer 1995, 21, um ein Beispiel unter vielen zu nennen. Zur Wendung der Frage nach dem Quellenwert der Historien ins Moralische siehe Wesselmann 2011, 317f. Mann 1979, 41. Bis heute zutreffend ist auch die Bemerkung Manns, daß die erzählerische Methode aus historischen Gründen in England und Frankreich nie so in den Verruf gekommen ist wie in der deutschsprachigen Forschung. Ibid., 43. So gibt etwa auch J. F. Lazenby zu bedenken, daß Herodots Motivation militärischer Entscheidungen, die heute als oberflächlich oder gar naiv betrachtet wird, vielleicht gerade den Kern der Sache trifft (Lazenby 1993, 14): „But there is another possibility – that the strategy and tactics of the Greeks, at any rate, were naive, and that Herodotos accurately reflects the situation.“ Siehe auch Raaflaub 1987, der Herodot als politischen Denker würdigt. So bezieht Ludwig Huber, der religiöse und politische Beweggründe bei Herodot untersucht, in seine Betrachtung nur die Motive ein, die ihm persönlich plausibel erscheinen, ohne seine Auswahl offenzulegen und zu begründen. Er geht sogar so weit, beispielsweise über Träume als Handlungsmotive apodiktisch zu behaupten: „Die Motivierung ferneren, geschichtlich bedeutungsvollen Handeln[s] jedoch kann nicht die eigentliche Absicht Herodots mit ihnen gewesen sein“ (Huber 1965, 18). Herodots „eigentliche Absicht“ wäre demnach eine andere als die, welche im Text zum Ausdruck kommt! – Baragwanath 2008 ist bislang die einzige Arbeit, die sich

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seiner Untersuchung über „Herodot und die Ursachen des Ionischen Aufstands“ bilanziert: „Nach dem, was Herodot nicht sagt[,] braucht nicht gesucht zu werden. Das, was er sagt, genügt vollauf.“22 Ziel der vorliegenden Arbeit ist es also nicht, anhand von Herodots Angaben die »wahren« Motive, die ein Xerxes oder Themistokles verfolgt haben mag, zu rekonstruieren.23 Bei den von Herodot angegebenen Beweggründen handelt es sich um Zuschreibungen; sei es, daß er sie von seinen Quellen übernimmt, sei es, daß er sie selbst trifft.24 Doch gerade weil wir es hier mit Zuschreibungen zu tun haben, verdienen diese Angaben unsere Aufmerksamkeit. Zwar sagen sie – was im Einzelfall zu prüfen wäre – mitunter wenig über die historischen Akteure aus und sind so für eine positivistische Geschichtsschreibung von geringem Wert gewesen.25 Meiner Ansicht nach ist die grundsätzliche Kategorisierung von Motiven als »historisch« oder »unhistorisch« aber wenig hilfreich.26 Sie verstellt den Blick dafür, daß die Beweggründe zumindest in der Situation der Abfassung und Rezeption von Herodots Werk ihren historischen Ort hatten. Es scheint nämlich berechtigt, von der Annahme auszugehen, daß Zuschreibungen dieser Art bestimmten gesellschaftlichen Regeln folgen müssen, um Plausibilität beanspruchen zu können. Für Herodot und seine Zeitgenossen müssen sie glaubhaft und dazu geeignet gewesen sein, die Handlungsweisen und Entscheidungen historischer Akteure verständlich zu machen, ganz unabhängig davon, wie wir diese Beweggründe heute beurteilen.27 Daher gestatten die Zuschrei-

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in einem größeren Rahmen ernsthaft mit Herodots Motivangaben auseinandersetzt. Der Verfasserin geht es aber weniger um Herodots ausdrückliche Angaben als vielmehr um das, was der Leser implizit selbst zu erkennen hat. Siehe im einzelnen den Abschnitt über die Forschungssituation unten, p. 24–30. Walter 1993, 278. Kritik an derartigen Vorgehensweisen übt schon Forrest 1979. Ob es solche »wahren« Motive überhaupt gibt, sei einmal dahingestellt. Daß es sich jedenfalls nicht um eine Frage der Qualität einzelner Quellen handelt in dem Sinn, daß etwa die historischen Akteure selbst besonders zutreffende Angaben zu machen hätten, wird unten, p. 154f., zu zeigen versucht. Auch Emily Baragwanath spricht von ascriptions of motives bzw. ascriptions of motivation, ohne dies allerdings näher zu erklären (Baragwanath 2008, 4f. und passim). Cf. hierzu den Sprachgebrauch von Wesley E. Thompson, der im selben Zusammenhang bei Thukydides von „inferring or guessing“ spricht (Thompson 1969, 171). Dies grenzt er ab von „firsthand information“ (165), die er als authentisch und wirklichkeitsgetreu betrachtet. Da ich eine solche Vorannahme für problematisch halte, spreche ich wie Baragwanath von Zuschreibungen. Zu Thukydides siehe weiter auch Westlake 1989, 220, der zum gegenteiligen Schluß wie Thompson kommt, man könne Thukydides nirgends „mere guesswork“ nachweisen. Dabei hat so manche herodoteische Zuschreibung gute historische Argumente für sich, wie es – gegen die etablierte Forschungsmeinung – etwa Marg 1953 in bezug auf den Rückzug des Perserheeres nach Salamis dargelegt hat oder Walter 1993 in bezug auf den Ionischen Aufstand. Zu den Problemen, die der Versuch einer Unterscheidung der historischen von fiktionalen Diskursen innerhalb der Historien mit sich bringt, siehe Bichler 1995, de Jong 1999, 251f., und Wesselmann 2011, 316–335. In diesem Sinn argumentiert Hans-Joachim Gehrke in seinem Artikel über „Die Griechen und die Rache“, daß Rache, wenn sie als Argument erfolgreich zu Propagandazwecken benutzt werden konnte, von den Zeitgenossen wirklich als ein möglicher Beweggrund für reale Entscheidungen betrachtet worden sein muß (Gehrke 1987, 143f.).

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bungen von Handlungsmotiven einen Einblick in Herodots Arbeitsweise, der zum Verständnis der Historien beitragen kann. Da nun, wie die vorliegende Studie zu zeigen haben wird, die Motivzuschreibungen keine willkürlichen Erfindungen des Historikers sind, sondern von ihm bestimmten Mustern folgend aus einem festen Repertoire ausgewählt werden, vermag dieser Einblick möglicherweise auch, das historische Geschehen, das dem Werk zugrundeliegt, in ein neues Licht zu rücken. Immerhin haben wir es mit den Urteilen eines Autors zu tun, der den betreffenden Ereignissen sehr viel näher steht als wir;28 auch deshalb beanspruchen seine Einschätzungen ein eigenes Interesse. Mit der Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Motivzuschreibungen berühren wir das Problem der Glaubwürdigkeit Herodots. Die zuletzt von Detlev Fehling angefachte Forschungsdebatte hat in den vergangenen Jahren nur noch wenig Interesse auf sich gezogen.29 Viele Einzeluntersuchungen stützen mittlerweile Herodots prinzipielle Glaubwürdigkeit. So kann, um hier nur zwei Beispiele zu geben, Philippe Derchain in einer kleinen Miszelle einen vermeintlichen Irrtum Herodots aufklären.30 In der Geschichte des Pharao Mykerinos erzählt Herodot, dieser sei auf der Suche nach Vergnügungen durch Wiesen und Wälder gestreift.31 Wälder, in Ägypten? Tatsächlich überträgt Herodot, wie Derchain detailliert nachweist, hier einen in der Hieroglyphenschrift gebräuchlichen Ausdruck ins Griechische. Die Geschichte muß also auf eine ägyptische Schriftvorlage zurückgehen – sie belegt somit, daß Herodot wirklich in Ägypten gewesen ist32 und dort literarisch bewanderte Gewährsleute hatte. Eine neue Arbeit Robert Rollingers macht deutlich, daß die bei Herodot geschilderten Gewaltexzesse der persischen Könige weit weniger literarische Stilisierungen sind als mitunter angenommen.33 Während Ktesias (der immerhin vorgibt, direkt 28

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Dazu schon Montgomery 1965, 234. Mit Katharina Wesselmann ausgedrückt: „Nicht Herodots Defizite sollen beseitigt werden, sondern die des modernen Lesers, der sich mit dem Abstand von Jahrtausenden und dem unaufhebbaren Eingebettetsein in eine weitgehend säkularisierte Schriftkultur den Historien Herodots zu nähern sucht“ (Wesselmann 2011, 16). Eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Frage nach Herodots Zuverlässigkeit als Quelle bietet schon Legrand 1932, 57–93. Fehlings grundsätzliche Kritik an Herodot, dieser sei ein fabulierender Stubengelehrter (Fehling 1971, 176: „Kann jemand, der die ernsthafte historische Forschung nicht kennt, schon ein Spiel mit ihr treiben? Mir scheint, ja“), wurde unter anderem von Erbse 1991 und Pritchett 1993 zurückgewiesen; Peter Green hat Fehlings Fall als „almost pathological“ bezeichnet (Green 1996, xxii). Siehe ferner Guelfucci 1996 sowie Rollingers Diskussionsüberblick in Bichler & Rollinger 2011, im Kapitel 133–169, und zuletzt die Zusammenfassung von Rengakos 2011, 345–349 und 369f. Linda-Marie Günther will die Debatte einfach ad acta legen: „Die Frage nach Glaubwürdigkeit oder Lügenhaftigkeit der Berichte, die Herodot entweder nach Hörensagen oder nach eigener Recherche gibt, ist falsch gestellt“ (Günther 2012, 15). Herodots Ruf in der Antike untersucht Evans 1968. Als wichtigste antike Schrift zu dieser Frage ist Plutarchs De Herodoti malignitate zu nennen. Derchain 2001. Der griechische Ausdruck lautet ἔς τε τὰ ἕλεα καὶ τὰ ἄλσεα πλανώµενον (II 133,4). So zuletzt auch Rengakos 2011, 339. Rollinger 2010. Insgesamt kommt Rollinger freilich dennoch zu einer Einschätzung, die ihn in „eine gewisse Aporie“ verfallen läßt: „Es hat den Anschein, als ob das von den griechischen

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am persischen Hof gelebt zu haben und dort beste Kontakte zu unterhalten) Bestrafungsmethoden anführt, von denen sich ein Drittel historisch überhaupt nicht nachweisen läßt,34 zeichnet Herodot ein vergleichsweise differenziertes Bild höfischer Strafgerichtsbarkeit, und die von ihm angeführten Strafen wie das Abschneiden von Brüsten, Händen, Nasen oder Ohren, das Blenden, Häuten, Brandmarken, Kastrieren oder das Ermorden von Kindern sind, so grotesk sie uns vielleicht zunächst anmuten, in altorientalischen Quellen gut bezeugte Praktiken. Vielleicht sollte die Beweislast zukünftig zugunsten Herodots umgekehrt werden: Wenn er als grundsätzlich glaubwürdig gelten kann, ist es demnach an der Forschung, bestimmte Passagen als fehlerhaft oder als fiktional zu erweisen.35 Insgesamt muß wohl gelten, was Antonios Rengakos konstatiert: „Das konkrete Ausmaß des Fiktiven in den Historien und Herodots persönlicher Anteil an ihm lassen sich nicht mehr genau ermitteln.“36 In jedem Fall aber gilt es bei unserem Urteil zu berücksichtigen, „daß Herodot keinesfalls aus einem vollen Vorrat an Informationen – und das noch gar in tendenziöser Weise! – auswählen konnte, sondern daß er Mühe hatte, aus den disparaten, vielfach widersprüchlichen Bruchstücken einen Ereignisablauf zu rekonstruieren“, worauf Uwe Walter völlig zu Recht hinweist.37 Sinnvollerweise sollten die Ebene des Geschehens und die Ebene der Erklärungen, also Bericht und Kommentar Herodots, voneinander unterschieden werden. Die Glaubwürdigkeitsdebatte zielt auf die Fakten; im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen jedoch deren zeitgenössische Deutungen.38 Hilfreich scheint mir in diesem Zusammenhang der von Hans-Joachim Gehrke geprägte Begriff der intentionalen Geschichte. Damit bezeichnet Gehrke „jenen Teil der kultivierten Erinnerung, der für die Identität einer Gruppe relevant ist“.39 Intentionale Geschichte ist demnach das, „was in einer Gruppe von der Vergangenheit

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Quellen in weiten Bereichen dargebotene Bild auf Hörensagen, Vermutungen und Sensationslust basiert“ (618). Etwa die angebliche Methode, jemandem geschmolzenes Metall ins Ohr zu gießen oder ihn lebendig zu zerstückeln. Das umgekehrte Verfahren, Aussagen von vornherein als „erfunden“ in Zweifel zu ziehen, obwohl sie gar nicht „so unmittelbar als Fälschungen entlarvt werden“ können (Miller 1997, 95), erscheint dagegen nicht nur methodisch fragwürdig, sondern auch wenig sinnvoll: Unter solchen Voraussetzungen genügt dann mitunter schon Herodots Erwähnung einer wiederholten Orakelkonsultation, um die Darstellung „erst recht verdächtig“ zu machen (105). Rengakos 2011, 370; ähnlich schon Bichler 1995. Sinnvoll erscheint daher die konkrete Frage danach, wie Herodot damit umgeht, wenn seine Informationen lückenhaft oder unzuverlässig sind, und warum er mitunter tatsächlich fiktionale Elemente in sein Werk integriert. Einen solchen Ansatz, der Herodots Arbeitsweise in den Blick nimmt, verfolgen etwa Lateiner 1989, besonders 53–108, und Raaflaub 2010, 197–203. Walter 1993, 261. Cf. in diesem Sinn auch Popko 2009, 215 (in bezug auf die antiken Darstellungen historischer Ereignisse als exempla): „Von Bedeutung ist nicht, was – ohnehin nur vom modernen Standpunkt aus zu definieren – historisch wahr ist, sondern das, was als wahr gilt.“ Gehrke 2008, 3.

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»gewußt, wie über sie geurteilt, was mit ihr gemeint ist« – unabhängig davon, was die historische Forschung im modernen Sinne davon hält.“40 Wer Herodots Historien als Zeugnis intentionaler Geschichte, also Geschichte im Selbstverständnis einer Gruppe, liest, entgeht der Gefahr, seine Darstellung anachronistisch als richtig oder falsch beurteilen zu wollen: So „fragen wir nicht, wie wir, also moderne Historiker, die griechische Geschichte ermitteln oder (re)konstruieren, sondern wie es die Griechen bzw. die betroffenen oder beteiligten Gruppen selbst taten. Ihre Geschichtsvorstellungen werden Gegenstand historischer Forschung.“41 Wenn im folgenden die Handlungsmotive als Zuschreibungen untersucht werden, bewegen wir uns auf der Ebene von Herodots Erklärungen und Deutungen, mithin auf dem Terrain intentionaler Geschichte. Ob von dort ein Weg auf den festen Boden der nach unseren Maßstäben historischen Tatsachen führt, danach wird immer wieder zu fragen sein. Eine Anbindung der Ergebnisse an den historischen Kontext, in den Herodots Werk eingebettet ist, soll nicht zuletzt durch den Bezug auf andere griechische Autoren geleistet werden.

TERMINOLOGIE In der Literaturwissenschaft sind die Beweggründe von Protagonisten ein häufig untersuchter Aspekt der Handlung, jedoch kein eigenes Untersuchungsfeld. Entsprechend uneinheitlich ist die Terminologie: Handlungsmotiv, Motivierung, Motivation oder Beweggrund im Deutschen, personal motive oder (actorial) motivation im Englischen und motif d’action oder mobile im Französischen sind keine fest abgegrenzten Begriffe, und in einschlägigen Lexika wie der Enzyklopädie des Märchens42 wird man sie auch vergeblich suchen. Die meisten historischen oder philologischen Arbeiten, die sich mit ähnlichen Fragen zu Herodot beschäftigen, benutzen die einschlägigen Begriffe eher unsystematisch. Als Beispiel kann die erst kürzlich erschienene Monographie von Helmut Löffler gelten, die sich mit „Fehlentscheidungen bei Herodot“ befaßt.43 Löffler, dessen Augenmerk der Entscheidungsfindung einiger wichtiger Protagonisten gilt, spricht in diesem Zusammenhang unterschiedslos von »Bewertungskriterien«

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Gehrke 1994, 247. Siehe dazu neben den genannten Arbeiten unter anderem auch Gehrke 2001 und Gehrke 2010, und in Auseinandersetzung damit die diversen Beiträge in Foxhall, Gehrke & Luraghi 2010. Zum Verhältnis von Geschichte und Mythos bei Herodot siehe Hunter 1982, 93–107, Nickau 1990, Vandiver 1991, Calame 1998, Meier 2004, Stadter 2004. 41 Gehrke 2008, 5. 42 Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, begründet von K. Ranke, hg. von R. W. Brednich u. a., Berlin/New York 1973–2011 (bisher erschienen: Aarne bis Wasser). 43 Löffler 2008. Ähnlich schon Huber 1965 mit den unterschiedslos verwendeten Begriffen »Motivation«, »Motiv« und »Motivierung«. Einleuchtend ist hingegen die differenzierte Wortwahl in Langs Anhang „On Motivation“, wo je nach Zusammenhang von motivation, motive und purpose die Rede ist (Lang 1984, 73–79).

Terminologie

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und »Werten«, die Herodot „seinen Entscheidungsträgern [. . . ] zuschreibt“.44 Demnach ist etwa Dareios, als er sich entscheidet, gegen die Skythen zu Felde zu ziehen, „von einem Wert wesentlich bestimmt: Schaffung von Vorteil und Gewinn“.45 Löffler macht in den Historien drei solche »Werte« aus: „Expansion, Rache bzw. Vergeltung und persönlicher Vorteil, der in Form von Reichtum, Ruhm und Machtstellung erreicht wird.“ Dabei werde „oftmals ein Kriterium (beispielsweise Rache/Vergeltung) benutzt, um ein anderes, das für den Entscheidungsträger von größerer Bedeutung ist (Expansion oder persönlicher Vorteil), zu verfolgen.“46 Die Begrifflichkeit ist, wie diese Zitate deutlich machen, denkbar unglücklich gewählt. In der vorliegenden Arbeit werden synonym die beiden Ausdrücke »Beweggrund« und »Handlungsmotiv« verwendet. Ich bezeichne damit die Erklärungen, die Herodot47 anbietet, um seinem Leser plausibel zu machen, warum ein Protagonist in einer bestimmten Weise handelt.48 Nicht zu verwechseln ist das Handlungsmotiv mit dem literarischen Motiv im Sinne des englischen motif (ein solches Motiv wäre etwa »der betrogene Ehemann« oder »die verfeindeten Brüder«).49 Schon Herodot benutzt sein Motivrepertoire, wie zu zeigen sein wird, in analytischer Weise. Ich habe für die bei Herodot beschriebenen Sachverhalte deutsche Bezeichnungen gewählt, um die einzelnen Felder präzise eingrenzen zu können, ohne mich dabei auf die Konnotationen eines bestimmten griechischen Wortes beschränken zu müssen.50 So umfaßt das Motiv der Strafe und Rache sehr viel mehr als etwa das, was Herodot mit dem Wort τιµωρίη benennt. Ich gehe also bei der Benennung der Motive aus praktischen Gründen von den bei Herodot beschriebenen Phänomenen aus und nicht von einer bestimmten Wortwahl im Griechischen. Die grundlegende Schwierigkeit liegt in Herodots Terminologie selbst, die sehr komplex, zugleich aber auch sehr unpräzise ist.51 Katharina 44 45 46 47

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Löffler 2008, 13f. und passim. Ibid., 123. Ibid., 220. Auf eine grundsätzliche sprachliche Differenzierung zwischen Autor und Erzähler wird in dieser Arbeit verzichtet, da diese Unterscheidung – die in anderen Zusammenhängen sinnvoll sein kann – mir für meine Fragestellung keinen Erkenntnisgewinn verspricht. Es ist daher in der Regel auch dort von »Herodot« die Rede, wo ich den »herodoteischen Erzähler«, also das »ich« auf der Textebene, meine; dort, wo eine Präzisierung notwendig erscheint, beziehe ich mich ausdrücklich auf den »Erzähler«. Zu den verschiedenen auktorialen Registern der Historien siehe Dewald 1987, Marincola 1987, de Jong 1999, 220–229, Dewald 2002, de Jong 2004, Bowies Kommentar zu Buch VIII, p. 18–22, und den Kommentar von Flower und Marincola zu Buch IX, p. 4–9, sowie zusammenfassend Rengakos 2011, 344f. und 362f. Zur Präsenz des Erzählers im Text siehe Marincola 1987 und Luraghi 2006. Damit eng verknüpft, aber begrifflich davon abzugrenzen, sind die von den Akteuren verfolgten Ziele: Während ein Motiv in meinem Sinn etwa Angst vor einem Feind sein könnte, wäre das angestrebte Ziel der Handlung, in Sicherheit zu gelangen. Hier gibt es jedoch Überschneidungen: Ein Traum, der jemanden aus Angst vor dem Geschauten zum Handeln bewegt, wäre zugleich ein literarisches Motiv und ein Handlungsmotiv. Ein ähnliches Vorgehen findet sich bei Drexler 1972, 120–144, der sich mit Kriegsmotiven in den Historien beschäftigt. So war es mitunter unvermeidbar, die bei Herodot angelegte Mehrdeutigkeit auf einen Aspekt zu verengen, wenn beispielsweise ἢ ἄλλως σφι θυµὸς ἐγένετο θεήσασθαι τὸν πόλεµον (VIII

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Wesselmann sieht sich mit demselben Problem konfrontiert, wenn sie in ihrer Studie zu mythischen Erzählstrukturen bei Herodot von Paradigmen ausgeht, die sie auf deutsch formuliert: „Wer sich auf die Suche nach Herodots Begrifflichkeiten im Wortfeld »Frevel« begibt, wird überraschend feststellen, daß Herodot für religiöse Übertretungen keinen klaren Begriff hat. [. . . ] Herodot verwendet zur Bezeichnung von »Vergehen gegen religiöse Gesetze« ein mannigfaltiges Vokabular, dessen Einzelbegriffe sich weder auf das Bedeutungsspektrum des deutschen Terminus reduzieren lassen, noch konsequent voneinander unterscheidbar sind: So finden sich mit den Begriffen κακόν und ἀδίκηµα zwei riesige Wortfamilien für religiösen Frevel, aber auch für alle erdenklichen anderen Missetaten. Νόµος kann göttliches, aber auch ganz menschliches Gesetz sein; die Gegenteile dazu sind folglich nicht zwingend »frevlerisch«. Ἁµαρτάνειν und ὕβρις schließlich bezeichnen nur in Ausnahmefällen das, was das deutsche »Frevel« beinhaltet. Unzweideutige Begriffe für »Frevel« existieren zwar, sind aber selten [. . . ]. Der Versuch, jedem der [. . . ] Begriffe eine ganz bestimmte Verwendungsweise zuzuordnen, muß bei den verbreiteteren Wortfamilien wie κακόν ohnehin scheitern. Eine solche Kategorisierung scheint aber auch generell nicht legitim, weil Herodot überaus häufig Synonyme verwendet, und dies in semantisch nicht unterscheidbarer Weise. Die Verwendung seiner Terminologie ist alles andere als konsequent. [. . . ] Wenn das Begriffsspektrum jedoch so reichhaltig und gleichzeitig so undifferenziert ist – wie kann dann irgendeine Handlung in den Historien als das gelten, was wir im Deutschen mit »Frevel« bezeichnen? [. . . ] Herodot ist kein Autor, der moralische Wertungen explizit formuliert. In aller Regel werden sie durch Kontextualisierung implizit vermittelt. [. . . ] Daß in den Historien gefrevelt wird, steht außer Frage. Es gibt aber viele verschiedene Möglichkeiten, dies klarer zu machen, als es durch bloße Begrifflichkeiten geschehen könnte.“52

Dies gilt mutatis mutandis genauso, wenn es im folgenden um Zorn, Ehre, göttliche Zeichen oder Zwang geht:53 In der Sache sind Herodots Motiverklärungen, wie zu zeigen sein wird, denkbar präzise und eindeutig; in den Formulierungen aber sind sie es nicht. Natürlich erscheint es prinzipiell durchaus wünschenswert, diesen Reichtum an differenzierten Konnotationen abzubilden; allein, ein solches System wäre nicht 116,2) von mir als »Neugier« aufgefaßt wurde. Dort, wo Herodots Sprache kein abstraktes Wort bietet, habe ich Begriffe eingeführt, die dazu geeignet sind, seine anschaulichen Ausführungen in einem einzigen Ausdruck zusammenzufassen. Wenn es etwa um die Maßnahmen geht, mit denen ein Herrscher Aufruhr und Aufstand verhindern will, spreche ich von »Machtsicherung« (e. g. I 99), wenn jemand einer Bitte entspricht oder einem Hilfsgesuch nachkommt, von »Gefälligkeit« (e. g. VI 100,1). Cf. diesbezüglich die Überlegungen bei Huber 1965, 171f.: Herodot nutzt umständliche Umschreibungen, wo ein moderner Leser abstrakte Begriffe erwarten würde. Er überträgt auch Begriffe vom privaten auf den politischen Bereich, wenn er etwa davon spricht, daß Staaten oder Herrscher „unruhig werden“ (e. g. I 207; III 21,2; V 1,2). 52 Wesselmann 2011, 45f. 53 In bezug auf die Terminologie im Wortfeld Zorn cf. Harris 2004, 50–70, vor allem 53, und zu den göttlichen Zeichen Hollmann 2011, 51: „»Portent« or »omen« may point to a wide variety of phenomena, and Herodotus also uses such general terms as σηµήιον, τέρας, and φάσµα, which can refer to various manifestations (earth-quakes, sudden illness, abnormal animal births or behavior, eclipses, disasters, thunder and lightning), together with terms that have a narrower and more specific field or reference: φήµη and κληδών refer to auditory signs, for example.“ Hinzu kommen meines Erachtens auch Fälle, in denen Herodot ein göttliches Zeichen klar als ein solches darstellt, ohne es aber explizit so zu benennen (zum Beispiel in I 174,3–6).

Ansätze einer antiken Motivationstheorie

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praktikabel. Eine – behelfsmäßige – deutschsprachige Kategoriebildung dagegen eröffnet die Möglichkeit, die Sachverhalte, die Herodot darlegt, untersuchen zu können, ohne sich auf einen bestimmten griechischen Sprachgebrauch festlegen zu müssen. Die von mir gewählten Bezeichnungen der einzelnen Handlungsmotive in den Historien sind also nur als Hilfsmittel der Analyse gedacht, um die Vielfalt von Herodots Ausdrucksweisen zu handhaben. Daß sie nicht unanfechtbar sind, liegt in der Sache begründet: Wenn Herodot eine ganze Geschichte erzählt, um zum Beispiel eine Rache als Beweggrund nachvollziehbar zu machen (etwa in III 49–53), so bietet er narrativ sehr viel mehr, als sich in einem Schlagwort wiedergeben ließe. Tatsächlich arbeitet Herodot aber auch dort, wo er keine eindeutige Terminologie benutzt, sondern mit erzählerischen Mitteln Handlungshintergründe ausleuchtet, mit einem Repertoire inhaltlich abgrenzbarer Einzelmotive. Dies läßt sich nicht nur aus den Historien selbst belegen, sondern wird auch durch die Ansätze einer antiken Motivationstheorie gestützt.

ANSÄTZE EINER ANTIKEN MOTIVATIONSTHEORIE Wenn in dieser Arbeit die Handlungsmotivation in einzelne, benennbare Motive zergliedert wird, so ist der Ansatz, komplexe Entscheidungsfindungen auf isolierbare Motive zurückzuführen, wie er für Herodot sichtbar gemacht werden soll, auch grundsätzlich der griechischen Vorstellungswelt nicht fremd. So findet sich in der Politik des Aristoteles eine Motivationstheorie, die sich mit den spezifischen Beweggründen von Menschen befaßt, welche eine politische Verfassung umstürzen.54 Aufstände und Verfassungsänderungen haben Aristoteles zufolge ἀρχαὶ καὶ πηγαί bzw. αἰτίαι καὶ ἀρχαί, die er im fünften Buch seiner Politik untersucht.55 Er macht zunächst drei Ursachen aus, die zusammenwirken, wo es zu Verfassungskämpfen kommt: die Grundeinstellung der Beteiligten, die Ziele, die sie verfolgen, und schließlich bestimmte Handlungen, mit denen sie Unruhe stiften.56 Aristoteles unterscheidet nun verschiedene der genannten Faktoren, die diese Handlungen beeinflussen: Gewinnsucht, Neid auf das Ansehen anderer, erniedrigendes Unrecht (ὕβρις), Furcht, die überlegene Stellung einzelner, Verachtung (καταφρόνησις) und übermäßigen Machtzuwachs. Hinzu kommen vier Faktoren, die ohne politische Auseinandersetzungen zum Machtwechsel führen: Amtserschleichung, die Unaufmerksamkeit, durch welche Verfassungsfeinde in einflußreiche Ämter gelangen, die (vermeintliche) Geringfügigkeit, welche tiefgreifenden Veränderungen zunächst beigemessen wird, oder eine uneinheitliche Bürgerschaft.57

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Arist. Pol. V. (Cf. auch Arist. EN, wo untersucht wird, warum Menschen in ihrem Leben bestimmte Ziele wählen.) Siehe dazu insbesondere den Kommentar von Schütrumpf und Gehrke, auf den sich meine Überlegungen stützen. Arist. Pol. V 2 (1302a 16–30). Arist. Pol. V 2f. (1302a 37–1303b 17).

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Die Anlässe wiederum, die zu politischen Auseinandersetzungen führen, sind Aristoteles zufolge geringfügig, obwohl die Inhalte dieser Auseinandersetzungen es nicht sind:58 Persönliche Streitigkeiten wie Liebeshändel oder Erbstreit lösen bedeutende Umwälzungen aus. Die Beispiele, die der Autor dafür anführt, sind herodoteischen Motivzuschreibungen nah verwandt. Die Geschichte aus Syrakus etwa, wo ein Amtsträger seinem abwesenden Freund den Geliebten abspenstig macht, der Betrogene daraufhin die Frau des ersteren verführt und sich schließlich die gesamte Bürgerschaft über die Sache entzweit und es zu einem Verfassungssturz kommt,59 könnte man sich auch ohne weiteres in den Historien vorstellen. Auch verschiedene der Faktoren, die die Beteiligten als Provokationen zum Handeln verstehen, entsprechen herodoteischen Beweggründen, etwa Gewinnsucht und Furcht. In den Historien wird auf der systematischen Ebene nicht in dieser Weise zwischen Ursachen und Anlässen unterschieden.60 Überhaupt hat Herodot seine Vorstellungen von menschlichen Beweggründen nirgends systematisiert (der Versuch einer Typologisierung durch die moderne Verfasserin wäre in diesem Fall ja auch gänzlich überflüssig). Nun ist aber zu bedenken, daß Aristoteles ein ganz bestimmtes Phänomen vor Augen hat, die Aufstände innerhalb einer Bürgerschaft,61 die analytisch untersucht werden, während Herodot es sich zur Aufgabe macht, die verschiedensten nur denkbaren menschlichen Handlungsweisen zu erklären, die in seinen Geschichten vorkommen. Daß er dementsprechend ein sehr viel größeres Spektrum möglicher Beweggründe entwickelt, als es bei Aristoteles der Fall ist, wird die vorliegende Untersuchung im einzelnen aufzeigen.62 Daß beide Autoren ein in der Sache durchaus vergleichbar ausdifferenziertes Repertoire vor Augen haben, belegt ein weiteres Beispiel, bei dem es Aristoteles freilich nicht um die Motivation von Handlungen geht. Im Bereich der emotional und charakterlich begründeten Motive lassen sich bei Herodot empirisch 18 einzelne Beweggründe voneinander abgrenzen, darunter Angst, Zorn, Hybris, Bosheit, Neid, Bewunderung, Freude, Neugier, Liebe, Begehren, Mitleid, Reue, Scham und Stolz.63 Die Liste stimmt nun in vielen Punkten mit den Beispielen64 für irrationale menschliche Regungen überein, die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik nennt: Begierde (ἐπιθυµία), Zorn (ὀργή), Angst (φόβος), Kühnheit (θάρσος), Neid (φθόνος), Freu58 59 60

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γίγνονται µὲν οὖν αἱ στάσεις οὐ περὶ µικρῶν ἀλλ’ ἐκ µικρῶν, στασιάζουσι δὲ περὶ µεγάλων. Arist. Pol. V 4 (1303b 17–19). Arist. Pol. V 4 (1303b 2–28). Gelegentlich weist Herodot allerdings darauf hin, bei einem bestimmten Argument handle es sich nicht um das eigentliche Motiv des Betreffenden, sondern um einen Vorwand (etwa in VI 44,1 und 94,1), was zeigt, daß er in Einzelfällen Motivangaben durchaus hierarchisiert. In den anschließenden Kapiteln wendet er sich den spezifischen Ursachen zu, die Wechsel der einzelnen Verfassungsformen (Demokratie, Oligarchie und Aristokratie) bedingen. Dabei kann nicht in jedem Einzelfall dezidiert dargelegt werden, daß und warum es sich jeweils um eine eigene Kategorie handelt. Hier genügt ein Seitenblick auf das von Katharina Wesselmann auf ganzen 12 Seiten dokumentierte Wortfeld »Frevel« in den Historien (Wesselmann 2011, 345–357): Wollte man Vergleichbares für alle 51 bei Herodot vorkommenden Handlungsmotive leisten, wäre ein unlesbares Buch das Resultat. Siehe dazu im einzelnen p. 35–47. Es handelt sich wohlgemerkt nicht um eine vollständige Aufzählung.

Ansätze einer antiken Motivationstheorie

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de (χάρις), Liebe (φιλία), Haß (µῖσος), Verlangen (πόθος), Mißgunst (ζῆλος) und Mitleid (ἔλεος) gehören zu den Gefühlen (πάθη).65 Von Interesse sind dabei weniger die Übereinstimmungen im einzelnen als vielmehr die Tatsache, daß die Analysen beider Autoren, so unterschiedlich diese auch an ihren jeweiligen Gegenstand herantreten, einen vergleichbaren Grad an Differenziertheit aufweisen.66 Fassen wir zusammen: Die bei Herodot unsystematisch und terminologisch uneinheitlich, in der Sache aber präzise beschriebenen Handlungsmotive lassen sich zumindest teilweise als feste Begriffe und idealtypisch isoliert bei Aristoteles wiederfinden. Der Differenziertheitsgrad der antiken Motivationstheorie, die erst bei Aristoteles in analytischen Kategorien vorgeführt wird, deutet sich in Herodots nuanciertem Motivrepertoire bereits an. Durch den Vergleich mit Thukydides67 läßt sich die These untermauern, daß Herodot auch dort, wo er, anstatt ein Motiv präzise zu benennen, den Hintergrund einer Handlung durch eine komplexe Erzählung ausleuchtet, auf sachliche Kategorien zurückgreifen kann, die zu seiner Zeit wohl noch nirgends so systematisch formuliert waren wie später bei Aristoteles, die aber in der Vorstellungswelt der Griechen bereits unterschieden wurden. Meine zunächst sehr kleinteilig ansetzende Analyse zielt nun gerade darauf ab, der starken Ausdifferenzierung von Motivangaben bei Herodot selbst gerecht zu werden, die in gröberen Rastern nicht adäquat erfaßbar ist, sondern bis zur Banalität verallgemeinert wäre.

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Arist. EN II 4 (1105b 19–24). Cf. auch die in Arist. Rh. II 2–11 (1378a 30–1388b 30) besprochenen Affekte. Siehe dazu zuletzt Krewet 2011, eine geradezu enzyklopädische Studie über „Die Theorie der Gefühle bei Aristoteles“, hier besonders 91–124, und Viano 2003. 66 Die Zergliederung ließe sich freilich mit Aristoteles sogar noch weiter treiben: Nicht nur „zwischen einzelnen Gefühlen, wie etwa Furcht auf der einen und Mitleid auf der anderen Seite“, weiß er zu unterscheiden, „sondern auch innerhalb eines einzelnen Gefühls, wie zum Beispiel der Furcht, ist näher zu differenzieren“ (Krewet 2011, 441). Zu Recht betont Thomas Harrison daher: „Herodotus is no Aristotle. He may, incidentally, provide useful evidence in our attempt to define the semantic field of words such as phthonos, but he is not, for the most part, concerned to demarcate the boundaries of the various human emotions“ (Harrison 2003, 151). 67 Siehe p. 169–180, vor allem p. 180.

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Einleitung

ZUR FORSCHUNGSSITUATION Die Herodotforschung hat in den vergangenen 30 Jahren bedeutende Impulse durch narratologisch inspirierte Arbeiten erhalten.68 Zentrale Bedeutung für die hier vorgelegte Studie hat die vor wenigen Jahren erschienene Monographie Emily Baragwanaths über „Motivation and Narrative in Herodotus“69 . Baragwanath untersucht auf der Grundlage von Wolfgang Isers Rezeptionsästhetik das interaktive Potential der Historien, wobei ihr Herodots Darstellung menschlicher Motivation als Gegenstand dient. Als Beispiel für die Reaktion eines antiken Lesers zieht die Verfasserin Plutarchs Streitschrift De Herodoti malignitate heran. Obwohl die diesbezügliche Argumentation im einzelnen durchaus stichhaltig ist, ist die Begründung der Vorgehensweise nicht frei von Widersprüchen: Baragwanath betrachtet Plutarch als repräsentativ für das von Herodot intendierte Publikum,70 kommt aber dann zu dem Schluß, daß er den Historiker deshalb so scharf kritisiert, weil er bereits aus einer anderen intellektuellen Welt kommt und Herodots Erzählstrategien daher teilweise gar nicht mehr versteht.71 Einleitend konstatiert Baragwanath eine Spannung zwischen Herodots Wunsch, Motive zu erklären und nachvollziehbar zu machen, und seinem Wunsch, dem Leser den provisorischen Charakter solcher Zuschreibungen zu verdeutlichen. Herodot entwickelt daher Strategien, den Leser selbst nach Antworten suchen zu lassen. Eine Strategie besteht darin, Widersprüche und Schwierigkeiten vor dem Leser auszubreiten und zugleich Hinweise in die Erzählung einzuarbeiten, welche Version der Wahrheit am ehesten nahekommen könnte. Eine andere ist die, ein Szenario aufzuzeigen, das deutlich macht, wie schwierig es ist, der komplexen Realität gerecht zu werden.72 Dieser Ansatz erscheint zunächst sehr postmodern gedacht, doch unstrit-

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Zu nennen sind unter anderen Lang 1984, Flory 1987, der Arethusa-Band „Herodotus and the Invention of History“ (mit Beiträgen wie Dewald 1987 und Marincola 1987), Munson 1991, de Jong 1999, Luraghi 2001a, Munson 2001, Thomas 2001, Dewald 2002, de Jong 2002, Brock 2003, de Jong 2004, Barker 2006, Luraghi 2006, Pelling 2006b, Haubold 2007. Besonders hervorzuheben sind auch die innovativen Beiträge, die der Märchenforschung verpflichtet sind, wie Beekes 1986, Hansen 1996, Hansen 1997, Stadter 1997, Griffiths 2001a, Griffiths 2001b, Hansen 2002, Cohen 2004, Luraghi 2005 oder Griffiths 2006. Siehe zuletzt auch Wesselmann 2011, die freilich zutreffend bemerkt: „Wie sich zeigt, besteht die bisherige Forschung zum Thema der mythisch-rituellen Erzählmuster in Herodots Historien vorwiegend aus Untersuchungen einzelner Probleme. Eine vollständige Erfassung der traditionellen Folien, die das Werk durchziehen, ist bedauerlicherweise kaum zu leisten“ (15). Baragwanath 2008. Ich habe der Verfasserin dafür zu danken, daß sie mir ihr Manuskript freundlicherweise schon vor der Drucklegung zur Verfügung gestellt hat. Das Buch wurde rezensiert von Charlotte Schubert in H-Soz-u-Kult, 09.02.2009, , von Michael A. Flower in Bryn Mawr Classical Review, 2009.07/35, , von Klaus Geus in sehepunkte 10 (2010), no. 2 [15.02.2010], , und zuletzt von Wolfgang Blösel in Klio 94, 2012, 511–513. Baragwanath 2008, 9. Ibid., 27–34. Ibid., 4, cf. auch 78–81.

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tig lassen sich solche Strategien bei Herodot tatsächlich nachweisen.73 Baragwanath untersucht sie im Hinblick auf die psychologische Dimension menschlicher Motivation74 – ein Aspekt, der in den meisten neueren Beiträgen zu entsprechenden Themen im Vordergrund steht.75 Anhand zentraler Erzählkomplexe (Samische, Persische und Athenische λόγοι, Ionischer Aufstand, Medisieren oder Nichtmedisieren der griechischen Städte, die Figur des Xerxes und die des Themistokles) zeigt Baragwanath exemplarisch auf, wie vielschichtig Herodots Motivzuschreibungen sind. Sie bietet dem Leser eine äußerst kenntnisreiche und detaillierte Lektüre der Historien und erschließt narrative Strategien, die sich wie Fäden durch das ganze Werk ziehen. Dabei hat sie weniger das einzelne Motiv im Blick als die damit verbundenen Absichten Herodots: „The narrative’s staging of successful and failed readings of motives guides readers in moulding their own interpretative methodology, to be used expecially on those occasions when no motives are ascribed, or when Herodotus suggests several possible options.“76 Die Verfasserin faßt also den Gegenstand motivation sehr viel weiter, als es in der vorliegenden Arbeit der Fall sein wird. Während sie die großen Linien von Herodots Erzähl- und Motivationstechnik aufzeigt und ein besonderes Augenmerk auf das legt, was der aktive Leser zwischen den Zeilen erkennen soll, wird es hier um eine kleinteilig ansetzende Analyse gehen, deren Ausgangspunkt die konkreten Motive sind, die Herodot explizit benennt und bespricht. Mein Vorgehen ist daher weniger narratologisch als typologisierend: Die detaillierte Einzelanalyse von Motiven wird eine empirische Basis für systematische Betrachtungen bilden. Damit soll in einem ersten Arbeitsschritt Herodots eigenes Vorgehen möglichst adäquat erfaßt werden, das ja im wesentlichen als typologisierend beschrieben werden kann.77 Dabei dienen Baragwanaths Ergebnisse immer wieder als ein wichtiger Bezugspunkt. Anders als bei Baragwanath, wo die Frage nach dem historischen Kontext gar nicht gestellt wird, werden jedoch die anzustellenden Überlegungen nicht auf den herodoteischen Text beschränkt sein. Vielmehr soll auch die geschichtliche Erfahrung, die der Darstellung und Deutung in den Historien zugrundeliegt, wo immer möglich 73

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Wie erfolgreich Herodot die Aufmerksamkeit seiner Leser auf die Problematik von Motivzuschreibungen lenkt, zeigt nicht zuletzt die Kritik manch eines modernen Wissenschaftlers an genau diesen Zuschreibungen . . . Das wird nicht ausdrücklich thematisiert, ist aber immer wieder deutlich (Baragwanath 2008, 5, 15, 36f., 50–53, 59–64, 98, 202). So ist auch im selben Atemzug von „reconstructions of motives and psychology“ bei Herodot die Rede (p. 59, Hervorhebungen S. F.). Siehe besonders Löffler 2008. Flower 1994, 169–183, spricht mit Bezug auf Theopomp sogar von dessen „Psychological Method“, da der Historiker die Begierden als die zentralen Beweggründe von Menschen ansehe (170). In der vorliegenden Untersuchung soll, wie p. 31f. dargelegt wird, dagegen nicht die menschliche Psychologie, sondern die Gattung der Geschichtsschreibung als Bezugspunkt dienen. Baragwanath 2008, 80. Cf. Rengakos 2011, 359: „Die typisierende Darstellungsweise Herodots ist neben den auktorialen Querverweisen und den »Fernbeziehungen« das dritte einheits- und sinnstiftende Mittel seiner Erzähltechnik. [. . . ] Gleichartige typische Szenen, Motive und Gestalten bilden somit sich gegenseitig ergänzende und erklärende Ketten, die sich vornehmlich auf das Mittel der Analogie gründen.“

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Einleitung

in den Blick genommen werden. Dabei wird auch danach zu fragen sein, welchen Anteil Herodot selbst an den Motivzuschreibungen hat, die sich in den Historien finden. Eine weitere Kontextualisierung soll durch die Vergleiche der herodoteischen Motivzuschreibung mit den bei Aischylos und Thukydides angewandten Techniken geleistet werden. Zunächst ist jedoch auch auf ältere Veröffentlichungen zum Thema an dieser Stelle hinzuweisen. Stellvertretend für einige vergleichbare, meist philologisch geprägte Ansätze, die sich mit verschiedenen antiken Historikern auseinandersetzen,78 soll die Arbeit Ludwig Hubers über „Religiöse und politische Beweggründe des Handelns in der Geschichtsschreibung des Herodot“79 ausführlicher besprochen werden, da sie unserer Fragestellung am engsten verwandt ist. Motivation, so Huber einleitend, „hat es ja zu tun mit dem Zusammenhang zwischen Wünschen, Plänen und Zielen der Menschen und ihren Handlungen: Antrieb und Ausführung; mit der Wechselwirkung zwischen Handlungen untereinander: Aktion und Reaktion; mit der Anbahnung und Vorbereitung späterer Handlungen in früheren: Charakter und Tradition. In jedem Fall geht es um Verknüpfung.“80 Der Verfasser untersucht »religiöse Motive« – Träume, Zeichen und Orakel – auf der einen und »natürliche Motivation« auf der anderen Seite. In der letztgenannten Kategorie unterscheidet Huber zwischen »direkter Motivierung«, also den Beispielen, „in denen Herodot als der Berichterstatter die Beweggründe und Ziele des Handelns selbst feststellt“, und denen, „die er durch Reden, Anekdoten und Exkurse, eben indirekt, mitteilt.“81 Die Überschriften der folgenden Abschnitte bei Huber sind etwas irreführend: So werden „Freiheitswille und Unabhängigkeitsstreben“ als ein konkretes Motiv untersucht, in den Kapiteln „Krieg“ und „Einzelne Aktionen“ aber jeweils verschiedene Motive, mit denen Kriege bzw. taktische Entscheidungen begründet werden. Diese Motive, die also zu Freiheitswillen und Unabhängigkeitsstreben noch hinzukommen, sind im einzelnen die Begierde nach Reichtum, nach Untertanen, Sklavinnen, Gütern, Land oder Herrschaft; das »Nicht-Genügen« am bisherigen Zustand; das Streben nach Ruhm; Übermut und Geringschätzung des Gegners; Angst, Vergeltung und Feindschaft; Hilfeleistung wegen früherer Verdienste und Bündnisse; Zu Herodot selbst siehe Stahlenbrecher 1952, der alle Belege für αἰτίη prüft und den Einfluß der Gottheit auf die Handlungsmotivation untersucht (cf. zur αἰτίη bei Herodot Bornitz 1968, 139–163). Bei Drexler 1972, 120–144, werden die Kriegsgründe in den Historien besprochen; hier finden sich immer wieder auch weiterreichende Gedanken, ebenso bei Drexlers Äußerungen über die Arbeit Ludwig Hubers (ibid., 208–211). Montgomery 1965 betrachtet die Verbindung von „Gedanke und Tat“ bei Herodot, Thukydides, Xenophon und Arrian. Zu Thukydides siehe Thompson 1969, Schneider 1974 und Westlake 1989, zu Theopomp siehe das Kapitel über „Moral Criteria and the Psychological Method“ in Flower 1994, 169–183, und zu sittlichem Bewußtsein als Handlungsmotiv bei römischen Historikern siehe Schönlein 1966. Anders als die anderen genannten Forscher befassen sich Stahlenbrecher und Schneider vorrangig mit der „Motivation des Handelns“ im Sinn der tieferen Ursachen, weniger mit den konkreten Handlungsmotiven der Protagonisten. Die Berührungspunkte zwischen beiden Aspekten sind jedoch zahlreich. 79 Huber 1965. 80 Ibid., 2. 81 Ibid., 59. Diese Unterscheidung ist eine rein formale, inhaltlich wird sie nicht begründet.

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und schließlich Motive von Einzelpersonen wie Zorn, Schmerz, Habsucht und Herrschaftsgelüste.82 Wie schon diese Aufzählung zeigt, bietet Huber zwar einen nützlichen Überblick über verschiedene Beispiele, aber keine systematische Zusammenstellung und Analyse von Handlungsmotiven.83 Der Verfasser begründet seine Auswahl nicht; dabei handelt es sich zweifellos um eine solche. So heißt es etwa zu den ägyptischen Königen, ihre Geschichte sei eine reine Chronik, weil Herodot außer ihren Lebensdaten meist „nur Märchen, Legenden, Geschichten von grausiger Rache und Anekdoten“ berichten würde: „Nirgendwo liegt Herodot hier an den Beweggründen“.84 Diese Behauptung läßt sich so nicht halten: Wie zu zeigen sein wird, sind gerade diese Märchen, Legenden, Geschichten und Anekdoten voller Angaben zu Beweggründen – doch werden derlei »unhistorische« Passagen von Huber offenbar grundsätzlich nicht berücksichtigt.85 Ein Herangehen eher unsystematischer Art darf als typisch für die meisten genannten Arbeiten zu dieser Fragestellung gelten. Genauso typisch ist Hubers Vorwurf, Herodot würde, wenn er Beweggründe der Protagonisten aufführt, die „eigentliche Triebkraft des Geschehens“ verkennen: die Macht. „Er sieht im Streben nach ihr nicht den Kern alles Handelns der Staaten sowohl wie der Einzelnen; er durchschaut nicht, daß sie als das gleichbleibende letzte Ziel hinter allen äußerlich zunächst so verschiedenen Teilzielen steht.“86 Es ist allerdings methodisch fragwürdig, das eigene Geschichtsbild vorschnell als Maßstab anzulegen: Mit gleichem Recht ließe sich als Triebkraft politischen Handelns das Streben nach wirtschaftlichen Vorteilen oder nach Prestige postulieren, um nur zwei Beispiele anzuführen. Und was wäre damit gewonnen? Zieht man die heutige Geschichtsschreibung zum Vergleich mit antiken Historikern heran, so wird schnell deutlich, daß auch sie sich nicht damit begnügt, komplexe historische Vorgänge auf ein einziges Prinzip – etwa das Streben nach Macht – 82

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Zu Begierde ibid., 64f., zu »Nicht-Genügen« und zu Ruhmsucht 65, zu Übermut und Geringschätzung des Gegners 66f., zu Angst, Vergeltung und Feindschaft 67f. und 72, zu Hilfeleistung 70, und zu Motiven der Einzelpersonen 68–70. So urteilt auch Drexler, der sich seinerseits mit Kriegsmotiven bei Herodot befaßt, daß die Beweggründe bei Huber „merkwürdigerweise gar nicht systematisch behandelt werden“ (Drexler 1972, 208). Huber 1965, 100 und 101. In anderer Weise selektiert auch Thomas Harrison in seinem Aufsatz über „The cause of things. Envy and the emotions in Herodotus’ Histories“, wenn er unausgesprochen vor allem die Politikgeschichte in den Blick nimmt. Harrison zufolge gibt es bei Herodot nur wenige „actions [. . . ] that are clearly and individually motivated, and which in some cases have significant consequences. Such instances are so few, however, that they can be listed in relatively short order“ (Harrison 2003, 146). Diese wenigen Beispiele lassen sich laut Harrison auf ein sehr überschaubares Repertoire von sechs möglichen Handlungsgründen zurückführen (146–150): desire for tyranny, desire to cause gratuitous injury, desire for imperial expansion, madness, erôs und envy. Huber 1965, 196. Schönlein 1966, 2, betrachtet den „Willen des Menschen zur Macht“ als wichtigste Triebkraft der Geschichte. Montgomery 1965, 41f., kann bei Herodot ebenfalls keine „durchgängige Auffassung“ über den wichtigsten Antrieb menschlichen Handelns erkennen, ohne dies allerdings als Kritik an dem Autor zu verstehen. Montgomery hebt im Gegenteil die Komplexität von Herodots Begründungen hervor, die er als nuancenreich und reizvoll betrachtet.

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Einleitung

zurückzuführen. Betrachtet man etwa, welche Motive den historischen Akteuren zugeschrieben werden, die im Vorfeld des Ersten Weltkriegs politische Verantwortung trugen, so wird schnell deutlich, daß die Vielfalt der Erklärungsangebote hinter dem, was wir bei Herodot zu den Beweggründen eines Xerxes lesen, nicht zurücksteht.87 In solchen Erklärungen sieht Huber freilich keine Zuschreibungen, sondern positiv feststellbare Fakten. So erklärt er die Beobachtung, daß »persönliche« Motive bei Herodot sehr häufig begegnen, mit einem Verweis auf die »tatsächlichen Gegebenheiten« der Zeit: Da viele Entscheidungen von einzelnen Despoten oder Aristokraten getroffen würden, seien deren persönliche Beweggründe zugleich die Beweggründe des politischen Handelns.88 Anonyme Prozesse, kollektive Strömungen und dergleichen würden bei Herodot „im Fühlen und Begehren, Denken und Handeln des repräsentativen Einzelnen“ aufgezeigt und beschrieben.89 „Rachedurst, Hass, Begierde, Sattheit, Übermut, Verblendung: das alles bestimmt ursprünglich das Leben des Einzelnen, wird aber hier auch auf das Gemeinwesen übertragen: aus denselben Motiven, die von jenen her bekannt sind, sucht man dieses zu verstehen.“90 In Abgrenzung von Hubers Ansatz, der auf Kausalitäten und die Frage nach der menschlichen Willensfreiheit abzielt,91 ist es Ziel der hier vorgelegten Studie, die Motivzuschreibungen bei Herodot ohne eine Vorauswahl möglichst vollständig zu berücksichtigen und systematisch zu ordnen, um feste Erklärungsmuster aufspüren zu können. Auf diese Weise wird die Grundlage für eine Analyse geschaffen, die

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Ich denke beispielsweise an John C. G. Röhl, Der militärpolitische Entscheidungsprozeß in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in: C. G. Röhl, Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 4 1995, 175–202 (mit Anmerkungen auf p. 266–271); B. Joly, La France et la Revanche (1871–1918), Revue d’Histoire Moderne et Contemporaine 1999, 325–347; G.-H. Soutou, Die Kriegsziele des Deutschen Reiches, Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten während des Ersten Weltkriegs. Ein Vergleich, in: W. Michalka (ed.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1993, Nachdruck 1994, 28–53. Huber 1965, 166–171. Auf die attische Demokratie als Rahmen kollektiver Entscheidungen, die unter den »tatsächlichen Gegebenheiten« doch wohl zu berücksichtigen wäre, geht der Verfasser in diesem Zusammenhang nicht ein. – Auch de Romilly 1971, 335f., führt persönliche Handlungsmotive in den Büchern I bis VI auf die Struktur orientalischer Dynastien zurück. Kritik an einem Vorgehen, das Herodots Betonung individueller Handlungsmotive »wegerklären« will, übt Harrison 2003, 157: „The fact, finally, that the motives accumulated are personal ones is not incidental. The stress on individual motivation in the Histories is often explained away, in terms of the differing conditions of his day (the fact that individuals were more important than now), of the tabloid emphasis of his sources, or as a way of keeping his restless audience sweet – as if Herodotus were, in all but his context, our colleague. This is profoundly misleading.“ Huber 1965, 171. Ibid., 172. In diesem Vorgehen sieht Huber vier besondere Leistungen Herodots gegenüber seinen Vorgängern: Er ist der erste, der überhaupt nach Beweggründen fragt und Entscheidungen verstehen will, er unterscheidet zwischen Anlaß und Ursache, er bietet Einsicht in Tendenzen, Traditionen und Gesetzmäßigkeiten, und schließlich bereitet er durch die Wiederholung, Steigerung usw. bestimmter Motive noch anstehende Ereignisse vor (ibid., 179–192). Dieser Aspekt steht etwa auch bei Pagel 1927, Stahlenbrecher 1952, Pietsch 2001 oder Löffler 2008 im Vordergrund.

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in eine ganz andere Richtung weist als die Hubersche Frage nach »religiöser« oder »natürlicher Motivation«. Den genannten deutschsprachigen Monographien läßt sich ein Aufsatz aus der Feder von W. G. Forrest gegenüberstellen, der am Beispiel des Ionischen Aufstands „Motivation in Herodotus“ untersucht.92 In unserem Zusammenhang ist vor allem die Einleitung von Interesse, wo der Verfasser aufzeigt, daß die häufig zu lesende Behauptung, Herodots historische Erklärungen seien zu stark auf religiöse oder persönliche Motive bezogen, einer näheren Betrachtung nicht standhält. Die Diskussion um die »eigentliche Triebkraft« historischen Geschehens betrachtet Forrest denn auch als eine Frage des Geschmacks: „In short, many a Herodotean story may seem inadequate. But before the historian condemns it, he must be sure that it is translated properly not only into his own language but also, if it makes him happier, into his own style. Then, if it is still not entirely to his taste, there remains the much more difficult job of questioning his own taste before that of Herodotos.“93

Einen kleinen, aber sehr nützlichen Anhang „On Motivation“ bietet Mabel L. Langs Monographie über „Herodotean Narrative and Discourse“94 . Lang bemerkt dort einleitend: „That Herodotus considered motivation important and a proper object of research is evident not only from the care with which he presents motives for the great majority of actions reported but also in his apparent need to offer alternatives in situations where he has either no information about motives or no clear preference between possibilities.“95

Herodots Interesse für Motivation betrachtet Lang zutreffend als Teil seiner Suche nach Erklärungen überhaupt: Kaum eine Handlung in den Historien, die nicht in der einen oder anderen Weise von Herodot motiviert würde. Dies ließe sich, so Lang, auf Herodots Arbeitsweise zurückführen. Erstens erhalte derjenige, der wie Herodot viele Fragen stelle, eben erklärende und begründende Antworten. Und zweitens sei jemand, der wie er mündlichen Kompositionsschemata folge, an Nachfragen seitens der Zuhörer gewöhnt und bemühe sich daher schon im voraus, diesen durch Erklärungen zuvorzukommen.96 Lang unterscheidet in ihrem Anhang external und internal motivations bei Herodot. Erstere werden von außen an den Handelnden herangetragen (durch Vorschläge, Ratschläge, Appelle oder Informationen), letztere entspringen seinem Verlangen, Wünschen, Fürchten und dergleichen.97 Während die interne Motivation lediglich Herodots Bedürfnis widerspiegelt, einerseits seinen Gewährsleuten Fragen zu stellen und andererseits die Fragen seines Publikums zu beantworten, erfüllt die externe 92 93 94 95

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Forrest 1979. Über „Herodot und die Ursachen des Ionischen Aufstandes“ schreibt Walter 1993. Forrest 1979, 313f. Lang 1984, 73–79. Ibid., 73. Es folgt eine Liste mit Beispielen. Die Verfasserin wendet sich dann den Fällen zu, wo eine Handlung schicksalhaft in die Katastrophe führt, ganz unabhängig davon, welche Absichten der Betreffende verfolgt hat, und gibt auch hier eine Liste mit Beispielen. Ibid., 74. Ibid., 74f.

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Einleitung

Motivation darüber hinaus wichtige narrative Funktionen, denen sich Lang im folgenden ausführlicher zuwendet.98 In diesem Punkt bin ich freilich anderer Ansicht als die Verfasserin; wie zu zeigen sein wird, ist auch das, was Lang als interne Motivation bezeichnet, nicht so eindimensional, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Auch erweist sich eine genaue Unterscheidung von innerer und äußerer Motivation häufig als unmöglich, wenn etwa das Verlangen des Akteurs erst durch einen geschickt vorgebrachten Ratschlag geweckt wird. In vielen Fällen wirken innere und äußere Faktoren ohnedies zusammen; wer zum Beispiel aus Dankbarkeit handelt, gibt damit vielleicht einem persönlichen Gefühl Ausdruck, erfüllt aber zugleich äußere Erwartungen. Abschließend wendet sich Lang dem Beispiel des Kroisos zu, für dessen Kriegszug gegen Kyros Herodot mehrfach verschiedene Beweggründe aufführt bzw. diese unterschiedlich gewichtet (I 46–75).99 Lang stellt die These auf, daß die Angabe verschiedener Motive für eine Handlung, wie sie bei Herodot immer wieder vorkommt, nicht im Sinn einer Entwicklung oder Umentscheidung des Protagonisten zu verstehen ist und auch nicht verschiedene Quellen widerspiegelt, sondern narrativen Überlegungen geschuldet ist.100 Auch diesen Faden wird der vorliegende Beitrag aufzugreifen haben und weiterspinnen.

AUFBAU Die Arbeit ist folgendermaßen aufgebaut: In einer Typologie (1.) werden zunächst die einzelnen Handlungsmotive vorgestellt, die in den Historien begegnen.101 Ein vergleichbarer Überblick existiert bislang nicht.102 Die von Herodot genannten Motive103 werden mit Hilfe moderner Kategorien geordnet,104 die anhand des in meiner Belegsammlung vorliegenden Materials empirisch gebildet wurden.105 Die erste Kategorie umfaßt die Motive, die in den Gefühlen oder dem Charakter des Handelnden begründet werden („emotional und charakter98 99 100 101

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Ibid., 75–79. Zu den Kriegsgründen des Kroisos siehe auch meine eigenen Überlegungen unten, p. 110. Lang 1984, 79. Dabei werden die einzelnen Motive zunächst notwendigerweise getrennt behandelt. Daß etwa Freundschaft und Feindschaft oder Rache und Ehre eng zusammenhängen, skizziert auch Gehrke 1987, vor allem 132–136. Huber 1965 bietet, wie oben dargelegt, nur eine Auswahl. Bezüglich der Benennung dieser Motive siehe oben, p. 18–21. Alternativ wäre auch eine nicht inhaltlich begründete Anordnung, zum Beispiel in alphabetischer Reihenfolge oder in der Reihenfolge der ersten Nennung eines Motivs innerhalb der Historien, denkbar gewesen. Als Grundlage einer späteren Analyse von Erklärungsmustern hätte ein solches Vorgehen aber nicht weit getragen. Auf konkrete Vorarbeiten konnte dabei nicht zurückgegriffen werden. Huber 1965 und Drexler 1972 arbeiten unsystematisch einmal mit einzelnen Motiven wie »Furcht«, dann wieder mit Sammelbezeichnungen wie »irrationale Momente«, was so unterschiedliche Phänomene wie die in der vorliegenden Arbeit als Überdruß, Hybris und Orakel angesprochenen Motive umfaßt (Beispiele aus Drexler 1972, 120–122).

Aufbau

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lich begründete Motive“); beides ist häufig eng miteinander verflochten.106 In der zweiten Kategorie sind die Motive versammelt, die auf das gesellschaftliche Miteinander abzielen, also Stellung und Prestige der Handelnden berühren oder auf Verpflichtung oder Gegenseitigkeit beruhen („gesellschaftlich begründete Motive“). Drittens werden „politisch begründete Motive“ untersucht, die die öffentliche Ordnung und die machtpolitischen Optionen betreffen. Viertens gibt es eine Kategorie mit Motiven, die sich aus materiellen Bedürfnissen der Handelnden herleiten lassen („wirtschaftlich begründete Motive“). Die Beweggründe, die künstlerische Überlegungen betreffen, werden als „ästhetisch begründete Motive“ zusammengefaßt. Wo es um das Verhältnis der Menschen zu den Göttern geht, spreche ich von „religiös begründeten Motiven“. Schließlich gibt es eine Reihe von „externen Faktoren“, Beweggründen also, die von außen an die Protagonisten herangetragen werden.107 Diese Gruppen von Beweggründen werden ausführlich besprochen. Auf diese Weise soll das gesamte Inventar der menschlichen Beweggründe bei Herodot in den Blick genommen werden. Dabei interessiert mich der gattungsspezifische Aspekt, nicht der psychologische.108 Demnach werde ich keinen Überblick über menschliche Verhaltensweisen im Sinn einer herodoteischen Anthropologie geben, sondern versuchen, die Handlungsmotive aus der Perspektive ihrer Verwendung für die historiographische Darstellung zu betrachten. In einer weiterführenden Analyse (2.) sollen die Handlungsmotive nach ihrem Kontext aufgeschlüsselt werden, um feste Erklärungsmuster auszumachen. Da diese die Historien als Ganzes durchziehen, lassen sich subtile Querverbindungen zwischen scheinbar ganz unterschiedlichen Geschichten aufspüren und Aussagen über die Sinnstiftung in Herodots Werk treffen. Hier ergibt sich die Gegenüberstellung verschiedener Gruppen von Akteuren: von Handelnden der ferneren Geschichte und der Zeitgeschichte, von Griechen und Nichtgriechen, Männern und Frauen, Einzelnen und Gemeinschaften, Göttern und Menschen. Die Unterschiede, die Herodot bei der Motivzuschreibung an diese Gruppen von Handelnden macht, sollen hier präzise herausgearbeitet werden. Anschließend werden exemplarisch politische Entscheidungen vorgestellt, die in den Historien immer wieder vorkommen, von Herodot besonders sorgfältig besprochen werden und mit spezifischen Motiven verknüpft sind. Eine Untersuchung der Beweggründe für Feldzüge, für Aufstände und Herrscherwechsel sowie für Auswanderungen und Koloniegründungen führt von den historischen Ereignissen, die Herodots Geschichten zugrundeliegen, bis in seine eigene Gegenwart. Hier wird deutlich, daß Herodot in verschiedenen Themenbereichen unterschiedlich arbeitet: 106 Der Hang zu Zornestaten etwa ist einerseits im Charakter einer Person angelegt, wie am Beispiel des Kambyses gezeigt wird, andererseits wird situationsbedingt die emotionale Seite dieses Motivs betont (siehe im einzelnen p. 39). 107 Es liegt in der Natur der Sache, daß diese Kategorien keine absolute Gültigkeit beanspruchen können. Es handelt sich bei ihrer Einführung um eine zweckdienliche Entscheidung, zu deren Gunsten andere denkbare Ordnungsprinzipien, etwa eine Kategorie des Vergangenheitsbezugs, verworfen wurden. 108 Motivation als psychologisches Phänomen ist ein eigenes Forschungsfeld; ich verweise hier nur auf das gängige Handbuch zur Motivationspsychologie von J. & H. Heckhausen (edd.), Motivation und Handeln, Heidelberg 3 2006, mit der dort angegebenen Literatur.

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Einleitung

Während er sich bei den Auswanderungsgeschichten stark an festen Erzählmodellen orientiert und deren Motivzuschreibungen übernimmt, werden andere Themen wie die Begründung der großen Kriegszüge von ihm sehr viel freier verhandelt. Am Beispiel des Xerxes werden die gewonnenen Einsichten zusammengeführt und vertieft (3.). Die erhaltenen historischen Zeugnisse achämenidischer Selbstdarstellung in den persischen Königsinschriften erlauben es, die Xerxesfigur in den Historien differenzierter zu beurteilen, als dies rein werkimmanent möglich wäre. Die Komplexität von Herodots Xerxesdarstellung, die gerade in den Motivzuschreibungen sehr prägnant zum Ausdruck kommt, kann als Qualitätsmerkmal seiner Geschichtsschreibung betrachtet werden. Eine Zwischenbilanz (4.) dient dazu, mit Hilfe des zuvor analysierten Materials Herodots Arbeitsweise näher zu beleuchten. Hier werden die Fragen aufgeworfen, wo die Motivzuschreibungen, derer er sich bedient, ihren Ursprung haben, welche Erfahrungen sie beim Leser voraussetzen und welche Funktion und Bedeutung sie innerhalb der Historien haben. In dieser Untersuchung wende ich mich dezidiert gegen die Behauptung, Herodot argumentiere im Bereich der Erklärung von Handlungen nicht eigentlich historisch. Meine These besagt im Gegenteil, daß sich das Inventar menschlicher Beweggründe bei Herodot – auch wenn es naturgemäß manche Ähnlichkeit zum menschlichen Handeln in der Tragödie, in der epischen Dichtung oder im Märchen gibt – gattungsspezifisch109 auffassen läßt. Um dies begründen zu können, schließt sich ein Vergleich mit der Zuschreibung von Handlungsmotiven einerseits in den „Persern“ des Aischylos, andererseits im Geschichtswerk des Thukydides an, der die zuvor gewonnenen Ergebnisse absichern soll (5.): Bei Aischylos werden in anderer Form dieselben Inhalte dargestellt, wie sie Herodot beschäftigen, während Thukydides ein anderes Thema behandelt, aber die Gattung beibehält. Der Vergleich mit Thukydides ermöglicht es zudem vor dem gemeinsamen Hintergrund des Peloponnesischen Kriegs, der die Werke beider Geschichtsschreiber prägt, und dank der Tatsache, daß Thukydides die Historien seines Vorgängers kennt, in idealer Weise, die Besonderheiten von Herodots Arbeitsweise herauszustellen. Abschließend (6.) wird danach zu fragen sein, welche Erkenntnisse sich für Herodot als historische Quelle gewinnen lassen.

109 Zu den Problemen einer Abgrenzung der frühen griechischen Geschichtsschreibung von anderen Gattungen siehe etwa Marincola 1999 und Hornblower 2001. Bezüglich der Einordnung von Herodots Historien als Geschichtsschreibung siehe schon Jacoby 1913, col. 352–360, 467–486, sowie ferner die neueren Beiträge von Guelfucci 1996, Boedeker 1998, und auch Luraghi 2006, 85–88, wo Gattung als „a set of historically and culturally specific expectations with which an audience approaches a text“ definiert wird (85). Zum Problem der Neuetablierung des historiographischen Genres durch Herodot ibid. und bei Grethlein 2010, 149: „However, Herodotus and Thucydides could not rely on an established genre. Instead, they had to assert themselves in the vast field of memory“. Wie Flory 1980, 18, bemerkt, sprengte Herodots Buch auch vom Umfang her jeden Rahmen; er schrieb ein Werk „which vastly exceeded in size the normal expectation for a prose book in his day“.

Stellenauswahl

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STELLENAUSWAHL In meiner Analyse wird auf den Versuch verzichtet, von vornherein zwischen »historischen« und »fiktionalen« Akteuren oder Ereignissen unterscheiden zu wollen; alle relevant erscheinenden Stellen sind in meine Überlegungen miteinbezogen. Meine Sammlung umfaßt circa 600 Belege. Um dem Leser die Auswahl der behandelten Textstellen transparent zu machen, ist im Anhang eine Liste der Handlungsmotive abgedruckt, in der alle berücksichtigten Belegstellen bei Herodot angegeben werden. Einen Vergleich des herodoteischen Motivrepertoires mit den Beweggründen, die in den „Persern“ des Aischylos beziehungsweise im Geschichtswerk des Thukydides vorkommen, ermöglicht der Index der Handlungsmotive, der diesen Band abschließt. In die Sammlung wurden alle Stellen aufgenommen, an denen Herodot den Beweggrund für eine Handlung explizit benennt – etwa wenn es heißt, daß die Athener sich rächen wollen und deshalb gegen die Chalkider zu Felde ziehen (V 77,1). Der Großteil der behandelten Textstellen gehört zu dieser Gruppe. Darüber hinaus habe ich diejenigen Stellen aufgenommen, wo ein solcher Beweggrund durch den unmittelbaren Gang der Ereignisse klar faßbar zutage tritt, ohne jedoch explizit benannt zu werden – etwa wenn Dorieus den Ratschlag und ein günstiges Orakel dafür erhält, nach Sizilien auszuwandern, und daraufhin tatsächlich in See sticht (V 43). Nicht aufgenommen habe ich dagegen solche Passagen, wo Herodot ein mögliches Motiv nur subtil andeutet, etwa in VIII 41,1, wo das Wortfeld σῴζειν dahingehend interpretiert werden könnte, daß die Handelnden auch von Angst bewegt werden. Weiter wurden die Textstellen ausgeschlossen, in denen ein als bekannt vorausgesetztes Motiv gar nicht genannt ist. Das wäre beispielsweise in V 55 der Fall, wo ohne nähere Erläuterung ihrer Beweggründe erwähnt wird, daß Aristogeiton und Harmodios Hipparchos ermordet haben. Ebenfalls nicht berücksichtigt wurden die zahlreichen Stellen, wo lediglich ein Finalzusammenhang hergestellt wird – ein beliebiges Beispiel ist VII 153,1, wo es heißt, daß Gesandte nach Sizilien kommen, um mit Gelon zu verhandeln. Eine solche Abgrenzung kann naturgemäß nicht immer eindeutig getroffen werden, und so habe ich mich im Zweifelsfall immer dafür entschieden, eine Stelle lieber aufzunehmen als wegzulassen.

1. TYPOLOGIE 1.1. EMOTIONAL UND CHARAKTERLICH BEGRÜNDETE HANDLUNGSMOTIVE Zunächst sollen diejenigen Handlungsmotive vorgestellt werden, die das Empfinden oder den Charakter der Akteure zum Ausgangspunkt haben.1 Unter den Emotionen, die Herodots Personal bewegen, sind zwei von herausragender Bedeutung: Angst und Zorn. Zusammengenommen machen allein diese beiden Beweggründe rund ein Fünftel aller Belegstellen für Handlungsmotive in den Historien überhaupt aus. Die weiteren emotional begründeten oder im Charakter der Akteure angelegten Motive sind Hybris, Wahn, Bosheit, Neid, Bewunderung, Freude, Neugier, Mißtrauen, Liebe, Begehren, Mitleid, Gram, Überdruß, Reue, Scham und Stolz.2 Mit dem Motiv Angst3 fasse ich das ganze Wortfeld, angefangen bei der vergleichsweise harmlosen Befürchtung über die Furcht vor oder um etwas bis hin zur Angst als solcher, die bis zur Panik gesteigert sein kann. Angst ist in den Historien nicht nur ein äußerst häufiges4 Handlungsmotiv, sondern auch ein Motiv, das zu ganz erheblichen Konsequenzen führt. Aus Angst fliehen Menschen in die Fremde,5 verstoßen gegen ihre innersten Überzeugungen und Werte,6 ja, sie ermorden ihre Frauen, Kinder oder Geschwister.7 Der stumme Sohn des Kroisos kann aus Angst und Schmerz (ὑπὸ δέους τε καὶ κακοῦ) sogar plötzlich sprechen.8 Aristagoras wird von mehreren Ängsten bewegt und setzt deshalb den Aufstand gegen die Perser ins Werk (V 35). Er hat sein Versprechen, Artaphernes mit Leichtigkeit die kykladischen Inseln zu beschaffen, nicht erfüllen können, muß den mißglückten Feldzug auch noch bezahlen und fürchtet um seine Herrschaft über Milet. 1 2 3 4

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Zu Gefühlen bei Herodot siehe auch Montgomery 1965, 13–20. Der unten, p. 61, besprochene Sinn für Gerechtigkeit könnte ebenfalls als Charaktereigenschaft betrachtet werden. Eine systematische Auseinandersetzung mit der Wirkungsweise menschlicher Furcht bietet Arist. Rh. II 5 (1382a 20–1383b 10). I 80; 85; 86,6; 107; 108; 117,2; 155,2; 157,1; 160,1; 169,2; II 139; III 1,2.3; 13,3; 25,7; 30,2.3; 31,3–5; 35,4; 124; 130,1; 137,2; 148; IV 43; 115f.; 125,5; 128; 164,3; V 19,1; 35; 92δ,1; 98,3; 124–126; VI 9; 37,2; 74,1; 75,1; 75,2; 77; 95,2; 138,2.3; VII 38; 47,2; 104,4.5; 149,1; 173; 191,1; 207; 213,2; VIII 4,1; 15,1; 36,1; 38,1; 60–63; 72; 74; 86; 94,1; 97,1; 100; 103; 112; 130; 132; 141,1; IX 46; 58,3; 70,4.5; 109,3. I 157,1; II 139 und 152,1; V 124–126; VI 74,1; VII 213,2. Die Auswanderung in IV 115f. ist ebenfalls durch Angst motiviert. I 169,2; III 137,2; V 19,1. III 30,2.3; VI 138,2.3 In I 108 befiehlt Astyages die Ermordung seines Enkels, welche aber nicht in die Tat umgesetzt wird. Als er sieht, daß ein Perser seinen Vater nicht erkennt und diesen töten will, findet er seine Stimme und ruft: „Mann, töte Kroisos nicht!“ (I 85,4).

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1. Typologie

„Da ihn all dies ängstigte“, faßt der Erzähler zusammen, „plante er einen Aufstand.“9 Der Bote des Histiaios, der ihn zum Abfall ermutigen soll, kommt somit genau zum passenden Zeitpunkt. Wie hier, so ist Angst in den Historien häufig mit anderen Motiven verknüpft. Fürchten Herrscher wie Aristagoras um ihre Macht,10 so werden andere Protagonisten durch einen Traum in Furcht versetzt,11 oder ihre Angst ist mit dem Gedanken der Verantwortung und Fürsorge für Angehörige, Soldaten oder Untertanen verbunden.12 Auffallend häufig führt Herodot Angst als Beweggrund im Kontext militärischer Entscheidungen und Handlungen an. Befehlshaber und Soldaten werden gleichermaßen von Angst geleitet, sei es, daß es um bestimmte Abwehrtaktiken geht, um den Rückzug oder die ungeordnete Flucht vor dem Feind, sei es, daß Herodot eine kampflose Unterwerfung erklären will oder die bereitwillige Kooperation mit dem Gegner, dem Gelder gezahlt und Schutzsuchende ausgeliefert werden: Furcht vor den Feinden13 oder vor bestimmten Heeresabteilungen der Gegner14 , Furcht davor, belagert bzw. eingekreist zu werden15 oder im Kampf zu unterliegen16 , Furcht um die Heimat17 oder auch, nicht näher spezifiziert, Angst schlechthin18 – das sind maßgebliche Beweggründe für militärische Entscheidungen in den Historien.19 Zu berücksichtigen ist schließlich in diesem Zusammenhang auch die Furcht vor dem eigenen Herrscher, die den Kampfgeist der Perser anstachelt.20 Wie Demaratos Xerxes gegenüber behauptet, sind die Spartaner ihrerseits allen anderen Völkern deshalb im gemeinsamen Kampf überlegen, weil sie ihren »Herrn«, nämlich das Gesetz, nicht vor dem Feind zu fliehen, sondern zu siegen oder zu sterben, noch mehr fürchten als die Perser ihren König.21 Nun geht es in der Mehrzahl der Stellen, wo Angst als Handlungsmotiv namhaft gemacht wird, um Fragen von Leben und Tod. Nur zu häufig müssen die Menschen, von denen Herodot erzählt, um das eigene Leben oder das ihrer engsten Angehörigen

ἀρρωδέων δὲ τούτων ἕκαστα ἐβουλεύετο ἀπόστασιν (V 35,2). Neben der besprochenen Stelle V 35 auch die Herrscher in I 108; II 30,2.3; VII 149,1. I 107; 108; II 139; III 30,2.3; 124. I 85; 156,1; III 25,7; 124; V 92δ,1; VIII 60β. I 157,1; III 137,2; IV 125,5; VII 173; 191,1; 207; VIII 4,1; 36,1; 132; IX 46,1; 58,3. I 80; IV 128f. I 160,1; VII 173; VIII 97,1; 112. I 169,2; III 1,2.3; VI 9. VIII 72; 74. VIII 94,1; 103; 130,2; IX 70,4.5 Als Kuriosum darf der abgebrochene Äthiopienfeldzug des Kambyses gelten, der so schlecht geplant ist, daß schon nach einem Fünftel des Weges alle Lebensmittelvorräte erschöpft sind. Als die Soldaten in der Wüste nicht einmal mehr Kräuter und Wurzeln finden, beginnen sie, sich gegenseitig zu verzehren. Das macht nun selbst einem Kambyses Angst, und er läßt das Heer umkehren (III 25,7). 20 VIII 15,1; 86. 21 ἔπεστι γάρ σφι δεσπότης νόµος, τὸν ὑποδειµαίνουσι πολλῷ ἔτι µᾶλλον ἢ οἱ σοὶ σέ. ποιεῦσι γῶν τὰ ἂν ἐκεῖνος ἀνώγῃ· ἀνώγει δὲ τὠυτὸ αἰεί, οὐκ ἐῶν φεύγειν οὐδὲν πλῆθος ἀνθρώπων ἐκ µάχης, ἀλλὰ µένοντας ἐν τῇ τάξι ἐπικρατέειν ἢ ἀπόλλυσθαι (VII 104,4.5).

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1.1. Emotional und charakterlich begründete Handlungsmotive

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fürchten.22 Vor dem Hintergrund dieser Beobachtung läßt sich die häufige Zuschreibung von Angst als Beweggrund schlichtweg darauf zurückführen, daß diese situationsbedingte Erklärung für Herodots Leser überaus plausibel gewesen sein muß.23 Wenden wir uns damit einem zweiten zentralen Motiv in Herodots Aitiologie des Handelns zu, dem Zorn.24 Auch dieser Beweggrund begegnet in den Historien sehr häufig.25 Das hier zu berücksichtigende Wortfeld umfaßt auch einige Belege für Ärger und Groll (ἔγκοτος), in der Hauptsache aber Ausdrücke wie ὀργή, χόλος, µεµφόµενος oder ὑπερλυπεόµενος.26 Herodot nutzt das Handlungsmotiv Zorn in erster Linie dazu, brutale, grausame und sittenwidrige Taten zu erklären. So lassen sich einige der entsetzlichsten Schreckenstaten, von denen er zu berichten weiß,27 auf Zorn zurückführen. Da werden Leichen geschändet und Menschen verstümmelt, geköpft, gesteinigt, erstochen, in der Mitte durchgehauen, einem Gott geopfert oder kaltblütig erschlagen und am Wegesrand verscharrt.28 Zwei besonders drastische Untaten mögen hier für die anderen stehen: Astyages ist außer sich vor Zorn, als er entdeckt, daß sein treuer Verwandter Harpagos entgegen seinem Befehl den Säugling Kyros nicht ermordet hat. Er läßt Harpagos’ einzigen Sohn, einen 13jährigen Knaben, schlachten und in Stücke schneiden, die teils gebraten, teils gekocht werden, und setzt dem nichtsahnenden Harpagos das Fleisch seines Sohnes als Speise vor (I 117–119). Die Söhne des Phanes, eines Hellenen aus Halikarnassos, haben ein ähnliches Schicksal. Der ägyptische Söldner Phanes flieht aus Zorn auf den Pharao Amasis zu den Persern und zeigt Kambyses den Weg durch die arabische Wüste nach Ägypten (III 4). Die Hellenen und Karer, die nun als Söldner gegen das Perserheer zu kämpfen haben, sind voll Zorn auf ihren einstigen Kameraden. Um sich an Phanes zu rächen, führen sie seine Söhne in ihr Lager, so daß ihr Vater sie sehen kann, und stellen in der Mitte zwischen den beiden feindlichen Heeren einen Mischkrug auf. Über diesem schlachten sie die Knaben einen nach dem anderen. Sie vermischen ihr Blut mit Wein und Wasser und trinken alle davon. Dann ziehen sie in den Kampf (III 11) – er wird für das ägyptische Heer in der Flucht enden. 22

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III 30,2.3; 31,5; 35,4; IV 164,3 sind die Belege, wo explizit die Angst um das eigene Leben thematisiert wird. Aber auch bei jeder Kriegshandlung, bei Mordkomplotten oder Aufständen geht es um die nackte Existenz aller Beteiligten. Wie Marg 1953, 210, zutreffend bemerkt, ist „die Rolle von Angst und Befürchtungen bei politischen und militärischen Entscheidungen“ ja auch in der heutigen Zeit durchaus noch offensichtlich. Auch bei Aristoteles ist Zorn ein wichtiger Affekt, mit dessen Wirkung er sich in Rh. II 2f. (1378a 30–1380b 34) befaßt. Grundlegend zum Zorn bei antiken Autoren ist die Monographie Harris 2004. I 61,2; 73,4; 114,4.5; 117–119; 141; 159; 189,2–190,1; II 121ε,1; 161,4 (cf. IV 159,6); II 162,5.6; III 1,1.4; 4,2; 11,1; 25,1; 32; 34f.; 126,2; IV 128; 154,4; V 19,2; 33,2.3f.; 42; VI 40,1; 73; 85; 87; 133,1; VII 1,1; 35; 39; 133f.; 137,1; 197,3; 210,1; 229,2; 238; VIII 27–29; 90; 138,1; IX 5; 73; 107,1.2; 110. Bezüglich dieser Terminologie bei Herodot siehe Harris 2004, 53. Eine Zusammenstellung und Diskussion der in den Historien vorkommenden Gewalthandlungen bietet Rollinger 2004 und Rollinger 2010 (jeweils mit Literatur). VII 238; II 162,5.6 und IX 110–112; VIII 90; IX 5; V 19f.; VII 39; 197,3; III 126,2.

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1. Typologie

Ein Konventionsverstoß, wie ihn solche Zornestaten naturgemäß mit sich bringen, wird in III 32 exemplarisch deutlich. Herodot berichtet, wie Kambyses nach seinem Bruder Smerdis nun auch seine eigene Frau umbringt, die zugleich seine leibliche Schwester29 ist: [1] ἀµφὶ δὲ τῷ θανάτῳ αὐτῆς διξὸς ὥσπερ περὶ Σµέρδιος λέγεται λόγος. ῞Ελληνες µὲν λέγουσι Καµβύσεα συµβαλεῖν σκύµνον λέοντος σκύλακι κυνός, θεωρέειν δὲ καὶ τὴν γυναῖκα ταύτην, νικωµένου δὲ τοῦ σκύλακος ἀδελφεὸν αὐτοῦ [ἄλλον σκύλακα] ἀπορρήξαντα τὸν δεσµὸν παραγενέσθαι οἱ, δύο δὲ γενοµένους οὕτω δὴ [τοὺς σκύλακας] ἐπικρατῆσαι τοῦ σκύµνου. [2] καὶ τὸν µὲν Καµβύσεα ἥδεσθαι θεώµενον, τὴν δὲ παρηµένην δακρύειν. Καµβύσεα δὲ µαθόντα τοῦτο ἐπειρέσθαι δι’ ὅ τι δακρύει, τὴν δὲ εἰπεῖν ὡς ἰδοῦσα τὸν σκύλακα τῷ ἀδελφεῷ τιµωρήσαντα δακρύσειε, µνησθεῖσά τε Σµέρδιος καὶ µαθοῦσα ὡς ἐκείνῳ οὐκ εἴη ὁ τιµωρήσων. [3] ῞Ελληνες µὲν δὴ διὰ τοῦτο τὸ ἔπος φασὶ αὐτὴν ἀπολέσθαι ὑπὸ Καµβύσεω, Αἰγύπτιοι δὲ ὡς τραπέζῃ παρακατηµένων λαβοῦσαν θρίδακα τὴν γυναῖκα περιτῖλαι καὶ ἐπανειρέσθαι τὸν ἄνδρα κότερον περιτετιλµένη ἢ δασέα ἡ θρίδαξ ἐοῦσα εἴη καλλίων, καὶ τὸν φάναι δασέαν, τὴν δὲ εἰπεῖν· [4] ταύτην µέντοι κοτὲ σὺ τὴν θρίδακα ἐµιµήσαο, τὸν Κύρου οἶκον ἀποψιλώσας. τὸν δὲ θυµωθέντα ἐµπηδῆσαι αὐτῇ ἐχούσῃ ἐν γαστρί, καί µιν ἐκτρώσασαν ἀποθανεῖν.

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[1] Über ihren Tod wird wie über den des Smerdis eine zweifache Fassung erzählt. Die Griechen sagen, Kambyses habe ein Löwenjunges auf einen Hundewelpen gehetzt, und diese Frau habe zugeschaut. Als aber der junge Hund zu unterliegen drohte, habe sich sein Bruder[, ein anderer Welpe,] von der Leine losgerissen und ihm geholfen. Sobald sie aber zu zweit waren, hätten sie[, die Welpen,] so nun das Löwenjunge besiegt. [2] Und Kambyses habe sich gefreut, als er es sah, die neben ihm Sitzende aber habe geweint. Kambyses habe es gemerkt und gefragt, warum sie weine. Sie aber habe gesagt, als sie den Welpen seinem Bruder habe beistehen sehen, habe sie weinen müssen, weil sie an Smerdis gedacht und erkannt habe, daß er, Kambyses, keinen Helfer mehr habe. [3] Um dieser Worte willen, sagen also die Griechen, sei sie von Kambyses getötet worden. Die Ägypter hingegen sagen, die Frau habe, als sie mit am Tisch saß, einen Salatkopf genommen, die Blätter abgerupft und ihren Mann gefragt, ob der entblätterte Salat oder der volle schöner sei. Und als er antwortete, der volle, habe sie gesagt: [4] „Dennoch hast du einst diesen Salatkopf nachgeahmt und das Haus des Kyros kahl gemacht.“ Er aber sei zornig geworden und mit Füßen auf sie losgesprungen. Sie sei schwanger gewesen, habe geboren und sei dabei gestorben.

Schon einleitend wurde betont, daß es sich bei der Gattin um eine Vollschwester handelt, die die gleiche Mutter und den gleichen Vater hat wie Kambyses: καὶ συνοίκεε καὶ ἦν οἱ ἀπ’ ἀµφοτέρων ἀδελφεή (III 31,1).

1.1. Emotional und charakterlich begründete Handlungsmotive

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Bezeichnend ist, daß beide von Herodot so ausführlich erzählte Versionen in einem Punkt völlig übereinstimmen: Das Handlungsmotiv des Kambyses ist dasselbe. Während es jedoch in der als griechisch präsentierten Geschichte nicht explizit benannt wird, heißt es in der als ägyptisch bezeichneten Version ausdrücklich: „er wurde zornig“ (θυµωθέντα). Hatte schon die Verheiratung mit seinen beiden leiblichen Schwestern Herodots Darstellung zufolge nicht nur gegen jede Konvention, sondern auch gegen das Gesetz verstoßen (III 31), so stellt die Grausamkeit gegenüber der jüngeren Schwester einen wohl auch in den Historien einzigartigen Bruch geltender Normen dar. Hier läßt sich in der Abfolge der beiden Versionen eine inhaltliche Steigerung erkennen. Erfahren wir in der ersten Geschichte nur, daß Kambyses seine Schwester tötet, so bringt ihn sein Zorn in der zweiten Geschichte dazu, sie selbst mit den Füßen zu treten, bis sie stirbt. Die Brutalität dieser Szene wird unterstrichen durch die nachträgliche Information, die Frau sei schwanger gewesen und habe durch die Mißhandlung eine Fehlgeburt erlitten. So tötet Kambyses im Zorn zugleich seine Schwester, seine Frau und sein Kind. Die häusliche Gewalt des Königs erhellt den Umstand, daß Zorn – anders als Angst, die, wie zu sehen war, situationsbedingt zum Beweggrund wird – gelegentlich auch im Charakter des Handelnden angelegt ist. Kambyses begeht seine Untaten schließlich im Zustand geistiger Umnachtung, wie Herodot im anschließenden Kapitel 33 erörtert.30 So ist es kaum verwunderlich, daß er im Zorn zu den verrücktesten Taten fähig ist. War schon sein Kriegszug gegen Ägypten vermutlich eine Affekthandlung,31 so erst recht die völlig unvorbereitete Kampagne in Äthiopien,32 ganz zu schweigen von der Untat am Sohn des Prexaspes, dem er im höchsten Zorn vor den Augen seines Vaters einen Pfeil ins Herz schießt – um zu beweisen, daß er ganz bei Sinnen ist!33 Das Beispiel Kambyses macht damit deutlich, daß emotional und charakterlich begründete Handlungsmotive sich eben durchaus nicht darin erschöpfen, eindimensional die Frage nach dem »Warum?« einer Handlung zu beantworten;34 im vorliegenden Fall beleuchten sie schlaglichtartig den Charakter des Dargestellten und eröffnen weitere Themenfelder wie die Frage nach dem Ursprung von Geisteskrankheiten.35 30

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Zu Herodots Kambysesdarstellung und ihren historischen Grundlagen siehe Fahr 1959, Hofmann & Vorbichler 1980, Walser 1983, Lloyd 1988, Munson 1991, Högemann 1992, 204f., Tourraix 1995, 116–119, Bichler 2001, 269–277. Grundlegend zu den Despoten in den Historien sind Waters 1971 und Gammie 1986. III 1–3, siehe vor allem 3, wo Herodot die Darstellung als die plausiblere bewertet, derzufolge Kambyses aus Zorn handelt. III 25,1.2. Hier werden Zorn und Wahnsinn gleichermaßen für die Tat verantwortlich gemacht. III 34f. Das Gegenteil ist freilich der Fall, denn Kambyses ist schlicht wahnsinnig (34,1; 35,4; 37,1). Gegen Lang 1984, 74–79, wo den internal motivations wie Wünschen, Verlangen und dergleichen im Gegensatz zu den external motivations keine weiteren narrativen Funktionen zuerkannt werden. Hatte Herodot zunächst die ägyptische Interpretation referiert, derzufolge die Krankheit des Königs als göttliche Strafe für den Apisfrevel aufzufassen sei (III 30,1) und welche an dieser Stelle erneut aufgegriffen wird, so bietet er nun (zum Codewechsel siehe Munson 1991, 52) auch eine medizinische Erklärung an: „Es wird nämlich auch gesagt, daß Kambyses von Geburt an eine schwere Krankheit gehabt habe, die manche »die heilige« nennen. Es ist nun gewiß überhaupt

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1. Typologie

Die Bedeutung des individuellen Charakters für die Ausführung von Zornestaten wird auch am Beispiel des Makedonenkönigs Amyntas und seines Sohnes Alexander deutlich. Als die persischen Gesandten, die bei ihnen zu Gast sind, sich an den makedonischen Frauen vergreifen, werden beide, Vater und Sohn, gleichermaßen zornig.36 Amyntas beherrscht sich jedoch und sieht dem dreisten Gebaren seiner Gäste ruhig zu, da er zu große Furcht vor den Persern hat. Alexander hingegen, der, wie es erklärend heißt, noch jung ist und bisher nichts Schlechtes erleben mußte, empfindet die Situation als unerträglich. Er schickt seinen Vater hinaus und läßt die sieben Perser erstechen.37 Es wäre jedoch verfehlt, den Schluß zu ziehen, Zorn sei immer im Charakter des Handelnden begründet. In bestimmten Situationen ist das Personal der Historien grundsätzlich nicht gegen Affekthandlungen gefeit.38 Wirkmächtige Konstellationen, bei denen kaum jemand besonnen zu agieren vermag, sind die Kombination der Handlungmotive Zorn mit Strafe und Rache39 und die von Zorn und verletzter Ehre40 . Als die Aigineten kurzerhand das athenische Staatsschiff kapern, auf dem die vornehmsten Gäste unterwegs zum Fest nach Sunion sind, verbinden sich alle drei genannten Motive miteinander: Die Aigineten sind zornig, glauben ihre Ehre verletzt und wollen Rache üben (VI 87). Gerade in der Verbindung von Zorn mit gesellschaftlich begründeten Motiven wird deutlich, daß Emotionen auch als zu erwartende und allgemein anerkannte Beweggründe dargestellt werden können (ähnlich haben wir es bereits in bezug auf die Furcht in militärischen Zusammenhängen beobachtet). Im Bereich von Emotionen und Charakter finden sich nicht unbedingt vorrangig „[s]trange, paradoxical, or impulsive motivations“.41

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nicht merkwürdig“, so unterstreicht der Erzähler die Plausibilität dieser Lesart, „daß, wenn sein Körper an einer schweren Krankheit litt, auch sein Geist nicht gesund war“ (III 33). Eine spekulative Interpretation der Formulierung νοῦσον [. . . ] τὴν ἱρὴν ὀνοµάζουσί τινες als Epilepsie im modernen Sinn, wie sie sich etwa bei Brandenburg 1976, 76, Hofmann & Vorbichler 1980, 96, Erbse 1992, 51f., Thomas 2000, 34f., oder Wesselmann 2011, 83f., findet, kann Leven 1995, 18, folgend als anachronistisch zurückgewiesen werden. Von Interesse ist hingegen die fast wörtliche Übereinstimmung von Herodots Ausdruck mit der hippokratischen Schrift De morbo sacro, wo das Wort „heilig“ wie in den Historien quasi in Anführungsstrichen verwendet wird (cf. Leven 1995, 20): ἡ ἱερὴ νούσος καλεοµένη (Hp. Morb. Sacr. I 1, cf. XVIII 1 (Edition Jouanna 2003) = Littré VI 352, cf. 394). Zu den Bezügen zwischen den Historien und dem Hippokratischen Corpus siehe auch Thomas 2000, 23–74, Thomas 2006 und Schubert 2007. V 19,1 (Amyntas) und 19,2 (Alexander laut Aussage seines Vaters, die er selbst nicht kommentiert). V 20. Cf. in diesem Zusammenhang auch den Fall des Kyaxares, der sich ebenfalls an seinen Gästen vergeht, indem er sie beschimpft, weil sie erfolglos von der Jagd kommen. Dieser Ausbruch wird auf seinen Jähzorn zurückgeführt. Zorn ist daher auch keine Besonderheit der Darstellung der persischen Könige, wie es Montgomery 1965, 15f., nahezulegen scheint. I 117–120,1; 159; 189,2–190,1; III 11; VI 85; VII 35; 39; VIII 90; IX 110. I 61,2; 114,4; V 42; VI 73; IX 107,1.2. Auch bei Alexander spielt verletzte Ehre eine Rolle, zumal unter den bedrängten Frauen seine Mutter und seine Schwestern sind (V 19f.). Gegen Baragwanath 2008, Zitat 83f.

1.1. Emotional und charakterlich begründete Handlungsmotive

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Damit komme ich zu Hybris als einem weiteren Beweggrund. Bedenkt man, welch bedeutende Rolle die Hybris in Herodots Herrscherdarstellungen spielt,42 so werden Selbstüberschätzung, Frechheit, Übermut und Tollkühnheit vergleichsweise selten als konkretes Handlungsmotiv genannt.43 Das mag damit zusammenhängen, daß in der Bedeutung von ὕβρις die Vorstellung eines Handlungsimpulses ohnedies bereits mitschwingt44 und daher nicht explizit benannt werden muß. Hybris im Sinn von Übermaß ist jedenfalls bei vielen Handlungen auch unausgesprochen präsent, wofür die eben besprochenen Zornestaten immer wieder Beispiele bieten. Dort aber, wo Hybris ausdrücklich als Beweggrund wirksam wird, wirft sie ein bezeichnendes Licht auf den Handelnden: Kroisos hält sich bekanntlich für den glücklichsten aller Menschen (I 32,1), Kyros meint, mehr als ein Mensch zu sein (I 204,2), Kandaules glaubt, die schönste Frau der Welt zu haben (I 8,1), den Pythios haben die Geschenke des Xerxes kühn gemacht (VII 38,1), die Aigineten sind durch Macht und Reichtum hochmütig geworden (V 81,2) und die Pelasger in ihrer Geringschätzung für die Athener (VI 137,3). Eng mit Hybris verbunden ist ihre übersteigerte Form, der Wahnsinn.45 Als Handlungsmotiv kommt Wahn nur bei zwei Personen ins Spiel, die damit einen gewissen Sonderstatus erlangen: Kambyses46 und Kleomenes47 ; und außerdem bei einer Gruppe von Athenern, die, von der Gottheit mit Wahnsinn geschlagen, einander wie Feinde töten (V 85,2). Ebenso wie Zorn, Hybris und Wahn läßt auch das Handlungmotiv Bosheit deutliche Rückschlüsse auf den Charakter einer Person zu. Von Bosheit spreche ich dort, wo explizit behauptet wird, daß jemand einem anderen Schaden zufügen, ihn ärgern, erniedrigen oder in Schwierigkeiten bringen will.48 Im einzelnen spielen dabei Geringschätzung, Mißgunst und Schadenfreude eine Rolle. Es ist wenig überraschend, daß dieses Motiv den betroffenen Personen stets von anderen zugeschrieben wird. So sind es die Athener, die den Aigineten unterstellen, sie hätten sich Dareios nur deshalb unterworfen, weil sie dadurch die Gelegenheit 42 43 44

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Das macht beispielsweise Waters 1971 verschiedentlich deutlich, etwa 79–85 in bezug auf Xerxes. Siehe ferner Tamiolaki 2006, 23–27. I 8,1; 32,1; 84,3; 189,1; 204,2; II 111,1f.; IV 164,4; V 81,2; VI 137,3; VII 38,1; 210,1; IX 3. Im LfgrE ist ὕβρις erklärt als eine Handlung und/oder Haltung von Menschen, die zugleich als Handlungsimpuls wirksam wird (V. Langholf, s. v. ὕβρις, in: LfgrE, vol. 4, col. 686–688, hier col. 686). Um eine Erklärung für das Phänomen des Wahnsinns bei Herodot bemüht sich zuletzt Wesselmann 2011, 79–159. Sie sieht den Wahnsinn in den Historien eindeutig religiös konnotiert, das heißt als göttliche Strafe für Frevel – eine Ansicht, die, wie Wesselmann in der Diskussion 89–92 selbst einräumen muß, aber durchaus anfechtbar ist. Die ausgesprochen vielfältige Terminologie bei Herodot ist ibid. in n. 86 auf p. 185 zusammengestellt: Er verwendet diverse Vokabeln vollkommen synonym zu µανία. Ausdrücklich als Wahnsinnstaten bezeichnet werden sein Äthiopienfeldzug (III 25,2), der Apisfrevel (29,1), die Ermordung seines Bruders und die seiner Schwester (30,2–33), die des Prexaspessohns (34–35,4) und die der zwölf vornehmsten Perser (35,5), sein Versuch, Kroisos zu töten (36,3–37,1) und schließlich die Grabschändung und der Frevel an den Götterbildern in Ägypten (37f.). Zur Geisteskrankheit des Kambyses siehe auch oben, p. 39. VI 75,1 und 75,3. II 121δ,6; III 120,1.2; 145f.; V 98,1; VI 49,2; 108,2.3; VII 239,2.

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1. Typologie

erhalten, gemeinsam mit den Persern gegen sie, die Athener, zu Felde zu ziehen (VI 49,2). Läßt sich bei unerfreulichen Zwischenfällen bisweilen nicht entscheiden, ob es sich um Absicht (προνοίη) oder Zufall (συντυχίη) handelt (III 121,2), so hält Herodot in anderen Zweifelsfällen niedere Motive für wahrscheinlich. Er bezweifelt, daß Demaratos mit seiner geheimen Nachricht an die Spartaner eine gute Absicht verfolgt haben könnte (VII 239,2). Die Behauptung der Spartaner, sie hätten die Plataier, die sich ihnen unterwerfen wollten, in bester Absicht an Athen weiterverwiesen, weist Herodot als falsch zurück; in Wirklichkeit hätten sie nur die Athener in Schwierigkeiten bringen wollen (VI 108,3). Auch das Handlungsmotiv Neid (φθόνος) beleuchtet den Charakter des Handelnden.49 Neid richtet sich in den Historien weniger auf Besitztümer50 als auf Erfolge und Errungenschaften51 anderer. Das Motiv taucht auffallend häufig in der Zeitgeschichte auf, mehrfach allein im Zusammenhang mit den Ehrungen der Strategen und Kämpfer von Thermopylai und Salamis. Aus Neid zu handeln, ist demnach in den Historien ein eher griechischer Zug – der gleichermaßen Göttern und Heroen52 zugeschrieben wird wie Menschen. Eine dieser Zuschreibungen wird Themistokles in den Mund gelegt. Nach der Schlacht von Salamis will er die Athener davon abhalten, der persischen Flotte zu folgen. Er erklärt, nicht sie, die Hellenen, seien die eigentlichen Sieger der Schlacht, sondern die Götter und Heroen. Diese hätten die Perser unterliegen lassen, da ihnen die Herrschaft über Asien und Europa zu viel erschienen sei für einen einzelnen Mann (οἳ ἐφθόνησαν ἄνδρα ἕνα τῆς τε Ἀσίης καὶ τῆς Εὐρώπης βασιλεῦσαι), zumal der gottlose Xerxes Leichen, Heiligtümer und Götterbilder geschändet und sich am Hellespont vergangen hatte (VIII 109,2–4). Der Neid der Götter, so ließe sich Themistokles’ Darstellung zusammenfassen, richtet sich also nicht unverdient auf Xerxes. Im Licht der folgenden Ereignisse ist diese Behauptung freilich pikant: Analog zu den Göttern, die aus Neid den Sturz des Xerxes beschließen, verweigern später die griechischen Feldherren aus Neid Themistokles den Siegespreis, und Timodemos überhäuft ihn, ebenfalls aus Neid, mit Beleidigungen (VIII 124,1; 125,1). Herodots Pointe liegt also darin, daß die gehässigen Neider jeweils den richtigen treffen, und so ist es sicher kein Zufall, daß der Erzähler die kleine Rede des Feldherrn mit den Worten kommentiert, dies habe Themistokles nur deshalb gesagt, um sich bei den Persern in Gunst zu setzen (VIII 109,5).53 Wenn Neid stets solche Handlungen motiviert, die anderen schaden sollen, so ließe sich annehmen, bei Bewunderung sei das Gegenteil der Fall. Doch für denjenigen, dessen Schönheit, Größe, Tapferkeit oder Klugheit bewundert wird, sind die Folgen ungewiß. Mag sein, daß ihm der Bewunderer das Leben rettet, ihm die Hand 49

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Neid ist Harrison zufolge einer der Hauptgründe für das Handeln der herodoteischen Protagonisten (Harrison 2003, siehe vor allem 150–156). Zu Neid als Motiv menschlichen Handelns siehe auch Arist. Rh. II 10 (1387b 22–1388a 30). VI 137. III 30,1; IV 205; VI 61,1; VIII 109,3; 124,1; 125,1; IX 71. IV 205; VIII 109,3. Zur Charakterisierung des Themistokles durch Handlungsmotive siehe unten, p. 135.

1.1. Emotional und charakterlich begründete Handlungsmotive

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der eigenen Tochter anbietet oder ihm posthum einen Heroenkult einrichtet54 – mag aber auch sein, daß mit dem Schlimmsten zu rechnen ist. So werden die Paioner gegen ihren erbitterten Widerstand samt ihren Angehörigen nach Asien umgesiedelt, weil Dareios beeindruckt ist von der vermeintlichen Schönheit und Geschicklichkeit ihrer Frauen, die angeblich gleichzeitig Wasser tragen, ein Pferd führen und Flachs spinnen können (V 12–15). Als gänzlich unberechenbar erweisen sich die Perser in Xerxes’ Flotte. Sobald sie bei Skiathos das erste griechische Schiff erobern, schleppen sie den schönsten Mann der Besatzung auf das Vorderdeck und schlachten ihn, weil sie es für ein gutes Vorzeichen halten, den ersten und schönsten Hellenen gefangen zu haben.55 Auch auf dem zweiten Schiff, das sie erobern, erregt ein Grieche die Bewunderung der Perser: Pythes kämpft mit äußerster Tapferkeit, selbst dann noch, als das Schiff schon in der Hand der Feinde ist. Im denkbar größten Gegensatz zu dem unmittelbar zuvor durchgeführten Menschenopfer wird nun dieser Mann ob seiner herausstechenden Tapferkeit von ihnen sorgsam gesundgepflegt, aufs beste versorgt und voller Bewunderung dem ganzen Heer gezeigt.56 Handlungen, die aus Freude57 ausgeführt werden, sind dagegen erwartungsgemäß grundsätzlich friedlich. Kroisos, Dareios und Xerxes handeln in ihrer Freude großherzig: Kroisos schenkt jedem Delpher zwei Goldstatere (I 54,1), Dareios stellt eine Inschrift auf, in der er den Fluß Tearos lobt (IV 91), und Xerxes schenkt dem Pythios 7 000 Dareiosstatere und macht ihn zu seinem Gastfreund (VII 28,3). Als die Perser in Susa von der Eroberung Athens hören, bestreuen sie aus Freude die Straßen mit Myrten, verbrennen Weihrauch und feiern ausgelassen (VIII 99,1), und auch die Ägypter ziehen Festgewänder an und feiern, weil sie sich über das Erscheinen des Apisstiers freuen (III 27,1). In der letztgenannten Episode wird allerdings deutlich, daß es mitunter auch wichtig sein kann, worüber sich jemand freut, denn Kambyses argwöhnt, ganz Ägypten würde seinen mißglückten Feldzug feiern (27,2). Er bemerkt zwar zutreffend, daß es sich um ein Freudenfest handelt, bezieht es aber in völliger Verkennung dessen, was die Leute bewegt, typischerweise auf sich selbst.

I 122,1; II 121ζ,2; V 47,2. Zu nennen ist ferner auch IX 25,1, wo die Hellenen die Leiche des Masistios durch ihre Heeresreihen fahren, damit alle ihre erstaunliche Größe und Schönheit bewundern können. 55 VII 180. Sie bringen den Gefangenen also als Erstlingsopfer ihren Göttern dar (Herodot bezeichnet ihn auch im nächsten Satz als σφαγιασθείς, als den Geopferten). – Alternativ läßt sich die Tat auf den Namen des Mannes, Leon, statt auf seine Schönheit zurückführen, wie der Erzähler ergänzt (ibid.). 56 VII 181, cf. auch den Rückverweis in VIII 92,1. 57 Cf. auch Theopomp von Chios, in dessen Geschichtsschreibung Freude (ἡδονή) ein wichtiges Handlungsmotiv ist (Flower 1994, 181). 54

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1. Typologie

Neugier und Forscherdrang58 gehören zu den Beweggründen, die den Charakter einer Person kennzeichnen. So verwundert es nicht, daß ausgerechnet der weise Solon zehn Jahre lang herumreist, um die Welt zu sehen (I 29f.). Sein wißbegieriger Gesprächspartner Kroisos wird seinerseits nach Delphi schicken lassen, um zu ergründen, warum Apollon ihn ins Verderben gestürzt hat (I 90). Aber auch die Pharaonen Psammetichos und Rhampsinitos und der Skythenkönig Ariantes zeigen Neugier und Freude am Experiment; der erste will herausfinden, welche Sprache und welches Volk am ältesten sind (II 2), der zweite möchte den Meisterdieb ausfindig machen, über dessen Klugheit und Verwegenheit er ins Staunen gerät (II 121ε,1.ζ,1), und der dritte will in Erfahrung bringen, wie viele Skythen es gibt (IV 81,5). Mit Abenteuerlust verbundene Neugier ist in den Historien gerade jungen Leuten eigen. So durchstreifen fünf Söhne vornehmer Nasamoner die libysche Wüste, weil sie mehr sehen und in die entferntesten Gebiete vordringen wollen (II 32,2), und die Söhne des Bisalterkönigs schließen sich, dem Verbot des Vaters trotzend, dem Xerxeszug an, weil sie das Verlangen haben, den Krieg zu sehen (VIII 116). Kein Geringerer als Leonidas, der Held von Thermopylai, ist schließlich der einzige Grieche neben Solon, der von Neugier bewegt wird. Er nimmt von allen Hellenen ausgerechnet die Thebaner mit nach Thermopylai, die verdächtigt werden zu medisieren59 . Leonidas habe damit herausfinden wollen, ob die Thebaner wirklich Truppen stellen oder es offen verweigern würden, lautet Herodots so überraschende wie umstrittene60 Erklärung dieser riskanten Entscheidung (VII 205,3). Eng verwandt mit Neugier, aber nicht so eindeutig positiv konnotiert, ist der Beweggrund Mißtrauen. Zwei der insgesamt vier Belege beziehen sich interessanterweise auf Orakel als Institutionen bzw. auf die korrekte Überlieferung eines Orakelspruchs, die in Zweifel gezogen werden: Kroisos stellt mehrere Orakel auf die Probe, um herauszufinden, ob sie glaubwürdig sind (I 46,3), und Aristodikos mißtraut der Richtigkeit eines Orakelspruchs, demzufolge die Stadt Kyme den schutzsuchenden Paktyas an seine Feinde ausliefern soll (I 158,2) – zu Recht, wie sich herausstellen 58

Siehe dazu neben den im folgenden genannten Belegen auch III 14,1, wo ein solches Motiv auch für Kambyses zumindest angedeutet wird. Dort heißt es, als Kambyses vor den Augen des Psammenitos dessen Tochter Sklavendienste verrichten und dessen Sohn zum Tod führen läßt, er habe damit die Standhaftigkeit des Königs auf die Probe stellen wollen. Im Kontext der folgenden Wahnsinnstaten aber muß sich der Leser fragen, ob hier nicht bereits seine Geisteskrankheit hinter der unnötigen Grausamkeit steckt. – Siehe neben den im folgenden aufgeführten Akteuren außerdem auch Kyros in I 86,2 und die persischen Reiter in IX 18, deren Neugier jeweils eins von mehreren denkbaren Motiven ist. Die figures de l’enquête bei Herodot und ihre Beweggründe untersucht Demont 2002. 59 Medisieren bezeichnet den Vorwurf der Griechen untereinander, mit den Persern (Μῆδοι) gemeinsame Sache zu machen oder persisch gesinnt zu sein. Cf. LSJ, col. 1125, s. v. µηδίζω: „side with the Medes“. 60 Schon Plutarch kritisiert Herodots negative Darstellung der Thebaner bei der Verteidigung von Thermopylai (De Herodoti malignitate 864e–866a). Auch die moderne Forschung ist der Ansicht, daß zumindest die 400 thebanischen Krieger in Thermopylai loyal gewesen sein müssen (Baragwanath 2008, 64–68 und 225–227 mit weiteren Literaturhinweisen). Der Gesinnungstest des Leonidas erweist sich jedenfalls als völlig sinnlos, da die Thebaner, wie Herodot selbst im nächsten Satz erklärt, zwar tatsächlich Truppen stellen, dabei aber in Wirklichkeit ganz andere Gedanken hegen.

1.1. Emotional und charakterlich begründete Handlungsmotive

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wird. Im Gegensatz dazu ist der Verdacht des von Dareios nach Griechenland gesandten Arztes Demokedes, der König wolle ihn nur auf die Probe stellen, einem Erzählerkommentar zufolge unbegründet (III 135,3); Demokedes läßt also ganz sinnlos seine gesamte Habe in Persien zurück. Kambyses, der, wie bereits mehrfach konstatiert wurde, in der Darstellung der Historien ohndedies zu übersteigerten Reaktionen neigt, läßt sich durch sein ungerechtfertigtes Mißtrauen dazu hinreißen, Priester auspeitschen und Feiernde hinrichten zu lassen und den heiligen Apisstier tödlich zu verwunden (III 27). Mit den Begriffen Liebe und Begehren unterscheide ich zwei Aspekte: die zärtliche Zuneigung von Ehegatten und das ungezügelte sexuelle Begehren (ἔρως). Beide Handlungsmotive, Liebe und Begehren, sind in den Historien nur für Männer belegt. Zugleich sind sie für Hellenen untypisch. Ariston, der Vater des nachmaligen spartanischen Königs Demaratos, und Anaxandrides, der Vater des späteren Königs Kleomenes, sind die einzigen Griechen, denen zugeschrieben wird, aus Liebe oder Leidenschaft zu handeln, wie es sonst nur Lyder, Ägypter und Perser tun.61 Die Unterscheidung von Liebe und Begehren entspricht den zwei möglichen Konstellationen bei Herodot: Entweder handelt es sich um die eigene Ehefrau, der ein Mann in zärtlicher Anhänglichkeit verbunden ist,62 oder um eine andere, eigentlich unerreichbare Frau (die Gattin eines anderen, die eigene Tochter oder Schwester), zu der er in heftiger Leidenschaft entbrennt und die er sich schließlich auch gegen alle Widerstände zu verschaffen weiß.63 Mitleid (οἶκτος) wird dem Leser der Historien in der Regel gut nachvollziehbar dargestellt. Wer hätte kein Mitleid mit einer Frau, die um ihre Angehörigen weint oder um Schutz fleht, mit einem unschuldig lachenden Kind, das ermordet werden soll, oder mit dem eigenen Sohn, wenn dieser seit vier Tagen ungewaschen und hungrig durch die Stadt irrt?64 Mitleid soll bei Herodot eine ganz bestimmte Art von Handlungen erklären, wenn nämlich der Akteur auf eine Strafe verzichtet oder sie abmildert oder sonst ein grausames Vorhaben aufgibt.65 61 62

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VI 61f. (Ariston); V 39f. (Anaxandrides); I 8–10; II 131,1; III 31,2; VII 69,2; IX 108; 111,3.4. Liebe: V 39f.; VII 69,2 und IX 111,3.4, wo Masistes Xerxes erklärt, daß er sich von seiner Frau, der Mutter ihrer gemeinsamen Kinder, nicht trennen kann und sie nicht einmal gegen eine Tochter des Königs tauschen wird. Das Motiv hat hier Berührungspunkte zum unten, p. 54, besprochenen Motiv der Fürsorglichkeit. Begehren: II 131,1; III 31,2; VI 61f.; IX 108. In diese Reihe gehört auch Kandaules, der – ungewöhnlich genug in den Historien – für seine eigene Gattin entbrannt ist; da er seinen Diener Gyges von ihrer Schönheit überzeugen will und ihn zwingt, ihr heimlich beim Auskleiden zuzusehen (I 8–10), führt ἔρως auch hier zum Verstoß gegen geltende Normen. Pelling 1997 [ohne Seitenzählung] zieht die Geschichte als Beispiel für die Instabilität stereotyper Kategorien bei Herodot heran: „[W]hat more off-key way could there be to introduce an Oriental pattern of transgressive eros than to introduce that most disturbing sexual aberration of all, a man who falls in love with his own wife?“ Wie Flower & Marincola im Kommentar zu IX 108,1 bemerken, kommt ἐρῶ in den Historien überhaupt nur fünfmal vor und verweist, wo sein Objekt eine Person ist, auf eine verbotene Passion (p. 293). III 119,3; IV 165,2 und 167,1; V 92γ,3; III 52,3. Die anderen Szenen sind ähnlich überzeugend: I 45,2; III 14,11. Hier wird deutlich, daß οἶκτος bei Herodot anders benutzt wird als noch bei Homer, wo das Mitleid Passivität hervorruft und nach außen hin gerade nicht sichtbar wird, „weder in verbaler

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1. Typologie

Nur Xerxes fällt hier aus dem Rahmen. Angesichts seines Heeres, das das ganze Land von Abydos bevölkert, und seiner Flotte, die den gesamten Hellespont bedeckt, preist er sich glücklich, um im nächsten Augenblick in Tränen66 auszubrechen – aus Mitleid mit all diesen Menschen, von denen nach hundert Jahren keiner mehr leben wird, wie er Artabanos später erklärt (VII 46,2). Eine andere Handlung als das Weinen wird durch die verquere Überlegung des Königs freilich nicht ausgelöst. Die plötzliche Mitleidsanwandlung zeigt hier einmal mehr, wie Xerxes hin- und hergerissen ist, bevor er dann endgültig den spannungssteigernd hinausgezögerten Schritt wagt und den Hellespont überquert. Gram (ἄλγος, ἄχος) ist in den Historien als Handlungsmotiv nur vereinzelt greifbar.67 Dort, wo der herodoteische Erzähler auf Schmerz und Trauer rekurriert, ist das Motiv menschlich nachvollziehbar. So läßt der ägyptische König Mykerinos seine einzige Tochter aufwendig in einer goldenen Kuh bestatten, weil er in tiefer Trauer um sein Kind das Bedürfnis hat, es würdig beizusetzen (II 129,3). Als Lykophron, der Sohn des korinthischen Tyrannen Periander, erfährt, daß sein Vater seine Mutter getötet hat, weigert er sich aus Gram fortan, auch nur ein einziges Wort mit ihm zu sprechen (III 50,3). Der von mir als Überdruß bezeichnete Beweggrund deckt das Wortfeld von Nichtgefallen, Nichtgenügen, Ungeduld und Verdruß ab. Dabei läßt sich die Beobachtung machen, daß Überdruß in den Historien vor allem kollektive Entschlüsse großer Gruppen von Menschen erklären soll, weniger die Taten einzelner.68 So haben die Bewohner von Marea und Apis, die sich selbst als Libyer betrachten, genug davon, die religiösen Pflichten der Ägpyter zu erfüllen, und bitten das Ammon-Orakel um Erlaubnis, in Zukunft auch Kühe verzehren zu dürfen (II 18). Die ägyptischen Soldaten, die an der Grenze in Elephantine drei Jahre lang vergeblich darauf gewartet haben, abgelöst zu werden, wandern kurzerhand nach Äthiopien aus (II 30). Den Spartanern, die in Ruhe und Wohlstand leben, genügt das friedliche Dasein nicht, und daher beginnen sie einen Krieg gegen Tegea (I 66). Die Athener werden ihrerseits ungeduldig, als sie die Stadt Sestos schon über Monate erfolglos belagert haben, und bitten ihre Feldherren, nach Hause zurückzukehren (IX 117). Die Ionier schließlich sind nach sieben Tagen militärischer Manöver so erschöpft, daß sie die Schiffsübungen aufgeben und, wie Herodot sie selbst sagen läßt, lieber persische Sklaven werden wollen, als weiter zu trainieren (VI 12,2.3). Dort, wo jemand einräumt und bedauert, unrecht gehandelt zu haben, spreche ich von Reue. Reue motiviert bei Herodot solche Handlungen, die ein nicht mehr zu

Form [. . . ] noch durch Taten“ (S. R. van der Mije, s. v. οἶκτος, in: LfgrE, vol. 3, col. 576). Mit Mitleid als Beweggrund menschlicher Handlungen hingegen befaßt sich Arist. Rh. II 8 (1385b 11–1386b 7). 66 Zur Bedeutung von Tränen in der griechischen Kultur siehe Cairns 2009. Bezüglich der Historiographie siehe Lateiner 2009, der in der Geschichtsschreibung drei Kategorien von Tränen ausmacht: „tears of despair, tears of supplication and tears of joy“ (109). 67 II 121γ,2 (als Motiv des Märchens vom Typ AaTh 950, siehe Hansen 2002, 357–370, speziell zum „Weeping Test“ siehe 359 und 365); 129,3; 131,2; III 50,3. 68 Die einzige Ausnahme ist Menelaos in II 119,2.3.

1.2. Gesellschaftlich begründete Handlungsmotive

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änderndes Geschehnis zumindest symbolisch wiedergutmachen sollen.69 Während dieser Beweggrund teilweise den betreffenden Personen selbst in den Mund gelegt wird,70 ist sich der Erzähler in bezug auf Xerxes zweimal unsicher, ob dieser wirklich aus Reue handelt oder nicht. Als Xerxes Goldgefäße und ein persisches Schwert in den Hellespont wirft, bleibt daher offen, ob er die Gaben der soeben aufgegangenen Sonne weiht oder sie dem Meer schenken will, weil er dessen Züchtigung bereut.71 Ebenso unklar ist aus Sicht des Erzählers, was Xerxes dazu bewegt, den athenischen Flüchtlingen in seinem Heer zu befehlen, auf der Akropolis ihren Bräuchen gemäß zu opfern: „Entweder hatte ihn ein Traumbild dazu bewogen oder er hatte Skrupel bekommen, weil er das Heiligtum verbrannt hatte.“72 Ein weiteres Handlungsmotiv schließlich, das in den Bereich emotionaler und charakterlicher Beweggründe gehört, ist Scham (αἰσχύνη)73 . Männer schämen sich, an einer Schlacht nicht teilgenommen oder sie als einziger überlebt zu haben, Frauen schämen sich einer Krankheit oder der eigenen Nacktheit, und viele Ionier schämen sich, einem so unbedeutenden Stamm anzugehören.74 Während Stolz als Gegenstück zu Scham ein demonstratives Zurschaustellen bewirkt,75 führt Scham in den Historien stets zu dem Impuls, die beschämende Tatsache verbergen oder leugnen zu wollen. Ähnlich wie bei Angst, Freude, Überdruß oder Reue dürfte auch eine solche Erklärung von Handlungen jedem Leser der Historien menschlich nachvollziehbar erschienen sein.

1.2. GESELLSCHAFTLICH BEGRÜNDETE HANDLUNGSMOTIVE Ging es bisher um Beweggründe, die auf Gefühle und die Persönlichkeit der Handelnden zurückgehen, sollen nun solche Motive in den Blick genommen werden, die sich im weitesten Sinn aus dem menschlichen Miteinander ergeben. Dabei lassen sich in den Historien zwei Bereiche unterscheiden: der eine umfaßt die gesellschaft69

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I 121; 130,2; V 90,1; VII 54,3; VIII 54. Daß ein solches Vorhaben nur bedingt gelingen kann, zeigt der sinnlose Selbstmord des Adrastos auf dem Grab des Atys, den er bei einem Jagdunfall getötet hatte (I 45). I 45,1; 121. ταῦτα οὐκ ἔχω ἀτρεκέως διακρῖναι οὔτε εἰ τῷ ἡλίῳ ἀνατιθεὶς κατῆκε ἐς τὸ πέλαγος οὔτε εἰ µετεµέλησέ οἱ τὸν ῾Ελλήσποντον µαστιγώσαντι καὶ ἀντὶ τούτων τὴν θάλασσαν ἐδωρέετο (VII 54,3). εἴτε δὴ ὦν ὄψιν τινὰ ἰδὼν ἐνυπνίου ἐνετέλλετο ταῦτα, εἴτε καὶ ἐνθύµιόν οἱ ἐγένετο ἐµπρήσαντι τὸ ἱρόν (VIII 54). Das Wort ἐνθύµιον kommt bei Herodot nur an dieser Stelle vor. Bei Aristoteles ist Scham als Furcht vor Schande definiert: EN VI 15 (1128b 11f.). Zu Auslösern und Folgen von Scham als Beweggrund siehe auch Arist. Rh. II 6 (1383b 11–1385a 15). IX 85,3 (die Städte, die nicht in Plataiai gekämpft haben); I 82,8 (der Überlebende der Schlacht von Thyrea; cf. auch die ehrlos gewordenen Überlebenden von Schlachten in VIII 232 und IX 71); III 133,1 (Atossa); I 10,2.3 (die Frau des Kandaules); I 143,2.3 (Athen und die anderen Ionier, die nicht zu den 12 Städten gehören). Die einzigen Belegstellen sind I 143,3, wo der Stolz der 12 Städte auf ihren Namen der Scham der anderen Ionier gegenübergestellt wird, und VII 24, wo Xerxes aus Stolz einen militärisch unnötigen Kanal durch die Athoshalbinsel graben läßt (zum Xerxeskanal siehe unten, p. 136– 138).

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1. Typologie

liche Stellung und das Prestige, der andere solche Motive, die auf Verpflichtung oder Gegenseitigkeit beruhen. In den Bereich von gesellschaftlicher Stellung und Prestige fallen Bemühungen, die darauf abzielen, die eigene Ehre zu behaupten, wiederherzustellen oder zu vergrößern, sich mit anderen zu messen oder das eigene Andenken zu erhalten.76 Von diesen ist das Motiv, die eigene Ehre zu verteidigen, mit großem Abstand am häufigsten vertreten.77 Ich bewege mich damit im Wortfeld von τιµή. Meist wird es negativ abgesteckt mit Ausdrücken wie ἀνάξια, λύµη, ὕβρισµα oder προπηλακισµός – Bezeichnungen also für Angriffe auf die Ehre, gegen die es sich zu wehren gilt.78 Die Akteure sehen ihre Ehre beispielsweise dann in Gefahr, wenn sie beschimpft und verspottet79 oder wenn sie körperlich versehrt werden,80 wenn sie sich dem Kommando eines anderen unterstellen sollen, dem sie sich überlegen fühlen,81 oder wenn jemand ihre Tochter, Mutter oder Schwester geringschätzig behandelt.82 Es gilt als ehrlos, einem zahlenmäßig unbedeutenden Gegner im Kampf zu unterliegen, aus der Schlacht zu fliehen, sie gar als einziger zu überleben oder sich Belagerern zu ergeben.83 Dabei ist den Handelnden jede Tat recht, um ihre Ehre zu wahren: Herodot weiß unter anderem von Aufständen, von grausigen Morden oder von Lügen und Verrat zu berichten.84 Die Übergänge zwischen Ehrenwahrung und Rache sind in diesem Zusammenhang oft fließend.85 Andere Akteure dagegen wachsen über sich hinaus

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Scham und Stolz wurden als emotional begründete Motive aufgeführt, da es den Handelnden dort nicht vorrangig darum geht, das Ansehen zu steigern, das sie bei anderen genießen. I 37; 61,2; 73,5; 114,4; 115,1; 120,5.6; 207,5; II 141,1.2; 162,6; III 1,2.3; 2; 48; 120; 137,5; 154,1; 155,2; V 19f.; 42; 74,1; VI 15; 67; 73; 87; VII 5; 24; 107; 150; 163,1; 220,4; 232; VIII 15,1; 16; 105; IX 17,4.5; 71; 107,1.2. Zum Erwerb und Verlust von τιµή siehe auch Aristoteles, etwa Rh. I 5 (1361a 28–b2) und EN I 3 (1095b 23–25). Im frühgriechischen Epos wird τιµή dagegen meist noch konkret im Sinn einer materiellen Gabe verstanden, die zum Beispiel als Ehrengabe, Beuteanteil oder Entschädigung das Prestige und die soziale Stellung des Betreffenden erhält und verbessert (H. W. Nordheider, s. v. τιµή, in: LfgrE, vol. 4, col. 518–528). I 73,5; III 120; 155,2; V 74,1; VI 67; IX 107,1.2. I 114,4 (Auspeitschung); II 162,6 (Verstümmelung); VIII 105,1 (Verschneidung). V 42,2; VII 163,1. In I 207,5 wird es als unwürdig bezeichnet, sich vor einer Frau bzw. dem von einer solchen angeführten Heer zurückzuziehen. I 61,2; III 1,2.3; V 19,1. Zu vergleichen ist auch die Mißhandlung des angesehensten Mannes einer Gruppe: II 162,6. VIII 15,1 (unbedeutender Gegner); VI 15; VIII 16 (Flucht); VII 232; IX 71 (Überlebende bei einer vernichtenden Niederlage; cf. auch I 82,8, wo das Handlungsmotiv nicht die Wiederherstellung von Ehre, sondern Scham ist); VII 107 (Ergebung). Aufstände: I 61,2; II 141,1.2; 162,6. Morde: I 73,5; III 120–125; V 19f. Lügen und Verrat: III 1,2.3; VI 67; VII 163. Zum grundsätzlichen Stellenwert der Ehre für Rachehandlungen bei den Griechen siehe Gehrke 1987, 134–136.

1.2. Gesellschaftlich begründete Handlungsmotive

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und ziehen tapfer in den Kampf oder auf die Jagd, um nicht als Feiglinge angesehen zu werden.86 Als paradigmatisch kann die heroische Tat des Statthalters Boges gelten (VII 107): Die Athener, die unter Kimon, dem Sohn des Miltiades, die Festung Eion belagern, bieten ihm zu günstigen Bedingungen den freien Abzug nach Asien an, doch da Boges vor Xerxes nicht als Feigling dastehen will (µὴ δειλίῃ δόξειε περιεῖναι βασιλέϊ), hält er der Belagerung bis zum äußersten stand. Als alle Lebensmittel aufgebraucht sind, errichtet er einen großen Scheiterhaufen, schlachtet seine Kinder, Frauen und Diener und wirft ihre Leichen ins Feuer. Er schüttet alles Gold, das sich in der Festung befindet, über die Mauern in den Strymon und springt schließlich selbst in die Flammen. „Darum ist es nur gerecht“, so endet die Geschichte, „daß man ihn bei den Persern bis zum heutigen Tag preist.“87 Selten lobt der Erzähler eine Tat so ausdrücklich wie diese.88 Man wird daher davon ausgehen können, daß der Autor in bezug auf diese Einschätzung mit der Zustimmung seiner Leserschaft rechnen konnte. Auch weniger spektakuläre militärische Entscheidungen werden mit der Verteidigung von Ehre begründet. Kyros beispielsweise überschreitet gegen den Willen seiner Berater den Fluß Araxes, die Korinther schließen sich dem Feldzug der Spartaner gegen Samos an, und Kleomenes fällt mit seinem Heer in Eleusis und Attika ein, ehe er mit Leotychides auch noch gegen Aigina zieht – alles um der Ehre willen, die es zu wahren gilt.89 Ins Positive gewendet begegnet dieses Motiv auch dort, wo jemand sein gesellschaftliches Ansehen steigern will. Im Deutschen würde man eher von Ruhm als von Ehre sprechen, doch Herodot benutzt auch hier zum Teil das Wortfeld von τιµή.90 Gesteigertes Ansehen versprechen sich die Handelnden, wenn sie in einem Konflikt die richtige Partei unterstützen,91 große Feldzüge unternehmen und Heldentaten im Krieg vollbringen,92 ein nie dagewesenes Bauprojekt in die Tat umsetzen (VII 24), oder wenn sie in eine prestigereiche Familie einheiraten: Demokedes heiratet die Tochter des berühmten Ringkämpfers Milon, damit Dareios begreift, wie angesehen er in seiner Heimat ist (III 137,5); damit die Ägypter sich als Verwandte der Achämeniden ausgeben können, verbreiten sie die falsche Behauptung, Kyros habe die ägyptische Königstochter Nitetis geheiratet und mit ihr Kambyses gezeugt (III 2).

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Kampf: VIII 15,1; 16; IX 71. Auch andere militärische Aktionen werden mit der Verteidigung von Ehre begründet, ohne daß es dabei aber um Feigheit oder Tapferkeit ginge (I 206,3–208; III 48f.; V 74,1; VI 73). Jagd: I 37. οὕτω µὲν οὗτος δικαίως αἰνέεται ἔτι καὶ ἐς τόδε ὑπὸ Περσέων. Schon einleitend hatte er sich vorbehaltlos dem Lob des Xerxes angeschlossen: ἐπεὶ καὶ ἄξιος ἐπαίνου µεγάλου ἐγένετο Βόγης. I 206,3–208 (Kyros); III 48f. (die Korinther); V 74,1 und VI 73 (Kleomenes); weitere militärische und kriegerische Entscheidungen sind VI 15; 87; VIII 15,1; 16. I 120,5; III 154,1; VII 5; 150,2. In VII 220,4 ist von κλέος die Rede. In den übrigen Fällen, die im folgenden aufgeführt sind, werden andere Umschreibungen verwendet. I 120,5.6; VII 150. III 153–155; VII 5; 220; IX 17,4.5.

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1. Typologie

Wetteifer, das Motiv, sich mit anderen messen zu wollen, ist ebenfalls dem Bereich von gesellschaftlicher Stellung und Prestige zuzuordnen. Dabei sind in den wenigen Belegstellen die agonalen Betätigungsfelder sehr unterschiedlich. Asychis, der mit seiner Pyramide die Bauwerke aller früheren Könige übertreffen will, und Xerxes, der ein Pferderennen veranstaltet, um seine Pferde mit den berühmten thessalischen Pferden zu messen, bewegen sich in einem Rahmen, der Herodots zeitgenössischen Lesern vertraut gewesen sein dürfte; das Motiv des ägyptischen Meisterdiebs dagegen, der sein Leben aufs Spiel setzt, um die List des Rhampsinitos zu übertreffen, ist nicht der alltäglichen Erfahrungswelt entlehnt, sondern dem Märchen.93 In den meisten der aufgeführten Fälle geht es den Handelnden um ihr Ansehen bei den Zeitgenossen. In anderen Zusammenhängen richten sie ihre Bemühungen um Prestige gezielt auf die Nachwelt aus, der sie in gutem Andenken bleiben wollen.94 Es sind in den Historien vor allem östliche – meist ägyptische – Herrscher, die für ihr Andenken Sorge tragen. Die babylonische Königin Nitokris ist die erste, von der es ausdrücklich heißt, sie habe sich mit dem Bau eines Euphratkanals und eines künstlichen Sees Denkmäler setzen wollen. Die Pharaonen Moiris, Sesostris, Rhampsinitos und Asychis hinterlassen zu ihrer Erinnerung verschiedene Bauwerke – Tempelhallen, Pyramiden und Standbilder –, und auch die Tochter des Cheops läßt eine Pyramide errichten, um ein eigenes µνηµήιον zu haben.95 Als gemeinsame µνηµόσυνα hinterlassen die 12 ägyptischen Könige ein Labyrinth, das kostbarer und aufwendiger ist als alle Bauwerke der Hellenen zusammengenommen, und das sogar die Pyramiden übertrifft (II 148,1). Die Hetäre Rhodopis, die als Griechin in Ägypten lebt,96 will sich mit einem noch nie dagewesenen Weihgeschenk Nachruhm verschaffen und stiftet viele große eiserne Bratspieße nach Delphi (II 135,3.4). Aufzuführen ist auch der persische Statthalter in Ägypten, Aryandes. Nach dem Vorbild des Dareios, der mit seinen Goldstateren ein µνηµόσυνον hinterläßt, prägt er möglichst reine Silbermünzen (IV 166). Der Skythenkönig Ariantes läßt als Denkmal ein riesiges Gefäß aus Pfeilspitzen schmieden (IV 81,6). Und schließlich geht es nach Einschätzung des herodoteischen Erzählers auch Xerxes mit dem kühnen Bau des Athoskanals nicht zuletzt darum, sich ein Denkmal zu errichten.97 93

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II 136,3.4 (Asychis); VII 196 (Xerxes); II 121ε,3–5 (der Meisterdieb). – Der Typ des Märchens vom Schatzhaus des Rhampsinitos (AaTh 950), bei dem ein König und ein Dieb darum wetteifern, den anderen zu überlisten, ist weltweit verbreitet, siehe dazu schon Aly 1921, 67 und 255, und im einzelnen Hansen 2002, 357–371. Neben den im folgenden aufgeführten Belegstellen wären hier auch einige der bereits besprochenen erneut zu nennen. Einzubeziehen sind Leonidas, dessen heroische Entscheidung nur auf das Urteil der Nachwelt abzielen kann (VII 220), die beiden Überlebenden von Thermopylai, die durch ihren Tod ihre Ehre wiederherzustellen hoffen (VII 232; IX 71), und der eben genannte Asychis, dessen Pyramide ein Erinnerungsmal ist (II 136,3.4). I 185,1 und 186,1 (Nitokris); II 101,2; 110,1; 121α,1; 136,3.4 (Pharaonen); II 126,1 (Tochter des Cheops). Indirekt wird auch der Pyramidenbau des Cheops (124f.) als Erinnerungsmal charakterisiert, da es heißt, seine Tochter habe es ihm mit ihrem µνηµήιον gleichtun wollen. Die anderen von Herodot besprochenen ägyptischen Bauprojekte stehen alle in diesem Kontext, ohne daß jedesmal auf den Denkmalcharakter verwiesen würde. Obgleich sie selbst aus Thrakien stammt, orientiert sich Rhodopis an den Gepflogenheiten ihres ägyptischen Umfelds. VII 24. Siehe dazu im einzelnen unten, p. 136–138.

1.2. Gesellschaftlich begründete Handlungsmotive

51

Kümmerlich muten neben diesen glanzvollen Projekten die Grabhügel an, die einige griechische Städte als Erinnerungszeichen in Plataiai aufschütten – sie sind leer. Dem Erzähler zufolge schämen sich die betreffenden Städte, nicht an der großen Schlacht gegen die Perser teilgenommen zu haben, und wollen die Nachwelt darüber täuschen, indem sie vorgeben, ebenfalls Tote begraben zu haben (IX 85,3).98 Die Tatsache, daß Herodot uns davon berichtet, läßt die Vergeblichkeit des plumpen Betrugsversuchs augenfällig werden. Der einzige weitere Beleg, wo der Ausdruck µνηµόσυνον λιπέσθαι in einem griechischen Kontext vorkommt, reicht über diesen Rahmen hinaus. Während es bei den Gedenkzeichen in Babylon, Ägypten und Skythien um Grabmale, Standbilder, Bauwerke und andere materielle Hinterlassenschaften geht, benutzt Miltiades in seiner Rede in VI 109,3 dieselben Worte in bezug auf ein ideelles Erinnerungszeichen, also im übertragenen Sinn. Er stellt dem Feldherrn Kallimachos, der die entscheidende letzte Stimme hat, unsterblichen Nachruhm in Aussicht, den er sich erwerben könnte, wenn er dafür stimmt, den Persern eine Schlacht zu liefern. Damit verspricht Miltiades tatsächlich nicht zu viel, handelt es sich doch um die Schlacht von Marathon . . . Zu der Gruppe von Motiven, die auf gesellschaftlichen Verpflichtungen beruhen, gehören das Festhalten an Sitte und Tradition, ferner Verwandtschaft und Stammesverwandtschaft, Freundschaft und Gastfreundschaft, die Verpflichtung, einem Hilflosen Schutz zu gewähren oder ihm Fürsorge angedeihen zu lassen, die Gefälligkeit, einem Bittenden entgegenzukommen, das Prinzip von Gegenleistung und Dankbarkeit und sein Pendant, das Prinzip von Strafe und Rache, und schließlich der Schwur als eine Form von Selbstverpflichtung. Die Idee der Gegenseitigkeit, die Herodots Geschichtsschreibung entscheidend prägt,99 wird in diesen Handlungsmotiven besonders deutlich. Wenn Thomas Harrison die berechtigte Frage aufwirft: „[H]ow much of the Histories’ action is merely, and mechanically, reactive?“100 , so handelt es sich hier freilich nicht um reine Automatismen. Wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, bleibt den Handelnden gerade im Hinblick auf gesellschaftliche Erwartungen immer ein beträchtlicher Verhandlungsspielraum, da sie mehrere, einander oftmals sogar ausschließende Verpflichtungen namhaft machen können und abwägen, wie sie diese gewichten. Sitte und Tradition sind in den Historien ein Motiv von großer Verbindlichkeit. Wenn Herodot sich darauf berufen kann, daß eine Handlungsweise einem Brauch oder einer Tradition entspricht, genügt ihm das als Erklärung vollkommen – und ebenso genügt es den Akteuren.101 Selbst ein Xerxes akzeptiert, daß die Gesandten 98

Eine kritische Einschätzung dieser Darstellung bietet der Kommentar zur Stelle von Flower & Marincola, 256. 99 Grundlegend dazu: Gould 2001 sowie Scheid-Tissinier 2007: „La réciprocité sous toutes ses formes est omniprésente chez Hérodote qui en connaît toutes les figures et tous les effets“ (Scheid-Tissinier 2007, 75). 100 Harrison 2003, 145. 101 I 10,3; 145–146,1; VII 114,2; 136,1; IX 79; 110f. In VII 5–8; 11; 50,3; 53,1 beruft sich Xerxes auf die persische Tradition, um seinen Feldzug gegen Hellas zu begründen. Cf. außerdem unten, p. 62, die Belege für νόµος im Sinn von Gesetz – also ähnlich der Verwendung des Begriffs

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1. Typologie

Sperthias und Bulis ihm in Susa die Proskynese verweigern, als sie sich kühn auf die Sitten daheim in Sparta berufen.102 Sein Verhalten entspricht damit Herodots an anderer Stelle erhobener Forderung, fremden Gebräuchen sei Respekt zu bezeugen.103 Nur dreimal kommt es umgekehrt vor, daß ein Akteur ein konkurrierendes Motiv verfolgt und Herodot explizit darauf aufmerksam macht, daß sein Verhalten nicht den geltenden Sitten entspricht. Hier handelt es sich um Ausnahmen, die die Regel nur bestätigen; sind die Handelnden doch ausgerechnet Spartaner und Skythen, denen Herodot sonst besondere Sittenstrenge attestiert. So heiratet Anaxandrides eine zweite Frau und lebt mit ihr in einem zweiten Haus, obwohl das nie spartanischer Brauch war (V 40,2), und die Skythenkönige Anacharsis und Skyles übernehmen die hellenische Lebensweise, obwohl die konservative Haltung der Skythen es ihnen eigentlich grundsätzlich verbietet, sich fremde Bräuche anzueignen. Die Ermordung und anschließende Verleugnung von Anacharsis und Skyles durch ihre Landsleute wird denn auch darauf zurückgeführt, daß es eben dem skythischen Brauch widerspricht, fremde Sitten anzunehmen (IV 76,5; 78–80)104 – eine bestechende Logik, die dem Leser erneut vor Augen führt, daß Bräuche und Traditionen den Handelnden in manchen Fragen kaum Ermessensspielraum lassen. Ähnliches ist in bezug auf das Motiv der Verwandtschaft und Stammesverwandschaft festzustellen.105 Wenngleich der Leser der Historien durchaus nicht den Eindruck erhält, daß Verwandtschaftsverhältnisse generell ein Motiv für besonders achtsamen und liebevollen Umgang miteinander wären – Ermordung, Vergewaltigung und Mißhandlung engster Angehöriger sind keine Seltenheit –, so wird doch zumindest dort, wo Verwandtschaft ausdrücklich thematisiert und als Handlungsmotiv angegeben wird, diese Zuschreibung von allen involvierten Personen ernstgenommen. Gegen einen Verwandten zu kämpfen, ihn gar zu töten oder auch nur zu brüskieren, das erscheint – so häufig es auch geschieht – zumindest in der Theorie als unerhört.106 Wie widersprüchlich diese Haltung ist, machen beim genaueren Hinsehen schon einige Episoden für sich genommen klar. Harpagos etwa, der an dem ihm verwandten Kyrosknaben nicht zum Mörder werden will, befiehlt einem Hirten, den Säugling in der Wildnis auszusetzen. Die Frau des Intaphernes nimmt, um ihren Bruder zu retten, die Ermordung von Mann und Kindern in Kauf. Und Xerxes, der aus Rücksicht auf seinen Bruder keine Gewalt anwendet, um dessen Frau für sich zu gewinnen, überläßt ebendiese Schwägerin später bedenkenlos seiner Gattin,

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bei Aristoteles (dazu R. Geiger, s. v. nomos, in: Höffe, 377–381). Zu νόµος bei Herodot siehe Thomas 2000, 102–134. οὔτε γὰρ σφίσι ἐν νόµῳ εἶναι ἄνθρωπον προσκυνέειν οὔτε κατὰ ταῦτα ἥκειν (sie sagten, es sei nämlich nicht ihrem Brauch entsprechend, sich vor einem Menschen niederzuwerfen, und zu diesem Zweck seien sie auch nicht gekommen; VII 136,1). Cf. III 38, wo die Verhöhnung der ägyptischen Götter und Sitten durch Kambyses als Beweis seiner Geisteskrankheit herangezogen wird. Zu diesen beiden Geschichten siehe weiterführend die instruktiven Überlegungen von Wesselmann 2011, 136–142, mit der älteren Literatur. Verwandtschaft von einzelnen Personen: I 109,2.3; III 119,4–6; IX 108,1. Verwandtschaft von Stämmen und Städten: III 19,2; IV 145,3–5; VII 150; VIII 22 und 85; 144. So wundert sich auch der Erzähler selbst über die hartnäckige Feindschaft zwischen Korinthern und Kerkyraiern, die doch Stammesverwandte seien (III 49).

1.2. Gesellschaftlich begründete Handlungsmotive

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welche sie aus Eifersucht auf grausamste Weise verstümmelt.107 Das Dilemma zumindest der letztgenannten Akteure liegt also nicht darin, sich zwischen mehreren konkurrierenden Motiven, sondern zwischen verschiedenen Parteien innerhalb der Verwandtschaft entscheiden zu müssen: Wenn sie das Prinzip verwandtschaftlicher Solidarität berücksichtigen wollen, müssen sie es zugleich verletzen. Ein Automatismus im Sinne eines simplen Reaktionsschemas, wie ihn Harrisons provokante Frage nahelegt, kann angesichts der Komplexität der von Herodot geschilderten Wirklichkeit zumindest an dieser Stelle nicht funktionieren. Diesen ambivalenten Verhaltensweisen stehen freilich Beispiele einer klaren Haltung gegenüber. Die Phoiniker weigern sich schlicht, gegen ihre Kolonie Karthago, gegen die eigenen Kinder, wie sie sagen, in den Kampf zu ziehen, und auch Spartaner, Argeier und einige Ionier aus Kleinasien können sich dem Argument der Verwandtschaft nicht verschließen, das von geschickten Bittstellern an sie herangetragen wird.108 Beachtung verdient schließlich auch die Rede, in der die Athener den Gesandten aus Sparta erklären, warum sie das Friedensangebot der Perser, das der Makedonenkönig Alexander ihnen unterbreitet hat, abgelehnt haben (VIII 144): Neben der Verpflichtung, ihre Götter zu rächen, ist das zentrale Argument der Athener gegen den Friedensschluß ihre Verwandtschaft und die sprachliche, kultische und kulturelle Einheit mit den anderen Hellenen, mit denen sie sich solidarisch sehen.109 Als rhetorisches Argument taugt Verwandtschaft in den Historien also allemal, und bei politischen Beschlüssen kann die Blutsverbundenheit von Stämmen und Städten110 Herodot zufolge sogar ein entscheidender Aspekt sein. Im Gegensatz zur Ambivalenz des Verwandtschaftsmotivs sind Freundschaft und Gastfreundschaft in den Historien verläßliche Größen.111 Die Akteure unterstützen die, denen sie in Freundschaft verbunden sind, finanziell, militärisch und überhaupt in allen Notlagen,112 sie haben den Wunsch, sich mit ihnen zu verschwägern,113 trauern mit ihnen oder beweinen ihr Schicksal.114 Gastfreunde werden freundlich aufgenommen, unterstützt und beschenkt.115 107 I 109f. und 117,3 (Harpagos); III 119,4–6 (die Frau des Intaphernes); IX 108–112 (Xerxes). 108 III 19,2; IV 145,3–5; VII 150; VIII 85. 109 Sie erklären: αὖτις δὲ τὸ ῾Ελληνικόν, ἐὸν ὅµαιµόν τε καὶ ὁµόγλωσσον, καὶ θεῶν ἱδρύµατά τε κοινὰ καὶ θυσίαι ἤθεά τε ὁµότροπα. ([Uns hindern] außerdem das griechische Volk, das blutsverwandt ist und dieselbe Sprache spricht, die gemeinsamen Heiligtümer und Opfer und die übereinstimmende Lebensweise. VIII 144,2.) Siehe auch die Interpretation dieser Selbstzuschreibung bei Baragwanath 2008, 160–163. 110 Siehe dazu auch van Wees 2002, 326–328. 111 Freundschaft kann bei Herodot sowohl die Freundschaft zwischen einzelnen Personen wie auch zwischen ganzen Poleis meinen. Im letzteren Sinn wäre sie, ähnlich wie Feindschaft, auch ein politisches Motiv. Die Gastfreundschaft dagegen ist, soweit ich sehe, immer auf konkrete Personen und Familien bezogen. 112 I 163,3; II 152,5; V 30,3–31,3 (hier im Dienst eigener Interessen); V 33,3; VI 89. 113 II 181,1. 114 III 14,10; VI 21,1. In der Geschichte des Polykrates wird die Erwartbarkeit eines solchen Verhaltens aufgegriffen; der Pharao Amasis löst den Freundschaftsbund mit Polykrates, weil er sieht, daß es mit diesem Mann kein gutes Ende nehmen wird und er Angst hat, um Polykrates als einen Freund trauern zu müssen (III 43). 115 II 182; IX 76,2.3; 85,3.

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1. Typologie

Hier schließt sich das Motiv an, einem Schutzflehenden die nötige Hilfe zu gewähren. Wer sich unter den Schutz eines anderen stellt, wird in der Regel nicht versehrt, sondern bereitwillig und ehrenvoll aufgenommen und unterstützt, gegebenenfalls sogar unter erheblichem militärischen Aufwand.116 Herodot weiß freilich von Fällen zu berichten, in denen die Handelnden aus anderen Motiven – aus Zorn, aus Furcht oder um einer Rache willen – das Recht eines Schutzsuchenden verletzen,117 meist zum eigenen Schaden. Weitaus häufiger als mit den zuletzt aufgeführten Motiven haben wir es mit dem Gedanken der Fürsorge zu tun. Hierher gehören alle Belegstellen, wo die liebevolle Sorge um Angehörige oder Untergebene zum Beweggrund des Akteurs wird. Anders als bei dem Motiv, einen Schutzflehenden nicht abzuweisen, geht die Initiative hier von demjenigen aus, der die Fürsorge leistet. Da sorgen die Eltern für ihr Kind, die Kinder für den Vater, der eine Bruder für den anderen und der Freund für seine Freunde, der Bürger fühlt sich verantwortlich für seine Mitbürger und seine Heimat, der Herrscher sorgt sich um Soldaten und Untertanen, und diese sorgen sich um ihn, die Mutterstadt beschützt ihre Kolonie.118 Auch ein Gott kann sich als fürsorglich erweisen: Als Kroisos der Frevel (ἁµαρτάς) seines Vorfahren Gyges zum Verhängnis zu werden droht, versucht Apollon Loxias, das Unheil abzuwenden. Auch Apollon ist allerdings der Gesetzmäßigkeit der Ereignisse unterworfen; alles, was er bei den Moiren durchsetzten kann, ist eine Hinauszögerung der vorbestimmten Ereignisse um drei Jahre. Dies tut er Kroisos zuliebe (ἐχαρίσατό οἱ), wie er ihn später wissen läßt (I 91). Ebenfalls vergleichsweise häufig werden Handlungen darauf zurückgeführt, daß ein Akteur jemand anderem zuliebe dessen Bitte erfüllt.119 Dieses Handlungsmotiv wird im folgenden als Gefälligkeit bezeichnet. Eindringlichen Bitten, so hat es den Anschein, mag sich kaum jemand verschließen, ob nun ein Dareios oder Xerxes, ob Athener, Spartaner, Korinther, Chier oder Mantineer. Daß allerdings selbst der Wind Boreas aus diesem Motiv handelt, hält Herodot nicht für glaubwürdig: Die Behauptung der Athener, der Boreas habe die Perserflotte auf ihre Bitten hin zerstört, bezweifelt er ebenso wie einen Zusammenhang zwischen den Opfern der Magier und dem Ende des Sturms drei Tage später.120 Auffallend zahlreich sind unter den Handlungen, die als Gefälligkeit anderen gegenüber ausgegeben werden, militärische Entscheidungen. Mit der Begründung, einer anderen Stadt oder einer bestimmten Partei helfen zu wollen, werden militäri116 I 73,3; II 115,4.6; IV 159,4; 165,2; IX 76,2.3. 117 I 73,4; 158,1; cf. auch III 148. In III 137 setzt die andere Partei am Ende doch durch, daß der in Frage stehende Mann, Demokedes, nicht seinen Feinden ausgeliefert wird. 118 II 120,2; 121α,2; III 53,2; V 92δ,1 (Eltern); I 85; III 124 (Kinder); II 121β,2 (Bruder); I 163,3; III 40 (Freund); VI 3; VII 239,2; VIII 60β; IX 73 (Bürger); I 156,1; II 108; 120,2; III 25,7; VII 220f. (Herrscher); VII 17,2; VIII 99,2; 118 (Untertanen); V 97 (Mutterstadt). Weitere Belege dieses Motivs sind VI 37,1; IX 45. Männer, die ihrer Ehefrau liebevoll zugetan sind, werden oben, p. 45, bei Liebe als Beweggrund aufgeführt. 119 I 41f.; 115,1; III 47,1; 119,7; 136,2; 139–141; IV 43,2.3; 119,1; 145,3–5; 161,2; V 19,2; 44; 70–72; 74,1; 80f.; 99,1; VI 5,1; 23,3.4; 34–36; 89; 100,1; 106; VII 6,2; 150; 189,3; 191,2; VIII 85; IX 60f.; 85,3; 91f.; 109,3; 110f. 120 VII 189,3; 191,2.

1.2. Gesellschaftlich begründete Handlungsmotive

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sche Einheiten zur Unterstützung ausgesandt121 und Feldzüge unternommen122 . Wie im folgenden Kapitel zu sehen sein wird, begnügt Herodot sich freilich nicht damit, Kriegsentscheidungen simplifizierend auf ein einzelnes Motiv zurückzuführen. Die Waffenhilfe aus Gefälligkeit ist ein spezifisch hellenisches Phänomen; sie kommt fast ausschließlich im Kontext der griechischen Städtebeziehungen vor. Die einzigen Ausnahmen bilden III 139–141, wo Dareios aus Gefälligkeit einen Kriegszug gegen Samos beginnt, und VII 6,2, wo dieser Beweggrund als ein Motiv des Xerxeszugs aufgeführt wird. Die Initiative geht allerdings auch hier jeweils von Griechen aus, da es im einen Fall der Verbannte Syloson, im anderen die Familien der Aleuaden und Peisistratiden sind, die den Perserkönig um Hilfe bitten.123 Der Gefälligkeit steht das Motiv Dankbarkeit inhaltlich sehr nahe.124 Beide Beweggründe, Gefälligkeit und Dankbarkeit, verbinden sich, wenn ein Akteur von jemandem, dem er zu Dank verpflichtet ist, um einen Dienst gebeten wird.125 Dem Prinzip der als Dank aufgefaßten Gegenleistung folgen Griechen wie Barbaren und Männer wie Frauen, die allesamt genau registrieren, wer sich um sie verdient macht und wem sie folglich Dank schulden. In diesen Fragen haben die Handelnden ein gutes Gedächtnis, das über Generationen reicht; noch nach 200 Jahren revanchiert sich Eretria bei Milet für die Unterstützung im Krieg gegen Chalkis (V 99,1).126 Auch Dankbarkeit wird mehrfach als Motiv für militärische Unterstützung127 und Feldzüge128 benannt. Das Spektrum der mit Dankbarkeit begründeten Handlungen ist aber größer: Die persischen Könige129 machen großzügige Geschenke, verteilen Herrschaften, machen jemanden zu ihrem Gastfreund oder lassen zumindest seine sterblichen Überreste würdevoll begraben, die Delpher gewähren ihrem Wohltäter Kroisos Vortritt beim Orakel, Gebührenfreiheit, einen Ehrenplatz und ihr Bürgerrecht, und diejenigen, die einem Gott zu danken haben, bringen ihm Opfer dar – um nur einige Beispiele zu nennen.130 121 IV 119,1; V 99,1; VI 23,3.4; 89; 100,1; 106; IX 60f.; 91f. 122 III 47,1; 139–141; V 44; 80,2 und 81,1. Cf. auch den Einfall des Kleomenes in Eleusis und Attika (V 74,1). 123 In bezug auf Xerxes läßt der Erzähler zudem offen, ob es wirklich die Hilfsgesuche sind, die seinen Kriegsentschluß bestärken, oder nicht eher die verheißungsvollen Orakelsprüche, die ihm der Weissager Onomakritos im Auftrag der Peisistratiden auf Schritt und Tritt verkündigt (VII 6,3–5). Xerxes jedenfalls beruft sich in seinen Reden selbst nicht darauf, Hilfsgesuche aus Griechenland erhalten zu haben. Zur Kriegsentscheidung des Xerxes siehe die unten, p. 139–143, angestellten Überlegungen. 124 I 42,2; 54,2; 69–70,1; 210,2.3; III 47,1; 134,5; 139–141; IV 165,2; V 11; 99,1; VI 30,2; 108,1; VII 29; 114,2; 192,2; VIII 118,4; IX 107,3. Zu Gabe und Gegengabe bei Herodot siehe ScheidTissinier 1998. 125 I 41f.; III 47,1; 139–141; V 99,1. 126 Wie zu sehen sein wird, funktioniert Rache als das komplementäre Prinzip nach den gleichen Regeln; Rachefeldzüge etwa erfolgen in den Historien mitunter erst nach vielen Jahrzehnten. 127 IV 165,2; V 99,1; VI 108,1. 128 III 47,1 (cf. 44,1 und 46,2); 139–141. 129 Zu Dankbarkeit und Gaben der persischen Herrscher bei Herodot siehe Scheid-Tissinier 1998, 209–214, und 2007, 75–81. 130 V 11; VII 28f.; VIII 118,4 (Geschenke); V 11; IX 107,3 (Herrschaft); VII 28f. (Gastfreundschaft); VI 30,2 (Begräbnis); I 54,2 (delphische Privilegien); VII 114,2; 192,2 (Opfer).

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1. Typologie

Das umgekehrte Prinzip von Strafe und Rache131 ist unter den auf Gegenseitigkeit beruhenden Motiven132 mit Abstand am häufigsten vertreten. Es ist das meistgenannte Handlungsmotiv in Herodots Repertoire überhaupt.133 Hier berücksichtige ich etwa die Belege für δίκη, ζηµίη, τιµωρίη, τίσις, νέµεσις oder entsprechende Verbformen wie das häufige τείσοµαι, aber auch Umschreibungen dieses Motivs. Eine Unterscheidung zwischen Strafe und Rache ist meines Erachtens bei Herodot nicht generell möglich.134 Der Beweggrund, eine Strafe oder Rache ausführen zu wollen, wird von Herodot an ganz zentraler Stelle eingeführt: Er bestimmt die ersten Seiten der Lektüre seines Werks. Der Erzähler referiert in der bekannten Eröffnungspassage, was die Perser und Phoiniker für den Grund des Kriegs mit den Griechen halten (I 2–5,2). Nachdem die Phoiniker die Io geraubt haben, so lautet Herodot zufolge die Version der Perser, üben die Hellenen Vergeltung und entführen die Europa, dann aber auch 131 Grundlegend zur Rache bei den Griechen ist Gehrke 1987, der Rache auch als Motiv von Handlungen bespricht. Auch auf die philologische Studie Scheid 2005 über Rache im archaischen und klassischen Griechenland sei hier verwiesen. 132 Rache kann in den Historien sehr eng mit emotionalen Aspekten verbunden sein, so daß es denkbar erschienen wäre, eine Klassifzierung als emotional begründetes Motiv zu erwägen. Wenn dies verworfen wurde, so deshalb, weil Rache als Handlungsmotiv in anderen Fällen gänzlich ohne Gefühlskomponente vorkommt. Die Vorstellung, daß es sich um ein auf Gegenseitigkeit beruhendes Prinzip handelt, ist dagegen grundsätzlich mitgedacht. Desweiteren kann Rache in den Historien auch religiös begründet sein (siehe dazu Funke 2007). Auch in diesen Fällen stellt Herodot jedoch den Aspekt der Gegenseitigkeit in den Vordergrund, etwa wenn es gilt, die Schändung eines Tempels zu vergelten. Das Motiv der Rache zielt also selbst dort, wo es seinen konkreten Anlaß in religiösen Fragen findet, in erster Linie auf das Verhältnis der Menschen untereinander ab, nicht auf das zu den Göttern; daher ist es hier als gesellschaftliches und nicht als ein eigenes religiöses Phänomen zu klassifizieren. 133 I 2,1; 3; 4,3; 10,2; 13; 34,1; 73; 74,1; 103,2; 105,4; 115,2.3; 120,1; 123,1; 124,1; 144; 146,3; 159,4; 189,2–190,1; 212–214; II 100; 114f.; 120,5; 152,1–3; III 3; 11; 14,4.5; 47,1; 49,2 und 53,7; 52,7; 109,2; 120f.; 127; IV 1,1 und 4; 43,6; 167,2 (Barkaier); 167,2.3 (Pheretime, cf. auch IV 205); V 25; 74,1; 77,1; 79,1; 89,2; VI 43f.; 64f.; 75,3 und 84 (Bestrafung des Kleomenes); 84,2 (Rache der Skythen an Dareios); 85; 87; 94 (cf. V 105); 101,3; 133,1; 137; 138,1; VII 5–11 passim; 35; 39; 170,1; 197; VIII 90; 105f.; 109,3; 116; 118,4; 144; IX 58,4.5; 65; 93,3.4; 110; 113,1; 119f.; 120,4. In I 74,1 ist das Rachemotiv nicht explizit genannt, aber aus dem Zusammenhang ersichtlich. Auch in VI 30,1 und II 181,2.3 könnten die Motive als Strafe und Rache aufgefaßt werden. Zum Vergeltungsgedanken bei Herodot sei weiterführend auf Pagel 1927 verwiesen, bezüglich τιµωρίη bei Herodot auf Demont 1995, bezüglich Rache als historischer Erklärung auf de Romilly 1971, zur Verbindung von Rache und Hybris auf Tamiolaki 2006, 23–27, und zu religiös motivierter Rache bei Herodot auf Funke 2007. 134 Einzelne Zuschreibungen lassen sich freilich präzise als Strafe oder Rache einordnen, da in diesen Fällen deutlich wird, ob es sich um ein rechtlich sanktioniertes bzw. legitimiertes Vorgehen handelt oder nicht. So würde man in diesem Sinn von einer Strafe sprechen, wenn die Akteure sich auf die Rechtmäßigkeit ihres Handelns berufen können wie in VI 85, wo die Spartaner einen Gerichtsbeschluß über die Bestrafung des Leotychides umsetzen wollen. Zum grundsätzlichen Problem der Abgrenzung dieser Wortfelder im Griechischen siehe Demont 1995. Drexler 1972, 123–129, unterscheidet Rache (τιµωρίη, τίσις) einerseits von Strafe, Buße, Sühne und Vergeltung einer Kriegsschuld (δίκας αἰτέειν) andererseits; erstere ist als Forderung der Ehre begründet, letztere mit der „Ideologie des bellum iustum“ (129). Der Verfasser berücksichtigt hier, wie dieses Zitat bereits andeutet, jedoch ausschließlich Kriegsmotive, wo eine solche Abgrenzung eher möglich sein mag.

1.2. Gesellschaftlich begründete Handlungsmotive

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noch die Medeia, was wiederum durch den Raub der Helena vergolten wird, um derentwillen die Griechen schließlich Troia zerstören. Die persische Darstellung ist die einer Kette von aufeinanderfolgenden Racheakten, die jeweils eine neue Vergeltungstat des Gegners heraufbeschwören.135 An dieser Stelle angelangt, berichtet Herodot nun aber auch die phoinikische Version des Geschehens, die in einem entscheidenden Punkt von der zuvor erzählten Geschichte abweicht: Nicht mit Gewalt, wie es die persische Darstellung voraussetzt, sei Io als erste der geraubten Frauen entführt worden, nein, freiwillig sei sie den Phoinikern gefolgt, aus Scham vor ihren Eltern, weil sie vom Schiffsherrn schwanger war (5,2). Was den eigentlichen Ablauf der Ereignisse angeht, sind sich also alle einig. Die subtile Argumentation der Phoiniker aber zielt darauf ab, Io einen plausiblen Beweggrund zu geben, warum sie aus freien Stücken (ἐθελοντής) die Heimat verlassen sollte – und schon erscheint die ganze Geschichte in einem anderen Licht. Die Entführungen von Europa, Medeia und Helena, die Zerstörung Troias und damit auch die Feindschaft zwischen Griechen und Barbaren gehen auf einen Irrtum zurück, da niemand je auf die Idee kam, danach zu fragen, ob Io vielleicht selbst ein Motiv hatte, den Phoinikern zu folgen. Damit ist die ganze zunächst so plausibel wirkende Argumentation zweifelhaft geworden, und Herodot hat erreicht, daß sich der Leser gespannt dem zuwendet, was der Erzähler als gesichertes Ergebnis seiner eigenen Forschungen in Aussicht stellt (5,3). Wenn der Leser der Historien nun immer wieder auf das Motiv von Strafe und Rache stößt, mit dem neben einzelnen Gewalttaten136 vor allem bewaffnete Aufstände und Kriegszüge137 begründet werden, wird er, die Geschichte der schwangeren Io im Kopf, diese Zuschreibung wohl nicht ohne eine gewisse Skepsis zur Kenntnis nehmen. Eine solche Skepsis wird gelegentlich auch durch einen Kommentar Herodots gestützt, demzufolge die von den Handelnden angegebenen Vergeltungsmotive reiner Vorwand seien. So soll das von Mardonios geführte Perserheer angeblich Athen bestrafen, in Wirklichkeit aber so viele hellenische Städte wie möglich unterwerfen, und ebendies ist auch das wahre Ziel des Dareios, als er einen zweiten Griechenlandfeldzug beschließt.138 Die Behauptung, jemanden bestrafen oder sich an ihm rächen

135 Dies zeigt nicht zuletzt die Diskussion um die verweigerte δίκη in I 2,3 und 3,1. 136 Daß derjenige, an dem es Vergeltung zu üben gilt, nicht an Leib und Leben bedroht wird, ist eher die Ausnahme. Herodot berichtet von vielen grausamen Taten wie I 117–120,1; II 100; III 11; 14,4.5; 120f.; VI 85; VII 197; VIII 105f.; 116; IX 120,4. So kann Drexler 1972, 125, mit Blick auf Kriegsmotive in den Historien fragen: „Was ist das für ein Geschehen, das durch das Motiv der Rache in Bewegung gesetzt wird? Ein geschändeter Leichnam, Leonidas; verstümmelte Leiber, die Opfer von Pheretimes Blutdurst; Städte in Schutt und Asche, Troia, Eretria.“ Das Rachemotiv, so Drexler, „ist kurzlebig, unfruchtbar, destruktiv“. Zur Gewalt bei Herodot siehe Rollinger 2004 und Rollinger 2010 (jeweils mit Literatur). 137 I 13; 73; 74,1; 103,2; 123,1; 124,1; 212–214; II 152,1–3; III 1–3; 47,1; 52,7; IV 1,1 und 4; 167,2.3; V 74,1; 77,1; 79,1; 89,2; VI 43f.; 94 (cf. V 105); 133,1; 137; VII 5; 8α,2–β,3; 9; 11,4; 170,1; IX 113,1. 138 V 43f.; VI 94. Weitere Belege: III 3; IV 167,2.3; VI 133,1. Kleomenes verschweigt zumindest weitere Motive neben dem der Rache (V 74,1).

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1. Typologie

zu wollen, entpuppt sich somit nicht selten als wohlfeiler Vorwand (πρόφασις), der die tatsächlichen Beweggründe der Akteure verschleiert.139 Das Motiv von Strafe und Rache eignet sich allerdings nur deshalb so gut als Vorwand, weil es an sich von allen beteiligten Personen als überzeugend akzeptiert wird.140 Die dem zugrundeliegende Vorstellung von Gegenseitigkeit, daß also gleiches mit gleichem vergolten werden müsse, wird in der Geschichte über Pythios und seine fünf Söhne aufgegriffen: Der Lyder Pythios, ein Enkel des sprichwörtlich reichen Kroisos, war von Xerxes für seine Großzügigkeit überreich beschenkt und zu seinem Gastfreund (ξεῖνος) erklärt worden. Nun bittet Pythios den Perserkönig unterwürfig, seinen ältesten Sohn vom Kriegsdienst zu befreien. Doch Xerxes rast vor Zorn und erklärt (VII 39,2): ὅτε µέν νυν χρηστὰ ποιήσας ἕτερα τοιαῦτα ἐπηγγέλλεο, εὐεργεσίῃσι βασιλέα οὐ καυχήσεαι ὑπερβαλέσθαι· ἐπείτε δὲ ἐς τὸ ἀναιδέστερον ἐτράπευ, τὴν µὲν ἀξίην οὐ λάµψεαι, ἐλάσσω δὲ τῆς ἀξίης. σὲ µὲν γὰρ καὶ τοὺς τέσσερας τῶν παίδων ῥύεται τὰ ξείνια· τοῦ δὲ ἑνός, τοῦ περιέχεαι µάλιστα, τῇ ψυχῇ ζηµιώσεαι.

Als du mir Wohltaten erwiesen und weitere angeboten hast, wirst du dich nicht rühmen, die Wohltätigkeit des Königs übertroffen zu haben. Jetzt aber, wo du unverschämt geworden bist, sollst du auch nicht die Strafe erhalten, die du verdienst, sondern eine geringere. Denn dich und die vier deiner Söhne rettet die Gastfreundschaft, aber am Leben des einen, den du am liebsten hast, wirst du gestraft werden.

Xerxes läßt den ältesten Sohn in der Mitte durchschlagen, und sein Heer zieht zwischen den beiden Hälften der Leiche hindurch – die vermeintlich milde und gerechte Strafe (ἀξίη)141 erscheint unangemessen grausam.142 Dergleichen harte und mitunter groteske Strafen werden von Xerxes mehrfach verhängt.143 Berühmt ist die Szene,

139 In bezug auf die Umdeutung von Rache zu einem Vorwand siehe Gehrke 1987, vor allem 123. Zur Historizität der herodoteischen Rachezuschreibungen an die Perser siehe Funke 2007, demzufolge „auch für Herodot die Rachegesinnung zwar ein notwendiger, aber eben kein hinreichender Erklärungsgrund für das persische Gebaren war“ (p. 23). 140 Gehrke spricht aufgrund ähnlicher Beobachtungen von der „Rechtshaltigkeit der Rache“ (Gehrke 1987, 130) und weist auf die damit verbundenen Verbindlichkeiten hin, die sogar vererbbar waren (130–133). 141 Der Erzähler benennt als Motiv Zorn; die Erklärung der Mordtat als verdiente Strafe ist Xerxes selbst in den Mund gelegt. Daß Baragwanath 2008, 276f., hier von einer Leerstelle spricht, weil die Tat nicht erklärt würde, verstehe ich daher nicht. 142 Die Grausamkeit des Königs läßt sich allerdings mit Scheid-Tissinier 2007, 79f., im Licht des königlichen Verständnisses vom Gabentausch durchaus rational erklären. Demnach entspricht Xerxes hier ganz den Erfordernissen seiner Stellung: Die Szene ist „[u]n exemple pour tous ceux qui chercheraient à mesurer au roi leur dévouement“ (80). Siehe auch Scheid-Tissinier 1998, 211–213: „être le φίλος du roi, c’est être son esclave“ (213). 143 IV 43,6; VIII 90; 118,4. Auch der Griechenlandfeldzug wird von Mardonios und von Xerxes selbst als Strafaktion begründet (VII 5; 8α,2–β,3; 9; 11,4).

1.2. Gesellschaftlich begründete Handlungsmotive

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in der er den Hellespont wüst beschimpft und ihn – soweit dies bei einem Gewässer möglich ist – züchtigen, fesseln und brandmarken läßt.144 Unser besonderes Interesse verdient schließlich eine Gruppe von Protagonisten, deren Handlungen fast ausschließlich als Strafe oder Vergeltung gedacht sind: die Götter.145 Ein Beispiel ist der Gott, der Kleomenes mit Wahnsinn schlägt.146 Während die Spartaner selbst behaupten, die Geisteskrankheit ihres Königs sei lediglich auf den Genuß ungemischten Weins zurückzuführen, sind sich alle anderen Griechen einig, daß es sich dabei um eine göttliche Strafe (τίσις) handelt – sei es wegen der Bestechung der Pythia, wie die meisten Hellenen meinen, wegen der Zerstörung des Eleusischen Heiligtums, wie die Athener sagen, deshalb, weil er ihre Landsleute aus dem Heiligum herausgelockt und ermordet und den heiligen Hain des Argos angezündet hat, wie die Argeier behaupten, oder, wie Herodot selbst denkt, wegen des Unrechts, das Kleomenes an Demaratos begangen hat.147 Der übereinstimmende Kern all dieser Erklärungen ist das Motiv von göttlicher Strafe und Rache. Es scheint sich hierbei um ein bevorzugtes Erklärungsmuster für göttliche Taten zu handeln, denn auch die Gottheiten, die Kroisos ins Verderben stürzen, das Unheil der Bürger von Kyme heraufbeschwören, die Skythen mit einer Krankheit schlagen, das Land von Apollonia unfruchtbar machen und militärische Niederlagen wie die der Perser von Salamis veranlassen,148 wollen auf diese Weise Rache üben. Die Götter behalten sich die Rachetaten gar selbst vor und werden neidisch, wenn ein Mensch unmäßig Vergeltung übt (IV 205). Mit ihren Strafen verfolgen sie eine gleichsam erzieherische Absicht, wie Herodots Überlegungen zum Untergang von Troia zeigen (II 120,5): . . . ὡς µὲν ἐγὼ γνώµην ἀποφαίνοµαι, τοῦ δαιµονίου παρασκευάζοντος ὅκως πανωλεθρίῃ ἀπολόµενοι καταφανὲς τοῦτο τοῖσι ἀνθρώποισι ποιήσωσι, ὡς τῶν µεγάλων ἀδικηµάτων µεγάλαι εἰσὶ καὶ αἱ τιµωρίαι παρὰ τῶν θεῶν. καὶ ταῦτα µὲν τῇ ἐµοὶ δοκέει εἴρηται.

Wenn ich meine Meinung äußern soll, hat die Gottheit es so eingerichtet, um durch den gänzlichen Untergang [der Stadt Troia] den Menschen deutlich zu machen, daß bei großen Freveln auch die Strafen der Götter groß sind. Und das Gesagte ist meine Ansicht dazu.

144 VII 35. Die erzählerische Dublette der Geschichte in I 189,2–190,1, wo Kyros das Wasser des Gyndes auf Gräben aufteilt, bringt exakt dieselben Motive, Strafe und Rache verbunden mit Zorn. Zu Gewässerfreveln bei Herodot siehe Wesselmann 2011, 55–78. Die Gewässerfrevel des Xerxes stellen der Verfasserin zufolge alle anderen in den Schatten (59). 145 Die rächenden Götter bei Herodot weisen Parallelen zur Tragödie auf, vor allem zu Aischylos. De Romilly 1971, 315, macht auf entsprechende Übereinstimmungen des Vokabulars von ὕβρις und νέµεσις aufmerksam. Zu Motivzuschreibungen an Götter und Heroen und ihren Besonderheiten siehe unten, p. 104–108. 146 VI 75,3; 84. Zur Geschichte des Kleomenes siehe Immerwahr 1966, 192f. 147 Der Autor sieht also nicht wie die anderen Griechen Kleomenes’ religiöse Frevel als Grund für die göttliche Strafe an, sondern seine Mißachtung der spartanischen Thronfolge, mithin sein politisches Handeln (siehe auch Immerwahr 1966, 193). 148 I 34,1; 105,4; 159; VIII 109,3; IX 93,3.4; 119f. In IX 65 stellt Herodot ebenfalls den Zusammenhang einer Vergeltung her.

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1. Typologie

An dieser Stelle schließt sich noch das Motiv des Schwurs149 an, das bisweilen mit einer Rache verbunden ist. Ein Schwur bringt die Akteure dazu, auch gegen ihre momentane Überzeugung oder Absicht zu handeln, weil sie sich durch ihre Worte gebunden fühlen. Agetos überläßt Ariston, seinem vermeintlich besten Freund, sogar seine Frau, denn er ist durch einen betrügerisch erlangten Schwur gebunden.150 Es handelt sich bei diesem Beweggrund um eine Form von Selbstverpflichtung, mit der sich die Handelnden auch anderen gegenüber rechtfertigen können (III 19,2).

1.3. POLITISCH BEGRÜNDETE HANDLUNGSMOTIVE Nach den persönlich oder gesellschaftlich begründeten Handlungsmotiven sollen nun solche aus dem politischen Bereich vorgestellt werden. Hier lassen sich ideelle und ideologische Motive einerseits und andererseits machtpolitische und strategische Beweggründe unterscheiden. Freiheitsliebe ist das große Ideal, dem sich viele herodoteische Figuren verpflichtet fühlen. (Ideal und Ideologie liegen hier freilich oft nah beieinander, wie zu sehen sein wird.) Daneben können auch Gerechtigkeitssinn, Gesetzestreue und Heimatliebe sowie Feindschaften das Handeln der Beteiligten bestimmen. Diese Motive werden in den Historien auch Barbaren zugeschrieben, sind aber vorrangig den Griechen zu eigen.151 Dies gilt nicht zuletzt für die häufig ins Feld geführte Freiheitsliebe152 , das Verlangen nach ἐλευθερίη153 , das negativ ausgedrückt wird als Abscheu vor dem Sklavendasein (δουλοσύνη). Der Wunsch, frei zu sein, bewegt gleichermaßen Verteidigungskämpfer, Aufständische und Auswanderer.154 Nicht alle sind aber so idealistisch wie die tapfer kämpfenden Perinthier (V 2,1) oder wie die Skythen, die schon bei der Erwähnung des Wortes Sklaverei rasend werden (IV 128). Die Magier etwa unterstützen laut eigener Aussage die Herrschaft des Astyages, weil sie andernfalls von den Persern unterdrückt und verachtet wür149 150 151 152

I 146,3; 176; 212,3; II 115; III 19,2; VI 62. VI 62. Das zweite Beispiel ist II 115,4.6. Siehe dazu im einzelnen p. 93–97. I 95,2; 120,5.6; 126,5.6; 127,1; 164,2; 169,1; 210,2.3; III 142; IV 128; 147; V 2,1; 64,2; 78; 92; 98,2.3; 109; VI 5,1; 11–12,2; 22,1; 34–36; 109f.; VII 135,3; 139,5; 168,1; VIII 3; 72; 143; IX 45; 122. Hinzu kommen zahlreiche Belegstellen, wo Herodot nicht ausdrücklich auf das Freiheitsmotiv verweist, da es aus dem Zusammenhang klar ersichtlich ist, wie zum Beispiel I 176. In merkwürdiger Verkehrung dieses Motivs ziehen die Athener, die Peisistratos unterstützen, die Tyrannis der Freiheit vor (I 62,1). Cf. auch die Samier, die (angeblich) nicht frei werden wollen (III 143,2). Mit Freiheitswillen und Unabhängigkeitsstreben bei Herodot befaßt sich Huber 1965, 63f., mit „Leiden und Schmach der Knechtschaft“ und dem Wert der Freiheit Drexler 1972, 133–144. Zum Motiv der Freiheitsliebe bei Herodot siehe auch die Überlegungen unten, p. 93–96. 153 Auch bei Aristoteles ist ἐλευθερία ein „vor allem politischer Begriff“ (O. Höffe, s. v. eleutheria, in: Höffe, 168–170, hier 168). 154 Widerstand: I 127; IV 128; V 2,1; 78; 109; VI 109f.; VII 135,3; 168,1; VIII 72; 143. Aufstände: I 95,2; V 64,2 (siehe auch I 126,5.6). Auswanderung: I 164,2; 169,1; IV 147; VI 22,1; 34–36.

1.3. Politisch begründete Handlungsmotive

61

den,155 versprechen sich davon aber auch handfeste Vorteile.156 Als ein ganz windiger Geselle wird Maiandrios dargestellt, der sich als den gerechtesten aller Männer betrachtet und auf die Herrschaft über Samos verzichtet, um großsprecherisch seinen Landsleuten die Freiheit zu schenken und die Demokratie (ἰσονοµίη)157 auszurufen (III 142). Für sich selbst erbittet er in vorgeblicher Bescheidenheit sechs Talente aus dem Schatz des Polykrates und ein erbliches Amt als Priester des Διὸς ᾽Ελευθέριος, von Zeus dem Befreier (!) also, dem er einen Altar errichtet hat. Der Samier Telesarchos entlarvt die Freiheitsrhetorik des Maiandrios jedoch umgehend als dreisten Betrugsversuch: Der Mann sei der Herrschaft gar nicht würdig, sondern von niedriger Herkunft und ein Halunke, so der angesehene Bürger, und im übrigen solle Maiandrios Rechenschaft ablegen über die Gelder, für die er als Verwalter des Polykrates verantwortlich war.158 (Tatsächlich wird sich Maiandrios wenig später als skrupelloser Opportunist erweisen, dem Freiheit und Leben seiner Mitbürger herzlich gleichgültig sind.) Das Selbstverständnis des Maiandrios als ὁ δικαιότατος ἀνδρῶν, als der Gerechteste unter den Männern, führt uns zu den Handlungen, die einem Sinn für Gerechtigkeit entspringen. Anders als Maiandrios, der nur vorgibt, aus diesem Motiv zu handeln, erweisen sich Männer wie Kleomenes und Kadmos als wirklich gerecht: Der spartanische König läßt sich nicht von Maiandrios bestechen, sondern erwirkt, daß dieser aus der Peloponnes fortgewiesen wird (III 148). Der Tyrann Kadmos von Kos legt – anders als Maiandrios – aus reiner Gerechtigkeitsliebe (δικαιοσύνη) die vom Vater ererbte Herrschaft tatsächlich in die Hände des Volks und wandert nach Sizilien aus. Auch dort stellt Kadmos seine Rechtlichkeit unter Beweis und bringt Gelon die ihm anvertrauten Gelder vollständig zurück, obwohl es ihm ein leichtes gewesen wäre, sie zu unterschlagen (VII 164). Wie bei den übrigen Belegstellen159 ist die Grundlage der Motivzuschreibung hier eine Annahme über den Charakter des Handelnden, in dem der Sinn für Gerechtigkeit bereits angelegt ist.160 Gerechtigkeitsliebe als Handlungsmotiv, sei sie wahr oder nur vorgegeben, zeichnet in den Historien vor allem griechische Herrscher und Führungspersönlichkeiten aus.161

155 δουλούµεθά τε καὶ λόγου οὐδενὸς γινόµεθα (I 120,5). 156 Sie sprechen von Teilhabe an Macht und Ehre des Königs: καὶ ἄρχοµεν τὸ µέρος καὶ τιµάς (ibid.). 157 Der Ausdruck ἰσονοµία, wörtlich die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, bezeichnet hier ein politisches System, das im Gegensatz zur Tyrannis steht. Zum Begriff Isonomia im Zusammenhang mit dem Konzept der Freiheit siehe Raaflaub 2004, 94–96. 158 Zu den Motiven des Maiandrios siehe auch Baragwanath 2008, 102–105. Zur Oberflächlichkeit der Freiheitsrhetorik in den Historien ibid., 183–185. 159 V 75,1; VIII 79. 160 Ausführlichere Überlegungen zum Verhältnis von Motiv und Charakter finden sich unten, p. 152f. 161 Lediglich in V 75,1 wird dieser Beweggrund den Korinthern als Gruppe zugeschrieben. Gerechte Handlungen oder Worte sind schon vor Herodot mit dem Idealbild eines gerechten und milden Königs verknüpft, siehe M. Schmidt, s. v. δίκαιος, in: LfgrE, vol. 2, col. 301f., hier 302 [2].

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1. Typologie

Eng verbunden mit diesem Beweggrund ist die Wertschätzung des Gesetzes. Vor allen anderen zeichnen sich die Spartaner durch Gesetzestreue aus und stellen den νόµος über jede andere Verpflichtung.162 Im Motiv der Heimatliebe163 schließlich können sich Patriotismus und Heimweh verbinden. So weigern sich die kimmerischen Könige, zusammen mit dem Volk vor den Skythen zu fliehen – eine Haltung, die von Herodot ausdrücklich gelobt wird (IV 11,2). Er referiert die Ansicht der Könige folgendermaßen (11,3): . . . τοῖσι δὲ βασιλεῦσι δόξαι ἐν τῇ ἑωυτῶν κεῖσθαι ἀποθανόντας µηδὲ συµφεύγειν τῷ δήµῳ, λογισαµένους ὅσα τε ἀγαθὰ πεπόνθασι καὶ ὅσα φεύγοντας ἐκ τῆς πατρίδος κακὰ ἐπίδοξα καταλαµβάνειν.

Aber die Könige wollten lieber gefallen auf ihrem Land liegen als mit dem Volk fliehen, denn sie dachten an das Gute, was sie [dort] erlebt hatten, und an die möglichen Leiden, die sie erwarteten, wenn sie aus ihrer Heimat flüchteten.

Der kleine Satz bietet mehrere Facetten des Beweggrunds Heimatliebe: Die heroische Absicht der Könige, ihr Land bis zum äußersten gegen die Skythen zu verteidigen, speist sich zum einen aus nostalgischer Heimatverbundenheit, zum anderen aus der Angst vor dem ungewissen Dasein in der Fremde. Aufschlußreich ist auch die Diskussion des Kleomenes mit Aristagoras, dem Tyrannen von Milet, der die Spartaner dazu bringen will, mit ihm nach Susa zu ziehen (V 49–51). Aristagoras führt seinen Zuhörern die schmähliche Lage der versklavten Ionier vor Augen, beschwört die Blutsverwandtschaft, die sie mit diesen verbindet, und stellt ihnen Gold, Silber, Erz, wertvolle Stoffe, Vieh und Sklaven in Aussicht, kurz: Die Spartaner, so Aristagoras, könnten mühelos die Herrschaft über ganz Asien erringen.164 Kleomenes jedoch erbittet zunächst drei Tage Bedenkzeit und will dann wissen, wie viele Tagesreisen es denn von der ionischen Küste bis nach Susa seien. Nun macht Aristagoras, wie Herodot meint, einen entscheidenden Fehler und gibt wahrheitsgemäß zu, es sei ein Weg von drei Monaten. Da sind Freiheitsliebe und verwandtschaftliche Bande, die Aussicht auf Reichtum und Macht mit einem Schlag vergessen: Seine Mitbürger drei Monate vom Meer entfernt ins Land zu führen, ist für Kleomenes unvorstellbar. Er bricht sofort die Verhandlungen ab und befiehlt Aristagoras, Sparta noch am selben Tag zu verlassen; er ist nicht einmal umzustimmen, als dieser ihm 50 Talente verspricht. Die Verbundenheit mit der Heimat165 erweist sich als stärker als jedes andere Motiv; ein für die Spartaner in den Historien typischer Zug, wie zu sehen sein wird.166

162 163 164 165

VI 106,3; VII 104,4.5. Die anderen Belege für dieses Motiv sind I 29f.; 97,2.3; III 31,3–5. I 165,3; III 130,3; IV 11,2–4; 76,3.4; V 35,4; 50; 98,2.3; VIII 60α. παρέχον δὲ τῆς Ἀσίης πάσης ἄρχειν εὐπετέως (V 49,8). Eine naheliegende machtpolitische Erklärung, die die bei einer längerer Abwesenheit der Spartiaten drohende Gefahr eines Helotenaufstands berücksichtigen würde, wird an dieser Stelle nicht ins Spiel gebracht. 166 P. 101f.

1.3. Politisch begründete Handlungsmotive

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Damit komme ich zu dem Motiv der Feindschaft, das in den Historien häufig vorausgesetzt, aber nur gelegentlich explizit aufgeführt wird.167 Bei Durchsicht der Belege fällt auf, daß bis auf Leotychides, der aus Feindschaft zu Demaratos eine Initiative ergreift (VI 65,2), stets von Feindschaft zwischen größeren Gemeinschaften – konkret: griechischen Städten – die Rede ist.168 Die Feindschaft zwischen Korinthern und Kerkyraiern, zwischen Aigineten und Athenern oder Phokern und Thessalern gelten als fest etabliert und prägen das Handeln der Städte. So haben die Phoker, wie Herodot behauptet, nur wegen ihrer Feindschaft mit Thessalien als einzige in der Gegend nicht medisiert (VIII 30,1). In den meisten Fällen ist Feindschaft allein aber kein hinreichender Beweggrund, ehe nicht andere Motive hinzukommen. Auf Feindschaft beruft man sich offenbar dann, wenn aus anderen Gründen eine Entscheidung getroffen werden muß. Die Korinther etwa fühlen sich durch die Rettung der korkyrischen Knaben brüskiert und gedenken daher ihrer alten Feindschaft mit Kerkyra, und ähnlich berufen sich die Aigineten auf ihre Feindschaft mit Athen, nachdem die Thebaner sie um Unterstützung für einen Kriegszug nach Attika gebeten haben.169 Eine alte Feindschaft kann also in den Historien ein willkommenes Argument sein, um eine ohnedies geplante kriegerische Unternehmung zu begründen. Neben den idellen und idealistischen Motiven sind die machtpolitischen zu nennen, die zu den häufigsten Beweggründen bei Herodot überhaupt gehören. Die Handelnden streben danach, Macht (δύναµις) oder eine Herrschaft (ἀρχή, τυραννίς etc.) zu erlangen,170 ihren Herrschaftsbereich zu vergrößern171 oder ihre bereits vorhandene Macht zu erhalten.172 Diese drei Aspekte begegnen auch in Kombination, zum Beispiel beim Kriegszug des Kroisos gegen die Perser, der Kyros stürzen, sein Reich vergrößern und es zugleich gegen die Perser verteidigen will,173 oder beim Griechenlandfeldzug des Xerxes.174 Denjenigen, die nach Macht streben, ist jedes Mittel recht, von Lüge und Verrat über Krieg bis hin zur Ermordung potentieller Rivalen. Ein Pausanias, der sich – angeblich, um Tyrann von ganz Hellas zu werden – mit einer Tochter des Megabates verlobt (V 32), darf in der Wahl seiner Mittel als friedliche Ausnahme gelten. Für gewöhnlich aber dient das Motiv Machtstreben ganz trivial der Begründung von Feldzügen und anderen militärischen Aktionen.175 167 III 48f.; V 81,2 und 89,1; 87f. (hier ist nicht von ἔχθρη oder διαφορή, sondern von ἔρις die Rede); 97; VI 65,2; VII 11,2.3; VIII 30,1; IX 38,1. 168 Das Wortfeld von ἐχθαίρω ist schon im frühgriechischen Epos häufig belegt, dort wird es aber in der Regel gerade nicht auf Städte, sondern auf einzelne Menschen, Götter oder auch Personifikationen bezogen, siehe die entsprechenden Artikel von W. Beck im LfgrE, vol. 2, col. 830–833. 169 III 48f.; V 80f. und 89,1. 170 I 59,3; 60; 63; 67; 96,2; 106,2; 120,5.6; III 68–79; 143,2; V 12,1; 30,3–31,3; 32; VI 65 und 73; 109f.; VII 6,1. 171 I 66,1; 102,1; III 122,2–4; 134; IV 118,3–5; 167,2.3; V 31; VI 44,1; 94; 95,2. 172 I 89f.; 99; 108; 185; II 120,2; 161,4; III 30,2.3; 44,2; 53,1; 119,2; 134; 143,1; IV 137; 146,1; V 23f.; 35; 91; VII 149,1; 152,3; 163,1; 165; IX 122. 173 I 46,1; 71,1; 73,1. 174 VII 8α,2.γ; 11,2.3. 175 Neben den bereits aufgeführten Belegen sind zu nennen I 66,1; 102,1; II 161,4; III 44; IV 118,3– 5; 167,2.3; V 23f.; 31; 91; VI 44,1; 94; 109f. Zu den Feldzügen siehe unten, p. 108–118.

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1. Typologie

Anders als die bisher betrachteten ideellen Beweggründe, die in erster Linie Griechen zugeschrieben werden, ist das Machtmotiv bei Herodot ein universelles. Ob Lyder, Meder, Perser, Babylonier, Ägypter oder Griechen: Angefangen bei König Priamos von Troia (II 120,2) bis hin zu Peisistratos (I 49–63) handeln Männer aller Kulturen und Zeiten (und mit der babylonischen Königin Nitokris in I 185,1 auch eine Frau) aus machtpolitischen Motiven. Auch das Kalkül strategischer oder politischer Vorteile ist eine überall in den Historien anzutreffende Erklärung für militärische oder politische Entscheidungen.176 Neben zahlreichen rein sachlichen militärisch-taktischen Erwägungen177 finden sich auch ganz selbstsüchtige Überlegungen der Akteure.178 Einzigartig ist in diesem Zusammenhang das skrupellose Kalkül der Babylonier, die zur Vorbereitung eines Aufstands alle ihre Frauen erwürgen, damit die Lebensmittel im Fall einer Belagerung durch die Perser nicht unnötig schnell aufgebraucht werden (III 150,2). Nur jeweils eine Lieblingsfrau lassen sie am Leben, um jemanden zu haben, der ihnen die Mahlzeiten zubereitet, und – ein merkwürdig pietätvoller Zug in diesem Szenario – ihre Mütter. Es läßt sich bereits an dieser Stelle konstatieren, daß Herodot über ein breitgefächertes Inventar auch politischer Motive verfügt. In den Historien sind die politischen Begründungen, worauf zurückzukommen sein wird, somit alles andere als marginal.

1.4. WIRTSCHAFTLICH BEGRÜNDETE HANDLUNGSMOTIVE Im Vergleich zu den bisher besprochenen Bereichen – Emotionen und Charakter, Gesellschaft, Politik – sind wirtschaftlich begründete Handlungsmotive in den Historien seltener vertreten. Solche Beweggründe sind Besitzgier, Bestechung, Armut und Geldnot wohlhabender Personen. Mit Besitzgier bezeichne ich den Wunsch nach materieller179 Bereicherung, der bis zur Habgier gesteigert sein kann.180 Schon die Aussicht auf einen Gewinn oder das Versprechen einer Belohnung lassen die Handelnden aktiv werden.181 Gold und Geld, Landbesitz und Sklaven, Kleidung und Luxusgüter oder Steuerfreiheit erscheinen ihnen so begehrenswert, daß sie dafür ihre Landsleute verraten, Städte plündern,

176 I 77,4; 79; 109,2.3; 152,2.3; III 150,2; IV 119; 120; 127; 130; 134f.; V 37,2; 124–126; VI 13; VII 149; 168,2–4; 219f.; VIII 3; 69; 73,3; 87; 109; 136; IX 8; 13. 177 Etwa IX 13. 178 So zum Beispiel V 37,2. Die Zuschreibung niederer Motive an die Spartaner ist jeweils als Vermutung des Erzählers gekennzeichnet (I 152,2.3; IX 8). 179 Da sich das Begehren auf materielle Güter richtet und nicht auf Erfolge oder Errungenschaften, ist dieses Motiv in den Historien von Neid klar abgrenzbar. 180 I 154; 165,1; 187,5; II 152,5; III 36,4.5; 57,1.2; 67,3; 122,2–123,1; IV 203,4; V 31; 78; 97; VI 13; 23,4–6; 100,2; 132; 137; VII 5; 19,2; 213,1; VIII 5,1.2; 112,1; IX 38,1. In IV 147,4 wird das Motiv zumindest angedeutet. Auch hellenische Frauen bzw. Sklavinnen scheinen Besitzgier zu wecken (II 181,1; III 134,5). 181 II 152,5; III 36,4.5; 123,1; V 97; VI 23,4–6; 100,2; 132; VII 5; 19,2; 213,1. Cf. auch III 67,3.

1.4. Wirtschaftlich begründete Handlungsmotive

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morden und Gräber schänden.182 Manch einer bezahlt seine Gier mit dem Leben, so wie Polykrates, der allen Warnungen zum Trotz Oroites in die Falle geht, da er auf die versprochenen Schätze hofft, mit denen er seine Expansionspolitik zu finanzieren gedenkt. Er stirbt einen so grausigen Tod, daß Herodot, der sonst durchaus nicht vor der Darstellung menschlicher Grausamkeit zurückschreckt, sich nicht näher dazu äußern will, und Oroites läßt seine Leiche ans Kreuz nageln (III 122–125). Daß Gewinnstreben den Akteuren selbst als nicht sehr schmeichelhaft gilt, zeigt die Geschichte über die Vertreibung der Pelasger aus Attika. Während Hekataios, wie der Erzähler berichtet, in seinem Werk schreibt, die Athener hätten die Pelasger aus Neid und Begierde nach dem fruchtbaren Land zu Füßen des Hymettos vertrieben, behaupten die Athener, die Pelasger seien aus dem Land verwiesen worden, da sie die athenischen Mädchen vergewaltigt und überdies einen Angriff auf Athen geplant hätten.183 Herodot entscheidet nicht, welche Version die zutreffende ist, aber er macht deutlich, daß die Vertreibung im ersten Fall unrechtmäßig (ἀδίκως), im zweiten Fall zu Recht (δικαίως) geschehen sei. Eine Strafe, wie sie von den Athenern postuliert wird, wäre demnach ein ehrenwertes Motiv, reine Besitzgier, wie sie in den Historien so häufig eine Rolle spielt, dagegen ein unrechtes. Noch deutlicher wird es kritisiert, wenn jemand sich zu einer Handlung bestechen läßt.184 Der Bestechungsvorwurf wird zuerst von den Feinden des Beschuldigten erhoben185 und hält der Prüfung durch den Historiker Herodot nicht immer stand.186 Auffallend ist, daß Bestechung als Spezifikum der griechischen Welt erscheint187 – wobei das interessante Phänomen weniger die Bestechung als solche, sondern vielmehr die Beliebtheit des Bestechungsvorwurfs in den griechischen Geschichten ist.188 Er trifft auch Frauen, namentlich die Pythia in Delphi.189 Ein weiteres wirtschaftlich begründetes Motiv ist Armut bzw. die (vorübergehende) Geldnot wohlsituierter Personen.190 Armut kann vorgeschützt werden, um Zahlungsforderungen abzuweisen (VIII 111). Sonst zeigen die aus Armut begangenen Handlungen jedoch deutlich die Verzweiflung der Akteure. So verkaufen die völlig verarmten Babylonier ihre Töchter für Geld an Männer,191 und einige Arbeitslose aus Arkadien wissen sich in ihrer Armut nicht anders zu helfen, als zu den Persern überzulaufen (VIII 26,1). 182 I 187; III 57,1.2; IV 203,4; VII 213,1. 183 VI 137 = FGrHist 1 F 127. 184 Belegstellen für diesen Beweggrund sind III 56; V 25; 63,1; VI 50; 66; 72; 82; VIII 4,2; 5,1 (Eurybiades); 5,1f. (Adeimantos); IX 5. Anders als bei Herodot gehört Bestechung bei Theopomp zu den wichtigsten Handlungsmotiven (Flower 1994, 171f.). 185 Siehe VI 82, wo dieser Zusammenhang ausdrücklich benannt wird. 186 III 56; VI 123,2. Auch die Aufführung einander widersprechender Versionen kann als Anzeichen für die Skepsis des Erzählers verstanden werden: VI 50; 82; IX 5. 187 Das Motiv begegnet sonst nur in V 25, wo der persische Richter Sisamnes für Geld ein ungerechtes Urteil gefällt hat. 188 Siehe dazu im einzelnen p. 92f. 189 V 63,1 (cf. 66,1); VI 66. 190 I 196,5; II 126,1; 174; VIII 26,1; 51,2; 111. 191 I 196,5. II 126,1 bietet eine Abwandlung dieses erzählerischen Motivs: Der Pharao Cheops bringt seine Tochter ins Freudenhaus, um eine bestimmte Geldsumme zu beschaffen.

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1. Typologie

1.5. ÄSTHETISCH BEGRÜNDETE HANDLUNGSMOTIVE Einige wenige Handlungen in den Historien werden mit ästhetischen Überlegungen begründet. Dabei geht es entweder um ästhetische Rezeption oder um Fragen der literarischen Produktion. Ein Sinn für Schönheit klingt in den Historien wiederholt als Beweggrund an.192 Er ist in der Regel mit anderen Motiven verbunden: Ein schönes Kind oder ein schöner Mann rufen Bewunderung hervor, eine schöne Frau erregt Liebe oder Begehren, und ein schönes Land weckt das Bedürfnis, es zu besitzen. Die nur zweimal belegte Argumentation mit Fragen der literarischen Gestaltung verdient schon deshalb unsere besondere Aufmerksamkeit, da der Erzähler diese Motivzuschreibung jeweils ausdrücklich als seine eigene kennzeichnet. So meint er, Homer habe die Geschichte von Helena in Ägypten zwar gekannt, sie aber absichtlich ausgelassen, da sie nicht so gut in sein Gedicht paßte wie die von ihm gewählte Version (II 116,1). Ähnlich heißt es über die Ägypter, die von der Schändung einer Leiche durch Kambyses behaupten, es habe sich bei der Leiche gar nicht um die des Amasis gehandelt, daß sie dieses Detail erfunden hätten, um die Geschichte auszuschmücken (III 16,7). In beiden Fällen geht es also um die literarische Gestaltung historischer Ereignisse. Angesichts von nur zwei Belegstellen für die Begründung literarischer Entscheidungen könnte man versucht sein, dieses Motiv als vollkommen marginal zu betrachten. Seine inhaltliche Bedeutung steht dem aber entgegen: Grenzt Herodot im einen Fall seine Arbeitsweise von niemand geringerem als von Homer ab (II 116,1), zeigt er im anderen Fall den entscheidenden Unterschied zwischen seinem Werk und mündlich kursierenden Vergangenheitsdarstellungen auf (III 16,7). Damit führt uns die Frage nach ästhetischen Kriterien von Vergangenheitsdarstellung zum Kern dessen, was Herodots Selbstverständnis als Historiker ausmacht. Wie unlängst Jonas Grethlein in seinem Buch über „The Greeks and their Past“193 plausibel gemacht hat, bietet Herodots Auseinandersetzung mit der homerischen Helenageschichte ein Äquivalent zum berühmten »Methodenkapitel« des Thukydides,194 das die neue Gattung Geschichtsschreibung von den Berichten der Poeten und Logographen abgrenzen soll.195 In II 112–120 „Herodotus not only critically reviews the Iliad’s testimony, but uses the discussion of it to juxtapose his work with epic poetry as an alternative approach to the past.“196 Herodot nutzt die Zuschreibung dieses Motivs gezielt dazu, dem Leser seine methodischen Maximen darzulegen: Der Geschichtsschreiber läßt sich, anders als Homer und anders als die ägyptischen Geschichtenerzähler, eben nicht von gestalterischen Überlegungen dazu verleiten, die historische Wahrheit zu verbiegen. Er

192 193 194 195

I 8–10; 112,1; IV 147,4; V 13f.; 31,1; 47,2; VI 61f.; VII 31; 180; IX 25,1. Grethlein 2010, hier 151–158. Thuk. I 20–22. Grethlein vertritt die Ansicht, daß sich die Logographenkritik bei Thukydides nicht, wie bisher meist angenommen, gegen Herodot richtet (Grethlein 2010, 151f. und 207–211). 196 Ibid., 152. Die von mir herangezogene Passage II 116 diskutiert Grethlein auf p. 152–155.

1.6. Religiös begründete Handlungsmotive

67

hat andere Kriterien,197 denn die Ziele und Methoden der Dichter und Erzähler sind nicht die des Historikers.

1.6. RELIGIÖS BEGRÜNDETE HANDLUNGSMOTIVE Den Handlungsmotiven, die das Verhältnis von Menschen und Göttern berühren, wurde in der Forschung bisweilen ein Sonderstatus zugesprochen,198 da sie am deutlichsten von den Erwartungen des modernen Lesers an eine ernstzunehmende Analyse abweichen.199 Nimmt man jedoch nicht die heutigen Vorstellungen, sondern Herodots Text als Ausgangspunkt, erweist sich eine solche Einschätzung als unhaltbar. Die Beweggründe aus dem religiösen Bereich unterscheiden sich in den Historien nicht grundsätzlich von anderen, wie zu zeigen sein wird. Die Motive, die sich aus der Kommunikation und Interaktion zwischen Menschen und Göttern herleiten, lassen sich in solche unterteilen, bei denen der Anstoß von den Menschen selbst ausgeht, wenn sie ihr Verhältnis zu einem Gott positiv gestalten wollen, und in solche, bei denen die Handelnden auf Orakel, Träume oder göttliche Zeichen reagieren.200 Daß sich jemand des göttlichen Wohlwollens zu versichern versucht, also einen Gott für sich gewinnen oder ihn beschwichtigen will, kommt in den Historien zunächst immer im unmittelbaren Kontext der religiösen Betätigung der Akteure vor. Alle Handlungen, mit denen jemand die Gunst eines Gottes gewinnen (mitunter auch erhalten) möchte, haben einen klar religiösen Charakter. Da werden Opfer dargebracht201 , Weihgeschenke gestiftet202 und die Gebeine eines Helden umgebettet203 . Und doch sind die meisten dieser Geschichten komplexer, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag, erfährt der Leser in der Regel doch auch, warum jemand göttlicher Unterstützung bedarf – und diese eigentlichen Anliegen gehen nun erwartungsgemäß weit über das Religiöse hinaus: Die Spartaner wollen endlich Tegea besiegen (I 67), Menelaos ist daran gelegen, die ungünstigen Winde zu beschwichtigen, damit er mit Helena in See stechen kann (II 119,2.3), der Skythe Anacharsis hofft auf eine glückliche Heimkehr (IV 76,3.4), Arge und Opis wünschen sich eine leichte Niederkunft (IV 35,2), und Ladike bangt um ihr Leben (II 181,4.5). Die Erwartungen der Handelnden werden in keinem dieser Fälle enttäuscht. Ladike, um das letzte Beispiel aufzugreifen, hat sich aus dem fernen Ägypten verzweifelt an die Aphrodite ihrer Heimatstadt gewandt und ihr ein Bild für den Tempel in 197 Cf. ibid., 155. 198 Ich denke hier vor allem an Huber 1965, dessen Arbeit die mit Abstand ausführlichste Auseinandersetzung mit religiösen Motiven bei Herodot bietet. 199 So wird auch die Frage nach der göttlichen oder menschlichen »Kausalität« des Geschehens, der sich etwa schon Pagel 1927 widmete, nach wie vor diskutiert, so bei Pietsch 2001 und Löffler 2008. 200 Bezüglich der Kommunikation zwischen Menschen und Göttern siehe Hollmann 2011, der innerhalb seines Kommunikationsmodells die Zeichen, Orakel und Träume bei Herodot bespricht. 201 I 50,1; 86,2; II 119,2.3; IV 35,2; 76,3.4 202 I 50f.; II 181,4.5. 203 I 67.

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1. Typologie

Kyrene versprochen, weil ihr Mann nicht imstande ist, mit ihr zu schlafen, und er sich deshalb von Ladike verzaubert glaubt und sie bedroht. Nun gelingt es Amasis endlich, mit seiner Frau zu verkehren, und er gewinnt sie von Herzen lieb. Ladikes Leben und ihre Ehe sind gerettet; es ist ihr offensichtlich gelungen, Aphrodites Gunst zu gewinnen. In den Zusammenhang entsprechender Bemühungen ist auch die Diskussion in I 86,2 zu stellen, wo erklärt wird, warum Kyros seinen Gefangenen Kroisos und zweimal sieben Lyderknaben auf den Scheiterhaufen führen läßt: . . . ἐν νόῳ ἔχων εἴτε δὴ ἀκροθίνια ταῦτα καταγιεῖν θεῶν ὅτεῳ δή, εἴτε καὶ εὐχὴν ἐπιτελέσαι θέλων, εἴτε καὶ πυθόµενος τὸν Κροῖσον εἶναι θεοσεβέα τοῦδε εἵνεκεν ἀνεβίβασε ἐπὶ τὴν πυρήν, βουλόµενος εἰδέναι εἴ τίς µιν δαιµόνων ῥύσεται τοῦ µὴ ζώντα κατακαυθῆναι.

Er hatte dabei die Absicht, sie entweder als Erstlingsgabe einem Gott zu opfern, oder er wollte ein Gelübde erfüllen, oder er hatte erfahren, daß Kroisos gottesfürchtig war und ließ ihn deshalb den Scheiterhaufen besteigen, weil er erproben wollte, ob einer der Götter ihn davor bewahren würde, lebend verbrannt zu werden.

Herodot bemüht sich, die spektakuläre Szene zu erklären. Die beiden ersten Möglichkeiten, die er seinen Lesern anbietet, liegen inhaltlich nah beieinander. Ob Kyros einen Gott gnädig stimmen will, indem er ihm den besten Teil der Kriegsbeute opfert, oder ob er ein Gelübde einlöst, nachdem der Gott sich gnädig erwiesen hat, ist lediglich eine Frage der Abfolge; im Kern geht es darum, sich der Gunst eines Gottes zu versichern. Ein ganz anderes Motiv dagegen kommt mit dem dritten Erklärungsangebot ins Spiel: Kyros läßt den gefangenen Kroisos demnach aus schlichter Neugier auf den Scheiterhaufen führen, um zu sehen, ob ein Gott sich seiner erbarmen wird. Dieser Beweggrund ist eindeutig aus dem späteren Verlauf der Geschichte erschlossen,204 denn genau das wird ja passieren; Apollon selbst greift in das Geschehen ein und löscht das Feuer.205 Nun erkennt Kyros, was er zu wissen begehrte: Kroisos ist ein Liebling der Götter und ein edler Mensch.206 Die unglaublichen Anstrengungen, die Kroisos unternommen hatte, um Apollons Gunst zu gewinnen – er hat ihm 3 000 Stück Vieh, gold- und silberbeschlagene Betten, Goldschalen und Purpurgewänder geopfert und ungezählte Preziosen als Weihgeschenke nach Delphi gesandt, darunter 117 Goldziegel und einen goldenen Löwen, zwei riesige Mischkrüge aus Silber und aus Gold, vier silberne Fässer, ein

204 Lang 1984, 74. 205 Nach Baragwanath 2008, 66f., wirkt Kyros mit Herodots dritter Motivzuschreibung auf den Leser nun weniger fromm und integer, sondern wird aus einer eher menschlichen Perspektive betrachtet. 206 καὶ θεοφιλὴς καὶ ἀνὴρ ἀγαθός (I 87,2). Die Errettung vom Scheiterhaufen ist ein Element des internationalen Märchens AaTh 710 („Our Lady’s Child“), im deutschen Sprachraum bekannt in der Grimmschen Fassung vom Marienkind (Hansen 1996 und Hansen 2002, 316–327).

1.6. Religiös begründete Handlungsmotive

69

silbernes und ein goldenes Weihbecken sowie Halsketten und Gürtel seiner Frau (I 50f.)207 – diese Bemühungen also haben sich für Kroisos ausgezahlt. Ging es bisher um Versuche, die Gunst einer Gottheit zu erwerben oder zu erhalten, so soll nun das damit eng verwandte Motiv, einen zürnenden Gott beschwichtigen zu wollen, vorgestellt werden. Hier ist an solche Geschichten zu denken, in denen sich jemand bemüht, eine Schuld zu sühnen. Dabei geht es um Fragen von Leben und Tod: Die Achaier wollen als Sühnopfer einen Menschen schlachten (VII 197,3), auf Lemnos sind die Erde, die Herden und die Frauen unfruchtbar geworden, so daß die Pelasger Hunger leiden und kinderlos bleiben (VI 139,1), und die Spartaner Sperthias und Bulis sind sogar bereit, ihr eigenes Leben zu opfern (VII 134,3; 136,2). Daß auch der Beweggrund, eine Schuld zu sühnen, unmittelbar dem religiösen Bereich zuzuordnen ist, macht Herodot ausdrücklich klar. Ist es im Fall von Sperthias und Bulis der Heros Thalthybios, dessen Zorn über den Gesandtenmord der Spartaner beschwichtigt werden soll, da in Sparta alle Opfer ungünstig ausfallen, so folgen die Achaier, Pelasger und Agyllaier Orakelsprüchen, nachdem in den letztgenannten beiden Fällen bedrohliche Zeichen empfangen worden waren.208 Neben einer eigenen Schuld kann auch die Schuld eines Dritten zum Handlungsmotiv werden. Als Kleomenes seinem Gastfreund Isagoras gegen Kleisthenes zu Hilfe kommt, 700 Familien aus Athen vertreibt und die βουλή aufzulösen versucht, geschieht das, wie die Beteiligten behaupten, wegen der Blutschuld der Alkmeoniden (V 70–72). Dreimal heißt es in dieser Erzählung, die Alkmeoniden seien mit einem Fluch beladen (ἐναγής).209 Dieses Wort kommt in den Historien sonst nur noch einmal vor, und auch dort geht es um die Alkmeoniden. Peisistratos, der die Tochter des Megakles geheiratet hat, verkehrt mit dieser nicht auf die übliche Weise210 . Für diesen Affront, der den Zorn des Megakles hervorrufen wird, hat Peisistratos zwei Motive: Erstens will er verhindern, von seiner neuen Frau Kinder zu bekommen, da er bereits Söhne im Jünglingsalter hat, und zweitens beruft schon er sich auf die Blutschuld ihrer Familie. Als Handlungsmotiv wird eine solche Blutschuld in den Historien ausschließlich von den Akteuren selbst angeführt, die auf diese Weise ihr Verhalten rechtfertigen wollen. Der Erzähler legt die Begründung jeweils einem der Beteiligten in den Mund. Genau wie beim Problem des nicht erwartungsgemäß vollzogenen Beischlafs mit der Tochter des Megakles ist es auch bei der Vertreibung der 700 Familien aus Athen zunächst Peisistratos, der behauptet, auf den Alkmeoniden laste ein Fluch (λεγοµένων ἐναγέων εἶναι τῶν Ἀλκµεωνιδέων, I 61,1). Später fordert Kleomenes die Verbannung einer Reihe von Athenern, die er als verflucht bezeichnet (τοὺς ἐναγέας ἐπιλέγων, V 70,2).211 Der Erzähler dagegen benutzt den Ausdruck gewissermaßen nur in Anführungsstrichen, wenn er erklärt: „Die »fluchbeladenen« Athener wurden 207 208 209 210 211

Zu den Gaben des Kroisos siehe Scheid-Tissinier 1998, 208f. VII 133f.; 137,1 (Spartaner); VII 197,3 (Achaier); VI 139,1 (Pelasger); I 167,1–3 (Agyllaier). V 70,2; 71,1; 72,1. οὐ κατὰ νόµον (I 61,1). Zu dieser Geschichte siehe auch Baragwanath 2008, 152–157. Cf. die Formulierung Κλεοµένης δὲ ὡς πέµπων ἐξέβαλλε Κλεισθένεα καὶ τοὺς ἐναγέας (V 72,1).

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1. Typologie

aus folgendem Grund so genannt“ (οἱ δ’ ἐναγέες Ἀθηναίων ὧδε ὠνοµάσθησαν, V 71,1). Liest man dies als Distanzierung von den Rechtfertigungsversuchen eines Kleomenes und Isagoras, liegt es nahe, daß religiöse Skrupel möglicherweise eher als Vorwände denn als wirkliche Handlungsmotive aufzufassen sein könnten.212 Die Zuschreibung von Handlungsmotiven durch die historischen Akteure würde in diesem Fall nicht mit dem übereinstimmen, was Herodot selbst als Beweggrund gelten läßt. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß es in den Historien eine Bandbreite von Verhaltensweisen gibt, hinter denen der Wunsch der Akteure steht, ihr Verhältnis zu den Göttern – und meist ist es ein ganz bestimmter Gott – positiv gestalten zu wollen. Obwohl dies zunächst eine rein religiöse Angelegenheit zu sein scheint, ist das Bemühen um göttliches Wohlwollen in der Regel kein Selbstzweck. Häufig verfolgt jemand damit zugleich andere, etwa politische, Motive. Damit kommen wir zu denjenigen Fällen, in denen die Handelnden auf Orakel, Träume oder Zeichen reagieren. Eine von Herodot in die Darstellung der Ereignisse des Jahres 480 v. Chr. eingeflochtene Erzählung beleuchtet die Bedeutung göttlicher Interventionen für menschliche Entscheidungen. In VIII 41 wird berichtet, wie die Athener ihre Stadt evakuieren, als die Perser heranrücken: [1] µετὰ δὲ τὴν ἄπιξιν κήρυγµα ἐποιήσαντο, Ἀθηναίων τῇ τις δύναται σῴζειν τέκνα τε καὶ τοὺς οἰκέτας. ἐνθαῦτα οἱ µὲν πλεῖστοι ἐς Τροιζῆνα ἀπέστειλαν, οἱ δὲ ἐς Αἴγιναν, οἱ δὲ ἐς Σαλαµῖνα. [2] ἔσπευσαν δὲ ταῦτα ὑπεκθέσθαι τῷ χρηστηρίῳ τε βουλόµενοι ὑπηρετέειν καὶ δὴ καὶ τοῦδε εἵνεκα οὐκ ἥκιστα· λέγουσι Ἀθηναῖοι ὄφιν µέγαν φύλακα τῆς ἀκροπόλιος ἐνδιαιτᾶσθαι ἐν τῷ ἱρῷ. λέγουσί τε ταῦτα καὶ δὴ καὶ ὡς ἐόντι ἐπιµήνια ἐπιτελέουσι προτιθέντες· τὰ δ’ ἐπιµήνια µελιτόεσσά ἐστι. [3] αὕτη δ’ ἡ µελιτόεσσα ἐν τῷ πρόσθε αἰεὶ χρόνῳ ἀναισιµουµένη τότε ἦν ἄψαυστος. σηµηνάσης δὲ ταῦτα τῆς ἱερείης µᾶλλόν τι οἱ Ἀθηναῖοι καὶ προθυµότερον ἐξέλιπον τὴν πόλιν ὡς καὶ τῆς θεοῦ ἀπολελοιπυίης τὴν ἀ-

[1] Nach der Ankunft machten sie durch einen Ausruf bekannt, jeder Athener solle, so gut er könne, seine Kinder und Sklaven retten. Daraufhin schickten die meisten sie nach Troizen, andere nach Aigina, andere nach Salamis. [2] Sie waren aber darauf bedacht, sie schnell in Sicherheit zu bringen, weil sie den Orakelspruch befolgen wollten, besonders aber auch aus diesem Grund: Die Athener sagen, daß eine große Schlange als Wächterin der Akropolis in dem Heiligtum lebt. Das sagen sie und bringen ihr, als würde sie wirklich leben, ein monatliches Opfer dar, das sie ihr vorsetzen. Das monatliche Opfer ist ein Honigkuchen. [3] Dieser Honigkuchen, der früher immer verzehrt worden war, blieb nun unberührt. Als dies die Priesterin verkündete, verließen die Athener die Stadt noch lieber und bereitwilliger, da auch die Göttin die Akropolis verlassen habe. Als

212 Dies gilt dagegen nicht für die Skrupel, die in IV 23 vorausgesetzt werden, wo es heißt, die anderen Menschen täten den Phalakroi nichts an, da diese als heilig gälten.

1.6. Religiös begründete Handlungsmotive

κρόπολιν. ὡς δέ σφι πάντα ὑπεξέκειτο, ἔπλεον ἐς τὸ στρατόπεδον.

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sie alles in Sicherheit gebracht hatten, schlossen sie sich der Flotte an.

Die scheinbar ohnehin naheliegende Evakuierung der Stadt wird also gleich mehrfach begründet, wobei Herodots Erklärung auf verschiedenen Ebenen ansetzt. Mit dem öffentlichen Aufruf (κήρυγµα)213 ist die Handlung der Athener bereits klar motiviert; ein jeder sieht zu, wie er seine Angehörigen in Sicherheit bringen kann. Doch dabei läßt Herodot es nicht bewenden. Die Athener sind deshalb so eifrig, heißt es ergänzend, weil sie einer göttlichen Weisung folgen (nämlich den Orakeln in VII 140,2 und 141,4). Ihr Hauptgrund aber, erfährt der Leser weiter, ist ein unheilverkündendes Zeichen: Athena in Gestalt der Schlange soll die Akropolis verlassen haben.214 Von den drei Handlungsmotiven – Bekanntmachung, Orakelweisung und Zeichen – scheint das κήρυγµα die geringste Verbindlichkeit zu besitzen. Eine später eingeschobene Episode läßt die hier angegebenen Beweggründe in einem neuen Licht erscheinen. Während Herodot an der besprochenen Stelle zunächst den Eindruck erweckt, die gesamte Stadt sei evakuiert,215 zeigt sich beim Einmarsch der Perser, daß einige Athener, Tempelwächter und Arme nämlich, auf der Burg zurückgeblieben sind und sich dort verschanzen. Diese Leute hatten teils nicht die Mittel, um mit nach Salamis zu fahren, teils haben sie den Orakelspruch falsch gedeutet216 (VIII 51,2). Anders als das κήρυγµα, das von den in Rede stehenden Personen schlicht mißachtet worden ist, hat der Orakelspruch demnach alle Athener – soforn sie nur irgend Geld und Mittel hatten, eine Flucht überhaupt in Erwägung zu ziehen – zum Handeln bewogen. Strittig ist lediglich die Frage seiner Deutung, ob also die Stadt ganz aufzugeben oder lediglich auf die Burg zu fliehen sei. Hier kommt nun die Schlange ins Spiel. Spätestens mit ihrem Verschwinden, so legt der Text nahe, hätte auch dem letzten Athener klar sein müssen, daß die Pythia mit dem Rettungsort hinter der hölzernen Mauer unmöglich die Akropolis gemeint haben konnte. Der liegengebliebene Honigkuchen ist im Zusammenhang mit dem Orakelspruch ein eindeutiger göttlicher Wink – zumindest im Nachhinein, für den Leser der Historien, war doch für die Beteiligten der Fall offenbar zunächst nicht so klar.217 213 Bowie geht in seinem Kommentar zur Stelle davon aus, daß Herodot sich hier auf ein Dekret bezieht, das freilich sehr viel früher erlassen worden sein müßte als unmittelbar vor der Evakuierung der Stadt (p. 131f.). Zur Frage, wie das 1959 in Troizen entdeckte sogenannte Themistoklesdekret mit Herodots Darstellung in Zusammenhang steht, siehe ibid. (mit Literaturangaben). 214 Siehe dazu auch Hollmann 2011, 23 und 70. Huber 1965, 20, sieht in diesem Zeichen keinen Beweggrund, sondern nur eine Bestätigung der bereits getroffenen Entscheidung, Athen zu evakuieren. Einer solchen Interpretation steht aber die Aussage in VIII 41,2 entgegen: καὶ τοῦδε εἵνεκα οὐκ ἥκιστα . . . 215 Cf. den abschließenden Satz: „Als sie alles in Sicherheit gebracht hatten . . . “ 216 Sie dachten also, mit der hölzernen Mauer, die ihnen Schutz gewähren sollte, sei die frühere Umzäunung der Akropolis gemeint. Siehe dazu die Diskussion der Athener um die Interpretation des Spruchs in VII 142f. 217 Der Erzähler selbst scheint sich denn auch von dieser Geschichte distanzieren zu wollen; jedenfalls lassen sich das wiederholte λέγουσι Ἀθηναῖοι . . . λέγουσί τε ταῦτα und die Bemerkung ὡς ἐόντι in VIII 41,2 dahingehend auffassen.

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1. Typologie

Die überaus häufig erwähnten Orakel218 sind in den Historien auch sonst als Beweggründe immer heikel, da alles von der richtigen Interpretation abhängt. In den allermeisten Fällen erweist sich die Befolgung eines Spruchs zwar als richtig oder doch zumindest nicht als fatal,219 aber gerade dort, wo ein ambivalenter220 oder falscher221 Spruch jemanden in die Irre führt,222 sind die Folgen besonders drastisch und werden in der Regel auch sehr ausführlich geschildert. So sind es vor allem diese Beispiele, die dem Leser im Gedächtnis bleiben. Das wohl bekannteste ist das Verhängnis des Kroisos, der im Vertrauen auf die Prophezeiung, er werde ein großes Reich zerstören (I 53,2), gegen die Perser zu Felde zieht – am Ende aber ist es sein eigenes Reich, das er zerstört. Ähnlich ist es mit den verheißungsvollen Orakelsprüchen, die Xerxes von Onomakritos für seinen Griechenlandfeldzug erhält (VII 6,3.4) – auch dieses Unternehmen endet bekanntlich im Desaster.223 Die Athener schließlich, die im Vertrauen auf ihre Interpretation des Orakelspruchs mit der hölzernen Mauer auf der Burg zurückgebliebenen sind, finden ein grausiges Ende: Als sie die Perser auf der Akropolis erblicken, stürzen sich die einen von den Mauern in den sicheren Tod, die anderen fliehen ins Megaron des Tempels, wo sie, obwohl sie um Gnade flehen, von den Persern erschlagen werden (VIII 53,2). Orakel, so läßt sich zusammenfassen, taugen nur bedingt als Grundlage für Entscheidungen. Auch die betreffenden Personen selbst sind sich der Ambivalenz von Orakelweisungen bewußt. Dies zeigt sich nicht zuletzt dann, wenn ein Götterspruch einem anderen potentiellen Handlungsmotiv entgegensteht. So ist Dorieus eigentlich unterwegs, um, wie die Pythia verfügt hat, eine Kolonie zu gründen, als ihn die Bitten der Stadt Kroton zu der Gefälligkeit bewegen, stattdessen einen Feldzug gegen Sybaris zu beginnen (V 44). Die Spartaner wägen ihre Pflichten gegenüber dem Gott und den Menschen sorgfältig ab, ehe sie sich dazu entschließen, ihre alte Freundschaft mit den Peisistratiden hintanzustellen und diese, dem Orakel folgend, aus Athen zu vertreiben (V 63,2). Damit liegen sie freilich falsch, wie der Leser an dieser Stelle bereits ahnt – anders als die Handelnden selbst weiß er nämlich, daß die Pythia von den Alkmeoniden bestochen war. Die Spartaner werden ihren Fehler erst später reuevoll erkennen (V 90f.). 218 Allgemein zu den Orakeln bei Herodot siehe zuletzt Barker 2006 (mit der älteren Literatur) und Hollmann 2011, 94–117. Insgesamt kommen über 60 Orakel in den Historien vor. Zu Orakeln als Handlungsmotiven siehe auch Huber 1965, 30–56, und Kirchberg 1965. 219 I 13; 66,2.3; 67; 165,1; 167,1–3; 167,4; 174,3–6; II 29,5; 139; 152,1; 152,3; 158; IV 15; 150f.; 155f.; 157; 159,2–4; 161,1.2; 203,1; V 1,2; 43; 79f.; 82,1.2; 90; VI 34–36; 77; 118,3; 139,1.2; VII 140–144; 148; 169; 178; 189,1.2; 197,1; 197,3; 220,4; VIII 36; unser Beleg 41; 60γ; 114,1; 136; 141,1; IX 36f.; 93f. Ich habe nur die Orakel ausgewertet, die als Beweggrund für eine Handlung dargestellt werden. Wenn es im folgenden um Zeichen etc. geht, sind damit ebenfalls immer die entsprechenden Handlungsmotive gemeint. 220 Zur ambivalenten Sprache der Orakel siehe Péron 1998, 108–110. 221 Ich denke hier nicht an die falsche Interpretation einer Prophezeiung, sondern an die bewußt unzutreffende Weissagung einer bestochenen Priesterin, wie sie in den Historien mehrfach vorkommt. 222 I 53,3; 158f.; V 63,1; VI 76,1; VII 6,3f. und unser Beispiel VIII 51,2.3. 223 Überhaupt wird Xerxes von seinen Zeichendeutern schlecht beraten. Sie interpretieren sogar eine plötzliche Sonnenfinsternis (VII 37,2) als gutes Omen!

1.6. Religiös begründete Handlungsmotive

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In vier ähnlichen Situationen entscheiden sich die Charaktere gar für ein konkurrierendes Handlungsmotiv und damit gegen ein Orakel. Da Herodot sonst nicht angibt, warum jemand einen Orakelspruch ignoriert,224 sind diese Belegstellen von besonderem Interesse. So relativieren die Athener gleich mehrfach die Bedeutung von Orakelsprüchen: Als die Aigineten die attische Küste verwüsten, rüsten sie sofort zum Rachefeldzug. Zwar lautet ein Orakelspruch aus Delphi, sie dürften erst im 31. Jahr gegen Aigina ziehen, doch ihr Bedürfnis, sich zu rächen, ist zu dringlich. So nehmen die Athener in Kauf, 30 Jahre lang sieglos gegen Aigina kämpfen zu müssen, wie es ihnen das Orakel für diesen Fall verheißen hat (V 89–90,1). Im Zusammenhang mit den Kriegen gegen die Perser setzen sich die Athener zwar nicht dezidiert über ein Orakel hinweg, doch als es darum geht, wie sie ganz Hellas zum Widerstand ermutigen und beherzt den persischen Angriff erwarten, um die Freiheit der Griechen zu erhalten, betont der Erzähler, daß dies trotz der furchterregenden Orakel aus Delphi geschieht (VII 139,5.6). Grinnos, der König der Insel Thera, verweigert dem delphischen Orakel schlichtweg den Gehorsam. Er wird von der Pythia aufgefordert, eine Stadt in Libyen zu gründen, weigert sich aber mit den Worten, er sei zu alt und müde für ein solches Unternehmen.225 Mitleid schließlich ist es, das zehn Mitglieder der Bakchiadenfamilie in Korinth davon abhält, den Säugling Kypselos zu töten, obwohl von ihm, wie Orakel warnen, Gefahr für ihr Leben, ihr Haus und die Stadt Korinth ausgeht (V 92β–δ).226 Als Labda, die Mutter, das Neugeborene dem ersten von ihnen in den Arm legt, lacht das Kind ihn durch göttliche Fügung (θείῃ τύχῃ) arglos an. In dem Mann regt sich Mitleid, und mitleidig, wie es erneut heißt, reicht er den Säugling weiter an den Nebenstehenden, anstatt ihn wie vereinbart zu töten.227 Der zweite übergibt ihn dem dritten, und so wandert Kypselos von Arm zu Arm, ohne daß einer der Bakchiaden es übers Herz brächte, den Mord zu begehen. Kaum zur Tür hinaus, ist die Angst der vornehmen Korinther, das Orakel werde sich bewahrheiten, schon wieder stärker als ihre spontane Mitleidsregung. Doch nun ist es zu spät; Labda hat das Gespräch belauscht und ihr Kind an einem sicheren Ort versteckt . . . Als erwachsener Mann wird Kypselos dereinst viele Korinther ins Exil schicken, viele um ihren Reichtum bringen und noch mehr um ihr Leben (V 92ε,2), und sein Sohn Periander wird ihn an Grausamkeit später noch übertreffen (V 92ζf.). Ein dringliches Rachebedürfnis, unbedingte Freiheitsliebe, die Müdigkeit eines alten Mannes und schließlich das Mitleid mit einem wehrlosen Neugeborenen sind somit in diesen Fällen für die Handelnden wichtiger als die Weisungen eines Orakels. Dem Pharao Mykerinos gelingt es gar, ein Orakel Lügen zu strafen: Nachdem ihm

224 Etwa in IV 155,3.4. Bemerkenswert ist IV 164,4, wo Herodot nur sagen kann, Arkesilaos habe das Orakel absichtlich oder unabsichtlich mißachtet. 225 ἐγὼ µέν, ὦναξ, πρεσβύτερός τε ἤδη εἰµὶ καὶ βαρὺς ἀείρεσθαι (IV 150,3). 226 So legt es der Gesandte Soklees aus, der die ganze Geschichte in einer langen Rede erzählt. Weiterführende Literatur zur Rede des Soklees wird unten in n. 36 auf p. 95 angegeben. 227 καὶ τὸν φρασθέντα τοῦτο οἶκτός τις ἴσχει ἀποκτεῖναι, κατοικτίρας δὲ παραδιδοῖ τῷ δευτέρῳ (V 92γ,3).

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1. Typologie

prophezeit worden ist, er habe nur noch sechs Jahre zu leben, macht er die Nacht zum Tag und damit aus den sechs Jahren zwölf (II 133). Diese Stellen belegen, daß Orakelsprüche für Herodots Figuren prinzipiell verhandelbar sind.228 Dazu braucht es nicht einmal Zweifel an ihrer Authentizität.229 Orakel gehören zu den in den Historien am häufigsten genannten Beweggründen, nehmen aber, was ihre Verbindlichkeit betrifft, gegenüber menschengemachten Motiven, wie sie in den vorigen Abschnitten besprochen wurden, keinerlei Sonderstellung ein. Anders verhält es sich mit einem eng verwandten Motiv, dem Traum.230 Wie Alexander Hollmann bemerkt, werden bei Herodot Träume relativ selten erzählt und sind zudem einer ganz bestimmten Gruppe von Handelnden vorbehalten: Fast alle Träume werden von Nicht-Griechen geträumt, und diese sind allesamt Teil eines „exclusive club of rulers, tyrants, and high officials, the main players of the stage of the Histories“.231 Wo immer sich nun einer dieser Akteure durch einen Traum zum Handeln aufgefordert sieht, tut er es.232 Xerxes, der sich auf Anraten des Artabanos trotz seines Traums zunächst gegen einen Zug nach Hellas entscheidet (VII 12f.), bildet im Grunde keine Ausnahme. Als weitere Träume ihn und seinen Berater Artabanos unter Druck setzen (14; 17), stößt er seinen Entschluß bekanntlich um und läßt doch zum Krieg rüsten. Ein weiterer Traum mit scheinbar guter Vorbedeutung bestärkt ihn (19). Der Leser der Historien freilich weiß, anders als die Protagonisten, wie die Geschichte ausgehen wird . . . Hinsichtlich ihrer Verläßlichkeit verhält es sich also mit den Träumen ähnlich wie mit den Orakelsprüchen; ja, sie taugen noch weniger als diese zur Handlungsanleitung. Mitunter werden sie völlig fehlinterpretiert:233 Im günstigeren Fall wird ein 228 Es sollte daher dahingestellt bleiben, was Herodot selbst von Orakeln gehalten haben mag (gegen Rengakos 2011, 372: „Herodot ist fest von der Unfehlbarkeit von Orakelsprüchen überzeugt“). 229 Auch solche Fälle gibt es, etwa I 158, wo Aristodikos die Echtheit des Spruchs zu Unrecht bezweifelt und seinen Mitbürgern zu Recht davon abrät, einen Schutzsuchenden an die Perser auszuliefern. 230 Zu den Träumen bei Herodot siehe Frisch 1968, Lévy 1995, Harrison 2000a, 122–157, Hollmann 2011, 75–93. Bezüglich des göttlichen Ursprungs der Träume bei Herodot sei auf die Beobachtung von Munson 1991, 53, verwiesen, daß die Traumberichte in den Historien in einem theologischen »Code« formuliert sind. Zu den Träumen als Handlungsmotiven siehe Huber 1965, 10–18. Der Verfasser kommt zu dem Ergebnis, Träume wirkten nicht „in die historische Darstellung im engeren Sinn“ ein; bis auf zwei Ausnahmen gebe es in den Historien „kein[en] Traum, den man uneingeschränkt als motivierend bezeichnen könnte“ (18). Dem ist entschieden zu widersprechen, wie meine Darstellung zeigen soll. So jetzt auch Hollmann 2011, 76–78: Die Träume sind für Herodot „a vital narrative tool for marking transitions in power and exploring choices“ (76), Träume „function to provide motivation for certain types of actions“ (77). 231 Ibid., 75. 232 I 34; 107; 108; 121; 209f.; II 139 und 152,1; 141,3.4; III 30,2.3; 124; 149; VI 118; VII 18f.; VIII 54. Cf. auch VI 107, wo der Traum Hippias in seinem Vorhaben bestärkt. In VII 16 finden sich Überlegungen zum Ursprung und zur grundsätzlichen Bedeutung von Träumen. – Mit Huber 1965, 10, lassen sich diese Träume in zwei Gruppen unterteilen: in solche, die ein zukünftiges Ereignis offenbaren, und solche, die ein direktes Handeln befehlen (diese zweite Gruppe umfaßt nur II 139 und VII 12–17). 233 Mit diesem Problem befaßt sich Hollmann 2011, 85–91.

1.6. Religiös begründete Handlungsmotive

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Traumgesicht, das Erfreuliches verheißt, als Warnung mißverstanden,234 im ungünstigeren Fall ein warnender Traum fälschlich als Bestärkung aufgefaßt.235 Doch auch dann, wenn der unglückverheißende Charakter eines Traumbilds zutreffend erkannt wird – und als weiterer Beweggrund dann in der Regel die Angst vor dem Geschauten eine Rolle spielt –, gelingt es den Handelnden meist nicht, die Erfüllung des Traums zu verhindern.236 Im Gegenteil: Nachdem Kambyses wegen eines Traums seinen Halbbruder Smerdis hat ermorden lassen, wiegt er sich in trügerischer Sicherheit. Doch gerade der vertuschte Mord ermöglicht es später dem Magier Smerdis, Kambyses zu stürzen, so daß der Traum sich schließlich doch erfüllt (III 61–64). Als Astyages nach einem Traum seine Tochter Mandane aus Angst vor späteren Nachkommen mit einem vermeintlich unbedeutenden Perser verheiratet, legt auch er den Grundstein für sein späteres Unglück, denn aus dieser Verbindung wird kein Geringerer als Kyros hervorgehen (I 107–128). Ein neuer Traum versetzt Astyages so in Schrecken, daß er die Ermordung seines Enkels befiehlt, doch auch damit kann er seinem Schicksal nicht entgehen. Nach der völligen Vernichtung seines Heeres durch die Perser sieht Astyages schließlich seiner Gefangennahme entgegen. Ihm bleibt die letzte Genugtuung, seine unfähigen Traumdeuter ans Kreuz schlagen zu lassen (I 128). Einer der seltenen Fälle, in denen ein Traum jemanden zu einer Handlung bewegt, die sich als Erfolg erweisen wird, ist der des ägyptischen Königs und Hephaistos-Priesters Sethos (II 141). Ägypten wird von den Arabern und Assyrern angegriffen, als das Heer Sethos die Gefolgschaft verweigert. In seiner Not vertraut er sich dem Götterbild im Tempel an, und als er erschöpft dort einschläft, erscheint ihm im Traum Hephaistos und ermutigt ihn zum Kampf. Sethos zieht also ohne einen einzigen Soldaten den Feinden entgegen, nur Krämer und Handwerker und Leute vom Markt folgen ihm. Doch nachts überfallen Feldmäuse das Lager der Gegner und zernagen ihre Köcher, Bogen und Schildgriffe, so daß sie am nächsten Morgen schutzlos fliehen müssen. Geschichten wie diese ermöglichen es Herodot, immer wieder Spannung aufzubauen, wenn ein Traum als Beweggrund genannt wird. Dabei dienen die Träume häufig dazu, erstaunliche, unübliche oder irrational erscheinende Entscheidungen zu rechtfertigen.237 Wie bei den Orakelsprüchen, so ist auch hier der Ausgang für die Beteiligten höchst ungewiß – und für den Leser meist gleicherweise. In einem gewissen Gegensatz dazu stehen bedeutsame Zeichen wie Himmelserscheinungen oder Krankheiten.238 Anders als bei den Orakeln und Träumen leiten 234 So läßt Kyros seinen Sohn Dareios unnötigerweise bewachen, in der Angst, dieser könnte seine Herrschaft gefährden (I 209f.). 235 Neben dem erwähnten dritten Traum des Xerxes auch in I 121. 236 Beispielsweise I 34 oder III 124. 237 Cf. auch Hollmann 2011, 78. 238 Zu Zeichen bei Herodot siehe Harrison 2000a, 122–157, und zuletzt Hollmann 2011, vor allem das Kapitel 51–74. Hollmann definiert Zeichen (portents) als „aberrations and departures from the norm which by reason of their unusual nature and unexpected appearance are interpreted as signs declarative or prescriptive of some present or future action“ (p. 51), eine Definition, die die Bedeutung der Zeichen für das menschliche Handeln bereits einschließt. Zum göttlichen

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1. Typologie

Herodots Protagonisten in keinem Fall aus solchen Zeichen eine sich später als falsch erweisende Handlung ab.239 Typisch ist etwa die Geschichte der sieben Verschwörer um Dareios. Gleich zweimal wird deren Handeln durch Zeichen bestimmt: Als sie sich gerade streiten, ob sie mit dem Versuch, die Magier zu stürzen, noch warten sollen, sehen sie, wie sieben Habichte zwei Geier verfolgen und töten. Im Vertrauen auf dieses Zeichen folgen sie Dareios, zur Tat bereit, in den Palast (III 76,2). Nachdem es ihnen tatsächlich gelungen ist, die Macht an sich zu reißen, erreicht Dareios durch eine List, daß sieben Tage später beim gemeinsamen morgendlichen Ausritt sein Pferd als erstes wiehert. Der Verabredung gemäß ist er damit zum König bestimmt. Doch noch während das Wiehern seines Hengstes erklingt, blitzt und donnert es aus heiterem Himmel, und auf dieses Zeichen hin springen die anderen von ihren Pferden und huldigen dem Dareios als ihrem König (III 86,2). Bezeichnend ist hier, daß anders als bei den oft dunklen Orakelsprüchen, die mitunter nicht einmal erkennen lassen, ob sie Glück oder Unglück verheißen, oder den vieldeutigen Traumgesichten, die den Träumenden in Ratlosigkeit versetzen, bei solchen göttlichen Zeichen alle Handelnden in seltener Einigkeit sofort wissen, was zu tun ist. Zeichen eignen sich damit dazu, gerade solche Handlungen zu begründen, die plötzlich und ohne Vorankündigung, somit auch für den Leser überraschend, beschlossen werden: einen unerwarteten Verzicht auf die Herrschaft, einen Friedensschluß mitten in der Schlacht oder den abrupten Abbruch eines großen und aufwendigen Bauprojekts, das tausende Arbeiter über Jahre hinweg beschäftigt hatte.240 Ludwig Hubers Behauptung, Zeichen würden in den Historien keine Willensentschlüsse herbeirufen, sondern allenfalls „auf einen bereits vorhandenen und tätigen Willen“ steigernd oder abschreckend einwirken,241 läßt sich daher nicht halten. Ganz ähnlich funktionieren in den Historien explizite Aufforderungen eines Gottes.242 Freilich sind die Handlungen, die θείῃ ποµπῄ, auf göttliches Geheiß, ausgeführt werden, nicht immer von größter Tragweite: Da wird ein neuer Kult eingerichtet, ein Orakelspruch verkündet oder jemand nach seinem Namen gefragt.243 Eine einzige strategische Entscheidung wird auf göttlichen Befehl gefällt; bezeichnender-

239

240 241 242 243

Ursprung dieser Zeichen bei Herodot ibid., 54–60. In bezug auf Zeichen als Beweggründe siehe auch Huber 1965, 19–30. Dort findet sich auch eine Zusammenstellung der Zeichen in den Historien, die nicht als Handlungsmotive wirksam werden. I 74,2.3; 87f.; 174,3–6; II 175,5; III 76,2.3; 86,2; 149; 153; IV 5; 151; 156; 157; V 92β.γ; VI 82; VII 219,1; VIII 38,1; 41,3; IX 10,3; 36f.; 91f. In IX 100f. bestärken mehrere Zeichen die Hellenen, die Seeschlacht von Mykale zu wagen. – Zwei Sonderfälle sind der Lyder Pythios (VII 38,1) und der Perser Artayktes (IX 120,3), die beide ein unheilverkündendes Zeichen zwar richtig als solches erkennen, ihrem Verhängnis aber dennoch nicht entgehen. Herrschaftsverzicht außer in III 86,2 auch in IV 5. Friedensschluß: I 74,2.3. Bauprojekt: II 175,5, cf. auch I 174,3–6 und II 158. Huber 1965, 22. Siehe hierzu auch die bereits genannten Träume in II 139 und VII 12–17, die einen direkten Befehl übermitteln. VI 105,2.3 (Kulteinführung); I 62,4 (Orakelverkündung); IX 91,1 (Frage nach dem Namen). Im letzten Fall handelt es sich um eine von zwei Varianten, die der Erzähler referiert: sei es, daß Leotychides, als er Hegesistratos nach seinem Namen fragte, ein Zeichen erhalten wollte, sei es, daß er zufällig, auf Geheiß eines Gottes hin, handelte (εἴτε κληδόνος εἵνεκεν θέλων πυθέσθαι εἴτε καὶ κατὰ συντυχίην θεοῦ ποιεῦντος).

1.6. Religiös begründete Handlungsmotive

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weise spielt die Geschichte – der erfolglose Sizilienfeldzug der Kreter, die den Mord an Minos rächen wollen – in grauer Vorzeit.244 Obwohl somit nur wenigen Personen zugeschrieben wird, auf direktes göttliches Geheiß zu handeln, ist dieser Beweggrund in den Augen der Handelnden selbst ein überzeugendes Argument, wie in einigen Reden deutlich wird. So beruft sich Hermotimos darauf, den Willen der Götter zu erfüllen, als er sich grausam an Panionios rächt (VIII 106,3), und Kyros behauptet, er wisse sich durch die Götter dazu bestimmt, die Perser aus der Sklaverei zu befreien (I 126,5.6). Nur im Extremfall geht das göttliche Wirken so weit, daß dem Handelnden keinerlei Entscheidungsspielraum bleibt. So ist der Dichter Aristeas von Phoibos besessen, als er zu den Issedonen wandert (IV 13,1). Ähnlich verhält es sich mit denjenigen, die von den Göttern mit Blindheit oder Wahnsinn geschlagen werden, wie Astyages, der so fatalerweise seinen Todfeind Harpagos zum obersten Feldherrn ernennt (I 127,2), oder der spartanische König Kleomenes, der schließlich im Wahn seinen eigenen Körper in Fetzen schneidet (VI 75).245 Für alle anderen Äußerungen göttlichen Willens in den Historien – sei es durch Orakel, Träume oder Zeichen – aber gilt, daß den Menschen ein gewisser Spielraum bleibt. Je nachdem, in welche Richtung sie das Geschaute oder Gehörte auslegen, ergeben sich verschiedene Handlungsmöglichkeiten. Dennoch erweisen sich diese Formen göttlicher Einwirkung als mächtige Beweggründe,246 die sehr wohl als ausschlaggebend dargestellt werden, wie unter vielen anderen die eingangs besprochene Geschichte von der Räumung der Akropolis zeigt. Weitreichende Entscheidungen, von denen Leben und Tod des Handelnden oder Wohl und Wehe ganzer Reiche abhängen, werden von Herodot auch auf göttliches Einwirken zurückgeführt; die glücklosen Feldzüge des Kroisos gegen Persien und des Xerxes gegen Hellas sind die besten Beispiele dafür. Hier gilt es, Herodots Maßstäbe nicht mit unseren eigenen247 zu vertauschen. Um bei Xerxes zu bleiben: Motive wie die Aussicht auf Expansion, Gewinn und Ruhm, die Herodot bei der Entscheidung des Perserkönigs ebenfalls nennt, mögen dem einen oder anderen modernen Leser sicherlich plausibler erscheinen als Orakel, Träume und göttliches Geheiß. In einer eigenen Stellungnahme ist das legitim. Zunächst aber wäre danach zu fragen, wie die verschiedenen Beweggründe in den Historien dargestellt und gewichtet werden, und da lassen sich die religiös begrün244 VII 170,1. Auch in VII 94,2–4 ist göttliches Wirken belegt, wenngleich die Götter keine direkte Aufforderung geben. 245 Während in diesen Fällen der göttliche Ursprung der Verblendung behauptet wird, stellt ihn der Erzähler im Fall der Geisteskrankheit des Kambyses zur Diskussion (III 30,1; 33), siehe dazu n. 35 oben auf p. 39f. 246 Gegen Huber 1965, 57f., der zum entgegengesetzten Ergebnis kommt, verschwindend wenige göttliche Kundgaben brächten die Akteure zum Handeln. In der Regel wirkten sie mit dem menschlichen Wollen zusammen. Der Anfang allen Handelns in den Historien, so Huber, liege beim Menschen, und dort suche Herodot ihn zu erforschen. 247 Ich beziehe mich hier auf die Maßstäbe des modernen Historikers. Daß religiöse Handlungsbegründungen als solche heute nichts von ihrem Reiz eingebüßt haben und zum Beispiel Fundamentalisten diverser religiöser und politischer Richtungen sich gerne darauf berufen, in göttlichem Auftrag zu handeln, steht auf einem anderen Blatt.

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1. Typologie

deten Motive, wie ich in meinem Überblick deutlich gemacht habe, nicht einfach übergehen. Herodot berücksichtigt sie mitunter sehr ausführlich. Im Fall des Xerxeszugs stehen einigen verstreuten Zeilen über Macht und Reichtum viereinhalb Seiten der Oxfordausgabe allein zu den Träumen gegenüber (VII 12; 14–19). Die Träume sind es schließlich auch, die Xerxes zu seiner endgültigen Entscheidung treiben, mit den Kriegsrüstungen zu beginnen.248 Abschließend ist mit W. G. Forrest festzuhalten: „In a religious society, a religious motive can be a human motive“.249 Unter den in dieser Arbeit untersuchten menschlichen Beweggründen bei Herodot nehmen diejenigen, die das Verhältnis der Menschen zu den Göttern betreffen, keine Sonderstellung ein.

1.7. EXTERNE FAKTOREN ALS HANDLUNGSMOTIVE Zum Schluß dieses Kapitels ist eine Gruppe von Handlungsmotiven zu besprechen, bei denen die Akteure von äußerlichen Faktoren bestimmt werden.250 Sei es, daß sie aus freien Stücken einem Rat folgen, sei es, daß sie aus einer Notlage heraus aktiv werden oder jemand anderes sie schlicht zu einer Tat zwingt: Beweggründe können auch von außen an die handelnden Figuren herangetragen werden.251 Am häufigsten geschieht das in Form eines Ratschlags, der auch als Warnung252 oder in Form einer schlüssig erscheinenden Traum- oder Orakeldeutung ausgesprochen werden kann. Der Handelnde macht sich hier die Argumente eines Dritten zu eigen. Neben Angst, Zorn, Strafe und Rache, Machtstreben und Orakeln gehören Ratschläge zu den meistbelegten Beweggründen in den Historien.253 Dieses Motiv kann im einzelnen sehr unterschiedlich ausgestaltet sein. Mitunter sagt Herodot lediglich, vielleicht habe jemand dem Betreffenden einen Plan unterbreitet, vielleicht sei er auch selbst auf die Idee zu seiner Tat gekommen.254 In anderen Fällen wird nur knapp bemerkt, daß eine Handlung auf den Rat eines anderen hin unternommen wird. In IX 31,2 zum Beispiel heißt es, daß Mardonios bei seiner Schlachtordnung den Rat der Thebaner befolgt habe. (Da die Aufstellung eigentlich schon sachlich hinreichend begründet ist – Mardonios stellt den Spartanern 248 Die Handlungsmotivation bei Xerxes wird unten, p. 135–148, in einem eigenen Kapitel besprochen. 249 Forrest 1979, 311f. 250 Auch die Einflüsse der Götter, die Gegenstand des vorigen Abschnitts waren, ließen sich zum Teil hier anführen; die Kategorie des Religiösen scheint mir aber bei der Handlungsmotivation in den Historien grundsätzlich von nicht religiösen Faktoren abgrenzbar zu sein. 251 Lang 1984, 74–79, spricht in ähnlichem Zusammenhang von external motivations, zu denen sie Vorschläge, Ratschläge, Appelle und Informationen zählt. 252 Zu den Warnern bei Herodot siehe die Monographie Bischoff 1932 sowie auch Immerwahr 1954, 37–40, und Strasburger 1955, 599 [Seitenangabe nach der Margschen Ausgabe]. 253 I 19,2; 40; 80; 89f.; 97,2.3; 108; 113,1; 121; 124; 156,2; 167,4; 191,1; 206,3–208; II 121β,2; III 1,1; 41; 134; 145f.; IV 97f.; 114; 115,2; 137; 154,2; 158; V 23f.; 31; 35; 39f.; 43; 51; 79f.; VI 22,2–23,3; 52; 83; 94 (cf. V 105); 100,3.4; 108,4; 109f.; VII 5–19; 143f.; 173; 219f.; 235–237; VIII 46,3; 58; 60; 69; 75; 103; 110,1; IX 10,1; 18; 31,2; 39,1; 122. 254 I 19,2; 191,1.

1.7. Externe Faktoren als Handlungsmotive

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seine tüchtigsten Leute gegenüber und den Tegeaten die schwächeren –, dient die Bemerkung möglicherweise nur vordergründig der Erklärung eines Beweggrunds: Tatsächlich ruft sie dem Leser vor allem wieder in Erinnerung, daß die Thebaner, die bei Herodot bekanntlich als nicht sehr einnehmend dargestellt werden, eifrig medisiert haben sollen.) Ein Ratschlag wird freilich in aller Regel nicht um seiner selbst willen befolgt, sondern zeigt Vorteile auf, die den Handelnden überzeugen. Die eigentlichen Motive sind dann nicht der Rat selbst, sondern etwa Machtsicherung.255 Auch kann es sich um einen klugen Vorschlag handeln, wie jemand sein bereits ins Auge gefaßtes Ziel erreichen kann. Die List des Messeniers etwa, der den Spartanern rät, heimlich zu beobachten, in welcher Reihenfolge Argeia ihre Kinder wäscht und stillt, ermöglicht es ihnen, endlich herauszufinden, wer von den Zwillingen der ältere und damit der rechtmäßige König Spartas ist (VI 52). Herodot gestaltet Ratschläge häufig als ausführliche Reden, in denen der Ratgeber verschiedene verlockende Motive anklingen läßt.256 So legt Aristagoras dem Artaphernes nicht nur die taktischen Vorteile dar, die sich aus der Besetzung von Naxos ergäben, sondern weiß ihm auch die Schönheit der Kykladen und ihren Reichtum an fruchtbarem Land, Gold und Sklaven sowie die Aussicht auf weitere Expansionsmöglichkeiten schmackhaft zu machen (V 31). Tatsächlich rüstet Artaphernes eine riesige Flotte aus, aber die Naxier werden rechtzeitig gewarnt und können ihre Insel erfolgreich verteidigen; nach vier Monaten vergeblicher Belagerung sind alle Gelder des Perserheeres aufgebraucht, und die Schiffe kehren in üblem Zustand heim. Wie diese Episode beispielhaft verdeutlicht, empfiehlt es sich also nicht, einem Ratschlag blind zu folgen. Das weiß auch Xerxes, der lange zögert, ehe er den Kriegszug gegen Hellas beginnt – aber schließlich erliegt er doch den Argumenten seiner Ratgeber, die ihm einen leichten Sieg, Ruhm und Reichtum versprechen, verheißungsvolle Orakel verkünden und die ermutigende Auslegung seiner Träume stützen (VII 5–19).257 Wie in diesen Beispielen bereits angedeutet, sind es fast ausschließlich politische oder militärische Entscheidungen, die durch Ratschläge motiviert sind: Da werden Herrscher gewählt, strategische Verlobungen eingegangen, Heere ausgesandt, Pässe besetzt, Aufstände angezettelt und Kolonien gegründet – alles auf den Rat anderer hin.258 Auch Notlagen der verschiedensten Art kommen als Beweggrund vor.259 Ob es ein jähzorniger Vater ist, der seinen Sohn dazu bringt, unglücklich aus der Heimat auszuwandern, ob die plötzliche Unfruchtbarkeit ihres Landes, ihrer Herden und Frauen die Pelasger dazu bewegt, bei ihren ärgsten Feinden für ihre Untaten Buße zu tun, oder ob die Thessaler von den Griechen bei der Verteidigung des Tempe255 I 89f.; 108; IV 137; V 23f.; 31; 35; VI 109f.; VII 5–19 (als eines von zahlreichen Motiven); IX 122. 256 Zur Rolle der Reden für die Handlungsmotivation siehe auch Huber 1965, 80–89. 257 Dazu im einzelnen unten, p. 139–143. 258 Herrscherwahl: I 97,2.3. Verlobung: III 1,1. Feldzüge: III 134; V 31; VI 94; VII 5–19; 140–144; IX 10,1. Besetzung der Kithaironpässe: IX 39,1. Aufstände: I 124–126; V 35. Auswanderung: I 167,4; IV 115f.; 158; V 43. 259 III 65,1; 131,1; IV 105,1; 150f.; V 35,1; 35,4; 47,1; 82; VI 29; 139; VII 170,2 (Abbruch der Belagerung und Stadtgründung); 172,1; VIII 79.

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1. Typologie

passes im Stich gelassen werden und ὑπὸ ἀναγκαίης zu Xerxes übergehen:260 Mit dem Motiv einer verfahrenen Notlage werden Entscheidungen begründet, die den Akteuren schwerfallen. Während die Akteure aber auch in Notlagen noch verschiedene Handlungsoptionen haben, bleibt ihnen dort, wo andere sie zu Gehorsam zwingen, oft keinerlei Spielraum.261 Wer den Befehl eines Kandaules, eines Deiokes, Kyros, Dareios oder Xerxes erhält, tut gut daran, ihn auszuführen, selbst wenn es sich um eine Mordtat262 handelt. Aber auch unter Hellenen sind Zwang und Befehle an der Tagesordnung. Battos und seine Begleiter etwa werden von den Bürgern in Thera mit Waffengewalt gezwungen, auszuziehen und eine Kolonie zu gründen (IV 155f.). Die Thebaner bleiben, wie Herodot behauptet, ganz gegen ihren Willen, von Leonidas gezwungen, in Thermopylai, um gegen die Perser zu kämpfen (VII 222).263 Die Karystier und Parier schließlich, um ein letztes Beispiel zu bringen, gehorchen Themistokles und zahlen große Summen, um einer Belagerung zu entgehen (VIII 112).

1.8. DAS MOTIVSPEKTRUM DER HISTORIEN Das Inventar der menschlichen Beweggründe in den Historien ist breit gefächert und sehr nuanciert. Es läßt sich daher grundsätzlich bestätigen, daß die Frage nach Handlungsmotiven für Herodot selbst von zentraler Bedeutung war. Fassen wir zusammen: Als emotional und charakterlich begründete Handlungsmotive sind Angst, Zorn, Hybris, Wahn, Bosheit, Neid, Bewunderung, Freude, Neugier, Mißtrauen, Liebe, Begehren, Mitleid, Gram, Überdruß, Reue, Scham und Stolz zu unterscheiden. In den gesellschaftlichen Bereich lassen sich Ehre, Wetteifer und das Bemühen um das Andenken der Nachwelt einordnen, Motive, die auf Prestige und Stellung abzielen. Gesellschaftlich begründete Motive sind außerdem Sitte und Tradition, Verwandtschaft, Freundschaft, Gastfreundschaft, Schutzpflicht, Fürsorglichkeit, Gefälligkeit, Dankbarkeit, Strafe und Rache, die sich aus dem menschlichen Zusammenleben und einer Vorstellung von Gegenseitigkeit ergeben, sowie der Schwur als eine Form von Selbstverpflichtung. Politische Beweggründe sind Freiheitsliebe, Gerechtigkeitssinn, Gesetzestreue, Heimatliebe, Feindschaft, Machtstreben und Kalkül. Herodot kennt weiterhin wirtschaftliche Motive, nämlich Besitzgier, Bestechung, Armut und Geldnot, sowie ästhetisch begründete, den Sinn für Schönheit und Überlegungen zur literarischen Gestaltung. Auch religiöse Motive, die sich aus der Kommunikation und Interaktion mit den Göttern ergeben, gehören zum Inventar der Historien: Die Handelnden wollen einen Gott für sich gewinnen oder ihn beschwichtigen, sie empfangen Orakel, Träume, Zeichen und göttliche Befeh260 III 131,1; VI 139; VII 172,1. 261 I 8–10; 11f.; 41f.; 74,4; 86,4.5; 98,2; 157,2; II 121γ,2; 128,4.5; IV 15; 155f.; V 2,2; VI 101,3; VII 16f.; 19,2; 108,1; 220; 222 (cf. 233,1); VIII 41; 112; IX 16. 262 So in III 128,4.5. 263 Siehe ferner VII 233,1, wo die Thebaner selbst sagen, sie seien ὑπὸ ἀναγκαίης geblieben. Wie das Zitat zeigt, sind die von mir als Notlage und Zwang bezeichneten Motive bei Herodot zwar inhaltlich, nicht immer aber auch begrifflich voneinander abgrenzbar.

1.8. Das Motivspektrum der Historien

81

le. Schließlich sind Ratschläge, Notlagen und Zwang Beweggründe, die von außen an die Akteure herangetragen werden.264 Die mit Abstand häufigsten Handlungsmotive in diesem Repertoire sind Angst, Zorn, Strafe und Rache, Machtstreben sowie das Befolgen von Orakeln und von Ratschlägen. Sie stellen zusammengenommen schon über die Hälfte aller Belege in den Historien. Interessant ist, daß diese sechs zentralen Motive universellen Charakter haben. Anders als der Wahnsinn, der einzig die Handlungen von Kambyses und Kleomenes erklärt, anders etwa als die spezifisch griechische Freiheitsliebe oder das vorrangig Nichtgriechen zugeschriebene Bemühen, der Nachwelt in gutem Andenken zu bleiben, sind diese Beweggründe nicht auf bestimmte Personen oder Personengruppen beschränkt, sondern überall anzutreffen. Die beiden wichtigsten Bereiche der Handlungsbegründung sind gesellschaftlich265 sowie emotional und charakterlich266 begründete Motive, gefolgt von den etwa gleichgewichteten Bereichen der Politik, der Religion und der externen Faktoren.267 Wirtschaftlich begründete Handlungsmotive sind wesentlich seltener vertreten,268 ästhetisch begründete nur ganz vereinzelt.269 Dagegen ist die Gewichtung der anderen Bereiche erstaunlich gleichmäßig.270 Die vor allem in älteren Arbeiten immer wieder zu lesende Behauptung, die Handlungsgründe in den Historien seien hauptsächlich persönlicher Natur, während politische oder soziale Motive keine nennenswerte Rolle spielten,271 erweist sich damit als so nicht haltbar. Emotional und charakterlich begründete Motive nehmen neben gesellschaftlich begründeten eine allenfalls gleichrangige Stellung ein, wobei auch politische und religiöse Aspekte und die Einflußnahme Außenstehender die Entscheidungen der Akteure beeinflussen. Zwar ließe sich argumentieren, daß auch das Streben nach Ehre, nach Macht oder Geld, daß auch Dankbarkeit, Rachedurst oder Freiheitsliebe »persönliche« Mo-

264 Eine Übersicht über die Belegstellen für die jeweiligen Motive bietet die Zusammenstellung im Anhang. 265 Für die Historien insgesamt ergeben sich knapp 250 Belege. 266 Über 200 Belege. 267 Jeweils um die 100 Belegstellen. 268 Etwa 40 Belege. 269 12 Belege. 270 Auch die am häufigsten vorkommenden Motive Angst, Zorn, Strafe und Rache, Machtstreben, Orakel und Ratschläge entfallen gleichmäßig auf die verschiedenen Kategorien. 271 Siehe zum Beispiel Stahlenbrecher 1952, der apodiktisch davon ausgeht, daß „die Motivationen im Herodot nicht politisch, sondern persönlich sind“ (p. 3), oder Huber 1965, 166–171, Montgomery 1965, 235. De Romilly 1971, 334–336, betrachtet persönliche Motive, zu denen sie auch die Rache zählt, zumindest für die Bücher I bis IV als zentral. Sie führt solche Zuschreibungen darauf zurück, daß Herodot in diesen Abschnitten nicht gut informiert gewesen sei und deshalb keine politischen Motive habe nennen können. Dabei übersieht die Verfasserin, daß die Herodot vorliegenden Informationen möglicherweise nicht schlechter, sondern nur anders geartet waren, was etwa Quellengattung, Schwerpunktsetzung etc. betraf. Ihre Argumentation setzt außerdem voraus, daß Herodot seine Motivzuschreibungen ausschließlich aus seinen Quellen übernommen hätte, was meines Erachtens nicht der Fall ist (dazu unten, p. 149–155).

82

1. Typologie

tive seien. Damit aber würde jeder Versuch einer Kategorisierung von Beweggründen überflüssig, denn was wäre dann kein persönliches Motiv?272 Umgekehrt ist aber auch ein Ansatz, der von vornherein den Bereich von Emotionen und Charakter oder die religiösen Beweggründe nicht berücksichtigt, nicht geeignet, die Handlungsmotivation bei Herodot adäquat zu erfassen. Persönlichkeit, Gesellschaft, Politik, Religion und äußere Faktoren sind jeweils komplex und bedingen bei Herodot gleichermaßen das menschliche Handeln. Eine Hierarchisierung bestimmter Motive durch den Autor oder ein festes Reihungsschema bei der Aufzählung mehrerer Beweggründe sind in den Historien nicht festzustellen.

1.9. HANDLUNGSLEGITIMATION DURCH KONSENSFÄHIGE MOTIVE Eine unterschiedliche Qualität von Motiven ist jedoch erkennbar, und zwar in dem Sinn, daß der Erzähler einige Motive als ganz besonders überzeugend und glaubhaft darstellt. Dies geschieht nicht durch explizite Urteile, sondern mittels der narrativen Ausgestaltung von Motivzuschreibungen: Die hier in Rede stehenden Motive werden in den Historien durchweg als einleuchtend, plausibel und nachvollziehbar dargestellt, indem sie von verschiedenen Protagonisten und in gegensätzlichen Kontexten übereinstimmend akzeptiert werden. Unabhängig davon, ob es in schwierigen Situationen wirklich diese Motive sind, die letztlich den Ausschlag für eine Entscheidung geben (denn das tun sie, wie der Gang der Ereignisse zeigt, durchaus nicht immer273 ), die Akteure hinterfragen es nicht, wenn andere sich darauf berufen. Die Klasse dieser grundsätzlich konsensfähigen Motive umfaßt Ehre, Sitte und Tradition, Verwandtschaft, Freundschaft, Gastfreundschaft, Gefälligkeit, Dankbarkeit, Strafe und Rache, Feindschaft, das Beschwichtigen einer zürnenden Gottheit, Orakel, Träume, Zeichen und göttliches Geheiß. Wer in den Historien eins dieser Motive für sich in Anspruch nehmen kann, darf darauf vertrauen, Verständnis zu erhalten. Kommen gar mehrere konsensfähige Motive zusammen, dann erscheint die so begründete Entscheidung als unanfechtbar.274 Der grundsätzliche Konsens in Herodots Werk über die Glaubhaftigkeit dieser Motive läßt womöglich Rückschlüsse auf die Anschauungen zu, die der Autor bei seiner Leserschaft erwarten durfte. Wenn wir davon ausgehen, daß die betreffenden Motivzuschreibungen auf eine zustimmende Haltung der Leser hin angelegt sind, dann bietet die Klasse der konsensfähigen Motive einen interessanten Zugang zu zeitgenössischen griechischen Vorstellungen vom menschlichen Handeln. So erscheint in diesem Zusammenhang aufschlußreich, daß wir es hier fast ausschließlich mit so-

272 Um einer solchen begrifflichen Unschärfe zu entgehen, ist in dieser Arbeit nicht von persönlichen Motiven die Rede, sondern von solchen, die von den Gefühlen und dem Charakter der Handelnden bestimmt sind. 273 Hier ist etwa daran zu denken, daß die Handelnden ihre Verpflichtungen gegenüber Verwandten zwar klar benennen können, sich aber selten genug entsprechend verhalten, oder an die immer wieder mißachteten Orakel. 274 Ein bereits erwähntes Beispiel ist die Kombination von verletzter Ehre und Rache (siehe p. 40).

1.9. Handlungslegitimation durch konsensfähige Motive

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zial und religiös begründeten Motiven zu tun haben.275 Ihre Legitimation liegt also entweder darin, daß es sich um anerkannte Normen des menschlichen Zusammenlebens handelt, und zwar vornehmlich um solche, denen die Vorstellung von Gegenseitigkeit zugrundeliegt, oder in dem Umstand, daß sie göttlich motiviert sind. Individuelle Charaktereigenheiten und Gefühle, machtpolitische oder wirtschaftliche Interessen dagegen stehen zwar häufig hinter den Entscheidungen der herodoteischen Akteure, taugen aber anscheinend nicht dazu, Handlungen gegenüber anderen überzeugend zu legitimieren.

275 Die einzige Ausnahme bildet hier die als politisches Motiv zu klassifizierende Feindschaft zwischen Städten, wobei auch dieses Argument auf eine Gegenseitigkeit abzielt und jedenfalls in dieser Hinsicht Beweggründen wie Freundschaft, Gastfreundschaft, Dankbarkeit oder Rache verwandt ist.

2. ERKLÄRUNGSMUSTER In diesem Kapitel wird besprochen, wie Herodot sein Inventar der menschlichen Beweggründe für die Geschichtsschreibung fruchtbar macht. Ausgehend von der Feststellung, daß er einigen Personengruppen ganz spezifische Motive zuschreibt, wird es in einem ersten Teil darum gehen, welche Motive mit bestimmten Akteuren verbunden werden. Ausgangspunkt des zweiten Teils ist die Beobachtung, daß Herodot weitreichende politische Entscheidungen, die häufiger vorkommen, besonders ausführlich und sorgfältig begründet: Für Kriege, für Aufstände und Usurpationen sowie für Koloniegründungen lassen sich in den Historien spezifische Beweggründe ausmachen. Es wird zu zeigen sein, daß Herodot feste Erklärungsmuster entwickelt, die die Verständlichkeit und Glaubwürdigkeit seiner Motivzuschreibungen stärken. Er läßt diese Zuschreibungen nicht isoliert stehen, sondern bindet sie in den Zusammenhang einer größeren Erzählung oder Argumentation ein.

2.1. DIE HANDELNDEN IM LICHT IHRER BEWEGGRÜNDE 2.1.1. Personen in ferner und naher Vergangenheit Zunächst soll danach gefragt werden, ob Herodot zeithistorischen Akteuren andere Motive zuschreibt als solchen, die einer ferneren Vergangenheit angehören. Mit dem Begriff »Zeitgeschichte« greife ich auch an dieser Stelle bewußt auf moderne Kategoriebildungen zurück. Dies erscheint schon deshalb dringend geboten, da eine Unterscheidung Herodots zwischen einem spatium mythicum und spatium historicum, an die hier andernfalls zu denken wäre, wohl weniger deutlich ist, als bisweilen angenommen wurde.1 Eine exakte zeitliche Abgrenzung der Zeitgeschichte ist freilich per definitionem nicht möglich, da es sich dabei um eine dynamische Kategorie handelt. Geht man aber davon aus, daß zumindest einige Zeitzeugen noch von Herodot befragt worden sein müssen, so lassen sich die Ereignisse von seiner eigenen Gegenwart zurückreichend bis zu den Griechenlandfeldzügen des Dareios (492 und 490 v. Chr.) und zum Ionischen Aufstand (499–494 v. Chr.) noch als zeithistorisch auffassen.2 Anders als 1

2

So zuletzt in differenzierter Weise Wesselmann 2011, 2–7. Die in der Forschung in diesem Zusammenhang diskutierte Referenzstelle ist Herodots Einführung des Kroisos in I 5,3, siehe dazu etwa die luziden Überlegungen bei Thomas 2001. Da sich die markanten Verschiebungen von Motivzuschreibungen, die im folgenden besprochen werden sollen, ohnedies im Vergleich der Ereignisse vor dem Ionischen Aufstand mit der Zeit nach dem Regierungsantritt des Xerxes (486) ergeben, also für die größtenteils in den Büchern I bis IV gegenüber den in den Büchern VII bis IX geschilderten Inhalte, ist es für die hier verfolgte Frage von eher nachrangiger Bedeutung, ob die Geschichte des frühen 5. Jahrhunderts bis zur

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2. Erklärungsmuster

die Unterscheidung von Griechen und Nichtgriechen, Männern und Frauen, Einzelpersonen und Gruppen oder von Göttern und Menschen, die im Anschluß besprochen werden, entspricht eine solche Differenzierung den Kategorien des modernen Historikers; sie ist bei Herodot nicht explizit als solche angelegt.3 Wie zu zeigen sein wird, ist sie aber möglich und sinnvoll. Die Kategorie der Zeitgeschichte wird sich außerdem für den Vergleich mit Thukydides als unverzichtbar erweisen. Der Frage, ob sich die Protagonisten einer ferneren Vergangenheit in ihren Beweggründen von den zeitgenössischen Akteuren unterscheiden, soll zunächst exemplarisch nachgegangen werden, und zwar anhand der älteren ägyptischen Geschichte einerseits und andererseits anhand der Ereignisse vom Tod des Dareios bis zur Schlacht bei Thermopylai. Letztere stehen für die Zeitgeschichte, deren Zeugen Herodot – selbst um 484 v. Chr. geboren – noch hat befragen können. Die Geschichte der ägyptischen Herrscher von Min (um 2850 v. Chr.) bis Amasis (569–526 v. Chr.) wird in Buch II behandelt. Die Ereignisse der Jahre 486 bis 480 v. Chr. sind Gegenstand von Buch VII. Wenn im folgenden von diesen beiden Büchern die Rede ist, dann betrachte ich in beiden Fällen nur die Abschnitte, die in den jeweils untersuchten zeitlichen Rahmen fallen. Gelegentliche Zeitsprünge wie die in Analepse erzählte Geschichte des lang zurückliegenden Feldzugs der Kreter nach Sizilien (VII 170) werden daher nicht berücksichtigt. Die Angabe der Bücher dient somit lediglich als Referenzgrößen, um eine annähernd vergleichbare Anzahl von inhaltlich zusammenhängenden Belegstellen zu erhalten.4 Betrachten wir also zunächst die Handelnden einer fernen Vergangenheit in Buch II. Zu ihnen gehören beispielsweise mythologische Figuren wie Menelaos und Priamos, ägyptische Könige mit ihren Frauen und Töchtern, die Bewohner der Städte Marea und Apis, aber auch Griechen wie die Hetäre Rhodopis oder eine Anzahl ionischer und karischer Seeräuber. Die Beweggründe all dieser und weiterer Personen lassen sich in wenigen Worten zusammenfassen: Neben gelegentlich vorkommenden religiös begründeten Motiven – zumeist sind dies Orakel, Träume oder Zeichen – handeln die Akteure in erster Linie aus sozial begründeten, fast ebenso häufig aus emotional und charakterlich begründeten Motiven; selten finden sich Kombinationen von zwei oder mehr Beweggründen.5 In den gesellschaftlichen Bereich gehören unter anderem Freundschaft, Gastfreundschaft, Schutzpflicht, Fürsorglichkeit, Strafe und Rache sowie die auf die soziale Stellung abzielenden Motive: die eigene Ehre zu verteidigen, sich mit anderen zu messen und (das mit Abstand häufigste Motiv in Buch II) für das eigene Andenken Sorge zu tragen6 . Neugier, Überdruß, Zorn und Gram, daneben auch Angst, Hybris, Bosheit, Bewunderung und Begehren werden

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Schlacht von Marathon (490), die der hauptsächliche Gegenstand der Bücher V und VI ist, noch als zeithistorisch eingestuft wird oder nicht. Bezüglich der Polaritäten bei Herodot siehe Cartledge & Greenwood 2002. Die Einteilung der Historien in einzelne Bücher ist bekanntlich eine sekundäre und kann daher zur Beantwortung der uns interessierenden Fragen nichts beitragen. Ganze drei Motive werden lediglich in II 139 zusammengestellt: Der König Sabakos ängstigt sich aufgrund eines Traums und einer alten Prophezeiung. Bei diesem letztgenannten Beweggrund handelt es sich um eine Besonderheit von II, da das Andenken in den anderen Büchern keine annähernd so große Bedeutung hat. Acht von insgesamt 13 Belegen in den Historien entfallen auf Buch II.

2.1. Die Handelnden im Licht ihrer Beweggründe

87

als Beweggründe angeführt, die in den Gefühlen oder der Persönlichkeit des Handelnden begründet sind. Andere Faktoren spielen demgegenüber eine zu vernachlässigende Rolle. Nur zweimal kommt Herodot auf mögliche politische Überlegungen zu sprechen, und auch das nur in spekulativer Form: Während er die Behauptung der ägyptischen Soldaten, Apries habe sie absichtlich in den Tod schicken wollen, um seine Macht zu sichern (II 161,4), später als falsch zurückweist (IV 159,4), stellt er selbst die Überlegung an, König Priamos hätte, wo es ihm möglich war, die zukünftige Herrschaft seines Sohnes Hektor berücksichtigt. Wäre Helena, so Herodots These, seinerzeit in Troia gewesen, hätte der König sie gewiß den Hellenen ausgeliefert, selbst wenn sie nicht nur die Geliebte seines Sohnes, sondern auch seine eigene gewesen wäre. Priamos hätte für sie nicht das Leben seiner Kinder und seine Stadt aufs Spiel gesetzt, so Herodots Überlegung, zumal die Königsherrschaft seinem Sohn Hektor bestimmt war (II 120). Für Buch VII ergibt sich ein in vielen Punkten ähnliches Bild wie für Buch II. Die Handelnden, über deren Motive der Leser etwas erfährt, sind unter anderen der Perserkönig Xerxes, seine Berater und Statthalter und seine Frau Amestris; es sind Athener, Argeier, Kerkyraier, Thessaler, Achaier oder einzelne Griechen wie die Gesandten Sperthias und Bulis oder Leonidas, der Held von Thermopylai. Während wirtschaftliche und ästhetische Beweggründe auch für diese Akteure zu vernachlässigen sind, werden neben immer wieder vorkommenden religiösen Motiven – hier sind es in erster Linie Orakel – vor allem gesellschaftlich und emotional oder charakterlich begründete genannt. Dies sind im gesellschaftlichen Bereich hauptsächlich Sitte und Tradition, Fürsorgepflicht, Gefälligkeit, Dankbarkeit, Strafe und Rache und als besonders häufiges Motiv die Behauptung der Ehre; die Gewichtung im einzelnen ist also etwas anders als in Buch II. Unter den Emotionen sind Angst und Zorn überaus häufig aufgeführt, wobei es insgesamt ebenfalls ein breites Spektrum gibt, das etwa Freude, Mitleid, Reue und Bewunderung umfaßt. Von Interesse sind nun die deutlichen Abweichungen gegenüber den Protagonisten einer ferneren Vergangenheit. Anders als diese werden die zeitgenössischen Akteure in Buch VII stark durch Dritte beeinflußt, deren Ratschlägen sie folgen oder deren Befehlen sie Gehorsam leisten. Vor allem aber ist ihr Handeln sehr viel stärker politisch begründet, als es bei den Personen in Buch II der Fall war. Während sich dort nur zwei Zuschreibungen von ansatzweise politischen Motive belegen ließen, findet sich in der Zeitgeschichte eine ganze Bandbreite politisch begründeten Handelns: Freiheitsliebe, Gesetzestreue, Gerechtigkeitssinn, politisch-taktisches Kalkül und vor allem Machtstreben sind hier ganz entscheidende Motive. Dabei handelt es sich wohlgemerkt um Beispiele, die nicht in jedem Detail für die Historien insgesamt repräsentativ sein können.7 Überblickt man das ganze Material, sind aber gewisse Tendenzen augenfällig. Erstens: Die Gewichtung von Motiven ist bei Akteuren der ferneren Vergangenheit nicht grundsätzlich von denen der

7

So sind politisch und religiös begründete Motive etwa in Buch IV weitaus häufiger anzutreffen als in Buch II.

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2. Erklärungsmuster

Zeitgeschichte verschieden.8 In beiden Fällen sind emotional-charakterlich und gesellschaftlich begründete Motive mit Abstand am häufigsten genannt, gefolgt von den gleichmäßig gewichteten Bereichen der Politik, der Religion und der äußeren Einflüsse. Zweitens: Es lassen sich trotz prinzipieller Übereinstimmungen auch einige Besonderheiten bei den zeitgenössischen Akteuren feststellen. Externe Faktoren wie Ratschläge und Zwänge werden in der Zeitgeschichte zumindest implizit stärker gewichtet, was auf die narrative Ausgestaltung zahlreicher Entscheidungen durch lange Beratungsszenen zurückzuführen ist. Explizite Zuschreibungen finden sich bei den politischen Motiven im Vergleich zu den Handelnden weiter zurückliegender Epochen etwas häufiger. Während aber Machtpolitik auch im Zusammenhang mit den frühen Herrschern wie zum Beispiel Kyros oder Deiokes immer wieder thematisiert wird, ist die Zuschreibung ideeller politischer Motive schon ab Buch V deutlich öfter belegt. Vor allem bei der Freiheitsliebe handelt es sich damit um ein vorrangig zeithistorisches Phänomen. Daneben nimmt auch die Bedeutung wirtschaftlicher Aspekte, namentlich von Bestechung, für das Handeln zu. Bemerkenswert ist außerdem, daß hier Träume, anders als die sonstigen religiös begründeten Motive, als Handlungsmotive fast gar keine Rolle mehr spielen (sieht man einmal von der bedeutsamen Ausnahme der Xerxesträume ab, die noch zu besprechen sein wird). Diese Beobachtung wirft die Frage auf, wie die tendenziell stärkere Gewichtung von ideellen politischen sowie wirtschaftlichen Motiven und das Wegfallen von Träumen zur Handlungsbegründung bei zeithistorischen Akteuren zu erklären ist. Eine Antwort auf diese Frage wird sich erst im Vergleich von Herodots Historien mit dem Geschichtswerk des Thukydides ergeben.9 An dieser Stelle lohnt es sich, zunächst eine weitere Differenzierung vorzunehmen: die von Griechen und Nichtgriechen. Die Abweichungen nämlich, die zwischen diesen Gruppen zu konstatieren sind, stimmen teilweise mit den bisher festgestellten Tendenzen überein. 2.1.2. Griechen und Nichtgriechen: Ethnizität Schon bei der Besprechung von Herodots Motivinventar im ersten Kapitel dieser Arbeit wurde verschiedentlich erwähnt, daß bestimmte Handlungsmotive bei Herodot spezifisch für Griechen oder Nichtgriechen sind.10 Die meisten Beweggründe freilich sind universeller Natur: Gefühlsregungen wie Angst und Zorn, gesellschaftliche Konventionen, die die Ehre des einzelnen, die Vorstellungen von Freundschaft oder Vergeltung betreffen, auch machtpolitische und religiöse Motive oder äußere Einflüsse werden von Herodot unterschiedslos für Griechen und Nichtgriechen geltend

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9 10

Gegen de Romilly 1971, die bei Herodot in den späteren Büchern als deutliche und chronolgisch verortete Tendenz die Aufgabe von religiösen und Rachemotiven zugunsten einer politischen Argumentation festgestellt haben will. Unten, p. 169–180, hier 178f. Zur Gegenüberstellung von Griechen und Barbaren in den Historien überhaupt siehe zum Beispiel Cartledge & Greenwood 2002, 365–367, und Tamiolaki 2006.

2.1. Die Handelnden im Licht ihrer Beweggründe

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gemacht. Daneben begegnen nun aber auch Handlungsmotive, die als griechische oder nichtgriechische Besonderheit erscheinen. Das Handeln der Nichtgriechen, um mit diesen anzufangen, ist vor allem durch spezifische Emotionen von dem der hellenischen Figuren unterschieden. Freude, Liebe und Begehren bewegen in den Historien nur Barbaren zum Handeln.11 Auch die Sorge um das Andenken der Nachwelt ist bei Herodot ein Charakteristikum der nichtgriechischen Welt.12 Schließlich kommen auch Träume als Handlungsmotive vor allem in nichtgriechischen Kontexten vor.13 Dagegen ist Neid ein vorrangig griechisches Phänomen, das schon allein im Zusammenhang mit den Ehrungen der Strategen und Kämpfer von Thermopylai und Salamis mehrfach belegt ist.14 Auch der Vorwurf, bestochen worden zu sein, trifft fast ausschließlich Griechen.15 Und schließlich ist es gerade unter den griechischen Akteuren überaus beliebt, sich darauf zu berufen, sie würden wegen einer alten Feindschaft handeln, aus Freiheitsliebe, Gerechtigkeitssinn oder Gesetzestreue.16 Die hier zunächst nur aufgezählten Unterschiede werden näher zu beleuchten sein. Zuvor ist jedoch grundsätzlich zu bemerken, daß es zu kurz gegriffen wäre, wollte man diese Zuschreibungen auf eine Gegenüberstellung etwa von irrationalen, gefühlsbewegten Barbaren auf der einen und politisch denkenden, sachlichen Griechen auf der anderen Seite reduzieren. Frappierender als die Unterschiede im einzelnen ist meines Erachtens der Befund, daß sich bei den meisten Beweggründen keine Abweichungen zwischen Griechen und anderen ergeben. Wenn dennoch auch spezifische Motivzuschreibungen festzustellen sind, lassen sich die Differenzen nicht auf eine einzige allgemeingültige Erklärung zurückführen. Betrachten wir daher die genannten Beweggründe im einzelnen. Daß nichtgriechische Herrscher, zumal in Ägypten, bedeutende Bauwerke zu ihrer Erinnerung errichtet haben sollen, läßt sich mit Blick auf die vielzitierten »tatsächlichen Gegebenheiten« verstehen, wozu wir die Ebene des Textes einmal verlassen. Die Pyramiden stehen bekanntlich bis heute, und da man sich auch zu Herodots Zeit noch an die Namen derer erinnerte, die sie errichten lassen hatten, so ist hier vom evidenten Ergebnis auf das Motiv der Handlung geschlossen worden, das Andenken an die Person des Erbauers zu erhalten. Dieses Erklärungsmuster wird von Herodot auch auf andere bedeutende materielle Hinterlassenschaften übertragen, die ebenfalls in nichtgriechischem Kontext stehen und die wie die Pyramiden, Tempelhallen und Labyrinthgänge in Ägypten noch im 5. Jahrhundert an ihre Schöpfer erinnerten. Das Weihgeschenk der Hetäre Rhodopis hat der Autor der Historien selbst in 11

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Die Stellenbelege finden sich oben, p. 43 und 45. Nur zwei Spartanern werden ebenfalls die Motive Liebe bzw. Begehren zugeschrieben. Wie Tamiolaki 2006, 28–30, gezeigt hat, ist Freude nicht nur als Handlungsmotiv, sondern generell in den Historien ein nichtgriechischer Zug. Siehe oben, p. 50f. Anders verhält es sich mit dem Ansehen bei den eigenen Zeitgenossen, das für griechische wie nichtgriechische Akteure eine große Rolle spielt. Von 14 Belegen (siehe n. 232 auf p. 74) betreffen nur zwei Griechen. Siehe p. 42. Interessant ist, daß in VII 237,2 auch Xerxes den Neid als ein typisch griechisches Problem darstellt, das durch die politische Gleichberechtigung der Bürger entsteht (worauf Harrison 2003, 152f., aufmerksam macht). Die Stellenbelege dafür und die einzige Ausnahme sind in n. 184 auf p. 65 aufgeführt. Belege p. 60–63.

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2. Erklärungsmuster

Delphi gesehen und erklärt dem interessierten Leser seinen Standort im Heiligtum (II 135,4). Die Reste des Xerxeskanals auf der Athoshalbinsel wird er, wie die Details seiner Beschreibung nahelegen, ebenfalls gekannt haben (VII 22–24). Auch den Mischkrug des Skythenkönigs Ariantas beschreibt Herodot aus eigener Anschauung; seinem Bericht zufolge hat er das riesige Gefäß zunächst besichtigt und sich dann bei seinen skythischen Gewährsleuten über dessen Herkunft informiert (IV 81,3–6). In dieser Darstellung wird deutlich, daß zumindest hier die Überlegung zu möglichen Beweggründen sekundären Charakter hat; sie dient der Erklärung einer staunenswerten Sehenswürdigkeit. In der griechischen Welt nun gab es schlicht keine den Pyramiden vergleichbaren Bauwerke, die mit dem Namen einer einzelnen Person hätten verknüpft werden können,17 und so ist das Motiv, der Nachwelt durch monumentale Zeichen in Erinnerung bleiben zu wollen, in den Historien auch nicht mit griechischen Persönlichkeiten verbunden – sieht man einmal ab vom mißglückten Versuch der griechischen Städte in IX 85,3, mit den leeren Grabhügeln in Plataiai wenigstens die Nachwelt über ihre Teilnahme an der berühmten Schlacht zu täuschen. Die Beweggründe Freude, Liebe und Begehren sind ebenfalls mitunter aus einer Handlung erschlossen. Die Inschrift, die Dareios zum Lob des Flusses Tearos errichtet haben soll,18 steht den soeben besprochenen Erklärungen nahe, da es auch hier ein materielles Zeugnis gegeben haben müßte.19 Es ist dabei nicht der Stein als solcher, sondern vielmehr der angebliche Text der Inschrift, aus dem auf das Motiv des Königs, die Freude über das gute Trinkwasser, geschlossen wird. Im selben Verfahren lassen sich auch dort, wo es naturgemäß kein materiell greifbares Ergebnis einer Handlung gibt, aus dem überlieferten Tun entsprechende Motive der Protagonisten erschließen. Wenn die Perser in Susa ausgelassen feiern, die Straßen mit Myrten bestreuen und Weihrauch verbrennen, so liegt der Gedanke nahe, daß sie sich freuen (VIII 99,1). Und wenn Mykerinos seine Tochter vergewaltigt (II 131) oder Kambyses seine Schwester heiratet (III 31,2), dann läßt sich mit Herodot annehmen, dies sei aus sexuellem Begehren geschehen. (Daß die moderne Forschung, was die mutmaßliche Beweggründe des Kambyses betrifft, zu abweichenden Ergebnissen kommt, steht auf einem anderen Blatt: Endogamische Heiraten wa17

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Damit ist freilich nichts über die Bedeutung der Erinnerungskultur bei den Griechen gesagt; schon der Blick auf die Grabsteine der archäologischen Ausgrabung einer beliebigen griechischen Nekropole legt nahe, daß Herodots Leserschaft den Beweggrund, anderen in Erinnerung bleiben zu wollen, aus eigener Erfahrung ganz nachvollziehbar gefunden haben muß. Das Erinnern als solches spielt bereits im Epos eine wichtige Rolle (dazu M. Schmidt, s. v. µιµνήσκω, µέµνηµαι, µνάοµαι, in: LfgrE, vol. 3, col. 213–220). IV 91. Die Episode erinnert in vielem an die großzügige Geste des Xerxes gegenüber einer schönen Platane (VII 31). Die tatsächliche Existenz einer solchen Inschrift ist allerdings – bis auf weiteres – nicht beweisbar (West 1985, 296). Den Erkundigungen des englischen Militärs A. Jochmus zufolge gab es aber um 1847 in dem von Herodot genannten Gebiet noch einen Stein mit Keilschriftzeichen; Eckhard Unger versuchte den möglichen Aufstellungsort der Dareiosinschrift auf einem von ihm 1914 entdeckten Sockel an der Tearoshauptquelle plausibel zu machen (Unger 1915, zusammenfassend Volkmann 1954, 50). Eine solche, möglicherweise viersprachig – altpersisch, elamisch, babylonisch und griechisch – abgefaßte Inschrift (Weißbach 1915) könnte Herodot selbst gesehen und in der griechischen Fassung sogar gelesen haben.

2.1. Die Handelnden im Licht ihrer Beweggründe

91

ren im Iran eine häufige Praxis und sind auch für andere persische Könige bezeugt; sie werden heute als politische Entscheidungen betrachtet.20 ) Die Zuschreibung der Motive Freude, Liebe oder Begehren kann aber, abweichend von dem bisher aufgezeigten Muster, auch integraler Bestandteil eines Stoffs sein. Die Motive sind dann untrennbar mit dem jeweiligen Erzählgut verbunden. Das beste Beispiel dafür bietet die komplexe Erzählung von Xerxes, der seinen Sohn Dareios mit seiner Nichte Artaynte verheiratet.21 Die Geschichte funktioniert nur, wenn auch der Beweggrund des Königs thematisiert wird. Xerxes hat nämlich nicht, wie zunächst vermutet werden könnte, den politischen Vorteil einer solchen Verbindung im Blick. Nein, er ist für seine Schwägerin, die Mutter der Artaynte, entbrannt und hofft, über die Eheschließung der beiden Kinder bei ihr zum Ziel zu kommen. Nur mit diesem Hintergrundwissen kann der Leser die völlig unerwartete Wendung goutieren, als Xerxes plötzlich sein Interesse an der Schwägerin verliert und sich nun in ihre Tochter Artaynte verliebt. Die hätte er ja leicht gewinnen können – mittlerweile aber ist sie die Frau seines Sohnes . . . Will man nicht unterstellen, Herodot habe Geschichten wie diese frei erfunden, so ist anzunehmen, daß er die Handlungsmotive als Bestandteil des Erzählguts direkt von seinen Quellen übernommen hat.22 Wenn die in Rede stehenden emotionalen Motive also vorrangig für Nichtgriechen belegt sind, scheint es sich daher auch um eine Frage der Quellen zu handeln: Es steht zu vermuten, daß schon die Überlieferungen, auf die Herodot zurückgreifen konnte, in diesem Punkt voneinander abwichen.23 Dies wird uns im folgenden noch beschäftigen. Auch was den Traum betrifft, der im griechischen Kontext so gut wie gar nicht als Handlungsmotiv belegt ist, muß schon Herodots Quellenmaterial entsprechend heterogen gewesen sein.24 Es wäre demnach ein Spezifikum des Erzählguts, das sich mit den ägyptischen und vor allem persischen Stoffen befaßte, daß den Träumen dort eine Schlüsselrolle für das Handeln der Akteure zugesprochen wurde; und man hat auch wirklich die Traumgeschichten der Historien auf mesopotamisch-ägyptische Traditionen zurückgeführt.25 In drei Fällen beruft Herodot sich sogar explizit auf solche Traditionen: Der Traum des Astyages (I 108) folgt demnach einer bestimmten persischen Tradition (I 95,1), und ebenso der letzte Xerxestraum (VII 12,1), während die Geschichte über den Traum des Sabakos von ägyptischen Priestern tradiert worden sein soll (II 139,1). Gerade die Ungleichgewichtung der Träume in den ver20 21 22 23

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Kommentar zur Stelle bei How & Wells, I 265, Briant 1990, 95 mit n. 45, Kuhrt & SancisiWeerdenburg 1999, col. 221, Brosius 2006, 92f. IX 108; siehe dazu den instruktiven Kommentar von Flower & Marincola, 291–294. Ein weiteres Beispiel ist die Erzählung über Kandaules und seine Frau (I 8–10). Ausführlichere Überlegungen zum Ursprung der Motivzuschreibungen finden sich unten, p. 149–155. Tamiolaki 2006, 28–30, sieht dagegen in der Charakterisierung der herodoteischen Perser durch Freude und Kummer eine bewußte Stilisierung des Autors, die Urteile über das politische System der Perser implizieren könnte. Cf. Hollmann 2011, 75, mit Bezug auf Träume in den Historien überhaupt (nicht nur auf diejenigen also, die als Handlungsmotive dargestellt sind). Frisch 1968. Zu mesopotamischer Traumdeutung und -konzeption Oppenheim 1956 und Butler 1998.

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2. Erklärungsmuster

schiedenen Teilen der Historien liefert ein gutes Argument dafür, daß Herodot die entsprechenden Geschichten eben tatsächlich nicht selbst erfunden hat, sondern von seinen Quellen übernahm. Bisher ging es um Beweggründe, die vorrangig nichtgriechischen Protagonisten zugeschrieben werden. Was nun die spezifisch griechischen Motive betrifft, so sind auch einige von diesen meiner Auffassung nach auf Herodots Quellen zurückzuführen. Dabei bewegen wir uns allerdings nicht nur auf der Ebene des narrativen Materials, sondern auch auf der der historischen Akteure, denn es läßt sich mit gutem Grund annehmen, daß die Motivzuschreibungen zum Teil entweder auf eine eigene Interpretation der Handelnden selbst oder auf die böswillige Unterstellung ihrer Gegner zurückgehen. Daß Herodot sich die Bestechungsvorwürfe, von denen er berichtet, selbst ausgedacht haben sollte, erscheint mir in den meisten Fällen ausgeschlossen.26 So kann er manchmal sogar konkret den Urheber des Vorwurfs nennen: Kleomenes wird von Krios der Bestechung beschuldigt (VI 50), durch seine Feinde wird wegen angeblicher Bestechung sogar einen Prozeß gegen ihn initiiert (VI 82), und das Gerücht, daß Kleisthenes die Pythia bestochen hat, haben die Athener in die Welt gesetzt (V 63,1). Bezeichnend ist auch die Tatsache, daß Herodot sich wiederholt von Bestechungsvorwürfen distanziert. Ist er in den Fällen des Kleomenes (VI 82) und des Lykides (IX 5) zumindest unentschieden, so zieht er die Bestechung der Pythia durch die Alkmeoniden explizit in Zweifel (VI 123,2). Die Geschichte, die Spartaner seien so skrupellos und dumm gewesen, sich von Polykrates mit Falschgeld bestechen zu lassen, stuft er vollends als unglaubwürdig ein (III 56). Aus diesen Beobachtungen ergeben sich zwei mögliche Überlegungen. Die erste denkbare Erklärung ist die, daß unter den in den Historien vorkommenden historischen Personen in Griechenland Bestechungsvorwürfe weit verbreitet gewesen sein müssen.27 Auf Ägypter, Skythen oder Perser träfe das möglicherweise nicht im gleichen Maß zu. Es handelte sich hier dann ebenfalls um einen Unterschied in den »tatsächlichen Gegebenheiten«, also um die unterschiedliche Bedeutung und Häufigkeit solcher Vorwürfe in verschiedenen von Herodot behandelten Kulturen. Denkbar ist auch eine zweite Erklärung (die das eben Gesagte allerdings nicht ausschließt): Es könnte sich hier wieder um einen Unterschied in der Überlieferung handeln. Vielleicht haben Herodots Quellen für die nichtgriechische Geschichte kei26

Eher könnte die Zuschreibung von Neid als Handlungsmotiv auf den Autor der Historien zurückgehen. Wie in IX 71 deutlich ist, wird zumindest an dieser Stelle auch das oben beschriebene Verfahren angewandt, aus einer Handlung auf ihr Motiv zu schließen. Die Belege für Neid als Beweggrund erscheinen mir aber insgesamt zu heterogen, um zu verallgemeinerbaren Aussagen zu kommen. Drexler 1972, 144–150, geht davon aus, daß Herodots Darstellung von Neid als einer Schattenseite der griechischen Freiheit auf die tatsächlichen Verhältnisse in Griechenland zurückzuführen ist. Cf. auch Harrison 2003, 151–154, wonach Neid in den Historien mit nichtmonarchischen Regierungsformen verknüpft ist. Zum Neid bei den griechischen Figuren in den Historien siehe auch Baragwanath 2008, 174f. 27 Untersuchungen anderer Quellen bestätigen das zumindest für Athen, wo Bestechungsvorwürfe „an der Tagesordnung“ waren (Kulesza 1995 (Zitat p. 45), auch mit Angaben zu weiterführender Literatur). Auch Drexler 1972, 150f., betrachtet Bestechlichkeit als ein faktisches Übel in Griechenland.

2.1. Die Handelnden im Licht ihrer Beweggründe

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ne Bestechungsvorwürfe übermittelt, weil sie in der Regel weiter zurückliegende Vorgänge zum Gegenstand hatten. Während ein Bestechungsvorwurf für die Zeitgenossen naturgemäß hochbrisant ist, verliert er in der Rückschau derer, die nicht mehr selbst in die Intrigen verstrickt sind, an Interesse.28 Hier ist an die Beobachtung im vorangehenden Abschnitt über die Protagonisten der ferneren und näheren Vergangenheit zu erinnern, daß das Handlungsmotiv Bestechung in der Zeitgeschichte wesentlich häufiger genannt wird als bei Akteuren weiter zurückliegender Epochen. Speziell dieser Beweggrund ist demnach ein beliebtes Erklärungsmuster für die Handlungen von Zeitgenossen, aber als Zuschreibung im Nachhinein oder gar als Zuschreibung durch Herodot selbst zumindest nicht positiv nachweisbar. Das ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil das Motiv Bestechung zwar nicht für alle Handelnden plausibel wäre (denken wir an den sagenhaft reichen Kroisos; wer wollte den bestechen?), an sich aber durchaus auch für weiter zurückliegende Handlungen Erklärungspotential hätte: Warum schließen die Lyder und Meder unerwartet Frieden (I 74,2.3)? Die einen könnten von den anderen bestochen worden sein. Warum weigern sich die ägyptischen Krieger, für Sethos zu kämpfen (II 141)? Auch sie wurden vielleicht bestochen. Warum tötet Harpagos den Säugling Kyros nicht, obwohl er den unmißverständlichen Befehl dazu erhalten hat (I 109f.)? Er mag von Kyros’ Mutter bestochen worden sein . . . Derlei Zuschreibungen lassen sich ohne weiteres ergänzen, und sie wären an sich nicht unplausibel. Tatsächlich aber sind die genannten Akteure bei Herodot nicht bestochen, sondern handeln aus Gründen, die uns heutigen Rezipienten in einer historischen Darstellung eher ungewohnt sind, beispielsweise wegen einer plötzlichen Sonnenfinsternis, die sie als göttliches Zeichen verstehen. Während also die Behauptung, bestochen worden zu sein, in der Regel wohl auf zeitgenössische Gegner der beschuldigten historischen Personen zurückzuführen sein wird, läßt sich bei den ideellen politischen Motiven annehmen, daß es sich eher um Selbstzuschreibungen der beteiligten Persönlichkeiten handelt, die Teil einer Überlieferung wurden. Die folgenden Überlegungen dazu beschränken sich exemplarisch auf die Freiheitsliebe als das bestbelegte in dieser Gruppe von politischen Motiven. Auch hier kann in manchen Fällen mit gutem Grund angenommen werden, daß die Motivzuschreibung auf die Handelnden selbst zurückgeht und nicht erst von späteren Bearbeitern des Stoffs hinzugefügt wurde. Wenn Herodot etwa die Athener dem Makedonen Alexander, der als persischer Gesandter zu ihnen gekommen ist, entgegnen läßt, sie würden sich niemals mit Xerxes verbünden, sondern bis zur letzten Konsequenz um ihre Freiheit kämpfen (VIII 143), so ist diese Szene ebenso wie die folgende (144) mit Sicherheit durch die tatsächliche Selbstdarstellung der Athener als Verteidiger der hellenischen Freiheit in den Jahren 480/479 v. Chr. inspi28

Interessanterweise tendiert auch die moderne Forschung offenbar dazu, die Bedeutung von Bestechungsvorwürfen zu unterschätzen oder zu minimalisieren. Selbst bei gut dokumentierten Bestechungsprozessen in Athen werden die differenzierten Inhalte der Anklage oft als unwesentlich betrachtet gegenüber den vermeintlich im Vordergrund stehenden politischen Motiven (nun freilich nicht denen der historischen Amtsträger, sondern denen ihrer Ankläger). Siehe diesbezüglich die detaillierte Gegenargumentation bei Kulesza 1995, 32–41.

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2. Erklärungsmuster

riert.29 In ähnlicher Weise legt Herodot auch anderen Figuren Aussagen in den Mund, die auf die eigene Darstellung und das Selbstverständnis der Teilnehmer an den großen Schlachten der Jahre 480 und 479 zurückgehen mögen, wie den Kerkyraiern, die den griechischen Gesandten heroisch ankündigen, schon um ihrer eigenen Freiheit willen für die Hellenen kämpfen zu wollen (VII 168,1). Daß es sich bei dieser Form von Freiheitsliebe um ein griechisches Konzept handelt, das daher vor allem in den griechischen λόγοι zu erwarten ist, bedarf wohl keiner näheren Ausführungen.30 Die Feststellung, daß wir es hier mit einer genuin griechischen Idee zu tun haben, betrifft jedoch nicht nur die Selbstzuschreibung von Handlungsmotiven, sondern auch nachträgliche Zuschreibungen, wie Herodot sie von seinen Gewährsleuten übernommen oder selbst ergänzt haben kann. Zur Erklärung auch von weiter zurückliegenden Aufständen, Kriegen und Auswanderungen war Freiheitsliebe für den Autor der Historien augenscheinlich ein plausibles Argument.31 So heißt es beispielsweise auch über die Phokaier, deren Stadt von Harpagos belagert wird, daß sie nicht bereit sind, auf dessen Angebot einzugehen, auch nur einen einzigen Turm ihrer Mauer niederzureißen, weil sie die Sklaverei (δουλοσύνη) so sehr verabscheuen. Sie schiffen sich mit Frauen und Kindern, Hab und Gut und ihren Götterbildern ein, um nie mehr nach Phokaia zurückzukehren (I 164). Auch über die Bewohner der Stadt Perinthos am Hellespont weiß Herodot zu berichten, daß sie tapfer gegen das Heer des Megabazos kämpfen, um ihre Freiheit (ἐλευθερίη) zu verteidigen. Sie werden schließlich durch die persische Übermacht besiegt (V 2,1). Das sind für Ereignisse aus der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts Anachronismen. Kurt Raaflaub hat überzeugend nachgewiesen, daß sich die Ausdrücke Freiheit oder Versklavung in bezug auf eine Stadt in archaischer Zeit gar nicht (beziehungsweise nur ein einziges Mal sehr spät) belegen lassen. Zumindest die begriffliche Fassung dieser Vorstellung kam erst mit den Perserkriegen auf32 (unbenommen der Tatsache, daß sich auch früher schon griechische Städte gegen ihre Unterdrückung zur Wehr gesetzt haben, was aber eben noch nicht als Freiheitskampf bezeichnet wurde33 ). Das Motiv der Bürger, um ihre Freiheit zu kämpfen, kann damit in den genannten Beispielen schwerlich historisch, das heißt es kann nicht auf die Phokaier oder Perinthier und ihre Zeitgenossen im 6. Jahrhundert zurückzuführen sein. 29

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Das betrifft neben dem genannten Beispiel VIII 143f. auch VII 139,5 und VIII 3. Siehe dazu Raaflaub 2004, 60–63, der als Quellen die „Perser“ des Aischylos, mehrere Werke Pindars, Thuk. II 71,2 und die Perserkriegsepigramme von der Athener Agora heranzieht. Hier sei lediglich auf zwei einschlägige Untersuchungen zum Thema, Gelzer 1973 und Raaflaub 2004, verwiesen. Die griechische Konzeption des Freiheitsgedanken ist, wie Raaflaub zu Recht herausstellt, eigentlich eine athenische (p. 13f.). Muller 1997, 45–68, behandelt zur Einführung in die Diskussion bei Platon den Ursprung des Konzepts. Zur Verbindung von griechischer Identität und Freiheit nach der Schlacht von Marathon siehe Gehrke 2003, 20. Zum politischen Denken Herodots allgemein siehe zum Beispiel Forsdyke 2006. Zum Stellenwert der Freiheit für die herodoteischen Griechen und Perser siehe Tamiolaki 2006, 21–23. Zur Bedeutung der Versklavungs- und Freiheitsrhetorik in den Historien überhaupt siehe Serghidou 2004 (mit Literatur). Raaflaub 2004, 23–117. Auch das Substantiv ἐλευθερία als solches ist im 6. Jahrhundert nicht nachweisbar. Cf. dazu auch schon Gelzer 1973, 27–29. Siehe dazu ibid., 30–32.

2.1. Die Handelnden im Licht ihrer Beweggründe

95

So ist alles, was Herodot über die Frage von Freiheit und Sklaverei schreibt, auch erkennbar von seiner Gegenwartsperspektive geprägt. Entsprechende Motivzuschreibungen spiegeln die Diskurse über Freiheit wider, wie sie mit der Herausbildung der athenischen Demokratie34 um die Mitte des 5. Jahrhunderts aufkamen.35 Dies läßt sich etwa an der Rede des Korinthers Soklees erkennen, die in den Historien als ein wörtliches Zitat gestaltet ist. Der Gesandte aus Korinth spricht sich in der Bundesgenossenversammlung der Spartaner im Jahr 504 dagegen aus, Hippias (den Peisistratiden, der seit 510 im Exil in Sigeion lebte) wieder zum Tyrannen von Athen zu machen. Soklees ist fassungslos über dieses Ansinnen (V 92α): ἦ δὴ ὅ τε οὐρανὸς ἔνερθε ἔσται Gewiß wird der Himmel unter der Erτῆς γῆς καὶ ἡ γῆ µετέωρος ὑπὲρ de sein und die Erde hoch über dem τοῦ οὐρανοῦ, καὶ ἄνθρωποι νοµὸν Himmel, und die Menschen werden ihre ἐν θαλάσσῃ ἕξουσι καὶ ἰχθύες τὸν Wohnung im Meer haben und die Fische πρότερον ἄνθρωποι, ὅτε γε ὑµεῖς, ihre dort, wo vorher die Menschen lebὦ Λακεδαιµόνιοι, ἰσοκρατίας κα- ten, da ihr, Lakedaimonier, darauf hinarταλύοντες τυραννίδας ἐς τὰς πόλις beitet, die Gleichheit zu beenden und die κατάγειν παρασκευάζεσθε, τοῦ οὔ- Tyrannis in die Städte zurückzubringen τε ἀδικώτερόν ἐστι οὐδὲν κατ’ ἀν- – es gibt doch nichts ungerechteres unter θρώπους οὔτε µιαιφονώτερον. den Menschen, und nichts, was mehr von Blut befleckt wäre!

Eine solche explizite Gegenüberstellung von Rechtsgleichheit (ἰσοκρατίη) auf der einen und Tyrannis auf der anderen Seite setzt die politischen Konzepte der herodoteischen Zeit voraus.36 Auch die bereits besprochene Freiheitsrhetorik eines Maiandrios37 ist augenfällig durch diese Diskurse inspiriert, die das historische Vorbild Auch bei Aristoteles gehört Freiheit zur Demokratie: Sie ist deren Zweck (O. Höffe, s. v. eleutheria, in: Höffe, 168–170, hier 169). 35 Siehe auch hierzu Raaflaub 2004, 63–65, wo herausgestellt wird, daß die Griechen in den Jahren 480 und 479 ihren Kampf zwar schon als Kampf für die Freiheit auffaßten, diese Vorstellung aber noch nicht annähernd so stark betont wurde, wie es wenig später der Fall sein sollte. Der Mythos von den Freiheitskriegen entstand erst im Nachhinein. Siehe ferner Nippel 2008, wo die Zusammenhänge zwischen der Herausbildung der Demokratie und der Entwicklung des Freiheitskonzepts in Athen aufgezeigt werden, und Forsdyke 1999, die den Einfluß der demokratischen Ideologie auf die Historien anhand einer Fallstudie aus der Soklees-Rede nachweist. 36 Fowler 2003, 312. Cf. auch Forsdyke 1999, die anhand der Analyse einer anderen Passage der Rede (V 92ε,2–η,1) zum selben Ergebnis kommt. Auch Strasburger 1955, 600 [Seitenzahl nach der Ausgabe von Marg], sieht die Konzeption der Szene im Zeichen des Peloponnesischen Kriegs. John Moles geht in seiner Einschätzung noch weiter; ihm zufolge geht es in der Rede des Soklees gar nicht um die historische Situation des Jahres 504, sondern ausschließlich um zeitgenössische Probleme; Herodot bedient sich der Figur, um seine eigene Sicht der Dinge explizit darzulegen (Moles 2007, vor allem 255f., 264f., 267). Die Szene ließe sich demnach als Plädoyer Herodots gegen die Tyrannis lesen. Eine Besprechung der gesamten Rede findet sich bei Strasburger 1955, 583–600, sowie bei Pelling 2006b, 106–108. Grundlegend zu V 92 sind unter den neueren Beiträgen van der Veen 1996, 68–89, Giangiulio 2005a, Moles 2007. 37 III 142, siehe oben, p. 61. 34

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2. Erklärungsmuster

der Figur, der samische Tyrann, der nach dem Tod des Polykrates 522 an die Macht kam, noch nicht gekannt haben kann.38 Damit komme ich zurück zum Ausgangspunkt dieser Überlegungen, der Beobachtung, daß das Handlungsmotiv Freiheitsliebe in den Historien vorrangig Griechen zugeschrieben wird. Es handelt sich, auch das wurde bereits gesagt, dennoch nicht um ein exklusiv griechisches Motiv. Herodot überträgt das Erklärungsmuster, das ihm aus seiner eigenen Gegenwart geläufig ist, nämlich nicht nur anachronistisch auf griechische Persönlichkeiten früherer Epochen, sondern ebenso auch auf nichtgriechische Akteure.39 So berichtet er, wie die Skythenkönige bei der bloßen Erwähnung von Sklaverei durch den Boten des Dareios in Zorn geraten und die Perser angreifen (IV 128), und er läßt auch Meder, Magier und Perser für ihre Freiheit und gegen eine verhaßte Fremdherrschaft kämpfen, die sie – Herodots Darstellung zufolge – mit Sklaverei gleichsetzen.40 Nicht nur die Vorstellung der Freiheitsliebe, auch die Feindschaft zwischen Städten als ein spezifisch griechisches Motiv erschließt sich aus Herodots Gegenwart. Es ist zwar für die rivalisierenden Poleis des 6. und frühen 5. Jahrhunderts, um die es dabei geht, historisch sicherlich nicht ganz unzutreffend. Wenn Herodot aber die Feindschaft zwischen Korinthern und Kerkyraiern, zwischen Aigineten und Athenern als fest etablierte Größe voraussetzt,41 überträgt er auch hier Erklärungsmuster seiner Gegenwart auf die Handelnden vergangener Jahrzehnte.42 So heißt es über die Korinther, daß sie seit der Besiedlung von Kerkyra in ständigem Streit mit ihren Stammesgenossen leben43 und deshalb jede Gelegenheit nutzen, um diesen zu 38 39 40

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Raaflaub 2004, 110f., hält daher auch die von Herodot in diesem Zusammenhang erwähnte Errichtung eines Altars für Zeus Eleutherios durch Maiandrios für unhistorisch. Zur Durchbrechung von Stereotypen in den Historien siehe Pelling 1997. I 95,2; 120,5.6; 127. In I 126,5.6 erklärt Kyros, er sei durch die Götter dazu bestimmt, die Perser vom Sklavendasein zu befreien. Die anachronistische Voraussetzung dieses Konzepts von Freiheit gipfelt in der sogenannten Verfassungsdebatte, wo Herodot die persischen Verschwörer im Jahr 522 über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Staatsordnungen diskutieren läßt (III 80–82). Korinther und Kerkyraier: III 49; Aigineten und Athener: V 81,2; 88,3; 89,1. Daß es sich im Fall von Athen und Aigina wirklich um eine „alte Feindschaft“ handle, die Ende des 7. Jahrhunderts entstanden sei, meint dagegen Kirschkowski 2009, 131–141. Seine Argumentation stützt sich allerdings hauptsächlich auf die fragliche Darstellung des Sachverhalts bei Herodot. Etwas anders als in den genannten Fällen liegen die Dinge in bezug auf die Feindschaft zwischen Thessalern und Phokern (VIII 30,1), für die es bereits Hinweise aus der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts gibt: Den Grabungsbefunden des phokischen Heiligtums in Kalapodi zufolge, das um 570 komplett neugestaltet wurde, ist eine erfolgreiche Erhebung der Phoker gegen die thessalische Herrschaft bereits in diese Zeit zu datieren (Lehmann 1983). Siehe ferner Bowies Kommentar zur Stelle, 119–125. Davon unbenommen läßt sich zumindest vermuten, daß Herodot auch hier eher die phokisch-thessalischen Auseinandersetzungen der Perserkriegszeit vor Augen hatte. Wie die übereinstimmende Darstellung bei Thukydides zeigt, war die Vorstellung zur Zeit des Peloponnesischen Kriegs allgemein verbreitet (Thuk. I 13,4; 38 und öfter). Zumindest diese Aussage geht aber über das historisch Belegbare deutlich hinaus; im Gegenteil müssen die Städte zumindest zeitweilig in freundschaftlichem Verkehr gestanden haben, da Kerkyra sonst nicht den

2.1. Die Handelnden im Licht ihrer Beweggründe

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schaden (III 49); ein Fingerzeig Herodots an seine Leser, die an dieser Stelle an ihre Zeitgenossen aus Korinth und Kerkyra und den eskalierenden Konflikt des Jahres 432/431 gedacht haben müssen,44 der schließlich in den Peloponnesischen Krieg mündete.45 Die Brüche und Abweichungen bei der Motivzuschreibung, denen wir hier nachgegangen sind, ermöglichen einen kleinen Einblick in Herodots Arbeitsweise. Deutlich wurde, daß der Historiker in diesem Bereich mindestens drei verschiedene Techniken anwandte. Herodot übernahm erstens Motivzuschreibungen von seinen Gewährsleuten. Einige dieser Zuschreibungen gehen, wie es für die Bestechungsvorwürfe gezeigt werden konnte, auf die historischen Persönlichkeiten selbst oder ihre Zeitgenossen zurück. Eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung von Herodots Quellen ist in den Historien noch erkennbar, etwa bei der ungleichen Gewichtung von Träumen als Beweggrund in den verschiedenen λόγοι. Herodot erschloß zweitens Motive wie zum Beispiel Freude aus dem Ergebnis oder der inhärenten Logik einer bestimmten Handlung. Drittens übertrug er Erklärungsmuster, die ihm aus eigener Anschauung bekannt waren, auch auf Menschen fernerer Vergangenheit oder fremder Kulturkreise, wie ich es anhand der Freiheitsliebe zu zeigen versucht habe. Daß alle drei Vorgehensweisen mitunter Erklärungen hervorbrachten, die den heutigen historischen Ansprüchen nicht genügen, ist dabei nicht überraschend.46 Wenden wir nun einmal unser Interesse ab vom Autor der Historien und seiner (imaginären) Leserschaft zu, so funktionieren diese Methoden auf unterschiedliche Weise. Dort, wo Handlungsmotive untrennbar mit einem bestimmten Stoff verbunden sind, beziehen sie ihre Überzeugungskraft aus der narrativen Einheit von Stoff und Erklärung. Nicht zufällig sind die betreffenden Handlungsmotive – etwa das sexuelle Begehren oder der Traum – zugleich auch literarische Motive, die in Erzählungen verschiedener Kulturen und Epochen nachweisbar sind.47 (Diese Motive müssen Herodot als einem Rezipienten verschiedenster mündlicher und schriftlicher Traditionen gut vertraut gewesen sein, so daß er auf Erklärungsmuster zurückgreifen konnte, die über sein eigenes Werk hinausdeuten.) Auch den Lesern der Historien waren solche Beweggründe, die schon in den homerischen Epen begegnen, ganz geläufig,48 was ihre Plausibilität noch gesteigert haben dürfte. Dort wiederum, wo eine bestimmte Handlungslogik zugrundegelegt wird, sind die Gründe der Akteure für den Leser rational nachvollziehbar. Dies gilt zumal dann, wenn das Ergebnis ei-

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Oikisten für die Gründung von Epidamnos aus der eigenen Mutterstadt Korinth berufen hätte (Miller 1997, 292, mit weiteren Argumenten). Cf. Rengakos 2011, 374: Die bei Herodot für das 6. Jahrhundert geschilderten Spannungen zwischen Korinth und Kerkyra „spiegeln die Lage von 432/1 wider“. Thukydides stellt meines Erachtens die Korinther als die treibende Kraft hinter der Kriegsentscheidung Spartas dar. Gegenüber den Spartanern beziehen sie sich in ihren Reden mehrfach auf Kerkyra (e. g. Thuk. I 68). Weiterführende Überlegungen dazu finden sich p. 149–155. Zum Traum als literarischem Motiv siehe etwa das Lexikon von Frenzel, s. v. Weissagung, Vision, vorausdeutender Traum. Zu sexuellem Begehren führt die Verfasserin verschiedene Konstellationen an, die sich auch bei Herodot finden: s. v. Frauenraub, Frauennötigung, s. v. Inzest, s. v. Liebesbeziehung, die heimliche und s. v. Mann zwischen zwei Frauen. Siehe dazu unten, p. 157–159, mit Beispielen.

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2. Erklärungsmuster

ner Handlung, aus dem etwaige Motive erschlossen werden können, wie im Fall der ägyptischen Pyramiden noch sicht- und greifbar vorliegt – was im Zirkelschluß die Zuschreibung zu beweisen scheint. Die zeitspezifischen Erklärungsmuster schließlich, die allgemein verbreitete Phänomene wie die Bestechung oder zeitgenössische Diskurse wie den über Freiheit und Sklaverei aufgreifen, beziehen ihre Plausibilität aus der Alltagserfahrung des Publikums selbst, das hier seine Erwartungen bestätigt finden und sich selbst in den Handelnden wiedererkennen konnte.49 2.1.3. Männer und Frauen: Geschlechtervorstellungen Frauen haben, wie nicht zuletzt die Gegenüberstellung mit Thukydides deutlich macht, bei Herodot eine vergleichsweise herausragende Bedeutung.50 Der Leser der Historien lernt ein breites Spektrum weiblicher Rollen kennen: Mütter, Schwestern, Ehefrauen, Töchter, Bürgerinnen und Sklavinnen, Herrscherinnen, Beraterinnen, Feldherrinnen, Priesterinnen und Prostituierte, auch weibliche Gottheiten51 gehören zu den Akteurinnen des Geschichtswerks. Gemessen an der Gesamtzahl von über 200 handelnden Frauen in den Historien52 ist es allerdings relativ selten, daß Herodot auch etwas über deren Motive zu sagen weiß; dazu finde ich insgesamt gerade 27 Aussagen. Selbst die Beweggründe einer prominenten Figur wie der von Herodot bewunderten halikarnassischen Flottenführerin Artemisia53 bleiben im Dunkeln. So weiß der Erzähler nicht zu erklären, wie es dazu kommt, daß die mutige54 und kluge Herrscherin selbst in den Krieg zieht, anstatt dies ihrem Sohn zu überlassen (VII 99), und als sie bei der Schlacht von Salamis ein befreundetes Schiff mitsamt seiner Besatzung versenkt, bleibt offen, ob sie sich damit gezielt vor den Athenern zu retten versucht oder ob ihr das andere Schiff nur zufällig in den Weg gekommen ist (VIII 87). Artemisia nimmt freilich eine Sonderstellung ein, die sie von den anderen in den Historien dargestellten Frauen unterscheidet. Denken wir dagegen etwa an die Massagetenkönigin Tomyris, die von Kyros bis zuletzt nicht ernstgenommen wird: Er glaubt, ihr Reich mühelos gewinnen zu können, indem er sie heiratet, doch Tomyris erkennt seine Absicht und weist ihn 49 50

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Diese Überlegungen werden unten näher ausgeführt, siehe p. 149–159, besonders 156–159. Wolff 1964, Tourraix 1976, Dewald 1981, Blok 2002, um nur einige einschlägige Arbeiten zu nennen. Abweichend von der dort übereinstimmend vertretenen Position sieht Hazewindus 2004 die weiblichen Protagonisten bei Herodot marginalisiert, ohne dafür jedoch überzeugende Argumente beizubringen. Diese Göttinnen sind nicht Gegenstand der folgenden Ausführungen über Geschlechtervorstellungen, da sie meines Erachtens in keinster Weise geschlechtsspezifisch dargestellt werden. Ihre Motive entsprechen ganz denen der männlichen Gottheiten, siehe dazu p. 104–108. Die Angabe übernehme ich von Dewald 1981, 92f., die unter 375 vorkommenden Frauen insgesamt 212 handelnde zählt. VII 99; VIII 68f.; 87f.; 93; 101–103; 107. Weiterführend zu Artemisia ist Munson 1988. Bezüglich Herodots eigener Herkunft aus Halikarnassos siehe die Überlegungen von Stephanie West: „Even if Herodotus had not yet been born when Artemisia’s contingent came home, his childhood would have been passed among people who had served in Xerxes’ campaign or had thus lost fathers and husbands, sons and brothers. [. . . ] Local patriotism must be reflected in the prominence which he gives to Artemisia“ (West 2011, 261). Herodot spricht tatsächlich von ἀνδρηίη, wörtlich Mannhaftigkeit, der Artemisia.

2.1. Die Handelnden im Licht ihrer Beweggründe

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ab (I 205). Im Krieg gegen sie läßt Kyros sich von Kroisos dahingehend beraten, auch strategische Entscheidungen im Hinblick darauf zu treffen, daß er gegen eine Frau kämpft, vor der selbst aus taktischen Überlegungen zurückzuweichen eine Schande (αἰσχρὸν καὶ οὐκ ἀνασχετόν) sei (I 207,5). Die schlimmsten Befürchtungen des Perserkönigs werden dann gar noch übertroffen, als er Tomyris in einer großen Schlacht unterliegt und die Königin seine Leiche besudelt und verspottet (I 214). Artemisia dagegen zeichnet sich vor den anderen weiblichen Figuren dadurch aus, von Männern als Herrscherin, Beraterin und Feldherrin anerkannt zu werden; bei Xerxes selbst steht sie in höchstem Ansehen55 – er vertraut ihr sogar seine Söhne an (VIII 103; 107) –, und so akzeptieren die anderen Flottenführer sie ebenfalls.56 Doch wenden wir uns zunächst den anderen Frauen in den Historien zu. Dort, wo weiblichen Figuren Motive zugeschrieben werden, gibt es deutliche Unterschiede gegenüber den Beweggründen der männlichen Protagonisten57 – Unterschiede, die freilich, da die Gesamtzahl der Motivzuschreibungen an Frauen so gering ist, nur vorsichtige Schlüsse zulassen. Das Motivrepertoire der Frauen ist, das läßt sich jedenfalls klar sagen, stark auf den emotionalen und charakterlichen58 und auf den gesellschaftlichen59 Bereich festgelegt. Dies gilt selbst dort, wo die Funktion der Akteurin, die etwa als Königin politische Entscheidungen zu treffen hat, zunächst vielleicht andere Motive vermuten ließe. Zwei Emotionen erscheinen in den Historien sogar als vorrangig weibliche Beweggründe: Scham und Gram. Beide sind für Männer relativ selten belegt, während sie bei Frauen zu den häufiger genannten Motiven gehören. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Scham und Kummer zwar männliche wie weibliche Figuren bewegen, dabei aber ganz unterschiedliche Auslöser haben, die sich geschlechtsspezifisch auffassen lassen: Männer schämen sich für Feigheit im Krieg oder für eine bestimmte Stammeszugehörigkeit.60 Frauen dagegen schämen sich einer Schwangerschaft (I 5,2), ihrer Nacktheit (I 10,2.3) oder eines Brustgeschwürs (III 133,1), und sie werden aus Gram über eine Vergewaltigung aktiv (II 131,2). Diese Motive sind also bei Frauen konkret auf ihren Körper bezogen. Herodot scheint hier einen grundlegenden Unterschied zwischen Frauen und Männern zu machen, wie er sich zumindest in bezug auf die Scham schon bei Homer feststellen läßt.61 Auch dort ist weibliche Scham sexuell konnotiert.62 55 56 57 58 59 60 61 62

VIII 69,2; 87,1; 88,1; 101,1. Ganz anders die Athener, die es als Affront betrachten, von einer Frau angegriffen zu werden, und daher einen Preis von 10 000 Drachmen für ihre Gefangennahme aussetzen (VIII 93). Bezüglich der Gegenüberstellung von Männern und Frauen in den Historien siehe Cartledge & Greenwood 2002, 367–369. I 5,2; 10,2.3; II 121γ,2; 131,2; III 124; 133,1; IV 115f.; V 92δ,1; IX 110. I 10,2; 105,4; 146,3; 185f.; 212–214; II 100; 126,1; 135,3.4; III 119,4–6; 124; 134,5; V 92δ,1; VII 114,2; IX 110. Belege oben in n. 74 auf p. 47. Zu den Unterschieden zwischen männlicher und weiblicher Scham bei Homer siehe Cairns 1993, 120–126. Deutlich wird das etwa am Beispiel der Nausikaa in Od. VI, wie Cairns op. cit. ausführt. Bei Aristoteles dagegen wird nicht zwischen Männern und Frauen unterschieden, wenn es darum geht, daß Feigheit und Sexualität zwei der wichtigsten Auslöser von Scham überhaupt sind. Die

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2. Erklärungsmuster

Umgekehrt läßt sich feststellen, daß bestimmte Motivzuschreibungen im Bereich von Emotionen und Charakter bei Frauen überhaupt nicht vorkommen: Beweggründe wie Bosheit, Neid, Hybris, Wahn, Liebe, Begehren oder auch Neugier sind in den Historien auf männliche Akteure beschränkt. Auch im gesellschaftlichen Bereich gibt es exklusiv männliche Motive wie die Verteidigung der eigenen Ehre oder die Verbindlichkeiten, die sich aus Freundschaft, Gastfreundschaft oder der Schutzbedürftigkeit eines hilflosen Bittstellers ergeben. Demgegenüber findet sich bei den Frauen in den unterschiedlichsten Konstellationen eine Verpflichtung zur Fürsorge für ihre Angehörigen.63 Selbst Rache üben sie nicht unbedingt um ihrer selbst willen, sondern wegen der Ermordung oder Gefangennahme ihrer Ehemänner, Brüder oder Kinder, also zur Verteidigung ihrer Familie.64 Auch dort, wo oberflächlich betrachtet andere Überlegungen im Vordergrund zu stehen scheinen, kann es im Kern um den Gedanken der Verantwortung und Fürsorge gehen. So beschwört die Hirtin Kyno ihren Mann unter Tränen, den Kyrosknaben nicht auszusetzen, weil das Kind von ungewöhnlicher Schönheit und Größe ist (I 112,1). Daß sie Kyros als ihr eigenes Kind aufziehen will, hängt aber sichtlich auch damit zusammen, daß sie selbst gerade ein Neugeborenes verloren hat. Als seltene politische Motive sind neben dem erwähnten taktischen Kalkül der Artemisia das Streben nach Macht (I 185f.) und die mit den männlichen Bürgern solidarische Feindschaft von Frauen gegen eine andere Stadt (V 88,3) belegt. Im religiös konnotierten Bereich tun sich Frauen vor allem durch ihr Bemühen hervor, ihr Verhältnis zu bestimmten Göttern positiv zu gestalten; die Erfüllung von Gelübden steht in diesem Zusammenhang (II 181,4.5 und IV 35,2). Während Frauen in den Historien weder Orakel noch Zeichen empfangen, gibt es in der Geschichte über den Mord an Polykrates einen Traum (III 124) als weibliches Handlungsmotiv. Als einziges wirtschaftliches Motiv, das Frauen zugeschrieben wird, ist die Bestechung von Priesterinnen zu nennen (V 63,1; VI 66). Von äußeren Faktoren – Ratschlägen, Notlagen oder Zwängen – lassen sich die herodoteischen Frauen in ihren Handlungen überhaupt nicht beeinflussen. Die Protagonistinnen von Herodots Geschichtswerk werden also bis auf wenige Ausnahmen von ihren Emotionen und gesellschaftlichen Verpflichtungen geleitet. Der politische, wirtschaftliche und religiöse Bereich und externe Einflüsse dagegen, die für die männlichen Akteure häufig ebenfalls entscheidend sind, haben für ihr Handeln allenfalls marginale Bedeutung – und das, obwohl die vorkommenden Frauen eben nicht vorrangig griechische Ehefrauen sind, sondern auch Herrscherinnen, Kriegerinnen oder Priesterinnen. Die eingangs aufgeführten vielfältigen weiblichen Geschlechterrollen in den Historien, die vor dem Hintergrund der tatsächlichen Erwartungen65 an das Verhalten von Frauen in der griechischen Welt des 5. Jahrhunderts durchaus überraschend sind, entsprechen also einem sehr überschaubaren

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Scham dessen, der seinen Schild wegwirft oder flieht, nennt der Autor gleich an erster, die Scham über körperliche Dinge an dritter Stelle seiner Aufzählung: Rh. II 6 (1383b 18f. und 1383b 21f.). Etwa in III 119,4–6; 124; V 92δ,1. I 146,3; 212–214; II 100. Weibliche Rache sonst: I 10,2; 105,4; IX 110. Mit diesen befassen sich etwa Fantham, Foley, Kampen, Pomeroy & Shapiro 1994, 10–127, oder Reuthner 2006. Die Bandbreite griechischer Frauenrollen zeigt Dettenhofer 1994 mit

2.1. Die Handelnden im Licht ihrer Beweggründe

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Repertoire von Handlungsmotiven und zumindest in dieser Hinsicht weitgehend konventionellen Geschlechtervorstellungen. Tomyris beispielsweise, die Königin der Massageten, kämpft eben nicht gegen Kyros, um ihr Reich zu vergrößern, sondern um ihren Sohn zu retten (I 212–214), und die Amazonen betreiben ihre Auswanderung nicht aus politischen oder ökonomischen Überlegungen, sondern aus Angst (IV 115). Herodot erklärt hier unübliche Frauenrollen, die in seinen Stoffen vorkommen, im Rückgriff auf konventionelle griechische Vorstellungen über das weibliche Handeln. Umso überraschender sind einzelne Motivzuschreibungen, die diesen Rahmen sprengen: Daß Frauen etwa militärisch-taktische Strategien verfolgen könnten, war für den zeitgenössischen Leser der Historien ein wohl eher ungewohnter Gedanke – und der Erzähler will, wie wir gesehen haben, denn auch nicht entscheiden, ob ein solches Motiv für seine Heldin Artemisia wirklich denkbar ist . . . 2.1.4. Gruppen und Gemeinschaften als Akteure In den bisher gemachten Ausführungen ging es häufig um Einzelpersonen. Bei etwa der Hälfte aller Belegstellen für Handlungsmotive aber sind die Akteure Kollektive wie „die Lyder“, „die Perser“, „die Leibwächter des Oroites“, „zehn Korinther“ oder „die Schiffe aus Naxos“.66 Vergleicht man die Beweggründe solcher Gruppen mit denen einzelner Handelnder, so fallen vor allem Übereinstimmungen ins Auge. Auch kollektive Akteure verteidigen ihre Ehre, verüben Rachetaten, kämpfen für ihre Freiheit und folgen Orakelweisungen67 oder Ratschlägen. Wenngleich emotional und charakterlich begründete Motive etwas seltener belegt sind als bei Einzelpersonen, handeln auch Gemeinschaften aus Angst, Zorn, Neid, Hybris oder Reue. Bis auf wenige Beweggründe wie Liebe, Gastfreundschaft oder Traum, die aus inhaltlichen Gründen nur Individuen zugeschrieben werden (können), und andererseits Überdruß, der vor allem Soldaten und andere große Gruppen von Personen befällt,68 lassen sich keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen den Motiven von Einzelpersonen und Gruppen feststellen. Zwischen den verschiedenen Kollektiven allerdings ergeben sich markante Unterschiede. Exemplarisch sollen daher als die bestbelegten griechischen Gemeinschaften Spartaner, Athener und Aigineten vorgestellt werden. Die Handlungsmotive der Spartaner69 als Gruppe werden in den Historien mit über 30 Belegen besonders ausführlich dargestellt. Soweit ihre Motive in die Kategorie der persönlich oder gesellschaftlich begründeten fallen, bewegen sie sich im

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einem Vergleich zwischen den Frauen in Athen und Sparta auf. Zum Ausschluß der griechischen Frauen aus der Politik siehe Wagner-Hasel 2006. Zum Verhältnis von Individuum und Kollektiv bei Herodot generell siehe auch Tamiolaki 2006. Orakel sind als einziges Motiv bei den Gemeinschaftsakteuren sogar überproportional häufig vertreten, was damit zusammenhängt, daß relativ wenige Orakel in den Historien an Einzelpersonen ergehen. Dazu oben, p. 46. Zu Herodots Darstellung der Spartaner und ihrer Geschichte siehe zum Beispiel Immerwahr 1966, 200–206.

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2. Erklärungsmuster

üblichen Rahmen.70 Ungewöhnlich sind im Vergleich zu anderen Städten die politischen Beweggründe der Spartaner: Kein einziges Mal werden sie aus Freiheitsliebe aktiv. Dafür beweisen sie Heimatverbundenheit71 und Gesetzestreue72 sowie ein ausgeprägtes Gespür für ihren machtpolitischen oder militärischen Vorteil73 . Auch religiöse Überlegungen und insbesondere die strikte Befolgung von Orakelweisungen (auch solcher, die nicht opportun erscheinen) gehören zu den zentralen Beweggründen der Spartaner.74 Von Aussichten auf materiellen Gewinn dagegen lassen sie sich ebensowenig leiten wie von Ratschlägen oder anderen externen Einflüssen.75 Die Beobachtung, daß ihre Handlungen in den Historien nie auf Freiheitsliebe zurückgeführt werden, steht in auffälligem Kontrast zur Charakterisierung der Spartaner durch ihren einstigen König Demaratos. Dieser erklärt Xerxes, daß seine Landsleute sich niemals darauf einlassen würden, Griechenland in die Sklaverei zu bringen, und daß sie gegen Xerxes kämpfen würden, selbst wenn alle anderen Hellenen bereits zu den Persern übergegangen seien (VII 102,2). Genau dies führt Demaratos allerdings nun darauf zurück, daß die Spartaner das Gesetz (νόµος) so sehr fürchten und daher eben nicht ganz frei sind (104,4: ἐλεύθεροι γὰρ ἐόντες οὐ πάντα ἐλεύθεροί εἰσι). Wenn Herodot ihnen nun Gesetzestreue als wichtiges Motiv zuschreibt, so ist das, wie er Demaratos ausführen läßt, in gewisser Weise nur die andere Seite ihrer Freiheitsliebe.76 Die Spartaner handeln also nicht im diametralen Gegensatz zu den griechischen Freiheitskämpfern, sondern setzen nur andere Schwerpunkte: Wenn es darum geht, ihre Entscheidungen zu rechtfertigen, berufen sie sich lieber auf das Gesetz und auf ihren Gehorsam gegenüber den Göttern als auf ihren Freiheitswillen. Ganz anders die Athener77 , für die sich ebenfalls mehr als 30 Zuschreibungen finden. Ihre politischen Motive nun sind denen der Spartaner komplementär, denn anders als bei diesen ist Liebe zur Freiheit für sie ein ganz zentraler Beweggrund,78 dagegen handeln sie gar nicht aus machtpolitischen Motiven.79 (Das widerspricht 70 71 72 73 74 75

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Emotional und charakterlich begründete: I 66,1; V 90f.; VI 75,1; 85; 108,2.3; VII 104,4.5; 229,2; VIII 141,1; IX 71. Gesellschaftlich begründete: I 69–70,1; III 47,1; IV 145,3–5; VI 85; 106. V 49f. VI 106,3; VII 104,4.5. I 66,1; 67; 152,2.3; IV 146,1.2; V 91; IX 8. I 66,2.3; 67; V 63,2; 90; VIII 114,1; 141,1. Den absurden Vorwurf in II 56, die Spartaner hätten sich mit Falschgeld zur Aufgabe einer Belagerung bewegen lassen, bezweifelt Herodot selbst. – Ein einziger Ratschlag ist in VI 52 belegt, wo der kluge Vorschlag eines Messeniers (!) in die Tat umgesetzt wird; die Geschichte spielt, was womöglich bezeichnend ist, in grauer Vorzeit. Siehe dazu grundlegend Gelzer 1973. Für Hélène-Mélina Tamiolaki ist das Freiheitsverständnis der herodoteischen Spartaner zwischen dem der Athener und dem der Perser anzusiedeln: Die Spartaner sind frei wie die Athener, haben aber zugleich in ihrem Gesetz einen Herrn wie die Perser (Tamiolaki 2006, 21f.). Zur Darstellung der Athener in den Historien siehe beispielsweise Strasburger 1955, Immerwahr 1966, 206–225, Moles 1996 und 2002, Fowler 2003, Blösel 2004. V 78 (als allgemeine Regel formuliert); VII 139,5.6; VIII 3; 143. Cf. auch V 64,2, wo es nur um einen Teil der Athener geht. Das Kalkül in VIII 3, wo die Athener auf das Oberkommando der Flotte verzichten, dient nicht eigenen Machtinteressen, sondern der Rettung Griechenlands.

2.1. Die Handelnden im Licht ihrer Beweggründe

103

freilich eklatant ihren von Herodot berichteten Taten, und ebenso dem, was die zeitgenössischen Leser der Historien über Athen wußten!80 ) Bemerkenswert ist, daß die Athener einmal im kollektiven Wahn handeln. Nachdem sie versucht haben, die aus heiligem attischen Olivenholz hergestellten Götterbilder in Aigina mit Seilen von ihren Sockeln zu ziehen, donnert und blitzt es, und die attischen Trierenschiffer werden wahnsinnig. Sie ermorden sich gegenseitig, bis nur ein einziger von ihnen übrigbleibt (V 85,2). Diese Erzählung wird freilich stark relativiert, denn der Erzähler referiert hier ausdrücklich nur, was die Athener behaupten, und nennt außerdem eine konkurrierende Version der Geschichte, die die Aigineten verbreiten.81 Während ansonsten bei den Athenern im persönlichen Bereich keine Besonderheiten festzustellen sind,82 wird ihr Handeln ungewöhnlich häufig als Strafe oder Rache gerechtfertigt.83 Neben der mehrfachen Befolgung göttlicher Weisungen84 oder guter Ratschläge85 zeichnen sich die Athener vor allem durch ihr Gewinnstreben86 aus. Die Athener verteidigen also nicht ihre eigenen Machtinteressen, sondern die Freiheit; dabei wird ihnen kluges und gewinnorientiertes Handeln zugeschrieben. Die Spartaner erscheinen dagegen, wie gezeigt wurde, in ihren Beweggründen als gesetzestreue und sittenstrenge Machtpolitiker, die sich weder von oberflächlicher Freiheitsrhetorik noch von materiellen Vorteilen noch durch versierte Ratgeber beeinflussen lassen. Hier spiegelt sich anscheinend eine sehr gegensätzliche Selbstdarstellung der Städte Athen und Sparta wider. Abweichend davon scheinen die Handlungsmotive, die Aigina zugeordnet werden, eher einer Fremdwahrnehmung zu entspringen.87 Die Aigineten handeln in den Historien aus Bosheit, Hybris und Feindschaft88 – Beweggründen, die der zeitgenössischen Meinung in Athen weit mehr entsprochen haben dürften als der in Aigina. 80

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Baragwanath 2008, 133–162. – Man wird nun schwerlich behaupten wollen, dieser Widerspruch sei Herodot nicht aufgefallen; Baragwanath ist der Ansicht, er habe auf diese Weise subtil die Komplexität der Wirklichkeit aufzeigen wollen und es bewußt dem Leser überlassen, zu welchen Schlüssen er kommen würde (147–149, siehe auch allgemein 85f.). Diese Überlegung hat einiges für sich, zumal der Verweis auf ihre Freiheitsliebe zumeist den Athenern selbst in den Mund gelegt wird; der Erzähler selbst hält sich mit eigenen Kommentaren auffällig zurück. Der Text läßt daher durchaus konkurrierende Lesarten und Interpretationen zu, wie nicht zuletzt auch die anhaltend lebhafte Forschungsdebatte über Herodots Haltung gegenüber Athen zeigt. Siehe Wesselmann 2011, 90. I 143,2.3; V 97; VI 137; IX 5; 117. V 77,1; 89,2; VI 137; VIII 143f. Die weiteren Motive aus dem gesellschaftlichen Bereich sind V 97; VI 100; IX 60f. VI 105,2.3; mit Orakeln verbunden in VII 140–144; 189,1.2; VIII 41. VI 100,3.4; VII 143f.; VIII 110,1. Die Befolgung einer öffentlichen Anweisung ist in VIII 41 belegt. V 97; VI 132; 137. Auch V 78 könnte in diesem Kontext gelesen werden. Henry R. Immerwahr vertritt die Ansicht, Herodot sei über die Kriege Aiginas schlecht informiert gewesen (Immerwahr 1966, 210, Besprechung der aiginetischen Kriege 210–215). Eine narratologische Analyse der zentralen Passage über Aigina, V 80–89, bietet Haubold 2007. V 80f.; 88,3 (die aiginetischen Frauen); 89,1; VI 49; 87; zum Teil verbunden mit weiteren Motiven.

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2. Erklärungsmuster

Geht man dieser Frage im einzelnen nach, stellt sich heraus, daß es tatsächlich konkret stets um Feindseligkeiten und Bosheiten der Aigineten gegenüber Athen geht. Auch bei der zahlenmäßig vergleichbar geringen Grundlage von nur neun belegten Motiven erscheint daher die These plausibel, daß Herodot hier Vorurteile seiner Gewährsleute übernimmt, die demnach, was die Darstellung Aiginas betrifft, in Athen zu suchen wären. Die Behauptung, daß die Aigineten Dareios nur deshalb Erde und Wasser geben, um mit den Persern zusammen gegen Athen ziehen zu können, ist sogar ausdrücklich als Athener Gerücht89 gekennzeichnet (VI 49). Hier findet die reale Feindschaft zwischen Athen und Aigina in entsprechenden Motivzuschreibungen ihren Widerhall. 2.1.5. Die Motive der Götter und Heroen Wie verschiedentlich schon angeklungen ist, gehören auch Götter und Heroen zu den Protagonisten, für deren Beweggründe sich Herodot interessiert.90 Das Motivrepertoire der göttlichen Akteure ist freilich ein sehr spezielles,91 da ihre Handlungen fast ausschließlich als Strafen oder Rachetaten erklärt werden, bisweilen in Verbindung mit Zorn oder Neid.92 Dabei treten die Götter stets als Sachwalter ihrer eigensten Interessen, nicht etwa der der Menschen, auf. Sie bestrafen die Schändung ihrer Heiligtümer und Bilder oder die Überschreitung der Grenze zwischen Menschlichem und Göttlichem.93 Bekannt ist etwa das schreckliche Schicksal des Kroisossohns Atys, der bei einem Jagdunfall stirbt und damit der großen Rache des Gottes zum Opfer fällt – deshalb, wie Herodot meint, weil sein Vater Kroisos sich für den glücklichsten aller Menschen gehalten hat.94 Als weitere Motive von Gottheiten sind lediglich die Fürsorge des Apollon Loxias gegenüber seinem Schützling, eben dem genannten Kroisos, aufzuführen (I 91) sowie das gefällige Entgegenkommen des Windes Bo-

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Zur Problematik der ἐπιχώριοι-Verweise siehe die in n. 30 auf p. 154 angegebene Literatur. Gegen Roettig 2010, 82f., wonach es Herodot nicht um die Gründe der Götter geht, sondern „nur um den Erweis, daß die Götter in menschliches Geschick eingreifen“ (Hervorhebung im Original); eine Zuspitzung, die Roettig zufolge nicht nur für die von ihr untersuchte Kriegsentscheidung des Xerxes gilt, sondern auch sonst in den Historien. Ich sehe nicht, warum Herodots Versuch, „den Erweis göttlichen Wirkens in menschlichen Geschicken“ darzustellen, es ausschließen sollte, daß er sich auch mit den Gründen des göttlichen Handelns auseinandergesetzt hat. Daß eine solche Auseinandersetzung in den Historien mitunter sogar ganz explizit stattfindet, zeigen die im folgenden aufgeführten Belegstellen. Zum Gegensatz von Göttern und Sterblichen in den Historien siehe Cartledge & Greenwood 2002, 369f. I 34,1; 105,4; 159; II 120,5; IV 205; VI 75,3 und 84; VII 133f. und 137,1; 137; 197,3; VIII 109,3; IX 65; 93,3.4; 119f. Auch V 85 wird als Tat einer Gottheit interpretiert (V 87,2), die zweifellos aus einer ähnlichen Motivlage heraus zu verstehen ist. Zum Neid als Motiv der Götter bei Herodot siehe Pietsch 2001, 219, und die Gegenargumentation von Roettig 2010, 68–78, sowie Harrison 2003, 158–160. Weiterführend dazu siehe Mikalson 2002, der der Frage nachgeht, welche Motive die Götter nach Herodots Ansicht dafür haben, die Griechen gegen die Perser zu unterstützen. I 34,1. Die Rachetat ist Kroisos im Traum bereits angekündigt worden (34,2). Er selbst teilt die Auffassung, daß göttliches Wirken im Spiel sein müsse (44 und 45,2).

2.1. Die Handelnden im Licht ihrer Beweggründe

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reas, der Opferbitten erhört (VII 189,3) und sich durch Zaubergesänge beschwichtigen läßt (VII 191,2). Die Götter und Heroen heben sich damit von den menschlichen Akteuren deutlich ab, da die meisten Gefühle und menschlichen Konventionen sie ebensowenig beeinflussen wie Politik, Wirtschaft oder äußerliche Faktoren.95 Ein besonderer Rang des Göttlichen in den Historien ist insofern auch in bezug auf die Motivzuschreibungen nachzuweisen. Die Handlungen der Gottheiten sind – sofern sie eine Erklärung erhalten – stets Reaktionen auf menschliches Verhalten und als solche vom simplen Prinzip strikter Gegenseitigkeit geprägt.96 Freveltaten der Menschen, Hybris und Asebie verlangen eine Strafe, ihre Geschenke, Opfer und Bitten bewirken freundliches Entgegenkommen der Götter. So sind es paradoxerweise ausgerechnet die göttlichen Handlungen, die in gewisser Weise vorhersehbar wirken. Die Lage ist jedoch komplizierter, als dieser erste Befund vermuten ließe. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, daß Herodot seine Motivzuschreibungen an Götter und Heroen wesentlich zurückhaltender formuliert als die an menschliche Akteure, und daß er überhaupt wenige explizite Zuschreibungen trifft. Häufiger gibt er im Verlauf einer feinziselierten Erzählung nur indirekte Hinweise an den Leser,97 anstatt ausdrückliche Feststellungen zu treffen, in denen diese Probleme verhandelt würden. Vieles bleibt in der Schwebe. Die Frage zum Beispiel, inwieweit gerade das Scheitern des Xerxes als eine göttliche Strafe für seine Hybris aufzufassen ist, wird daher nach wie vor sehr kontrovers diskutiert.98 Am ehesten sind noch die Aussagen der handelnden Götter selbst als glaubwürdig dargestellt, wenn diese in Orakelsprüchen ihre Motive offenbaren, was der Erzähler unkommentiert läßt.99 Ansonsten aber findet sich keine einzige Zuschreibung mit Bezug auf die Götter, die ohne weitere Zusätze stehen bliebe. Verweise auf die Aussagen und Meinungen anderer oder die Diskussion verschiedener Erklärungsmöglichkeiten können als Ausdruck der Skepsis des Erzählers gelesen werden, der nur selten eigene Mutmaßungen über das göttliche Handeln anstellt. Diese Beobachtung korrespondiert mit neueren Forschungen etwa Thomas Harrisons, Alexander Hollmanns und Kathari-

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Religiöse Beweggründe, wie sie für die Menschen ja aus der Interaktion mit den Göttern entspringen, fallen hier naturgemäß sowieso weg. Siehe dazu auch Gould 2001, 293–296. Die entsprechenden Techniken in den Historien hat Baragwanath 2008 analysiert. Sie wurde zuletzt von Roettig 2010, 68–79, wieder aufgegriffen. Roettig bemerkt, daß das Problem der Kausalitäten (wie es für Herodot etwa Pagel 1927, Stahlenbrecher 1952, Pietsch 2001 oder Löffler 2008 untersuchen), ein modernes ist: „Aus moderner Sicht ergibt sich durch göttliches Eingreifen ein Problem für die menschliche Entscheidungsfreiheit und damit für die Geschichtsschreibung als Abbild menschlichen Handelns. Denn dem modernen, säkularen Denken sind Götter als wirkende, handelnde Kräfte problematisch geworden“ (op. cit., 78). Daß es freilich deshalb generell falsch sein soll, überhaupt eigene Fragen „von außen an den Text heranzutragen“ (ibid., 79), verstehe ich nicht: Was sonst wäre denn die Aufgabe des Historikers? I 91; 159; IX 93,3.4

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2. Erklärungsmuster

na Roettigs, die Herodots „Zurückhaltung und Behutsamkeit im Sprechen über das Göttliche“ betonen.100 In der Regel kennzeichnet Herodot Motivzuschreibungen in diesem sensiblen Bereich als die Meinung Dritter. Entsprechende Aussagen legt er entweder den Handelnden als wörtliche Zitate in den Mund,101 oder er begnügt sich mit dem distanzierten Verweis, dies sei die Ansicht der Skythen (I 105,4) oder eine Geschichte der lokalen Fremdenführer (VII 197,3). Mitunter bezieht er aber auch im eigenen Namen Stellung. Er stellt verschiedene Versionen nebeneinander und schließt seine eigene Ansicht an (VI 75,3 und 84), oder er zieht explizit in Zweifel, was die Betroffenen behaupten, und weist auf Ungereimtheiten hin.102 Dabei geht er freilich offenbar weniger von einer Analyse des konkreten Falls aus als von Allgemeinplätzen, wie sein Erzähler sie zweimal zur Erklärung entsprechender Ereignisse zitiert: daß bei großen Freveln auch die Strafen der Götter groß sind und daß übermäßiger menschlicher Rachedurst ihren Neid weckt.103 Tatsächlich wird in den Historien ausnahmslos jeder Tempelfrevel früher oder später bestraft,104 auch wenn der Erzähler nicht in jedem Fall explizit darauf hinweist. Betrachten wir zwei instruktive Passagen etwas näher. Bezüglich des Boreas, der einen Teil der Perserflotte zerstört, vertritt Herodot eine eigene Ansicht (VII 188–192): Zunächst referiert er die Version der Athener, sie selbst hätten den Wind – den sie als ihren Vetter betrachten – durch Opfer und Gebete zu seinem Zerstörungswerk bewegt. Ob das freilich wirklich ausschlaggebend gewesen sei, wird durch den Erzähler in Frage gestellt (οὐκ ἔχω εἰπεῖν). Auch die anderen Griechen scheinen die Meinung der Athener nicht zu teilen: Während diese dem Boreas später ein Heiligtum bauen, gelten die Dankopfer der Griechen dem Poseidon Soter! Warum der Wind nach drei Tagen nachläßt, vermeinen wiederum die Perser zu wissen: Die Opfer und Zaubergesänge der Magier beschwichtigen ihn, und so endet das Unwetter am vierten Tag. Doch auch hier ist der Erzähler nicht überzeugt, ob der Boreas nicht doch andere Motive für sein Tun hatte. Vielleicht, merkt er an, handelte der Wind auch aus anderen Gründen (ἢ ἄλλως κως αὐτὸς ἐθέλων ἐκόπασε). Erhellend ist besonders auch die bereits früher erwähnte Diskussion über die Frage, warum der spartanische König Kleomenes dem Wahn verfällt. An den Hergang der Geschichte sei kurz erinnert: Nach seiner Rückkehr aus der Verbannung wird Kleomenes wahnsinnig und schlägt wahllos jedem, dem er auf der Straße be100 Zitat Roettig 2010, 89. Cf. auch ibid., 95: Herodot wahrt diesbezüglich „Vorsicht und Zurückhaltung“. Dies stimmt mit den Ergebnissen von Harrison 2000a überein, der gegen einen Teil der älteren Forschung Herodots Skepsis in bezug auf religiöse Fragen hervorhebt. Hollmann 2011, 54–60, zeigt Herodots Zurückhaltung auf, wenn es darum geht, bedeutsame Zeichen auf göttliches Handeln zurückzuführen; einen solchen Zusammenhang stellt der Erzähler am deutlichsten in VI 98,1.3 her, wo ein Erdbeben in Delos dem Gott (ὁ θεός) zugeschrieben wird. 101 VIII 109,3; IX 119f. 102 VII 137; 189,3; 191,2. 103 I 34,1; VI 84,3; IX 65; die Gnomen in II 120,5 (. . . ὡς τῶν µεγάλων ἀδικηµάτων µεγάλαι εἰσὶ καὶ αἱ τιµωρίαι παρὰ τῶν θεῶν) und IV 205 (. . . ὡς ἄρα ἀνθρώποισι αἱ λίην ἰσχυραὶ τιµωρίαι πρὸς θεῶν ἐπίφθονοι γίνονται). 104 Wesselmann 2011, 87.

2.1. Die Handelnden im Licht ihrer Beweggründe

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gegnet, mit einem Stock ins Gesicht. Der Rasende wird gefesselt, aber er beschafft sich ein Messer, mit dem er sich verstümmelt. Als er sich schließlich den Bauch aufschlitzt, stirbt er (VI 75,1–3). Herodot referiert drei mögliche Gründe für die Verrücktheit des Königs: Die Götter könnten ihn mit Wahn geschlagen haben, weil er die Pythia bestochen hat, wie die meisten Griechen denken, oder weil er den Hain in Eleusis verwüstet hat, wie die Athener meinen, oder weil er das Heiligtum in Argos niedergebrannt hat, wie die Argeier glauben (VI 75,3). Die Version der Spartaner, Kleomenes habe schlicht über dem Genuß ungemischten Weins den Verstand verloren (VI 84),105 weist er zurück, um anschließend seine eigene Meinung auszudrücken: „Mir aber scheint Kleomenes wegen Demaratos eine Strafe erhalten zu haben.“106 Das Motiv der Götter ist nach Herodots zurückhaltend formulierter Meinung also tatsächlich der Wille, eine Strafe (τίσις) zu verhängen, die allerdings nicht die spektakulären Freveltaten des Kleomenes in Delphi, Eleusis oder Argos zum Grund hat, sondern seine Mißachtung der spartanischen Thronfolge.107 Die Götter hätten somit in einem politischen Konflikt Partei ergriffen.108 Bemerkenswert ist, daß Herodot auch hier nicht nur sehr große Sorgfalt darauf verwendet, die verschiedenen Ansichten zu referieren, die ihm bekannt sind, sondern im einzelnen erklärt, wer sich den jeweiligen Thesen anschließt. Nino Luraghi führt VI 75,3 daher als Beispiel für seine Überlegung an, daß „the collective ako¯e statements simply reflect what may be expected to be the conventional interests and viewpoints of those who utter them. [. . . ] Clearly, locals are depicted as invoking local motives, while »the majority of the Greeks« refer to a panhellenic transgression“.109

Es läßt sich festhalten: Die Beweggründe der Götter und Heroen sind aus Herodots Sicht schwer zu fassen, prinzipiell aber den Methoden historischer Erforschung ebenso zugänglich wie menschliche Motive.110 Der Autor scheint hier besonders gründ105 Herodot selbst faßt diesen Erklärungsversuch dahingehend zusammen, daß demnach kein Gott den Wahn des Königs verursacht hätte: ἐκ δαιµονίου µὲν οὐδενὸς µανῆναι Κλεοµένεα (84,1). Mit der Verletzung gesetzter Grenzen hat aber auch diese Erklärung zu tun (was Wesselmann 2011, 83, übersieht): Kleomenes verkehrt zu viel mit den Skythen (84,3) und nimmt mit dem Genuß des ungemischten Weins ihre – barbarische – Sitte an, was im Licht der von Herodot anderswo (e. g. VII 136,1) betonten Sittenstrenge der Spartaner sogar eine doppelte Grenzüberschreitung ist. Angesichts der Frevel in Delphi, Eleusis und Argos scheint dieser Aspekt für Herodot aber im vorliegenden Kontext völlig nebensächlich zu sein. 106 ἐµοὶ δὲ δοκέει τίσιν ταύτην ὁ Κλεοµένης Δηµαρήτῳ ἐκτεῖσαι (VI 84,3). 107 Dazu schon oben, p. 59. 108 Eben dieser Konflikt ist es, der später in der Bestechung der delphischen Pythia gipfelt, welche nach der Meinung der Griechen den Zorn der Götter erregt hat. Herodots Einschätzung ist damit also nicht unvereinbar. 109 Luraghi 2006, 84. Siehe dazu auch unten, n. 30 auf p. 154. 110 Gegen Roettig 2010, 95: „Über das Wesen der Götter und die Gründe ihrer Handlungen kann der Mensch nichts wissen.“ Daß „letzte Gewißheit in diesen Dingen nicht erreichbar ist“ (ibid.), hat Herodot ersichtlich nicht davon abgehalten, danach zu fragen. Auch in bezug auf die Handlungsmotive von Menschen vertritt er, wie bereits verschiedentlich zu sehen war, ja durchaus nicht den Anspruch, »letzte Gewißheiten« zu verkünden. Hier gilt, was Katharina Wesselmann im Hinblick auf den Trojanischen Krieg schreibt, dessen Historizität Herodot „nicht im minde-

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2. Erklärungsmuster

lich verschiedene Erklärungen recherchiert zu haben und legt Wert darauf, jeweils festzuhalten, wer diesen Erklärungen Glauben schenkt. Die Skepsis in theologischen Fragen, die darin zum Ausdruck kommt, verbindet Herodot mit zeitgenössischen philosophischen Ansichten,111 und er ist auch in dieser Hinsicht intellektuell ganz auf der Höhe der Diskussionen seiner Zeit.112 Seine zurückhaltenden Deutungsversuche weisen darauf hin, daß Herodot gerade in diesem Bereich sehr sorgsam geprüft und bedacht haben muß, was seine Quellen an möglichen Motivationen vorgegeben haben. Indem er die verschiedenen Erklärungsansätze auch umfassend referiert, bietet er dem Leser die Möglichkeit, die Lage selbst einzuschätzen und zu einem eigenen Urteil zu kommen, das nicht dem des Autors entsprechen muß.

2.2. ERKLÄRUNGSMUSTER FÜR POLITISCHE ENTSCHEIDUNGEN Nachdem im ersten Teil dieses Kapitels untersucht wurde, welche Motive Herodot bestimmten Protagonisten zuschreibt, wird nun der Frage nachgegangen, wie er politische Entscheidungen begründet und inwiefern er auch hier auf feste Erklärungsmuster zurückgreift. Im einzelnen sind Kriege, Aufstände und Herrscherwechsel sowie Koloniegründungen zu besprechen. 2.2.1. Kriege Warum beginnen mächtige Herrscher einen Krieg? Warum unterstützen sie den Feldzug eines anderen? Warum überfällt eine Stadt die nächste? Welche Gründe kann es geben, aktiv einen Krieg zu beginnen? Herodot wendet sich diesen Fragen mit großer Sorgfalt und immer neuem Interesse zu. Hans von Wees betrachtet die „causes sten“ anzweifelt: „Dies zeigt sich auch gerade an seiner Skepsis, daran, daß er gewisse Traditionen ablehnt oder als freie Erfindung bezeichnet“ (Wesselmann 2011, 321, Hervorhebung im Original). 111 Hier ist vor allem an Protagoras zu denken (Rengakos 2011, 373). Eine direkte Anspielung auf Protagoras weist Roettig 2010, 107f., in Hdt. II 53 nach, wo es um die Gestalt der Götter geht: ὁκοῖοί τέ τινες τὰ εἴδεα greift die Formulierung οὔθ’ ὁποῖοί τινες ἰδέαν bei Protagoras auf (Protag. 80 B4 (Edition Diels & Kranz)). Die Wege der beiden Autoren hatten sich bekanntlich auch biographisch gekreuzt, war es doch Protagoras, der im Jahr 444 v. Chr. die Ehre hatte, Verfassung und Gesetze der neugegründeten Kolonie Thurioi zu entwerfen, in welcher sich Herodot niederließ (siehe dazu unten, p. 132). 112 Katharina Roettig hat zeigen können, daß Herodot mit den sophistischen Positionen nicht nur bestens vertraut ist und sie sich teilweise auch zu eigen macht, sondern sich andererseits auch mit kritischen Bemerkungen klar dagegen abgrenzt, wenn es etwa um grundsätzliche Zweifel an der Existenz der Götter geht (Roettig 2010, 99–111). Diese Beobachtung ergänzt die Beiträge von Rosalind Thomas zu Herodots intellektuellem Umfeld, die sich auf ethnographische, geographische und medizinische Diskussionen konzentrieren (Thomas 2000 und 2006), um einen wichtigen Punkt. Völlig zu Recht stellt Roettig daher heraus, daß Herodot in bezug auf die Götter keinesfalls »unkritisch« oder »naiv« denkt (op. cit., 110): „Insofern ist Herodot nicht archaisch-naiv, sondern ein Konservativer, der seine Position voll intellektueller Schärfe vertritt. Voller Scharfsinn setzt er sich in seinem Werk mit skeptischen Äußerungen seiner Zeitgenossen auseinander und zeigt die Grenzen ihrer Ansichten auf.“

2.2. Erklärungsmuster für politische Entscheidungen

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of war“ sogar als ein Hauptthema der Historien.113 Die zahlreichen Entscheidungen für einen Krieg, die in den Historien besprochen werden, sind daher für die Frage nach der Handlungsmotivation ein ganz zentrales Thema.114 Dies wurde bereits in den älteren Arbeiten gesehen. Ludwig Huber befaßt sich in seiner einschlägigen Untersuchung über „Religiöse und politische Beweggründe des Handelns in der Geschichtsschreibung des Herodot“ besonders eingehend mit den Kriegsgründen. Er macht in diesem Zusammenhang bei Herodot meist „spontane Motive“ wie Profitstreben oder Expansionswillen aus, daneben nennt er das „Nicht-Genügen“ am bisherigen Zustand der Akteure, Ruhmsucht, Übermut und Geringschätzung des Gegners, Angst, Vergeltung, Erbfeindschaft, die Motive von Einzelpersonen (nämlich persönlichen Zorn und Schmerz, Habsucht und Herrschaftsgelüste) sowie schließlich Hilfeleistung wegen früherer Verdienste oder Bündnisse.115 Hans Drexler, der bei Huber mit Recht eine systematische Behandlung der Frage vermißt,116 unterscheidet seinerseits in den Historien folgende Kriegsmotive: Furcht, diverse „irrationale Elemente“ (die in der vorliegenden Arbeit beispielsweise als Überdruß, Hybris oder Orakel angesprochen werden), Prestige und Ehre, Rache, Strafe, Herrschsucht, rechtlich nicht legitimierten Eroberungswillen und Freiheitswillen.117 Diese Ergebnisse können auf der Grundlage der hier vorgelegten Typologie herodoteischer Handlungsmotive präzisiert und in einigen Punkten auch korrigiert werden. Es erscheint vor allem sinnvoll, nicht bei der vergleichsweise banalen Aufzählung relevanter Motive stehenzubleiben, sondern konkret danach zu fragen, wie Herodot in seiner Gestaltung der einzelnen Kriegsentscheidungen den Leser in das Problem einführt und wie er ein Repertoire von Motiven entwickelt und verfeinert, auf das er dann bei der komplexen Erklärung für den Xerxeszug zurückgreifen kann. Zunächst zum statistischen Befund. Von genau 100 für Kriegszüge angegebenen Beweggründen in den Historien entfallen etwa die Hälfte (48 Belege) in die Kategorie der gesellschaftlich begründeten Motive, gefolgt von politischen (17), persönlichen (12) und religiösen (12) Aspekten, wohingegen die sonstigen Bereiche von geringer Bedeutung sind (11 Belege insgesamt). Die mit Abstand am häufigsten ge-

113 Van Wees 2002, 324. Zu den Bezügen zwischen den einzelnen Kriegsdarstellungen in den Historien siehe weiterführend Rood 1999, 143f. (mit Literaturangaben). Mit Herodots Kriegsdarstellung allgemein befaßt sich Cobet 1986. 114 Nachfolgend die Belegstellen mit Motiven für Kriegsentscheidungen, die meinen Überlegungen zugrundeliegen: I 66,1; 66,2.3; 71,1–75,2; 74,1; 102; 103,2; 201 und 204f.; II 29,5; 152,1–3; 152,5; 161,4 und IV 159,4; III 1–3; 25,1.2; 44; 47,1; 48f.; 52,7; 134; 139–141; IV 1,1 (cf. 4 und 118,3–5); 165,2 und 167; V 1,2; 31; 44; 63,2; 74,1; 77,1; 79,1; 80f. und 89,1; 89,2; 90f.; 97; 99,1; VI 23,3.4; 43f.; 73; 76–80; 89; 94 (cf. V 105); VI 100,1; 106; 108; 133,1; VII 1,1; 108,1; 170,1; VIII 116; IX 10,1. 115 Huber 1965, 64–71. Huber bezieht freilich nur diejenigen Entscheidungen in seine Überlegung ein, die er als historisch qualifiziert. Siehe diesbezüglich meine einleitende Auseinandersetzung mit seinem Vorgehen oben, p. 26–28. 116 Drexler 1972, 208. 117 Ibid., 120–144. Zu Kriegsgründen bei Herodot siehe ferner Sealey 1957, Cobet 1986, 8–11, van Wees 2002, 343–348.

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2. Erklärungsmuster

nannten Motive sind Strafe und Rache,118 Gefälligkeit als Reaktion auf ein Hilfsgesuch,119 der Wunsch nach Expansion120 und schließlich Orakelweisungen121 . In den meisten Fällen kommen jedoch mehrere Motive zusammen, oder unterschiedliche Erklärungsansätze stehen nebeneinander. Betrachten wir daher als erstes die Kriegsentscheidungen einzelner Herrscher. Lediglich der Xerxeszug gegen Griechenland soll erst im anschließenden Kapitel, das Herodots Xerxesdarstellung gewidmet ist, im Licht der hier untersuchten Motive für Kriegszüge behandelt werden.122 Die Reihe der kriegführenden Könige beginnt mit Kroisos und seinem Zug gegen Kyros, dem eine schwierige Entscheidungsfindung vorausgeht.123 Die detaillierte Darlegung der Faktoren, die Kroisos bei seinem Entschluß beeinflussen, darf als eine Einführung in die vielschichtige Problematik gelesen werden, die die Rezipienten mit grundlegenden Mechanismen der Kriegsentscheidung bekannt macht. Bereits hier lassen sich die zentralen Erklärungsmuster erkennen, auf die Herodot in der Folge immer wieder zurückgreifen wird: ein – freilich fehlinterpretierter – Orakelspruch,124 der Wunsch, die eigene Macht zu sichern und auszubauen,125 und die Aussicht darauf, einen Racheakt vollbringen zu können.126 Für die Kriegsentscheidungen östlicher Herrscher sind das die typischen Gründe, wobei sich Herodot meist auf eine oder zwei Motivangaben beschränkt: Phraortes, der Sohn des Deiokes, greift die Perser an, weil es ihm nicht genügt (οὐκ ἀπεχρᾶτο), über die Meder zu herrschen, sein Sohn Kyaxares wiederum führt seine Kriege, um Rache zu üben, und der ägyptische Pharao Psammetichos zieht gegen die elf Könige zu Felde, die ihn verbannt haben, da ein Orakel ihm Rache verheißt.127 Gewisse persönliche Züge einzelner Herrscher können zusätzlich eine Rolle spielen. So hat Kyros „viele und wichtige“ Gründe, gegen die Massageten zu ziehen, von denen Herodot leider nur zwei anführt, seine Herkunft – Kyros hält sich für mehr als einen Menschen – und sein bisheriges Kriegsglück, das ihn übermütig macht.128 Bei näherem Hinsehen liegt beiden Erklärungen das gleiche Motiv zugrunde: Hybris. Auch bei Kambyses gibt es ganz eigene Gründe für seine Kriege gegen die Ägypter

118 I 71–75; 74,1; 103,2; II 152,1–3; III 1–3; 47,1; 52,7; IV 1,1 (cf. 4 und 118,3–5); V 74,1; 77,1; 79,1; 89,2; VI 43f.; 94 (cf. V 105); VI 133,1; VII 170,1. 119 III 47,1; 139–141; V 44; 74,1; 80f.; 99,1; VI 23,3.4; 89; 100,1; 106. 120 I 66,1; 71–75; 102; IV 1,1 (cf. 4 und 118,3–5); V 31; VI 43f.; 94. 121 I 66,2.3; 71–75; II 29,5; 152,1–3; V 1,2; 63,2; 90f.; VI 76–80. 122 P. 139–143. 123 Siehe dazu die klugen Überlegungen von Lang 1984, 79, sowie die Zusammenstellung der einzelnen Kriegsgründe bei Cobet 1986, 9. 124 I 53,3. Siehe auch den Rückblick in 87,3.4, wo Kroisos selbst von göttlichem Geheiß spricht. 125 Kroisos will sein Reich gegen die an Macht (δύναµις) gewinnenden Perser verteidigen, es womöglich vergrößern und Kyros stürzen (I 46,1; 71,1; 73,1.2; 75,2). 126 I 73,1.2. Kroisos will seinen Schwager Astyages rächen. 127 Phraortes: I 102. Kyaxares: I 74,1; 103,2. Psammetichos: II 152,1–3. 128 I 201; 204f. Zitat 204,2.

2.2. Erklärungsmuster für politische Entscheidungen

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und gegen die Äthiopier, nämlich Zorn und Wahnsinn, die, wie man sich erinnern wird, für den Großteil seiner Taten verantwortlich sind.129 In dem hier abgesteckten Rahmen bewegen sich auch die Kriege, die Xerxes’ Vater Dareios führt.130 Sein Feldzug nach Griechenland wird von seiner Frau Atossa angestoßen, die ihn auffordert, neue Völker und Herrschaften zu erobern und so auch seine Stellung bei den Persern zu festigen (III 134). Die Entscheidung für einen weiteren Kriegszug gegen die Griechen, den er nicht mehr in die Tat umsetzen kann, hat dieselben Motive. Wieder sind es Dritte, die Dareios zunächst überhaupt auf die Idee bringen, einen Krieg zu beginnen (VI 94): die Peisistratiden und seine Diener, welche der Großkönig nach dem Debakel von Marathon angewiesen hatte, ihm die Sache doch immer wieder ins Gedächtnis zu rufen (V 105). Auch bei diesem zweiten Kriegsbeschluß geht es um Machtpolitik und Eroberung, diesmal allerdings kommt als willkommenes Argument – Herodot spricht von einem Vorwand131 – die Rache an Athen hinzu.132 An anderer Stelle wird der Zorn des Königs über die Niederlage der Perser in der Schlacht von Marathon als ein Beweggrund erwähnt (VII 1,1). Denselben Mustern folgt auch Herodots Erklärung für die Eroberung des Skythenlands. Dareios selbst stellt den Skythenkrieg als eine seit langem fällige Rache dar (IV 1,1), was der Erzähler unkommentiert aufgreift (IV 4), um es auch an dieser Stelle wieder dem Leser zu überlassen, sich eine Meinung zu bilden. Die skythischen Einfälle in Medien, die es zu rächen gilt, liegen schließlich schon viele Jahrzehnte zurück, und Herodot vergißt nicht zu erwähnen, daß die Gelegenheit für einen Krieg gerade günstig ist. Asien, so erklärt er einleitend, ist zu diesem Zeitpunkt bevölkerungsreich und wohlhabend (V 1,1). Die Skythen sind es, aus deren Mund der Leser schließlich die Hintergründe des Vorhabens erfährt, die, wie der weitere Verlauf der Geschichte offenbaren wird, als die eigentlichen Gründe betrachtet werden müssen: Der Perserkönig habe bereits ganz Asien und Thrakien unterworfen und wolle auch über alle anderen Länder herrschen. Würde es sich um einen Rachezug handeln, so argumentieren die Skythen, dann hätte Dareios doch die anderen Völker auf seinem Weg unbehelligt lassen müssen, aber er habe sie alle unterworfen (IV 118). Aus seinen Taten lassen sich also die wahren Motive erschließen, und die Könige der Nachbarvölker, die sich aus der Sache heraushalten zu können glauben (IV 119), werden nur zu bald eines besseren belehrt werden. Hier ist kein weiterer Kommentar nötig, um dem Leser die Meinung des Erzählers deutlich zu machen: Es kommt genau so, wie die Skythen es angekündigt haben, was zeigt, daß sie die wahren Motive des Perserkönigs erkannt haben. Das bisher skizzierte Spektrum wird bei der Darstellung der Eroberung von Samos um zwei weitere Motive bereichert. Dareios sendet ein Heer nach Samos aus, 129 III 1–3; 25,1.2. Die Version über Rache als eigentliches Motiv des Kriegs in Ägypten weist Herodot als wenig glaubwürdig zurück (III 3). Siehe dazu auch den Abschnitt über die „phantastischen Kriegsziele“ des Königs bei Bichler 2001, 270–272. 130 Zur herodoteischen Darstellung von Dareios’ Expansionspolitik siehe ibid., 288–301, 316–318, und van Wees 2002, 345–347. Bezüglich der Parallelen in der Darstellung seines Skythenzugs mit dem Griechenlandfeldzug des Xerxes siehe Rengakos 2011, 359–361 (mit Literatur). 131 πρόσχηµα (VI 44,1) bzw. πρόφασις (94,1). Zu αἰτίη und πρόφασις bei Herodot siehe Huber 1965, 75–79, zu πρόφασις in bezug auf Kriegsgründe in den Historien Sealey 1957. 132 Zur Frage der Historizität einer persischen Rachegesinnung siehe Funke 2007.

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2. Erklärungsmuster

um Syloson zu helfen, einem Bruder des ermordeten Polykrates, der ihn darum gebeten hat, ihm auf diese Weise eine frühere Wohltat zu vergelten (III 139–141). Zu bemerken ist hier, daß es sich nicht um einen Krieg handelt, der denen gegen die Griechen und Skythen vergleichbar wäre; Dareios unterstützt Syloson, ohne damit eigene Interessen zu verfolgen. Eine solche Waffenhilfe, die immer von außen angestoßen wird (deshalb aber keineswegs selbstlos sein muß), begegnet in den Historien in unterschiedlichsten Konstellationen. Ein weiteres Beispiel bieten etwa die ionischen und karischen Seeräuber, mit denen Psammetichos Freundschaft schließt. Sie lassen sich durch große Versprechungen dazu bringen, als Hilfstruppen mit ihm in den Krieg zu ziehen, und tatsächlich erhalten sie später neben anderen Gaben Landbesitz am Nil (II 152f.). Manch ein König oder Tyrann sendet ein Heer oder eine Flotte aus, um Schutzflehenden zu helfen,133 und manche Stadt zieht in den Krieg, um einer Bitte zu entsprechen,134 in selteneren Fällen, um eine Dankesschuld zu begleichen,135 eine Kolonie zu beschützen136 oder eine Orakelweisung zu befolgen.137 Freilich können in die Entscheidung, militärische Unterstützung zu leisten, auch eigene Motive einfließen. Diese entsprechen in der Regel den üblichen Beweggründen für kriegerische Unternehmungen.138 Dennoch folgt, wie die aufgeführten Beispiele zeigen, nicht jeder, der sich in einem Krieg engagiert, deshalb auch der Logik des Kriegs (sei es im Sinn von Vergeltung oder im Sinn machtpolitischer Ambitionen): Die Waffenhilfe steht in den Historien im Kontext von Wohltaten und Dankbarkeit, Hilfsgesuchen und Gefälligkeit, Schutzbitten und Fürsorge. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, daß eine erbetene militärische Unterstützung aber auch verweigert werden kann. Die Phoiniker in Kambyses’ Flotte etwa weigern sich, gegen Karthago zu kämpfen, weil sie sich durch heilige Eide gebunden sehen und nicht freveln wollen, indem sie sich an ihren eigenen Kindern – ihrer Kolonie – vergehen (III 19,2). Die Korinther verweigern ihre Hilfe, wo ein Vorhaben ihrem Gerechtigkeitsempfinden (V 75,1) oder ihrer Freiheitsliebe (V 92) widerspricht, die Spartaner sind ihrer Heimat so eng verbunden, daß es für sie undenkbar wäre, sich weiter vom Meer zu entfernen (V 49f.), und die Kreter berufen sich schlicht darauf, daß ihnen eine frühere Unterstützung in einem analogen Fall auch nicht vergolten worden sei (VII 169). Nach diesem Seitenblick auf die Motive für Waffenhilfe komme ich auf die eigentlichen Kriegsentscheidungen zurück. Es konnte gezeigt werden, daß die östlichen Potentaten in der Regel Kriege führen, um ihren Machtinteressen zu folgen 133 134 135 136 137 138

IV 159,4; 165,2; V 44. III 44,1; 46,2; 47,1; V 80f.; 99,1; VI 23,3.4; 89; 100,1; 106; 108. III 47,1; V 99,1. V 97. V 63,2; 90. Strafe und Rache: III 47,1; IV 167,2.3. Machtstreben: IV 167,2.3; V 31; 81,2; 91,1.2. Zu Feindschaft siehe unten, p. 113f., mit Belegangaben in n. 146. Die Behauptung der Überlebenden des Kyrenefeldzugs, Apries hätte sein Heer absichtlich in eine vernichtende Niederlage geschickt, um seine Herrschaft zu stabilisieren, wird von Herodot als falsch zurückgewisen (II 161,4; IV 159,4). Polykrates von Samos hingegen bringt es tatsächlich fertig, die 40 Trieren, die er Kambyses als Hilfskontingent schickt, gezielt mit Leuten zu bemannen, die er aufrührerischer Absichten verdächtigt – in der Hoffnung, sie so ein für allemal los zu sein (III 4).

2.2. Erklärungsmuster für politische Entscheidungen

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oder um Rache zu üben (was, wie der Fall des Dareios deutlich machte, auch ein Vorwand sein kann). Orakelanweisungen, Ratschläge und charakterlich bedingte Motive spielen bei ihren Feldzügen ebenfalls eine Rolle. Dieselben Erklärungen finden sich übereinstimmend auch dort, wo griechische Könige oder Tyrannen über Kriege entscheiden.139 Bei den Städten der griechischen Welt hingegen kommen zu den bekannten Motiven noch andere hinzu, die das Spektrum möglicher Kriegsgründe erweitern.140 Richten wir unser Augenmerk zunächst auf die Spartaner, deren Feldzug nach Arkadien der erste Krieg in den Historien ist, über dessen Hintergründe Herodot sich äußert.141 Die Spartaner kommen auf die Idee, Arkadien zu erobern, da ihnen das friedliche Leben nicht mehr genügt und sie sich für etwas Besseres halten als die Arkadier.142 Ähnlich wie beim Skythenzug des Dareios hat auch hier der Erzähler einleitend einfließen lassen, daß die Spartaner über gutes Land, eine große Bevölkerung, Wohlstand und Ansehen verfügen; die Gelegenheit für ein kriegerisches Unternehmen ist denkbar günstig. Aus Überdruß also überfallen die Spartaner Arkadien, wobei sie sich dann auf die Eroberung von Tegea beschränken, die ihnen das delphische Orakel in Aussicht stellt.143 Zugleich geht es in dieser Geschichte aber auch wieder um Expansion und Herrschaft, wie Herodots abschließender Satz deutlich macht: Als die Spartaner schließlich doch die Oberhand über die Tegeaten gewonnen haben, heißt es in I 68,6, beherrschen sie schon fast die ganze Peloponnes. Der Feldzug steht somit im Kontext einer Entwicklung, in deren Verlauf die Spartaner ihren Einfluß auf benachbarte Gebiete beständig ausweiten. Ein solcher Gedanke ist für die griechischen Poleis in den Historien sonst eher ungewöhnlich. Ganz anders als die Könige und Tyrannen lassen sie sich nicht von machtpolitischen Gründen zum Kriegführen verleiten. Der einzige weitere Beleg betrifft wiederum die Spartaner, deren Vorhaben, die Peisistratiden in Athen wieder an die Herrschaft zu bringen, unter anderem darauf zurückgeführt wird, daß die Athener immer mächtiger werden und ihnen, den Spartanern, nicht mehr gehorchen.144 Für die anderen griechischen Städte dagegen ist der hauptsächliche Grund, in den Krieg zu ziehen, Strafe oder Rache. Damit verbunden sind häufig verwandte Beweggründe wie die Verteidigung von Ehre145 , eine alte Feindschaft146 , wo es die

139 III 44; 52,7; V 31; 44; 74,1; VI 23,3.4; 73; 76–80. Der athenische Feldherr Miltiades beschließt Herodots Darstellung zufolge ebenfalls einen Feldzug (VI 133,1). 140 Ich beziehe mich auf die Belegstellen I 66,1; 66,2.3; III 47,1; 48f.; V 1,2; 63,2; 77,1; 79,1; 80f. und 89,1; 89,2; 90f.; 97; 99,1; VI 89; 100,1; 106; 108; VII 108,1; 170,1; IX 10,1. 141 Ich berücksichtige die hellenische Rache in I 4,3 nicht, da sich das Motiv speziell auf die Zerstörung der Stadt Troia bezieht, nicht auf den Krieg. 142 καὶ δή σφι οὐκέτι ἀπέχρα ἡσυχίην ἄγειν, ἀλλὰ καταφρονήσαντες Ἀρκάδων κρέσσονες εἶναι (I 66,1). 143 I 66,2.3. Der Orakelspruch erweist sich aber als doppelsinnig: Die Spartaner unterliegen und bekommen die Fußfesseln, die sie für die Tegeaten mitgebracht haben, selbst angelegt. 144 V 91,1, als eigene Aussage der Spartaner 91,2. 145 III 48f. Hans Drexler weist darauf hin, der Kriegsgrund Rache sei in den Historien grundsätzlich „eine Forderung der Ehre“ (Drexler 1972, 123). 146 III 48f.; V 81,2; 89,1; 97.

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2. Erklärungsmuster

Feinde zu bekämpfen, oder eine Freundschaft147 , wo es die Freunde zu unterstützen gilt. Die Kriege griechischer Poleis lassen sich als eine Kette aufeinanderfolgender Rachetaten erzählen. So unternehmen die Athener einen Kriegszug gegen die Bürger der Stadt Chalkis, um Rache dafür zu üben, daß diese sich am Einfall des Kleomenes in Attika beteiligt und ihre Felder vernichtet haben (V 77,1). Als die Boioter den Chalkidern zur Hilfe kommen, kämpfen die Athener auch gegen diese, erschlagen viele von ihnen und lassen 700 Gefangene zusammen mit denen aus Chalkis erst gegen ein Lösegeld von zwei Minen wieder frei. So setzen die boiotischen Thebaner ihrerseits sogleich einen Rachefeldzug ins Werk (V 79,1). Die Aigineten wiederum, die sie nach einer scharfsinnigen Orakeldeutung um Hilfe bitten, sind durch ihr Wohlergehen (εὐδαιµονίη) hochmütig geworden und nutzen die Anfrage aus Theben zur willkommenen Gelegenheit, mehrere attische Küstenorte zu plündern, da sie ihrer alten Feindschaft mit Athen gedenken (V 80f.). Diese Feindschaft nun hat Gründe, die Herodot als eine lange Geschichte von Animositäten, Mißverständnissen und Übergriffen erzählt (V 82–88), um schließlich anzufügen, daß auch die Athener sich sofort wieder zum Rachezug gegen Aigina rüsten, obwohl ein Orakel ihnen dringlich davon abgeraten hat (V 89,2–90). Ein solcher Kreislauf von Vergeltungstaten erinnert vielleicht nicht zufällig an die Eröffnung der Historien, die als Abfolge von Rachehandlungen gestaltet ist.148 Zugleich wird deutlich, daß das komplizierte Geflecht innergriechischer Beziehungen – von Rivalitäten, Abhängigkeiten und Rücksichten aller Art durchdrungen – in der Regel vielschichtigere Motiverklärungen erfordert (oder hervorbringt) als die Eroberungskriege orientalischer Herrscher. Dies läßt sich beispielhaft für den Krieg zeigen, den die Spartaner im Jahr 524/ 523 v. Chr. gegen Samos führten und über den Herodot ausführlich berichtet.149 Das eigentliche Kriegsgeschehen wird in nur drei Kapiteln (III 54–56) dargestellt und ist schnell erzählt: Die Spartaner belagern Samos, ziehen aber nach vierzig Tagen erfolglos wieder ab. Im Vergleich zu dem knappen Bericht über den Krieg selbst fällt ins Auge, welch breiten Raum dagegen die Vorgeschichte einnimmt, der Herodot ganze 15 Kapitel einräumt (III 39–53).150 Dabei widmet er sich vor allem den Motiven, die die einzelnen Parteien bewegen.151 Beginnen wir mit den Kriegsgründen der Spartaner. Der Tyrann Polykrates hat Samos besetzt, doch ein Teil der Bürger will das nicht hinnehmen. Diese Samier unterliegen dem Tyrannen aber in einer Schlacht, und so fahren sie nach Sparta, um dort um Hilfe zu bitten. Nach einigem Hin und Her rüsten die Spartaner tatsächlich zum Krieg. Dazu heißt es in Kapitel 47, den Samiern zufolge hätten die Spartaner ihnen damit eine frühere Wohltaten vergolten (εὐεργεσίας ἐκτίνοντες), da diese 147 VI 89. 148 I 2–5,2; siehe auch oben, p. 57. 149 Zur Darstellung des Samischen Kriegs in den Historien siehe Forsdyke 2002, 524–528. Über die Geschichte von Samos ist Herodot besonders gut informiert, da er um 460 v. Chr. mehrere Jahre auf der Insel verbrachte (siehe dazu im einzelnen Tölle-Kastenbein 1976). 150 Ähnliches läßt sich beobachten, wenn man die Historien als ganze in den Blick nimmt, wo die Darstellung der Perserkriege selbst einen vergleichsweise geringen Raum beansprucht. 151 Zur Motivation im Samischen Logos siehe auch Baragwanath 2008, 87–107.

2.2. Erklärungsmuster für politische Entscheidungen

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ihnen einst eine Hilfsflotte gegen die Messenier geschickt hatten. Die Spartaner dagegen behaupten, sie seien weniger deshalb aufgebrochen, um den aufrührerischen Samiern auf ihre Bitte hin zu helfen, als in der Absicht, sich an Samos zu rächen. Anlaß dieser Rache sei der Jahrzehnte zurückliegende Raub eines Mischkrugs, den die Spartaner für Kroisos bestimmt hatten, und der eines kostbaren Panzers, welchen ihnen Amasis, der König von Ägypten, als Geschenk gesandt hatte. Die Ansichten darüber, welche Motive die Spartaner für ihren Kriegszug haben, sind also geteilt: Während die Samier auf die Vergeltung früherer Wohltaten verweisen, sagen die Spartaner selbst, ihr hauptsächliches Motiv sei die Rache für den Raub zweier Kleinodien gewesen.152 So unterschiedlich die Argumentation im einzelnen ist, so können doch beide Parteien Gründe ins Feld führen, die für den zeitgenössischen Leser plausibel geklungen haben müssen. Die Waffenhilfe im Messenierkrieg, die die Samier anführen können, ist – gerade im Kontext vieler ähnlicher Fälle, wie sie bereits besprochen wurden – ein Argument, das grundsätzlich geeignet sein mußte, die Spartaner zu einer adäquaten Hilfeleistung zu bewegen. Auf der anderen Seite scheint es ohne weiteres akzeptabel zu sein, daß die Raubzüge der Samier Jahrzehnte später einen Vergeltungskrieg erfordern, zumal die Spartaner eine Fülle von Details ins Feld führen können, die den Wahrheitsanspruch ihrer Geschichte untermauern: Die genaue Beschreibung, die Herodot von dem Panzer gibt, und der damit verbundene Verweis auf ein ähnliches Exemplar auf Lindos verleihen dieser Version zusätzliche Glaubwürdigkeit. Die geraubten Gegenstände lassen sich außerdem mit den Namen Kroisos und Amasis verbinden. So ergibt sich auch eine chronologische Einordnung, die noch präzisiert wird durch die Angabe, der Mischkrug sei genau ein Jahr nach dem Panzer geraubt worden (47,2). Die Entscheidung, welcher Grund der wahre ist, überläßt Herodot auch hier wieder dem Leser. Dieser wird vielleicht eher geneigt sein, der samischen Version zuzustimmen, da der Erzähler zuvor bereits zweimal einen Zusammenhang zwischen den Bitten der Samier und dem Kriegsbeschluß der Spartaner hergestellt hat (44,1; 46,2). Dabei schließen sich die genannten Kriegsgründe nicht gegenseitig aus, sondern können durchaus als einander ergänzend aufgefaßt werden. Der Leser muß daher nicht unbedingt entscheiden, daß eine Geschichte wahr und die andere falsch ist, sondern könnte sich auch darüber Gedanken machen, wie die aufgeführten Motive in ihrer Bedeutung zu gewichten sind.153

152 Tölle-Kastenbein 1976 übersieht anscheinend, daß es sich hier um zwei unterschiedliche Versionen handelt, wenn sie urteilt: „Der nicht ernst zu nehmende Grund, die Rache für den Raub des Panzerhemdes und des Kraters[,] und der Dank für die Sparta geleistete Hilfe im zweiten messenischen Krieg wiegen einander auf.“ Die Verfasserin macht als eigentliche Kriegsgründe Spartas Rolle „des Hüters der Bürgerrechte gegen jegliche Form von Alleinherrschaft“ und seine antipersische Einstellung aus (p. 26). Auch andere moderne Forscher sehen das Engagement der exilierten samischen Aristokraten als den wirklichen Kriegsgrund an (siehe Forsdyke 2002, 526). 153 Baragwanath 2008 macht in ihren Überlegungen zu Motivalternativen (122–132) auf weitere Beispiele aufmerksam, in denen die Angabe verschiedener Beweggründe eher additiv zu verstehen sein könnte (124–127): „In any case, even a rejected possibility may serve to convey a richer impression of how things might happen in another similar instance“ (127).

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Wenden wir uns nun den Kriegsgründen der Korinther zu, die die Spartaner unterstützen.154 Es handelt sich bei diesem Engagement um mehr als eine reine Waffenhilfe, da den Korinthern daran gelegen ist, daß der Feldzug dank ihrer Hilfe auch wirklich zustandekommt. Auch sie können sich auf eine Untat der Samier berufen – die Rede ist von einer Kränkung (ὕβρισµα, 48,1), die es zu rächen gelte –, und auch diese Geschichte liegt bereits drei155 Menschenalter zurück.156 Periandros hatte die Korinther beauftragt, 300 Söhne vornehmer Männer von der Insel Kerkyra nach Sardes zu Alyattes, dem persischen Statthalter, zu bringen, wo sie entmannt werden sollten.157 Als sie mit den Knaben auf Samos landeten, brachten die Samier die Gefangenen ins sichere Tempelasyl ihres Artemisheiligtums und ließen nicht zu, daß die Korinther sie gewaltsam mitnahmen, so daß diese unverrichteter Dinge abfahren mußten, während die Samier die jungen Männer zurück nach Kerkyra brachten (48).158 Das Argumentationsschema der Korinther ist also ebenfalls der Vorstellung eines Kreislaufs von Freveltaten und Rache verpflichtet. Damit allerdings läßt Herodot es nicht bewenden. Der eigentliche Grund, fügt er an, sei aber nicht in dieser Geschichte zu suchen, sondern darin, daß die Korinther und Kerkyraier von alters her verfeindet (διάφοροι) seien (49,1). Wir sehen, Herodot gibt sich nicht mit der erstbesten Antwort zufrieden. Dabei kommt er zu einem erstaunlichen Ergebnis: Der wahre Grund für den korinthischen Feldzug ist gar nicht bei den Samiern zu suchen, sondern bei den Kerkyräern.159 Von dem lang zurückliegenden ὕβρισµα ist also überhaupt nur deshalb noch die Rede, weil die Samier damals Kerkyra unterstützt haben. In diesem Zusammenhang verschränkt Herodot die Begriffe Freundschaft (φίλια) und Verwandtschaft (συγγένεια) miteinander: Während sich normalerweise erwarten ließe, daß Stammesgenossen einander freundschaftlich verbunden sind, ist hier das Gegenteil der Fall. Wenn wir nun dem Verlauf der Geschichte weiter folgen, so stellt sich heraus, daß Periander, der die kerkyräischen Knaben nach Sardes schicken wollte, damit seinerseits an den Bürgern von Kerkyra hatte Rache nehmen wollen (49–53). Der 154 Zu den „echten politischen Hintergründen“ des korinthischen Kriegseintritts aus moderner Sicht siehe Tölle-Kastenbein 1976, 17. 155 Panofkas Konjektur γενεῇ in III 48,1 kann, wie Hans-Joachim Gehrke gezeigt hat, als überzeugend gelten. Das wichtigste Argument ist Plutarchs De Herodoti malignitate 859d, wo es ebenfalls µετὰ τρεῖς γενέας heißt (siehe im einzelnen Gehrke 1990, vor allem 36f.). Die Frage, ob es sich um ein oder drei Menschenalter handelt, ist für die Chronologie der Tyrannen von weiterreichender Bedeutung. 156 Herodot parallelisiert die Episoden in 47 und 48 durch den Hinweis, die besagte Beleidigung sei damals geschehen, als die Samier auch den Mischkrug raubten. 157 Die geplante Verschacherung der 300 zur Verschneidung bestimmten Knaben veranschaulicht nach Bichler 2010, 159, die „Macht der nachmaligen Großkönige mit ihrer Kombination von faszinierendem Luxus und erschreckender Brutalität“; eine Verbindung der Perser mit dem Handel von Eunuchen findet sich auch in VI 32 und VIII 105f. 158 Den Kern der Geschichte um die geretteten Knaben bildet erkennbar ein samisches αἴτιον, das ursprünglich die Herkunft eines lokalen Festes erklärt, hier aber die Hintergründe des Kriegs beleuchten soll: Allabendlich hätten Jünglinge und Jungfrauen am Artemistempel Reigentänze veranstaltet und dabei die Sitte eingeführt, Sesam- und Honigkuchen als Opfer darzubringen, die die Knaben aus Kerkyra wegnehmen und essen sollten (III 48,3). 159 Zum historischen Hintergrund der Feindschaft zwischen Korinth und Kerkyra siehe oben, p. 96f.

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Erzähler schildert in aller Ausführlichkeit, wie und weshalb Periander seinen Sohn Lykophron nach Kerkyra verbannt. Als er alt wird und dem Sohn die Herrschaft übergeben will, weigert sich dieser, zurückzukehren, solange der verhaßte Vater noch lebt. Schließlich kommt es zu einem Kompromiß: Lykophron soll nach Korinth kommen, Periander aber im Gegenzug nach Kerkyra gehen. Doch da töten die Bewohner von Kerkyra seinen Sohn, um zu verhindern, daß Periander in ihr Land kommt (53). Die Verschneidung der 300 Knaben hatte eine Rache für diesen Mord sein sollen. Es läßt sich an dieser Stelle bilanzieren, daß alle Protagonisten des Samischen Kriegs aktiv werden, weil sie Rache üben wollen. Dieses Argument ist von unterschiedlicher Tragfähigkeit und erweist sich aus der Sicht des Erzählers auch hier bisweilen als Vorwand, wie im Fall der Korinther. Die hilfesuchenden Samier sind die einzigen, die ein solches reziprokes Verhältnis von Tat und Vergeltung ins Positive wenden: Sie behaupten, daß die Spartaner sie unterstützen, um ihnen eine länger zurückliegende Hilfeleistung zu vergelten. Abschließend faßt Herodot zusammen: „Das war der erste Feldzug nach Asien, den die dorischen Lakedaimonier unternahmen.“160 Dieser Satz rückt das Geschehen um den Krieg in Samos in einen größeren Zusammenhang. Er weist über die hier berichteten innergriechischen Probleme hinaus und läßt bereits die später geschilderten Auseinandersetzungen zwischen Griechen und Persern anklingen. Das Beispiel des Samischen Kriegs hat verdeutlicht, daß die Erklärungen, die Herodot für Auseinandersetzungen zwischen den griechischen Städten findet, nicht nur auf vielfältige Motive zurückgreifen, sondern sich auch durch ihre Komplexität auszeichnen. Oftmals ist es dem Erzähler gar nicht möglich, einen Kriegsgrund mit einem Wort oder Satz zu benennen, sondern es scheint ihm erforderlich, die Motive der einzelnen Parteien in einer ausführlichen Geschichte zu erzählen. Diese Beobachtung ist von grundlegender Bedeutung: Die eigentliche Motivangabe liegt wie hier mitunter in der Narration selbst, und die Erzählung fungiert als Erklärmodus.161 Dies gilt in den Historien freilich nicht nur für Kriege,162 es läßt sich hier aber besonders häufig beobachten. Der an anderer Stelle zu besprechende Xerxeszug163 liest sich, dies kann bereits vorweggenommen werden, im Licht der hier angestellten Überlegungen wie eine zusammenfassende Antwort auf unsere eingangs formulierte Frage: „Welche Gründe kann es geben, aktiv einen Krieg zu beginnen?“ Zur Begründung des zentralen Feldzugs in der Auseinandersetzung zwischen Griechen und Barbaren wird Herodot alles aufbieten, was er in den Historien als Erklärungsmuster für Kriege entwickelt hat:164 Motive, wie sie typisch sind für Alleinherrscher, teils in detaillierter Übereinstimmung besonders mit den Kriegsgründen von Xerxes’ Vorgänger Dareios, von dem 160 161 162 163 164

ταύτην πρώτην στρατιὴν ἐς τὴν Ἀσίην Λακεδαιµόνιοι Δωριέες ἐποιήσαντο (III 56,2). Grundlegend dazu: Lübbe 1973. Cf. diesbezüglich die Ergebnisse von Baragwanath 2008. P. 139–142. Angesichts dieser Tatsache scheint mir das merkwürdig vage Resümee Ludwig Hubers, daß bei den Kriegsentscheidungen in den Historien „offenbar mit bestimmten Handlungen nur eine begrenzte Zahl bestimmter allgemeiner Motive mehr oder weniger regelmäßig verbunden“ würde (Huber 1965, 71), den Kern der Sache nicht recht zu treffen.

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2. Erklärungsmuster

der Sohn das Vorhaben in gewisser Weise geerbt hat; Motive, wie sie dem Leser aus dem komplizierten Interessengeflecht innergriechischer Streitigkeiten bekannt sind; ergänzt schließlich durch Motive, die den Xerxeszug als einzigartig unter allen Kriegen auszeichnen, darunter vor allem die Träume des Königs.165 Diese Hintergründe präsentiert Herodot in Form einer ausgefeilten Erzählung, die auch aus der Perspektive der Handlungsmotivation als ein Höhepunkt seines Werks gelesen werden kann. 2.2.2. Aufstände und Herrscherwechsel Nach den Kriegsentscheidungen soll nun die Begründung von Aufständen und Herrscherwechseln Gegenstand sein, von Ereignissen also, die in den Historien oft eng miteinander verflochten werden. Sind es im einen Fall Untertanen oder Soldaten, die einem Herrscher den Gehorsam verweigern und zu den Waffen greifen, so handelt es sich im anderen Fall um Usurpatoren, die eine Machtposition für sich beanspruchen. Diese beiden Konstellationen werden bei Herodot auf jeweils unterschiedliche Gründe zurückgeführt. Um mit den Machtwechseln zu beginnen: Die Staatsstreiche eines Peisistratos, dem es dreimal gelingt, in Athen eine Tyrannis zu errichten, eines Deiokes, der König der Meder wird, oder eines Dareios und seiner Mitverschwörer, die die Magier vom Thron stürzen, werden übereinstimmend auf das Machtstreben der Beteiligten zurückgeführt.166 Dieses Motiv ist aus dem Ergebnis der Handlung erschlossen: Wenn Deiokes dadurch an die Macht kommt, daß er für Recht und Ordnung gesorgt und sich so hohes Ansehen verschafft hat, dann wird er sich eben deshalb als Richter um Gerechtigkeit bemüht haben, weil er auf diese Weise die Herrschaft (τυραννίς) zu erringen hoffte.167 Im Kontext dieser Zuschreibungen ist die Geschichte von Kyros, der König über die Perser und Meder wird (I 124–126), mit einiger Skepsis zu lesen, wie Herodots Darstellung andeutet. Zunächst wird der junge Mann überhaupt nur durch Harpagos auf die Idee gebracht, die Perser gegen die Herrschaft der Meder aufzuhetzen. Dieser schreibt ihm, er, Kyros, sei von den Göttern dazu bestimmt, sich an seinem »Mörder« Astyages zu rächen168 – seinem Großvater, der ihn als Säugling hatte aussetzen 165 Wie de Romilly 1971, 326–331, zu der Einschätzung gelangt, beim Xerxeszug stünden erstmals in den Historien politische Überlegungen im Vordergrund, während etwa die Rache im Vergleich zu den Feldzügen des Dareios deutlich an Bedeutung verloren habe, ist mir unverständlich. Die Verfasserin urteilt über Buch I bis VI noch: „Tout se passe en effet comme si Hérodote – tout en ayant peut-être un sentiment très vif et très pénétrant de certaines causes politiques [. . . ] – n’avait pourtant pas encore pris une conscience assez claire de ce que pouvait être une histoire politique pour leur donner une place officielle dans son œuvre et pour construire à partir d’elles les grands enchaînements qu’il laisse seulement deviner“ (330). Dagegen heißt es dann eine Seite später in bezug auf die Argumentation von Artabanos in VII 49–53, wo es um Truppenstärke, Lebensmittelvorräte und Militärtaktik geht: „D’ailleurs, Hérodote lui-même parle maintenant ce langage“ (331). Sollte Herodots Bewußtsein für politische Zusammenhänge, wenngleich noch „gauchement exprimé“ (337), also erst während seiner Niederschrift von Buch VII erwacht sein? 166 I 59,3; 60; 63; 96f.; III 68–79. 167 I 96,2. Lang 1984, 74, bringt eben dieses Beispiel. Zur Deiokes-Episode siehe den Sammelband von Meier, Patzek, Walter & Wiesehöfer 2004. 168 Ἀστυάγεα τὸν σεωυτοῦ φονέα τεῖσαι (124,1).

2.2. Erklärungsmuster für politische Entscheidungen

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lassen. Dieses Schreiben veranlaßt Kyros nun dazu, sofort über eine Strategie nachzudenken, wie er die Perser für seine Sache gewinnen könnte. Er wird sie dann einen Tag lang auf dem Feld schuften lassen, am nächsten Tag aber reichlich bewirten und sie anschließend wählen lassen zwischen Sklavenarbeit (πόνος δουλοπρεπής) und Freiheit (γίνεσθε ἐλεύθεροι); er sei durch göttliches Geschick dazu berufen, sie zu befreien (126,5.6). Daß Rache in den Historien ein wohlfeiles und nicht immer ganz ehrliches Argument ist, war schon wiederholt festzustellen. Da Kyros dem besiegten Astyages später nichts zuleide tut, sondern ihn bis zu seinem Tod bei sich aufnimmt (130,3), erhält der Leser nicht den Eindruck, daß die von Harpagos ins Spiel gebrachte Rache wirklich sein vordringliches Motiv gewesen sein könnte. Die Kombination von göttlicher Berufung und Freiheitsliebe, wie Kyros selbst seine Motive benennt, wirkt dagegen durchaus plausibel, doch der Vergleich mit ähnlich gelagerten Fällen erfolgreicher Usurpationen legt immerhin den Gedanken nahe, daß der eigentlich Antrieb des jungen Persers die Aussicht auf eine Machtposition ist, die er sich zuvor – als Hirtenjunge aufgewachsen – kaum hätte erträumen können: Bald wird er über ganz Asien herrschen (130,3). Doch das wäre freilich kein geeignetes Argument gewesen, die Perser dazu zu überreden, einen Aufstand zu unterstützen, und so bleibt es unausgesprochen. Ein einziger Herrscherwechsel in den Historien vollzieht sich nicht nur ohne jegliche Machtambition des neuen Königs, sondern sogar gegen seinen ausdrücklichen Willen.169 Gyges, ein Leibwächter und der Vertraute des lydischen Königs Kandaules, wird von diesem gezwungen, der Königin heimlich beim Auskleiden zuzusehen, um sich von ihrer Schönheit zu überzeugen (I 8–10). Von dieser ertappt, wird Gyges vor die Wahl gestellt, entweder selbst zu sterben oder aber Kandaules zu ermorden, die Witwe zu heiraten und König der Lyder zu werden. Als sein Bitten und Flehen, doch nicht eine solche Entscheidung von ihm zu fordern, ohne Gehör bleibt, entscheidet sich Gyges gezwungenermaßen170 für sein eigenes Leben (11) und erdolcht Kandaules im königlichen Schlafgemach (12). Gyges erscheint als ein Getriebener, der nur widerwillig und gegen seine eigene Überzeugung zum König wird; eine merkwürdige Geschichte, die allem widerspricht, was für einen Usurpator denkbar erscheint.171 Wir sind hier in der seltenen glücklichen Lage, gleich mehrere andere antike Versionen dieser Geschichte zu kennen. Sie sind alle später überliefert als Herodot, ohne allerdings aus der Fassung der Historien abgeleitet werden zu können, so daß sich nicht mit Sicherheit sagen läßt, wie sie sich zeitlich zueinander verhalten.172 Interessant ist, daß diese – im Detail ganz unterschiedlichen – Geschichten 169 Eine erzählerische Parallele, die allerdings ohne die Angabe von Handlungsmotiven auskommt, bietet II 162,1. Amasis, der Unterhändler des Pharao Apries, bekommt unerwartet von einem Ägypter einen Helm aufgesetzt und wird als König akklamiert. Anders, als es bei Gyges zu sehen sein wird, hat Amasis nichts dagegen einzuwenden, König zu werden (II 162,2). 170 Das Vokabular von Notwendigkeit und Zwang, das den Gygeslogos prägt, stellt Travis 2000, 334f., zusammen. 171 Auch zu dem, was über den historischen Gyges, einen erfolgreichen Herrscher, bekannt ist, will Herodots Erzählung nicht recht passen: „Diesem kriegerischen Politiker traut man ohne weiteres die Energie zu, eine alte Dynastie zu stürzen und eine neue zu begründen“ (Friedrich 1998, 32). 172 Zu nennen sind vor allem Plat. R. II 359d und die vielleicht auf Xanthos den Lyder zurückgehende Erzählung in Nikolaos von Damaskos, FGrHist 90, F 47,6, daneben einzelne Fragmente

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2. Erklärungsmuster

in einem Punkt übereinstimmen: Gyges’ Beweggrund ist seine Liebe zur Königin. Auch hier geht es ihm also eigentlich nicht um die Herrschaft, die er zugleich mit der Geliebten erhält; abweichend von Herodots Fassung aber hat Gyges selbst einen guten Grund, aktiv zu werden. War Herodot, was Wolf-Hartmut Friedrich annimmt, „zu aufgeklärt“, um, wie es in Platons Wundergeschichte um den magischen Ring der Fall ist, „den Erfolg des Usurpators auf übernatürliche Kräfte zurückzuführen“?173 Oder sollte er die Fassung als Liebesgeschichte gar nicht gekannt haben, wie Karl Reinhardt vermutet?174 Geht man davon aus, daß Herodots Gygesgeschichte eine eigene Komposition des Autors ist, die auch, was die literarischen Motive betrifft, deutlich von den sonstigen uns bekannten Fassungen abweicht und stattdessen andere, griechische wie auch nichtgriechische, Erzähltraditionen aufgreift,175 so kann es allerdings kaum verwundern, daß Herodot auch für die Frage nach den Handlungsgründen seines Protagonisten – eine Frage, die ihn selbst ja immer wieder nachhaltig beschäftigt haben muß – eine eigene Antwort findet.176 Der erzählerische Abschluß der ungewöhnlichen Gygesgeschichte wiederum zeigt Parallelen zu den übrigen Herrscherwechseln. Die Lyder, die nach der Ermordung ihres Königs zunächst zu den Waffen greifen, erkennen die Position des Gyges später an, weil das delphische Orakel zugunsten des neuen Königs entscheidet (I 13). Ähnliche Bestätigung seitens der Götter erfahren auch andere Herrschaftsanwärter: Peisistratos wird ein ermutigender Orakelspruch zuteil (I 62,4), Dareios erhält im heiklen Moment seiner Bestimmung zum König ein Zeichen, als es aus heiterem Himmel blitzt und donnert (III 86), und die Skythenbrüder Lipoxais und Arpoxais verzichten zugunsten des jüngsten Geschwisters Kolaxais auf die Herrschaft, weil goldene Geräte vom Himmel fallen und es nur diesem gelingt, sie zu berühren und heimzutragen (IV 5). Wenn Usurpationen in den Historien, vom Fall des Gyges einmal abgesehen, einheitlich politisch begründet werden, so gilt das für Aufstände nicht. Dies zeigt schon der Blick auf die prominenteste der von Herodot geschilderten Erhebungen, den Ionischen Aufstand. Aristagoras, der Tyrann von Milet, fällt – durch Histiaios angestiftet – von Persien ab, als sein Feldzug nach Naxos im Debakel geendet hat. Er muß nun die Kosten für das verfehlte Unternehmen tragen, kann seine Versprechungen nicht einlösen und befürchtet, der üble Zustand seines Heeres und sein Streit mit dem Achämeniden Megabates könnten ihn die Herrschaft kosten: All dies ängstigt

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wie P. Oxy. 2382. Die von Herodot in I 12 selbst erwähnte Version des Lyrikers Archilochos von Paros ist nur in umstrittenen Bruchstücken erhalten. Aly 1921, 228–230, Reinhardt 1940, 327–332 [Seitenangaben nach der Ausgabe von Marg], Strauss Clay 1986, Friedrich 1998, 27–38, sowie Travis 2000 diskutieren die genannten Texte mit teilweise stark voneinander abweichenden Ergebnissen. Friedrich 1998, 29. Reinhardt 1940, 327f. [Seitenzählung nach der Ausgabe von Marg]. Cohen 2004. Dies ist nicht zuletzt auch deshalb von Bedeutung, da die Gygesgeschichte in den Historien gleichsam den erzählerischen Auftakt des Kroisoslogos bildet. Sie weist über sich selbst hinaus: Im unglücklichen Schicksal des Kroisos erfüllt sich der Fluch, den Gyges über seine Nachkommen gebracht hat (I 13; 91).

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ihn (V 35,1).177 Die Sorge um den Erhalt seiner Machtstellung ist also nur ein einzelnes Motiv unter mehreren Beweggründen, die für die Entscheidung des Tyrannen genannt werden. In einer vergleichbar komplexen Situation befindet sich Histiaios selbst, der Aristagoras zum Aufstand bewegt. Er ist unglücklich darüber, am persischen Hof in Susa festgehalten zu werden, und hofft, im Fall eines Aufstands endlich wieder ans Meer zurückkehren zu dürfen (V 35,4), behauptet aber selbst, mit seinem Betreiben die Ionier vor einer Umsiedlung bewahren zu wollen (VI 3). Wir haben es hier, ähnlich wie bei den Kriegszügen, mit einer komplizierten Ausgangslage zu tun, die Herodot nicht auf einen einzelnen Aspekt reduzieren will.178 Im Gegensatz dazu finden sich in den Historien sonst eher eindimensionale Erklärungen für Erhebungen, unter denen Freiheitsliebe das einzige weitere politisch begründete Motiv ist.179 Strafe und Rache,180 Zorn181 und verletzte Ehre182 weisen in eine andere Richtung: Fast alle Aufstände in den Historien werden auf eine frühere Kränkung der Aufständischen durch den jeweiligen Machthaber zurückgeführt. So sieht sich der entrüstete Megakles durch seinen Schwiegersohn Peisistratos entehrt (ἀτιµάζεσθαι), da dieser auf unnatürliche Weise mit seiner Frau, Megakles’ Tochter, verkehrt, und setzt einen Aufstand ins Werk (I 61,2). Eine beträchtliche Anzahl von Ägyptern fällt aus Zorn von Apries ab, weil sie meinen, er habe absichtlich ihr Heer in eine vernichtende Niederlage geschickt (II 161,4; IV 159,6). Die zunächst loyal gebliebenen Landsleute schließen sich der Erhebung an, als Apries, seinerseits im Zorn, seinem Boten Patarbemis Nase und Ohren abschneiden läßt, nachdem dieser ihm von den Unruhen berichtet hat. Daß Patarbemis, der angesehenste Mann unter ihnen, derart zugerichtet wird, empfinden die übrigen Ägypter als Schmach (λύµη) und fallen nun ihrerseits ebenfalls von Apries ab (II 162,6). In anderen Fällen macht Herodot mit Reue (I 130,2), Besitzgier (I 154) und dem Verstoß gegen eine bestimmte Sitte (IV 78–80) weitere Motive namhaft, die auf die konkreten Umstände des jeweiligen Aufstands zugeschnitten sind. 2.2.3. Koloniegründungen Neben Kriegen und Machtkämpfen bilden Koloniegründungen einen dritten großen Komplex von Ereignissen, die in den Historien wiederholt erklärt werden. Wenden wir uns daher nun den Geschichten zu, in denen die Beweggründe von Menschen besprochen werden, die sich dafür entscheiden, auszuwandern und anderswo eine neue Stadt zu gründen. 177 Zur Interpretation dieser Motive siehe Forrest 1979 und Walter 1993. Siehe außerdem die knappen Bemerkungen bei Günther 2012, 101. 178 So einfach, wie Walter 1993, 271, es zusammenfaßt, ist die Sache also wohl nicht: „Weil der Aufstand gescheitert war, mußten die Motive der Handelnden ungerecht und selbstsüchtig sein, ihre Charaktere gewandt, aber ohne moralische Grundlage“. 179 I 95,2; 127. 180 I 13; 123,1.2; IX 113,1. 181 I 61,2; II 161,4 und IV 159,6. 182 I 61,2; II 141,1.2; 162,6.

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Der Überblick bei Theresa Miller über die Hauptmotive griechischer Kolonisationsunternehmungen aus Sicht der modernen Forschung steht in durchaus reizvollem Kontrast zu dem, was Herodot und andere antike Autoren als Beweggründe benennen. Die Suche nach Ackerbauland und die Ausweitung des Handels als die aus Millers persönlicher Sicht entscheidenden Motive kommen zum Beispiel bei Herodot, soviel sei hier vorweggenommen, gar nicht vor. Wie die Verfasserin einräumen muß, werden kommerzielle Interessen auch in anderen literarischen Quellen nie als Motiv einer Koloniegründung benannt, eine „Vernachlässigung“, die sie „dem geringen Ansehen, das Händler bei den Griechen genossen“, zuschreibt.183 Betrachten wir also die Darstellung der Motive für einschlägige Unternehmungen bei Herodot. Es lassen sich in den Historien zwei unterschiedliche Konstellationen finden. Einerseits kann es darum gehen, wie einzelne oder Gruppen von Personen ihre Heimat verlassen, wobei das Interesse des Erzählers der problematischen Situation in der Heimatstadt gilt, die oft kurzfristig eine Flucht oder Auswanderung erzwingt. Andererseits wird von der Neuansiedlung in einem anderen Land und den damit verbundenen Schwierigkeiten erzählt, wobei der Fokus auf der eigentlichen Koloniegründung liegt. Entsprechend unterscheidet sich die Akzentuierung von Beweggründen der Beteiligten. Als typisches Beispiel für die Fokussierung auf die Situation in der Heimat des Auswanderers mag die Bemerkung über den Arzt Demokedes aus Kroton gelten, welcher seine Heimatstadt verläßt, weil er es im Streit mit seinem jähzornigen Vater nicht mehr aushält (III 131,1), oder die Geschichte über die Neurer, die in die Fremde ziehen, weil ihr Land von Schlangen heimgesucht wird (IV 105,1). Meist sind es Notsituationen und unhaltbare Zustände wie diese,184 die die Handelnden dazu bewegen, ihre Heimat zu verlassen. Eine sehr viel komplexere Diskussion erhalten die Motive der eigentlichen Koloniegründer, die als Gruppe, oft geführt von einer namentlich genannten Persönlichkeit, ihre Vaterstadt verlassen, um sich anderswo neu anzusiedeln. Bei der Durchsicht dieser Geschichten stößt man auf einander ähnelnde Erklärungsmuster. Fast immer spielt das Orakel von Delphi eine zentrale Rolle.185 Dabei werden die Akteure entweder überhaupt erst durch eine göttliche Einmischung auf den Gedanken gebracht, auszuwandern, oder es sind ursprünglich andere Gründe, die sie dazu bewegen, in

183 Miller 1997, 31–87, das Zitat dann 308. Günther 2012, 28f., bleibt insofern näher am Text, wenn sie bilanziert: „Man verließ die Heimat unter politischem Druck, beispielsweise einer drohenden Fremdherrschaft, oder im Gehorsam gegen eine Gottheit, zumeist aufgrund eines Orakelspruches aus Delphi. [. . . ] Von »Abenteuerlust« ist hier also keine Spur; die verbreitete moderne Vorstellung, die »alten Griechen« seien aus Neugierde und Tatendrang mobil gewesen und hätten sich fröhlich an fernen Gestaden eingerichtet, findet zumindest an Herodot keine Stütze.“ Leider verzichtet Günther (wohl den Publikationsvorgaben ihrer Reihe folgend) gänzlich auf Anmerkungen, so daß nicht nachvollziehbar ist, ob sie hier die Ergebnisse anderer Arbeiten, und wenn ja, welcher, referiert, oder ob es sich um eigene Überlegungen handelt. Auch einen Beleg für die „verbreitete“ Vorstellung von der Abenteuerlust der aussiedelnden Griechen bleibt sie ihren Lesern bedauerlicherweise schuldig. 184 II 30; IV 115f.; V 47,1. 185 Gegenbeispiele sind VII 164,1; 170,2.

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ein fremdes Land zu gehen, und ein Orakel bestärkt den bereits gefaßten Beschluß oder macht auf einen zur Neuansiedlung geeigneten Ort aufmerksam. Bei der Auswanderung einiger Athener unter der Führung von Miltiades, dem Sohn des Kypselos, ergreift der delphische Apollon schon im Vorfeld selbst die Initiative (VI 34–36): Die Dolonker, Thraker von der Chersones, befragen das Orakel wegen einer Kriegsnot und erhalten von der Pythia den Bescheid, denjenigen als neuen Ansiedler in ihr Land zu holen, der sie nach Verlassen des Tempels als erster zu sich einladen wird (34,2). Auf dem Heimweg kommen die Thraker auch durch Athen, und dort sieht Miltiades, der gerade vor seiner Haustür sitzt, die fremdländischen Lanzenträger vorbeimarschieren, ruft sie zu sich heran und lädt sie ein, seine Gäste zu sein.186 Als sie ihm vom Spruch des delphischen Orakels erzählen, ist er sofort bereit, mit ihnen zu kommen, da er mit der Herrschaft des Peisistratos unzufrieden ist und sich freut, ihr auf dieser Weise entgehen zu können (35,3). So reist er nun ebenfalls nach Delphi und erhält die Bestätigung, er solle den Thrakern folgen (36,1). Gemeinsam mit ihnen gelingt es Miltiades und einer Gruppe auswanderungswilliger Athener, die Chersones von den feindlichen Soldaten zu befreien, und Miltiades wird von den Einwohnern zu ihrem Herrscher (τύραννος, 36,2) gemacht. Es ist hier also das Orakel, das den Anstoß zur Auswanderung gibt;187 Miltiades greift ihn dann nur zu gern auf, um der Tyrannenherrschaft zu entkommen.188 Genau umgekehrt verhalten sich Orakelweisung und eigener Freiheitsdrang in der Geschichte der Gründung von Hyele (I 164–167) zueinander. Am Anfang steht hier der unbeugsame Freiheitswille der Bewohner von Phokaia, die sich mit allem Hab und Gut einschiffen, um fluchtartig ihre Stadt zu verlassen, als diese von den Persern angegriffen wird; sie hassen die Sklaverei (164). Der Großteil von ihnen wird freilich später den Auswanderungseid brechen und aus Heimweh in die mittlerweile entsetzte Stadt zurückkehren (165,3). Die anderen Bürger wandern nach Kyrnos (Korsika) aus, wo sie bereits 20 Jahre zuvor auf einen Orakelspruch hin die Stadt Alalia gegründet hatten (165,1), und dort leben sie fünf Jahre lang als Seeräuber mit den früheren Auswanderern zusammen. Nach einer sehr verlustreichen Seeschlacht gegen die benachbarten Tyrsener und Karchedonier flüchten die Überlebenden mit ihren Familien zunächst nach Rhegion in Süditalien (166) und erobern dort später 186 Siehe dazu Scheid-Tissinier 1998, 215f., die die Gastfreundschaft des Miltiades im Licht des Gabentauschs bei Herodot betrachtet. 187 In einer sehr viel späteren Fassung der Auswanderung zur Chersones bei Nep. Milt. I 1–4 wird die Orakelbefragung als sekundär dargestellt. Die Athener planen bereits, Siedler zur Chersones zu schicken, und fragen deshalb in Delphi an, wer der am besten geeignete duce sei (I 2). Die Pythia bestimmt Miltiades (bei Cornelius Nepos handelt es sich allerdings um eine andere Person gleichen Namens, den berühmten Sohn des Kimon) zum imperator des Unternehmens (I 3). 188 Ob also „das historisch glaubhaftere Motiv für das Unternehmen des Miltiades, seine politische Unzufriedenheit“, zu unrecht so in den Hintergrund gedrängt wird, „daß es nur mehr als Nebenmotiv in der Erzählung erscheint, aber immerhin noch am Rande von Bedeutung bleibt“, während „die entscheidende Rolle, die hier dem Orakel in märchenhaft ausgestalteter Weise zugeschrieben wird, wohl nicht den historischen Tatsachen entsprach“, wie Miller 1997, 54, meint, sei einmal dahingestellt (siehe dazu auch unten, p. 127). Die Verfasserin hält die Geschichte jedenfalls für eine in legitimatorischer Absicht lancierte Erfindung des Miltiades oder seiner Nachfahren (op. cit., 118).

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2. Erklärungsmuster

die Stadt Hyele (Velia), wo sie sich endgültig niederlassen. Damit hat es nun seine besondere Bewandtnis: Ein Mann aus Poseidonia189 hat den verbliebenen Phokaiern erklärt, die Pythia habe sich mit ihrem Orakelspruch 20 Jahre zuvor nicht auf die Insel Kyrnos bezogen, sondern auf den gleichnamigen Heros (167,4); Kyrnos ist der mythologische Gründer von Hyele. Hyele erweist sich damit als der Ort, der den Siedlern durch Apollon von vornherein zugedacht war. Das ursprüngliche Auswanderungsmotiv der Phokaier, ihre kompromißlose Freiheitsliebe, wird also nicht weiterverfolgt. Die neue Auslegung des alten Spruchs ist es, die es dem verbleibenden Häuflein der Kolonisten schließlich ermöglicht, mit Hyele doch noch einen geeigneten Ort für ihre Siedlung ausfindig zu machen – eine Wahl, die sich, wie man aus Herodots Schweigen über den weiteren Verlauf der Geschichte schließen darf, am Ende bewähren wird.190 Auch andere Griechen wandern aus, weil sie von den Persern in ihrer Freiheit bedroht sind: die Teier nach Abdera in Thrakien (I 168f.) und die wohlhabenden Samier nach Zankle in Sizilien (VI 22–23,3)191 . Orakel kommen in beiden Geschichten nicht vor; im Fall der Teier wird die Wahl des neuen Siedlungsorts nicht näher begründet, und die samischen Kolonisten folgen zunächst einem Aufruf der Stadt Zankle, die sizilianische Nordküste zu besiedeln, beherzigen dann aber kurzentschlossen den Ratschlag des Tyrannen von Rhegion, doch einfach die Stadt Zankle selbst einzunehmen, deren Einwohner gerade ihrerseits unterwegs sind, um eine andere Stadt zu belagern. Dieser Ratschlag erfüllt die erzählerische Funktion, die sonst von einem Orakel ausgefüllt wird. Daß das Befragen des Orakels aber auch als konstitutiver Bestandteil eines Kolonisationsvorhabens betrachtet werden kann, zeigt sich in der Geschichte des Dorieus, der den Fehler begeht, nach Libyen auszuwandern, ohne das Orakel zu konsultieren (V 42–48). Als tüchtigster Sohn des spartanischen Königs Anaxandrides ist er zor189 Die historische Rolle der Stadt Poseidonia als Vermittlerin zwischen griechischen Kolonisten und Indigenen ist durch einen Vertrag der Sybariten mit den ortsansässigen Σερδαῖοι belegt, in dem Poseidonia als Zeuge aufgeführt ist (E. Kunze, Eine Urkunde der Stadt Sybaris, in: E. Kunze (ed.), VII. Bericht über die Ausgrabungen in Olympia. Frühjahre 1956 bis 1958, Berlin 1961, 207–210). Den freundlichen Hinweis auf die Inschrift verdanke ich Elisabetta Lupi. 190 Tatsächlich entwickelte sich Velia zu einer prosperierenden Stadt, die seit Anfang des 5. Jahrhunderts v. Chr. befestigt war, die eine philosophische und eine medizinische Schule hervorbringen sollte und noch in römischer Zeit als ein beliebter Ort für Landhäuser galt. Zu Velia siehe zuletzt R. Cantilena, La Moneta (Quaderni del Parco Archeologico di Velia 1), Pozzuoli 2002; L. Vecchio, Filosofi e Medici (Quaderni del Parco Archeologico di Velia 3), Pozzuoli 2004; L. Cicala, A. Fiammenghi & L. Vecchio, Velia. La documentazione archeologica, Pozzuoli 2005 (12–18 zu den archäologischen Funden aus der Gründungszeit) sowie den vielseitigen Sammelband des Istituto per la Storia e l’Archeologia della Magna Grecia: A. Stazio & S. Ceccoli (edd.), Velia. Atti del quarantacinquesimo Convegno di Studi sulla Magna Grecia, Taranto, Marina di Ascea 21–25 settembre 2005, 2 vol., Taranto 2006. Die griechischen Inschriften der Stadt sind publiziert bei L. Vecchio, Le iscrizioni greche di Velia (Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse 316, Archäologische Forschungen 10: Velia-Studien III), Wien 2003. 191 Hier handelt es sich allerdings nicht um eine Koloniegründung. Zu dieser Geschichte siehe auch Baragwanath 2008, 189–192: Die noblen Beweggründe der Samier ändern sich unterwegs, als sie mit dem Tyrannen Hippokrates gemeinsam Zankle erobern.

2.2. Erklärungsmuster für politische Entscheidungen

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nig darüber, daß sein schwachsinniger älterer Bruder Kleomenes den Thron erhält,192 und empfindet es als unwürdig, diesen über sich zu dulden.193 Als Dorieus nun zusammen mit anderen auswanderungswilligen Bürgern Sparta verläßt, fragt er, wie der Erzähler ausdrücklich konstatiert, nicht beim delphischen Orakel an, welches Land er besiedeln solle, und tut auch sonst nichts, was in dieser Situation gebräuchlich wäre, sondern segelt im Zorn (βαρέως φέρειν) nach Libyen (42,2). Der Leser ahnt dank Herodots Hinweis bereits, daß das nicht gutgehen kann. Nach zwei Jahren werden die Ansiedler wieder vertrieben, und nun kehrt Dorieus auf die Peloponnes zurück, wo er (endlich!, ist man zu denken geneigt) einen Orakeldeuter zu Rate zieht und dann nach Delphi geht, um die Pythia persönlich zu befragen: Anticharos aus Eleon legt ihm alte Weissagungen des Laios dahingegend neu aus, Dorieus solle das Land des Herakles in Sizilien kolonisieren, und in Delphi wird ihm verheißen, er werde dieses Land erobern (43). Unterwegs nach Sizilien unterstützt er jedoch zunächst die Stadt Kroton und nimmt in diesem Krieg Sybaris ein (44).194 Als Dorieus schließlich mit seiner Flotte in Sizilien angelangt ist, kommt es zu einer Schlacht gegen die Phoiniker und Egestaier, in der die Spartaner vernichtend geschlagen werden und ihr Führer fällt (46). „So fand Dorieus den Tod“, kommentiert der Erzähler. „Hätte er aber akzeptiert, daß Kleomenes König war, und wäre in Sparta geblieben, so wäre er König von Lakedaimonien geworden, denn Kleomenes herrschte nur wenige Jahre.“195 Daß sich die nachträglich eingeholte Prophezeiung aus Delphi als trügerisch erwiesen hat, wird also nicht thematisiert,196 sondern die Schuld an seinem verfrühten Tod ganz dem Akteur selbst zugewiesen, der mit seiner überstürzten Auswanderung einen verhängnisvollen und nicht mehr wiedergutzumachenden Fehler begangen hat. Herodots Bemerkung impliziert auch ein Urteil über die Motive, die Dorieus dafür hatte, Sparta zu verlassen. Anders als erfolgreiche Auswanderer, die sich einerseits auf Orakelsprüche und Ratschläge, andererseits auf ihre Freiheitsliebe berufen 192 Theresa Miller sieht in der Geschichte von Dorieus und Kleomenes „das typische Märchenmotiv von den ungleichen Brüdern“ (Miller 1997, 48). 193 ὁ Δωριεὺς δεινόν τε ποιεύµενος καὶ οὐκ ἀξιῶν ὑπὸ Κλεοµένεος βασιλεύεσθαι (V 42,2). Ähnliche Motive hat der Spartaner Theras, der auswandert, weil er als Onkel und einstiger Vormund der Königssöhne die Herrschaft kennengelernt hat und es nicht mehr erträgt, daß andere über ihn herrschen (IV 147). 194 Es handelt sich hier um eine von zwei Versionen, die Herodot referiert, nämlich die sybaritische Überlieferung, die die Krotoniaten bestreiten (V 44f.). 195 Δωριεὺς µέν νυν τρόπῳ τοιούτῳ ἐτελεύτησε· εἰ δὲ ἠνέσχετο βασιλευόµενος ὑπὸ Κλεοµένεος καὶ κατέµενε ἐν Σπάρτῃ, ἐβασίλευσε ἂν Λακεδαίµονος· οὐ γάρ τινα πολλὸν χρόνον ἦρξε ὁ Κλεοµένης (V 48). 196 Eine mögliche Erklärung bietet allenfalls die Behauptung der Sybariten, Dorieus habe auf dem Weg nach Sizilien ihre Stadt eingenommen und damit dem Orakel zuwidergehandelt (V 45,1). Daß die Prophezeiung sich schon mit der Eroberung von Sybaris erfüllt habe, ist dagegen, anders als Miller 1997, 124, es angibt, nirgends in den Historien zu lesen. Irad Malkin ist der Ansicht, Dorieus habe schlicht die falsche Frage gestellt; wollte er doch wissen, ob er ein bestimmtes Gebiet erobern werde, anstatt bescheidentlich zu fragen, welches Land er überhaupt kolonisieren solle (Malkin 1987, 79f.). – Zur rätselartigen Form vieler delphischer Orakelsprüche in Gründungsgeschichten siehe Dougherty 1993, 45–60: Apollon Loxias ist „the master of riddling“ (56).

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2. Erklärungsmuster

können, ist er einer spontanen Gefühlsregung gefolgt, ohne auch nur die formalen Erfordernisse einer Auswanderung – Orakelkonsultation und andere Gebräuche – zu beachten. Seine Beweggründe, Zorn und verletzte Ehre, erweisen sich im Rückblick als nicht tragfähig.197 Ähnlich wird es Herodot in IX 122 in bezug auf das persische Siedlungprojekt darstellen – mit dem Unterschied freilich, daß die Perser so klug sind, vorab einen guten Rat einzuholen, sich eines besseren belehren zu lassen und ihr undurchdachtes Vorhaben aufzugeben.198 Zum Verständnis der hier in Rede stehenden Gründungsgeschichten ist die wegweisende Beobachtung Carol Doughertys heranzuziehen, daß diese Erzählungen sich ausnahmslos auf ein narratives Schema zurückführen lassen, welches sich nicht nur bei Herodot findet. Dougherty hat gezeigt, daß griechische Stadtgründungserzählungen, die unterschiedlichen Gattungen angehören, gleichwohl eine ganz bestimmte Struktur aufweisen: Eine Krise in der Mutterstadt – eine Hungersnot etwa oder ein Streit um die Herrschaft – führt dazu, daß man das delphische199 Orakel befragt und auf dessen Befehl hin dann eine Kolonie gründet. Durch die Auswanderung eines Teils der Bevölkerung kann das ursprüngliche Problem der Mutterstadt gelöst werden.200 Ohne daß sich eine derartige Abfolge in den Historien jedesmal exakt nachweisen lassen würde, sind uns zumindest die einzelnen Elemente von Doughertys Typologie immer wieder begegnet. Es spricht daher einiges dafür, daß Herodot solchermaßen strukturierte Erzählungen bereits vorgefunden hat. Das bedeutet im Rückschluß, daß er auch die Motivzuschreibungen aus seinen Quellen übernommen haben muß, sofern diese mit dem skizzierten Schema zusammenhängen. Die Notsituationen, die viele der herodoteischen Auswanderer zum Verlassen ihrer Heimat bringen, und insbesondere die Bedeutung des delphischen Orakels für ihre Entscheidung müssen daher als konstituierende Bestandteile der Gründungsgeschichten angesehen werden, die nicht erst von Herodot hinzugefügt worden sein können. (Damit ist freilich noch 197 Siehe dazu auch Baragwanath 2008, 165–167. Die Verfasserin macht auf die Bedeutung von Macht und schönem Land aufmerksam, die hier wie auch sonst in den Historien immer wieder eine mächtige Versuchung darstellen. 198 Siehe dazu unten, p. 133f. 199 Daß es sich in diesem Kontext tatsächlich immer um das Orakel von Delphi handelt, stellt Malkin 1987, 17, heraus. 200 Dougherty 1993, vor allem 15–30. Um mögliche Zirkelschlüsse zu vermeiden, gilt es freilich zu beachten, daß Dougherty ihr Schema unter anderem auch aus Herodot entwickelt. Zur Einordnung Doughertys in die (in vielen Punkten kontroverse) Forschung über die griechische Kolonisation siehe den Überblick von Hall 2008, 385. Hall bestreitet, daß es so etwas wie eine typische Gründungsgeschichte gebe, und verweist darauf, daß eine Konsultation des delphischen Orakels nur für fünf der von ihm untersuchten 27 italischen Gründungen berichtet wird (p. 400). Dies deckt sich durchaus mit dem Befund bei Herodot, wo zwar meistens, aber doch nicht immer auf das Orakel verwiesen wird; die Bemerkung in V 42,2 legt aber nahe, daß der Erzähler eine Orakelkonsultation trotzdem als den Normalfall betrachtet. Cf. auch Calame 1996, der die Gründungsgeschichten für reine Erfindungen hält (anders als Dougherty, die sich zur Frage der historischen Substanz der Geschichten nicht äußert). Wenn Claude Calame zu dem Schluß kommt: „En Grèce ancienne, comme ailleurs, le rapport au passé ne saurait être que symbolique“ (p. 169), betrachtet er aber offenbar die Bemühungen der historischen Forschung von vornherein als aussichtslos.

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nichts über die Historizität der Orakelsprüche gesagt: Die Frage, ob die bei Herodot und in anderen Quellen referierten Weissagungen als »authentisch«, also als wirkliche Verlautbarungen des Orakels im 8. bis 6. Jahrhundert v. Chr., zu betrachten sind, ist äußerst umstritten.201 ) Hier stellt sich nun die Frage nach Herodots eigenem Beitrag zu diesen Geschichten. Ein solcher Beitrag ist vielleicht in dem Schwerpunkt zu sehen, der im Rahmen der Koloniegründungserzählungen in den Historien auf ein weiteres Motiv, die Freiheitsliebe, gelegt wird. Dies muß freilich nicht ausschließen, daß die Zuschreibung auch schon auf seine Quellen zurückgeht, da es sich im Zusammenhang mit den Gründungsgeschichten nicht immer sicher entscheiden läßt, wo das Motiv der Freiheitsliebe herkommt. Zumindest in den Fällen, in denen die Protagonisten zu Verteidigern ihrer Freiheit gegen die Perser oder gegen einen Tyrannen stilisiert sind, liegt der Gedanke nahe, daß es sich um lokale Traditionen handelt. Bei der Geschichte über Theras, der keine Herrschaft über sich dulden will (IV 147), könnte die entsprechende Interpretation der Vorgeschichte auch eine herodoteische Zutat sein. Daß die Freiheitsliebe durch die mehrfache Wiederholung im selben Kontext zu einem kanonischen Motiv der herodoteischen Auswanderungsgeschichten wird, ist jedenfalls auf die Komposition des Autors zurückzuführen. Die wohl berühmteste in den Historien geschilderte Kolonisation, die Gründung von Kyrene, habe ich bislang übergangen. Hier findet sich viel von den Erklärungsmustern wieder, die bereits besprochen wurden; die vergleichsweise gute Quellenlage und eine lebhafte Forschungsdiskussion202 ermöglichen es, dem weitere Aspekte hinzuzufügen. Wenden wir uns zunächst Herodots Darstellung zu, die hier ebenfalls zusammenfassend nacherzählt werden soll (IV 150–159).203 Der Erzähler referiert zunächst, was man in Thera über die Vorgeschichte der Stadtgründung sagt. Grinnos, der König von Thera, reist nach Delphi, um im Namen seiner Stadt eine Hekatombe zu opfern. Obwohl er die Pythia über ganz andere Dinge befragt, erteilt ihm diese den Auftrag, in Libyen eine Stadt zu erbauen. Grinnos aber erwidert, er sei zu alt dafür, ein solches Unternehmen sei Sache der Jüngeren, und er deutet auf seinen Begleiter Battos. Die Theraier beachten den Vorfall nicht weiter, zumal sie gar nicht wissen, wo Libyen liegt (150). Nun aber regnet es auf ihrer Insel sieben Jahre lang nicht mehr, und alle Bäume bis auf einen einzigen verdorren. Als deshalb das delphische Orakel befragt wird, erinnert die Pythia die Theraier an ihren Auftrag, sich in Libyen anzusiedeln. So schicken diese also Kundschafter aus, die die vor Libyen gelegene Insel Platea finden und einen kretischen Purpurhändler, der ihnen den Weg gewiesen hat, als ersten Siedler dortlassen (151). Die Theraier losen eine Mannschaft für zwei Fünfzigruderer aus, die unter der Führung von Battos nach Platea gesandt werden (153). 201 Siehe Malkin 1987, 22–31, sowie Giangiulio 1989, 142 mit n. 34, und Miller 1997, 89–95, jeweils mit weiteren Literaturangaben. 202 Die geäußerten Ansichten reichen von der Einschätzung, Herodots Darstellung von der Gründung Kyrenes enthalte die „realen Fakten“ (Leschhorn 1984, 62), bis hin zu der Auffassung, es handle sich bei den Gründungserzählungen um reine „créations poétiques“ (Calame 1996, 169). 203 Eine eingehende Besprechung der Passage bietet Chamoux 1953, 92–114.

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2. Erklärungsmuster

An dieser Stelle berichtet der Erzähler zunächst eine alternative Version des Geschehens, die man sich in Kyrene erzählt (154). Demzufolge ist es Battos, der das delphische Orakel aufsucht, um sich Rat wegen seines Stotterns zu holen. Die Pythia aber fordert ihn auf, nach Libyen zu gehen, und als er widerspricht, erhält er denselben Spruch erneut (155). Da Battos sich nicht anschickt, dem Befehl des Gottes Folge zu leisten, geht es ihm und auch seinen Mitbürgern von nun an schlecht. Die Theraier senden deshalb nach Delphi und erhalten die Prophezeiung, ihre Lage werde sich bessern, sobald Battos in Libyen Kyrene gründen würde. So wird er mit zwei Fünfzigruderern ausgesandt, kehrt aber wieder unverrichteter Dinge zurück nach Thera. Dort werden die Kolonisten mit Waffengewalt daran gehindert, das Land zu betreten, und so bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich doch auf der besagten Insel Platea anzusiedeln (156). Über den weiteren Verlauf des Geschehens sind sich die Leute in Thera und Kyrene dem Erzähler zufolge einig: Auch auf Platea ergeht es den Auswanderern schlecht, daher schicken sie erneut nach Delphi, wo ihnen die Pythia auf ihre Vorwürfe entgegnet, sie seien doch nie in Libyen gewesen. Sie gründen also eine neue Stadt, die Platea gegenüber an der libyschen Küste liegt (158), ehe sie sich nach sieben Jahren von den Libyern einen vermeintlich noch besseren Platz zeigen lassen und dort Kyrene errichten (158). Auf Zureden der Pythia werden sich dort auch noch viele andere Griechen ansiedeln (159,2–4). Die Bedeutung des delphischen Orakels, die uns bereits aus anderen Auswanderungsgeschichten bekannt ist, erfährt hier noch einmal eine deutliche Steigerung.204 Die Auswanderer haben keinerlei eigene Motive, ihre Heimat zu verlassen; im Gegenteil, in beiden Versionen ignorieren sie eine entsprechende Orakelweisung, die nicht in ihre Pläne paßt.205 Der delphische Apollon selbst ist es, der die Gründung von Kyrene hartnäckig vorantreibt: „Denn der Gott erließ ihnen die Ansiedlung nicht, ehe sie nicht nach Libyen selbst gekommen waren“, wie der Erzähler betont.206 In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, daß die von Herodot als unterschiedlich eingeführten Versionen207 von der Erzählstruktur her (und ebenso in Details wie der Größe der ausgesandten Mannschaft) weitgehend übereinstimmen.208 Die Kyre204 Siehe dazu auch Giangiulio 2001, 117–120, und ferner Kirchberg 1965, 51–58. 205 Eine enge Parallele bietet die bei Diodor überlieferte Geschichte über Myskellos, den Gründer von Kroton: Er ist in Delphi, um das Orakel wegen der Zeugung von Kindern zu befragen. Die Pythia aber erteilt ihm den Bescheid, Kroton zu gründen (D. S. VIII 17, siehe dazu Giangiulio 1981). 206 οὐ γὰρ δή σφεας ἀπίει ὁ θεὸς τῆς ἀποικίης, πρὶν δὴ ἀπίκωνται ἐς αὐτὴν Λιβύην (IV 157,2). 207 Der Frage, ob es sich hier überhaupt um kohärente offizielle Darstellungen gehandelt haben kann oder nicht vielmehr um zahlreiche Einzelelemente, die erst in der Interaktion zwischen dem Historiker und seinen Gewährsleuten zu strukturierten Erzählungen wurden, geht Giangiulio 2001, 135f., nach. Daß es vor Herodot historiographische Quellen über die Gründung von Kyrene gegeben hat, bezweifelt er (121f.). Zur Bedeutung der ἐπιχώριοι-Zitate siehe unten, n. 30 auf p. 154. 208 Dies bemerkt bereits Chamoux 1953, 94, der daraus ein Argument für die Historizität der berichteten Vorgänge gewinnen will. Siehe ferner Calame 1996, 135f. Wie Robin Osborne zu der Einschätzung kommt, beide Berichte hätten wenig Gemeinsamkeiten (Osborne 2002, 506, und Osborne 2009, 10), kann ich nicht nachvollziehen.

2.2. Erklärungsmuster für politische Entscheidungen

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naier bieten lediglich zusätzlich die Vorgeschichte von Phronime, der Mutter des Battos, auf (154). Das Schema eines unwillkommenen Orakels, welches nicht befolgt wird, von Zeichen göttlichen Unwillens, erneuter Orakelbefragung, einer Bekräftigung des ursprünglich erteilten Spruchs und schließlich der Ausführung durch die widerstrebenden Theraier ist dasselbe. Beide Geschichten entsprechen damit der von Carol Dougherty erarbeiteten Typologie für Gründungserzählungen;209 auch hier sind die Orakel integraler Bestandteil der erzählerischen Tradition.210 Die Handlungsmotive von Battos und seinen Gefährten sind damit im Prinzip in beiden Überlieferungen übereinstimmend. Werden Orakel und göttliche Zeichen211 in der theraischen Version wegen der Not einer jahrelangen Dürre schließlich doch befolgt, so sind es in der Version aus Kyrene die daheimgebliebenen Mitbürger in Thera, die die Kolonisten am Ende mit Gewalt dazu zwingen, den Orakelsprüchen und Zeichen doch die gebührende Beachtung zu schenken. Diese Handlungsmotive stimmen auch mit den bisher aufgezeigten Beweggründen für Koloniegründungen überein. Neu im Vergleich zu den bisher besprochenen Geschichten ist die passive Haltung der eigentlichen Helden, die gegen ihren Willen zur Aussiedlung gezwungen werden.212 Es läßt sich nun in diesem Fall auch ohne den Rückgriff auf Doughertys Typologie nachweisen, daß die Geschichte über die Gründung von Kyrene mit Sicherheit nicht etwa erst von Herodot selbst analog zu den älteren Beispielen nach dem üblichen Erzählschema komponiert worden ist. Schon eine Anspielung bei Pindar, wo die Pläne des Apollon Archegetes für die Gründung von Kyrene erwähnt werden,213 erweist, daß das Eingreifen des Orakels nicht erst eine Erfindung des Historikers sein kann. Für die in den Historien geschilderten Vorgänge um die Gründung von Kyrene gibt es zudem in der berühmten Inschrift SEG IX 3 eine aufschlußreiche weitere Quelle.214 Die Inschrift, die sich heute im Museum von Kyrene befindet, stammt 209 Siehe oben, p. 126. Hier ist freilich erneut darauf hinzuweisen, daß Dougherty sich bei der Erstellung ihres Schemas neben zahlreichen anderen Quellen auch auf Herodots Battosgeschichte stützt. 210 Siehe dazu auch Giangiulio 2001, 125f. 211 Die Zeichen sind hier ebenfalls ein argumentativ notwendiger Teil der Geschichte, denn das Orakel wird eben deshalb erneut aufgesucht und befragt, weil man die unerwartet eingetretene Notlage für ein bedeutsames Zeichen hält. 212 Dies erinnert an den gegen seinen Willen zum Mörder und König gewordenen Gyges (I 8–12, siehe dazu oben, p. 119f.). Dennoch scheint es sich dabei nicht um ein spezifisch herodoteisches Versatzstück zu handeln, das hier vom Autor ein zweites Mal aufgegriffen würde; wie im folgenden zu zeigen sein wird, läßt sich die ungefragt empfangene Anweisung des Orakels in der Geschichte von Kyrene schon vor Herodot belegen. 213 Pi. P. V 55–69, vor allem 60–62, zur Rolle Apollons bei der Koloniegründung auch 85–93. Die Ode wurde im Jahr 462/461 v. Chr. verfaßt. Giangiulio 2001, 134f., vergleicht Pindars und Herodots Versionen miteinander. Einzelheiten in bezug auf Kyrene bieten die detaillierten Besprechungen der Ode bei Dougherty 1993, 103–119, (cf. auch Dougherty 1994, 42f.) und Calame 1996, 116–128. 214 S. Ferri, Alcune iscrizioni di Cirene (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Historisch-philosophische Klasse 5/1925), Berlin 1926, no. II, p. 19–24, mit Abbildung II 2 = SEG IX 3, p. 5f. = R. Meiggs & D. Lewis, A Selection of Greek Historical In-

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2. Erklärungsmuster

aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. Berichtet wird von Verhandlungen mit Gesandten aus Thera, die sich in Kyrene ihr Bürger- und Zuzugsrecht bestätigen lassen wollen, welches durch den Beschluß zur Gründung von Kyrene, den ihre gemeinsamen Vorfahren drei Jahrhunderte zuvor getroffen hätten, verbürgt sei. Die fragliche Übereinkunft (ὅρκιον, Zeile 24), ein Ratsbeschluß (ἔδοξε τᾶι ἐκκλησίαι, Zeile 25), wird in der Inschrift zitiert215 und bildet die Grundlage eines erneuten Beschlusses der Volksversammlung in Kyrene, den Theraiern das reklamierte Recht zuzugestehen. In der Übereinkunft, die die Inschrift zitiert, geht es um die genauen Modalitäten der Auswahl von Siedlern unter den theraischen Bürgern, um ihr zukünftiges Verhältnis gegenüber der Mutterstadt und die Eide und Rituale, die die Aussendung der Kolonisten begleiten sollen.216 Für unsere Belange ist von Interesse, daß der Text auch auf die Frage nach Beweggründen eingeht: Apollon, so heißt es hier, hatte Bat-

scriptions. To the End of the Fifth Century BC, Oxford 2 1988, no. 5, p. 5–9. Eine deutsche Übersetzung bieten K. Brodersen, W. Günther & H. H. Schmitt, Historische griechische Inschriften in Übersetzung, vol. I: Die archaische und klassische Zeit (Texte zur Forschung 59), Darmstadt 1992, no. 6, p. 4–6. – Mehrere Textpassagen haben eine unsichere Lesung, die aber das inhaltliche Verständnis nicht berühren. 215 Zeile 25–40. Graham 1960 konnte aufgrund einer philologischen Analyse überzeugend nachweisen, daß diese Übereinkunft erstens von Herodots Darstellung unabhängig ist und es sich zweitens mit größter Wahrscheinlichkeit tatsächlich um einen Beschluß des 7. Jahrhunderts handelt, der allerdings wohl nicht wortwörtlich wiedergegeben ist, sondern vor allem in den Einleitungssätzen sprachlich den Gepflogenheiten des 4. Jahrhunderts angepaßt wurde. (Cf. auch die hilfreiche Analyse von Zeile 25–40 bei François Chamoux; ihm zufolge handelt es sich bei diesem Abschnitt um eine Wiedergabe aus einer theraischen Chronik (Chamoux 1953, 107–111).) Auch in der zitierten Edition von Meiggs & Lewis wird die Vereinbarung der Kolonisten ins späte 7. Jahrhundert datiert, da sie „genuine elements of what was said and done in seventh-century Thera“ enthält (op. cit., 9), und ebenso bei Brodersen, Günther & Schmitt, die den Text ab Zeile 23 „um 600“ ansetzen (op. cit., 4). Gegen diese Datierung wendet sich zuletzt Osborne 2009, 8–16, der den Text für eine Fälschung des 4. Jahrhunderts hält. Kritik an Osbornes auch schon in früheren Publikationen vertretener Einschätzung, die Informationen über Koloniegründungen, Gründerpersonen etc. seien generell unhistorische Tradition, übt Malkin 2003, der Grahams Auffassung stützt (siehe vor allem 166–170). Malkin macht die gute Beobachtung, daß die von Herodot in IV 164,2 geschilderte Aufnahme der in Not geratenen Kyrenaier auf Thera genau ein solches gegenseitiges Abkommen historisch voraussetzt, wie es in der Inschrift zitiert wird (ibid., 167). 216 Siehe Werner 1971, der sich mit den rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit Koloniegründungen befaßt: zu Kyrene 63–66.

2.2. Erklärungsmuster für politische Entscheidungen

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tos und den Theraiern ungefragt217 befohlen, Kyrene zu gründen.218 Die Angabe in den Historien, das delphische Orakel habe für den Beschluß zur Gründung von Kyrene die entscheidende Rolle gespielt, stimmt also, so man die Übereinkunft als im Kern historisch ansieht, mit der Selbstzuschreibung des Motivs durch die Betroffenen überein.219 So läßt sich begründet annehmen, daß Herodots Informationen über Kyrene zumindest teilweise auf das 7. Jahrhundert zurückgehen,220 ohne daß sich deshalb der Nachweis erbringen ließe, der Geschichtsschreiber habe konkret den

217 Das hier verwendete Verb αὐτοµατίζειν (Zeile 24, siehe das griechische Zitat in der folgenden Anmerkung) bedeutet „ungefragt handeln“ (cf. LSJ, col. 281, s. v. αὐτοµατίζω). Das Detail der spontanen Orakelweisung stimmt nicht nur mit Pi. P. IV 60 überein, sondern auch mit beiden herodoteischen Versionen, wo Apollon sich ja jeweils äußert, ohne bezüglich einer Koloniegründung befragt worden zu sein (IV 150,3 und 155,2.3). Daß das Orakel von Grinnos und Battos – aus anderen Gründen – konsultiert worden war, stellt keinen Widerspruch zu αὐτοµατίζειν im Sinn des unbefragten Handelns dar. (Gegen Miller 1997, 114, die darauf abhebt, daß die Pythia in den herodoteischen Versionen ja sehr wohl befragt worden sei und deshalb von einer spontanen Äußerung nicht die Rede sein könne: „Wäre Herodot das wichtige Detail von der Spontaneität des Spruches bekannt gewesen, hätte er dies sicher deutlich zum Ausdruck kommen lassen“ – was nicht nur eine mißverständlich verengte Interpretation des αὐτοµατίζειν voraussetzt, sondern auch, daß Herodot Pindar nicht gekannt haben könnte . . . ) Bei D. S. XXXV 13 wird das Wort ἀπαυτοµατίζειν genau in der in unserer Inschrift vorliegenden Bedeutung verwendet: Das Orakel äußert sich, anstatt die gestellte Frage zu beantworten, spontan zu einem anderen Thema. Siehe weiterführend Giangiulio 1981, 4–10, mit weiteren Literaturangaben zu αὐτοµατίζειν bei Prophezeiungen. 218 ἐπεὶ Ἀπόλλων αὐτοµάτιζεν Β[άτ]|τωι καὶ Θηραίοις ἀποι[κίξαι] Κυράναν, ὁριστὸν δοκεῖ Θη[ραί|ο]ις ἀποπέµπεν ἐς τὰν [Λιβ]ύαν Βάττοµ µὲν ἀρχαγέτα[ν | τ]ε καὶ βασιλῆα· ἑταίρους δὲ τοὺς Θηραίους πλέν. (Da Apollon ungefragt dem Battos und den Theraiern das Orakel gegeben hat, Kyrene als Apoikie zu besiedeln, scheint es den Theraiern Bestimmung (zu sein), daß man den Battos als Gründer und König nach Libyen fortsende, und daß als Gefährten die Theraier mitziehen. Zeile 25–28, Übersetzung weitgehend nach Brodersen, Günther & Schmitt, op. cit., 5.) 219 Auf das historisch tatsächlich gute Verhältnis der Stadt Kyrene zu Delphi, das sich auch in den dortigen Weihgaben aus Kyrene spiegelt, weist Malkin 1994, 169f., hin. Die Vorstellung einer mythologischen Heirat von Apollon und Kyrene kann damit in Zusammenhang gebracht werden (ibid., 173f., zu diesem Mythos siehe auch Giangiulio 2001, 122–124). 220 Diese Aussage ist in bezug auf die anderen besprochenen Erzählungen freilich nicht verallgemeinerbar, da Kyrene in gewisser Weise einen Ausnahmefall unter den griechischen Kolonien darstellt, was ihre Gründungsgeschichte und die Figur ihres Gründers Battos angeht. Anders als bei den meisten anderen Gründungsheroen scheint es sich bei Battos tatsächlich um eine historische Person zu handeln, wie es – auch unabhängig von der Beurteilung der Authentizität des Aussendungsbeschlusses aus SEG IX 3 – der schon um das Jahr 600 v. Chr. archäologisch nachweisbare Kult für den kurz zuvor verstorbenen οἰκιστής und die entsprechende familiäre Herrschertradition der Battiaden in Kyrene belegen (Malkin 2002, 210). Literarische und archäologische Quellen über Battos stellt Büsing 1978 in allerdings wenig kritischer Weise zusammen (so werden die beiden bei Herodot berichteten Versionen aus Thera und Kyrene zu einer einzigen Geschichte verschmolzen), 66–75 befaßt sich der Verfasser mit dem frühen Battos-Heroon auf der Agora von Kyrene. Siehe diesbezüglich in erster Line die zusammenfassende Monographie des langjährigen Ausgräbers von Kyrene, Sandro Stucchi (Stucchi 1975, zur Gründungsphase 1–43). Herodot hat Kyrene selbst bereist (Malkin 2003, 157).

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2. Erklärungsmuster

Text der Übereinkunft aus Thera gekannt.221 Die Forschung ist sich denn auch darin weitgehend einig, eine vorausgehende Befragung des delphischen Orakels zumindest bei der Gründung von Kyrene für historisch zu halten, wenngleich nicht in den bei Herodot berichteten Details.222 Festhalten läßt sich, daß die schon vor Herodot narrativ ausgestalteten Gründungserzählungen auch in ihren Motivzuschreibungen in der Hauptsache nicht erst auf den Autor der Historien zurückgehen. Im Zusammenhang mit den in den Historien besprochenen Koloniegründungen ist daran zu erinnern, daß Herodot selbst an einem solchen Unternehmen beteiligt gewesen ist: der von den Athenern betriebenen Neubesiedlung der 510 v. Chr. zerstörten Stadt Sybaris unter dem Namen Thurioi im Jahr 443/442.223 Was den Autor der Historien gereizt haben mag, sich an einem Wagnis wie einer Koloniegründung zu beteiligen, darüber ist viel gerätselt worden. Verließ er Athen, weil ihm durch das Gesetz von 451/450 v. Chr. das dortige Bürgerrecht dauerhaft verwehrt war?224 Suchte er angesichts der zunehmenden „Verrohung“ der Griechen im Mutterland in der mit Kolonisten von überall her besiedelten Stadt „das panhellenische, fast kosmopolitische Ideal“, das sein Werk prägt?225 Oder erhoffte er sich in Italien die materielle Sicherheit, um sein Werk zu vollenden, nachdem mit der Zerstörung von Samos eine Rückkehr dorthin nicht mehr möglich war?226 Leider wissen wir zu wenig, als daß wir beurteilen könnten, inwieweit die eigenen Erfahrungen des Autors bei seiner Auswanderung in die von ihm erzählten Gründungsgeschichten noch eingeflossen sind.227 Bekannt ist immerhin, daß auch an der Gründung von Thurioi der delphische Apollon beteiligt war; Diodor berichtet von der Befragung des Orakels, 221 Graham 1960, 110f., hält es für möglich, daß Herodot (oder seine Quelle) das Dekret aus Thera benutzt hat, und beruft sich dafür auf die Übereinstimmung der entsprechenden Passage IV 153 mit dem Text der Inschrift. 222 Als beliebig gewählte Beispiele seien hier Leschhorn 1984, 62, und Malkin 1987, 60, genannt. Eine sehr skeptische Position vertritt dagegen Calame 1996, 145–149, der freilich grundsätzlich davon ausgeht, die Gründungsgeschichten seien nichts anderes als „créations poétiques“ (p. 169). Zur Beurteilung der historischen Rolle Delphis bei Koloniegründungen überhaupt siehe oben, p. 127. 223 Zu Herodots Auswanderung siehe beispielsweise Jacoby 1913, col. 224–229, 242–246, Legrand 1932, 12–16, 30f., Myres 1953, 13–16 und Rengakos 2011, 341. Die Frage, ob Herodot in Thurioi gestorben ist, behandelt bereits Bauer 1878. Bezüglich der Frage, ob der Historiker schon mit den Pionieren nach Italien ging oder erst 441 Athen verließ, siehe Schwartz 1957, 341. Zur Gründung von Thurioi siehe Malkin 1987, 97–101: „Its ostensible character was panHellenic; in a sense it was an attempt to implement a utopia, to create the best-planned, best designed polis. Hippodamos of Miletos laid out the plan; Protagoras wrote (some of?) the laws“ (98). 224 Myres 1953, 12 und 184. 225 Strasburger 1955, 605–608, Zitat 608 [Seitenzählung nach der Ausgabe von Marg]. 226 Schwartz 1957, 341. Folgt man der Auffassung von Myres 1953, 13–16, so hat Herodot als Bürger von Thurioi seinem Werk lediglich noch einige Randbemerkungen zu Einzelheiten der süditalischen Geschichte angefügt. 227 Die genannten Erklärungsversuche für Herodots Entschluß, nach Thurioi zu gehen, weisen jedenfalls in andere Richtungen als die Beweggründe, welche er als Autor der Historien seinerseits Auswanderern zuschreibt. Dies mag auch damit zusammenhängen, daß ihm die Auswanderungsmotive, wie gezeigt wurde, vielfach bereits als integraler Bestandteil der entsprechenden Geschichten vorlagen, so daß für eigene Ergänzungen des Autors keine Notwendigkeit bestand.

2.2. Erklärungsmuster für politische Entscheidungen

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das den Athenern in üblicher Rätselform einen Siedlungsplatz anwies.228 Einen bald unter den Neubürgern entbrannten Streit darum, wer denn nun als der Gründer der Stadt zu betrachten sei, entschied Apollon mit dem Bescheid, er selbst sei es.229 Im 5. Jahrhundert – das ist heute unumstritten – war Delphi in allen Fragen zur Kolonisation die maßgebende Autorität.230 Zum Abschluß dieses Kapitels soll schließlich auch das Ende der Historien in den Blick genommen werden. Im Gegensatz zu den bisher untersuchten Geschichten wird dort die Frage gestellt, warum sich jemand dazu entscheidet, nicht auszuwandern (IX 122).231 Geht man, der inzwischen mehrheitlichen Forschungsmeinung folgend, davon aus, daß es sich hier um den bewußt komponierten Abschluß des Werks handelt,232 so ist die geschilderte Episode mit dieser Positionierung denkbar stark hervorgehoben. Herodot hat in IX 121 berichtet, wie die Athener nach der Einnahme der persischen Festung Sestos nach Hause fuhren und daß in diesem Jahr nichts weiter geschehen sei. Wie ein Nachtrag zur Geschichte des Statthalters in Sestos, Artayktes, wird nun eine Anekdote über dessen Großvater Artembares angefügt. Artembares sei es einst gewesen, der den Persern, nachdem sie gerade mächtig geworden waren, einen berühmten Ratschlag erteilt habe: Sie sollten ihr kleines und rauhes Land verlassen und in ein schöneres auswandern, für dessen Eroberung ihnen Ruhm gewiß sei.233 Mit diesem Vorschlag treten die Perser nun an ihren König Kyros heran. Der aber überzeugt sie, daß sie auf diese Weise doch nur von Herrschern (ἄρξοντας) zu Beherrschten (ἀρξοµένους) würden, da liebliche Länder nun einmal weichliche Menschen hervorbrächten; kein Land könne zugleich herrliche Früchte und kriegerische Männer erzeugen (122,3).234 Da rücken die Perser von ihrem Vorhaben ab: „Sie 228 229 230 231

D. S. XII 10,5. Weiterführend dazu: Malkin 1987, 100f., und Leschhorn 1984, 128–139. D. S. XII 35,1–3. Diese Formulierung geht zurück auf Leschhorn 1984, 109. Beweggründe, die jemanden dazu bringen, eine Handlung nicht auszuführen, bezeichnet Baragwanath 2008, 210–227, als negative Motive (sie hat dabei die Frage im Blick, warum griechische Städte medisieren oder nicht). Eine solche Einordnung von Motiven als positiv oder negativ ist meines Erachtens aber wenig hilfreich, da sie lediglich davon abhängt, was der heutige Betrachter als Handlung bzw. Nicht-Handlung definiert. 232 So etwa schon Meyer 1899, während Jacoby 1913, col. 372–379, oder Wilamowitz-Moellendorff 1893, I 26f., das Werk für unvollendet hielten: „vor allem aber ist kein buch fertig das kein ende hat, sondern abreisst: das des Herodot aber hat seine einleitung und ordnung und will ein kunstwerk sein“ (Wilamowitz-Moellendorff 1893, I 26). Dagegen stellt Lateiner 1989, 50, in bezug auf IX 122 fest: „It would be hard to explain what it is doing here, if it is not meant to end the book.“ Diese Ansicht ist mittlerweile weitgehend Konsens, siehe als beliebig herausgegriffene Beispiele How & Wells im Kommentar zur Stelle, II 337, Myres 1953, 299f., Strasburger 1955, 600f. [Seitenzählung nach der Ausgabe von Marg], Immerwahr 1966, 8– 10, 145 mit n. 188, Cobet 1971, 171–176, Boedeker 1988, Moles 2002, 49, Ward 2008, und zusammenfassend Rengakos 2011, 342–345. 233 Die Perser referieren den Vorschlag des Artembares gegenüber Kyros mit den Worten: φέρε, γῆν γὰρ ἐκτήµεθα ὀλίγην καὶ ταύτην τρηχέαν, µεταναστάντες ἐκ ταύτης ἄλλην σχῶµεν ἀµείνω. εἰσὶ δὲ πολλαὶ µὲν ἀστυγείτονες, πολλαὶ δὲ καὶ ἑκαστέρω, τῶν µίαν σχόντες πλέοσι ἐσόµεθα θωµαστότεροι (IX 122,2). 234 Diese Vorstellung vom Einfluß der Umwelt auf den Charakter, der sich entsprechend zur Tapferkeit oder zur Feigheit hin ausprägt, findet sich auch in der Schrift „Über Lüfte, Gewässer und Örtlichkeiten“ aus dem Corpus Hippocraticum: Hp. Aër. 23f. (Edition Diller 1970) = Littré

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2. Erklärungsmuster

wollten lieber in einem kargen Land herrschen als in der fruchtbaren Ebene anderen dienen.“235 Zentrale Themen des Geschichtswerks werden diesem kleinen Epilog noch einmal aufgegriffen,236 und auch einige wichtige Faktoren menschlichen Handelns werden an dieser Stelle erneut gegeneinander abgewogen: Der verführerischen Aussicht auf reichen Landbesitz und Ruhm stellt Herodot einen sehr viel nüchterneren Rat gegenüber, in dem Freiheitsliebe und machtpolitische Überlegungen als die schließlich überzeugenden Motive benannt werden. Die hier verworfenen menschlichen Eitelkeiten wie Besitzgier und Ruhmsucht haben in den Historien eine oft verhängnisvolle Rolle gespielt. Daß nicht zuletzt Xerxes mit seinem mißglückten Feldzug gegen die Hellenen genau entgegen den weisen Worten seines Vorvaters Kyros gehandelt hat, liegt für jeden Leser offen zutage. Wenn Herodot sein Œuvre nun mit den – aus der Sicht seiner Akteure formulierten – Worten beschließt, das Herrschen (ἄρχειν) sei dem Beherrschtwerden (δουλεύειν) vorzuziehen, darf das auch als Plädoyer des Autors für den Wert der Freiheit gelesen werden.237 Wir haben gesehen, daß die Auswanderungs- und Kolonisationsgeschichten bei Herodot sehr eng an typologische Erzählmodelle gebunden sind, die der Autor schon in seinen Quellen vorgefunden haben muß. Gerade im Vergleich zu den oftmals originellen Erklärungen für Kriege und Machtkämpfe ist der Beitrag Herodots an den Motivzuschreibungen innerhalb dieser Geschichten als eher gering einzustufen. Eigene Akzente gegenüber anderen Darstellungen setzt er, indem er wiederholt die Freiheitsliebe als ein weiteres Erklärungsmodell ins Spiel bringt. Damit verschiebt sich der Fokus der Geschichte jeweils von der Gründung der neuen Stadt auf die Frage, warum die Auswanderer ihre Heimat verlassen. Wie die zuletzt besprochene Erzählung über den Ratschlag des Artembares zeigt, kann es dafür gute und schlechte Gründe geben.

II 80–92. Zu den Übereinstimmungen zwischen Herodot und dieser Schrift siehe Thomas 2000, vor allem 86–101. Zu den Bezügen zwischen den Historien und den hippokratischen Schriften überhaupt siehe oben, n. 35 auf p. 39f. 235 ἄρχειν τε εἵλοντο λυπρὴν οἰκέοντες µᾶλλον ἢ πεδιάδα σπείροντες ἄλλοισι δουλεύειν (IX 122,4). Dies sind die letzten Zeilen der Historien. 236 Lateiner 1989, 50, Rengakos 2011, 362. Siehe auch Bischoff 1932, 78–83, der die Mahnung des Kyros als die abschließende Episode des »Warnersystems« in den Historien liest, und dazu Moles 1996 und zuletzt Raaflaub 2010, 199–201. Eine Zusammenfassung der Diskussion, ob die Geschichte als Warnung Herodots an seine zeitgenössischen und zukünftigen Leser zu verstehen sei, findet sich im Kommentar von Flower & Marincola, 312, mit weiteren Literaturangaben. 237 Siehe auch Moles 1996, 273. Anders Flower & Marincola im Kommentar zu Stelle, 314. Zum Freiheitsbegriff bei Herodot siehe die Überlegungen oben, p. 93–96.

3. XERXES Die Darstellung des Xerxes gilt als ein Schlüssel zum Verständnis der Historien. So verwundert es nicht, daß Xerxes auch diejenige Person ist, über deren Motive sich Herodot mit Abstand am ausführlichsten äußert.1 Im Vergleich dazu bleibt etwa ein Themistokles, der zwar als Akteur ebenso präsent und wichtig ist, über dessen Beweggründe Herodot sich aber meist ausschweigt, weitgehend undurchschaubar.2 In der folgenden Überlegungen zur Handlungsmotivation des Xerxes sollen die in den vorigen Kapiteln gewonnenen Einsichten über Motive und Erklärungsmuster zusammengeführt und vertieft werden.

3.1. DIE MEGALOPHROSYNE DES XERXES Wenn es darum geht, warum Xerxes seinen Griechenlandfeldzug beginnt, hat der Leser bereits erste Einblicke in die Beweggründe des Perserkönigs erhalten. Schon in IV 43 nämlich lernt er Xerxes von zwei ganz unterschiedlichen Seiten kennen. Sein Vetter Sataspes, so heißt es dort, hat die jungfräuliche Tochter des Zopyros vergewaltigt, und aus diesem Grund will Xerxes ihn kreuzigen lassen. Sataspes’ Mutter aber, eine Schwester des Dareios, bittet für ihren Sohn und verspricht Xerxes, daß Sataspes stattdessen eine Entdeckungsreise für ihn unternehmen und Libyen umschiffen wird. Xerxes zeigt sich gnädig und läßt den Mann am Leben. Doch Sataspes scheitert: 1

2

IV 43,2.3; 43,6; VII 5–19; 22–24; 28f.; 31; 35; 39; 45f.; 54; 196; 210,1; 235–237; 238; VIII 54; 69; 90; 97,1; 103; 118,4; IX 107,3; 108; 109,3; 110f. Zu Herodots Xerxesdarstellung siehe Hermes 1951, Stahlenbrecher 1952, 88–118, Immerwahr 1954, Wolff 1964, Immerwahr 1966, 176–183, Waters 1971, 65–85, Matsudaira 1981, Gammie 1986, Erbse 1992, 74–92, Green 1996, 50–53, de Jonghe 2006, Wesselmann 2007, Grethlein 2009, Roettig 2010, 48–52, Grethlein 2011. Lediglich in VIII 4,2; 109; 111f. werden Motive wirklich explizit angegeben: Themistokles ist bestechlich, habgierig und verfolgt mit Kalkül seinen eigenen Vorteil. Die Einblicke, die der Leser abgesehen davon erhält, sind indirekter Art; fast immer läßt Herodot die Taten und Reden des Mannes für sich sprechen. Seine Klugheit und Weitsicht und die Verdienste um die Einheit der Griechen stehen dabei im Vordergrund. Ähnlich, wie wir es im Fall der Athener insgesamt gesehen haben (oben, p. 102f.), besteht auch hier eine Diskrepanz zwischen (angeblichen) Motiven und tatsächlichem Verhalten, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Die Verdienste und Erfolge des Politikers stehen in merkwürdigem Gegensatz zu den schmählichen Motiven, die ihm unterstellt werden. Baragwanath 2008, 289–322, hat die impliziten Hinweise auf mögliche Beweggründe des Themistokles ausführlich untersucht und meint, daß Herodot bewußt offenläßt, welche Motive ihn bewegen. Bezugnehmend auf die weiterführende Themistoklesstudie Blösel 2004, wo die genannten Gegensätze als plötzlicher Bruch in den Motiven des Politikers aufgefaßt werden, kommt Baragwanath zu der Einschätzung, es sei Herodot bei seiner Darstellung des Themistokles vor allem darum gegangen, die Herrschaft der Athener im Seebund zu kritisieren (op. cit., 319f.).

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3. Xerxes

Nachdem er monatelang an der afrikanischen Westküste entlanggesegelt ist, fürchtet er sich vor der langen Fahrt in menschenleere Gegenden und kehrt um. Er berichtet nun Xerxes von den Menschen und Städten, die er entdeckt hat, und gibt vor, sein Schiff habe wegen Untiefen nicht weiter vordringen können – woraufhin der König ihn ans Kreuz schlagen läßt, damit er seine ursprüngliche Strafe (δίκη) erhält, da er die versprochene Tat ja nicht vollbracht hat. Diese Geschichte beleuchtet schlaglichtartig die Gegensätze, welche die Handlungen des Xerxes kennzeichnen.3 Er kann unerwartet großzügig auf eine verzweifelte Bitte eingehen, um dann in grausamer Konsequenz vermeintlich gerechte Strafen zu verhängen.4 Der Großkönig bringt es fertig, angesichts seines unermeßlich riesigen Heeres plötzlich in Tränen auszubrechen, weil er an das kurze Leben denkt, das den Menschen nur beschieden ist, oder er hat den Einfall, eine herausragend schöne Platane, die ihm unterwegs nach Sardes auffällt, mit Goldschmuck zu behängen und ihr einen Wächter zur Seite zu stellen. Mitleidige oder freundliche Regungen sind ihm nicht fremd5 – doch typischerweise sind sie nicht von langer Dauer. So schenkt er dem Steuermann, der ihm das Leben gerettet hat, zum Dank einen goldenen Kranz, nur um ihn unmittelbar danach köpfen zu lassen, weil er mit seiner Rettungsaktion zugleich den Tod so vieler Perser verschuldet hat (VIII 118,4); eine tadellose Logik, die aber herrscherliche Güte und Augenmaß vermissen läßt.6 Einen hilfreichen Zugang zum Verständnis der Xerxesfigur bietet in meinen Augen die neben diesen spektakulären Geschichten oft weniger beachtete Episode über den Bau des Athoskanals. Herodot berichtet in VII 22–24 über den Bau des Kanals durch die Athoshalbinsel, den die persische Flotte im Jahr 480 v. Chr. benutzte, um nach Griechenland zu gelangen. Einleitend heißt es, da die erste Flotte am Athos Schiffbruch erlitten hatte, sei nun drei Jahre lang an einem Durchstich des Athos gearbeitet worden. In aller Ausführlichkeit beschreibt Herodot dann die Bauarbeiten.7 Die gesamte persische Flotte, die Besatzung von 1207 Schiffen – Phoiniker, palästinische Syrer, Ägypter, Kyprier, Kilikier, Pamphyler, Lykier, Dorer, Karer, Ionier, Aioler und Hellespontier, wie der Leser in VII 89–95 erfährt – die gesamte persische Flotte also wird herangezogen, um den Kanal durch die Athoshalbinsel zu graben. Auch die umwohnende Bevölkerung muß sich an den Arbeiten beteiligen. Gegraben wird in abwechselnden Schichten und unter Geißelhieben. Das ist auch für persische 3 4 5 6

7

Auf diese Gegensätze verweist zuletzt Gruen 2011, 77f. Hier ist etwa an die oben, p. 58, bereits besprochene Episode mit dem Sohn des Pythios zu erinnern (VII 39). VII 45f.; 31; weitere Beispiele: IX 107,3; 108,1. Unter anderem diese leichtfertigen Mordtaten sind es, die Xerxes nach den Maßstäben der Historien als Tyrannen charakterisieren, wie etwa Gammie 1986, 183–187, vor der Folie der Tyrannenbeschreibung des Otanes in III 80,2 zeigen kann. Mehrere Surveys, die die Britische Schule in Athen in den Jahren 1991 bis 2001 auf der Athoshalbinsel durchführte, haben erstmals bestätigt, daß es sich tatsächlich um einen schiffbaren Kanal handelte, der auch vollendet wurde (Isserlin, Jones, Karastathis, Papamarinopoulos, Syrides & Uren 2003). Dabei konnten Herodots Angaben, was etwa einzelne Maße betrifft, präzise bestätigt werden. Lediglich die Arbeitsdauer von drei Jahren ist demnach übertrieben. Hier muß Herodot eine von den Persern propagierte Zahl übernommen haben (Kelly 2003, 193–198).

3.1. Die Megalophrosyne des Xerxes

137

Verhältnisse ein großes Projekt,8 und Herodot stellt sich die berechtigte Frage, was Xerxes dazu bewogen haben mag. Daß die Perser nach dem Debakel im Jahr 492, als ihre Flotte beim Versuch, den Athos zu umfahren, 300 Schiffe samt Besatzung verloren haben soll, diesen Weg vermeiden, findet der Erzähler nur zu begreiflich.9 Doch warum, so fragt er in VII 24, ziehen sie ihre Schiffe nicht einfach über die Landenge und lassen sie auf der anderen Seite wieder zu Wasser?10 Und warum muß der Kanal so breit sein, daß zwei Trieren mit voller Ruderlänge gleichzeitig hindurchfahren können? ὡς µὲν ἐµὲ συµβαλλόµενον εὑρίσκειν, µεγαλοφροσύνης εἵνεκεν αὐτὸ Ξέρξης ὀρύσσειν ἐκέλευε, ἐθέλων τε δύναµιν ἀποδείκνυσθαι καὶ µνηµόσυνα λιπέσθαι·

Wenn ich vorbringen soll, was ich finde, so hat ihn Xerxes aus Geltungsbedürfnis graben lassen. Er wollte seine Macht beweisen und sich ein Denkmal setzen.

Der Erzähler hat eine plausible Erklärung parat, den großen Stolz (µεγαλοφροσύνη) des Xerxes. Diesen Ausdruck benutzt er sonst nicht eben häufig. Artabanos ist es, der ihn im Mund führt, wenn er in seinen Warnreden das µέγα φρονέειν kritisiert (VII 10ε) und als Hybris (VII 16α,2) bezeichnet.11 In VII 136,2 dagegen charakterisiert der Erzähler mit µεγαλοφροσύνη die großmütige Haltung des Xerxes, der den Mord an seinen Gesandten ungerächt läßt. Die µεγαλοφροσύνη ist also in den Historien eine spezifische Eigenschaft des Perserkönigs Xerxes, die keiner anderen Figur zugeschrieben wird. Sie kann sich als Großherzigkeit äußern oder, wie im vorliegenden Fall, als Größenwahn,12 und markiert so die beiden Extreme, zwischen denen Xerxes sich bewegt. Der Begriff ist damit denkbar ambivalent. Wenn der Erzähler ihn hier als Erklärung benutzt, so legt er, wie die Verwendung durch Artabanos zeigt, die Assoziation von Hybris zumindest nahe. Dies fällt umso mehr ins Gewicht, als die in der Sache vergleichbaren Kanalbauten des Sesostris in Ägypten (II 108) demgegenüber gänzlich positiv dargestellt werden: Sesostris will dem Wassermangel in den Landstädten abhelfen. Wenn er „das Land zerschneidet“ (κατέταµνε [. . . ] τὴν 8

Die Dimension des Vorhabens wird in VII 22,3 deutlich, wo es heißt, die Perser wollten das Festland zur Insel machen. Daß damit die Grenzen, die den Menschen gesetzt sind, überschritten werden, wird in einem analogen Fall herausgestellt: Als die Knidier einen ähnlichen Kanal graben, kommt es zu unerklärlichen Arbeitsunfällen. Sie schicken nach Delphi und erhalten die Weisung, ihr Vorhaben aufzugeben. Wäre es der Wille des Zeus, die Chersones zur Insel zu machen, so die Pythia, dann würde er es selbst tun (I 174,5). Vgl. ferner auch den Bau in II 158. Mit bezug auf andere Gewässerfrevel wird unsere Stelle bei Wesselmann 2011, 59f., gelesen. 9 Cf. dazu seine Überlegungen in VI 95,2. Der Untergang der Flotte wird in VI 44 geschildert. 10 Aus heutiger Sicht ist die Voraussetzung der herodoteischen Argumentation zu hinterfragen, derzufolge der Schifftransport über einen Diolkos (wie wir ihn am Isthmos von Korinth kennen) die sehr viel näherliegende und sinnvollere Methode gewesen wäre. O’Neil 1988, 10, macht darauf aufmerksam, daß der Kanalbau zwar im Vorfeld großen Aufwand erforderte, die Passage für die persische Flotte auf diese Weise aber später ungleich schneller bewerkstelligt werden konnte als über einen Diolkos. 11 Hermes 1951, 45. 12 Zur µεγαλοφροσύνη des Xerxes siehe auch Baragwanath 2008, 254–265, und Pietsch 2001, 213.

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3. Xerxes

χώρην), dann anders als Xerxes zum Wohl des Volkes und aus einer fürsorglichen Haltung heraus.13 Mit seiner Erklärung, die auf den Charakter des Protagonisten zielt, könnte der Erzähler es an dieser Stelle bewenden lassen, doch er fügt präzisierend hinzu, daß Xerxes seine Macht zur Schau stellen und Zeichen zu seiner Erinnerung hinterlassen will.14 Diese Motive wiederum sind dem Leser der Historien bereits von anderen Protagonisten her vertraut, die sich immer wieder bemühen, ihr Ansehen zu steigern,15 und besonders von den östlichen Potentaten, die um das Andenken besorgt sind, das ihnen seitens der Nachwelt zuteil werden wird.16 Wenn er nun von den Bestrebungen des Xerxes hört, kann der Leser dessen Bauprojekt mit anderen beeindruckenden und aufwendigen Bauten vergleichen, die Herodot bereits geschildert hat. Insbesondere wird er sich an den von Dareios fertiggestellten Kanal erinnern, der den Nil mit dem Golf von Suez verbindet (II 158 und IV 38). Ob der Leser zu dem Schluß kommt, daß Xerxes seine Vorgänger übertroffen hat, bleibt ihm selbst überlassen, der Erzähler äußert dazu keine eigene Ansicht. (Auch der Xerxeskanal hat jedenfalls seinen Schöpfer weit überdauert; noch heute ist er für jeden Besucher der Athoshalbinsel im Gelände erkennbar,17 und das zugehörige mehrsprachige Hinweisschild, das den unkundigen Passanten belehrt,18 hätte Herodots Xerxes sicherlich mit Befriedigung erfüllt.) Festzuhalten ist, daß der Bau des Athoskanals durch die Angabe der Handlungsmotive in einen bestimmten Zusammenhang gestellt wird, der dem Leser Assoziationen zu verschiedenen analogen Bauprojekten ermöglicht, welche Herodot zufolge ebenfalls nicht vorrangig einem praktischen Zweck dienten. Xerxes wird in eine Tradition, namentlich die seines Vater, gestellt. Das scheinbar größenwahnsinnige Vorhaben des Xerxes, dessen Nutzen in keinem Verhältnis zu dem dafür betriebenen Aufwand steht, wird durch diese Einordnung in das bekannte Handlungsschema, bei den Zeitgenossen und der Nachwelt Ehre einlegen zu wollen, durchaus verständlich. Herodot knüpft hier an eine sehr viel weiter reichende Entscheidung des Xerxes an, die er seinen Rezipienten unmittelbar zuvor als gut begründet dargestellt hat. Sie ist Gegenstand des folgenden Abschnitts. 13

14

15 16 17 18

Wesselmann 2011, 60, beurteilt das Motiv des Xerxes im Vergleich dazu als „höchst zweifelhaft“. Sie kommt zu dem Schluß (ibid., n. 138): „Die Frage nach der Motivation einer Naturveränderung scheint in diesem Kontext durchaus relevant“ (meine Hervorhebung). Vgl. ferner die schon erwähnten Kanalbauten in I 174,5 und II 158. Die Archäologen teilen diese Ansicht Herodots weitgehend (Isserlin, Jones, Karastathis, Papamarinopoulos, Syrides & Uren 2003, 392): Xerxes zielte auf einen Prestigegewinn ab, jedoch – und hier vertreten die modernen Wissenschaftler eine andere Position als der Autor der Historien – ohne daß der Kanal jemals über seinen unmittelbaren praktischen Nutzen hinaus als Monument gedacht war. „Quite separate is the interesting issue of whether or how the canal was retained in the folk memory of those who lived in the eastern Chalkidiki from the fifth century bc to more recent times“ (ibid.). Die Belege finden sich oben, p. 49. Belege oben, p. 50. Eine detailliert bebilderte Beschreibung bietet schon der topographische Kommentar von Müller, I 156–161. ΙΣΤΟΡΙΚΩΣ ΧΩΡΟΣ / ΔΙΩΡΥΓΑ ΤΟΥ ΞΗΡΞΗ / 480 π. Χ. / SITE OF HISTORICAL / IMPORTANCE / CANAL OF XERXES / 480 b. C.

3.2. Gute Gründe für den Krieg

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3.2. GUTE GRÜNDE FÜR DEN KRIEG Die Entscheidung des Xerxes für den Zug gegen Griechenland ist in mehrfacher Hinsicht einzigartig: Keine andere Handlung in den Historien wird so ausführlich vorbereitet, so lange hinausgezögert und so vielseitig motiviert. Die Unentschlossenheit des Xerxes, seine Reden und die seiner Berater geben Herodot Gelegenheit, alle Argumente für und wider diesen Feldzug, der in den Historien den Höhepunkt der Kriege zwischen Hellenen und Barbaren bildet, zu prüfen. In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, daß die Leser der Historien, anders als der zaudernde und mit sich hadernde Xerxes, natürlich den Ausgang der Geschichte kannten. Sie wußten nicht nur von vornherein, wie Xerxes sich entscheiden würde, sondern auch, wie das Unternehmen enden sollte, und konnten vor diesem Hintergrund die Argumente, die Herodot seine Figuren vielstimmig vorbringen läßt, von einer anderen Ebene aus betrachten als die Protagonisten selbst. Die Kunst des Autors besteht nun gerade darin, aus den bekannten Tatsachen eine spannende Geschichte zu machen.19 Wenden wir uns also der Darstellung von Xerxes’ Kriegsentscheidung zu (VII 5–19).20 Xerxes ist nach dem Tod seines Vaters Dareios gerade an die Macht gekommen und zunächst gar nicht willens, gegen Griechenland zu ziehen, doch sein Vetter Mardonios, der selbst darauf spekuliert, Satrap von Hellas zu werden (6,1), stachelt ihn dazu an (5): Die Athener, so der geschickte Mardonios, müßten endlich ihre gerechte Strafe (δίκη) erhalten. Mit einem Krieg gegen Athen könne Xerxes Ruhm erwerben und sein Reich sichern, und nebenbei sei Europa ein herrliches und fruchtbares Land. Davon läßt sich Xerxes überzeugen (6,1). Hinzu kommen weitere Faktoren, die ihn bestärken. Die Aleuaden und Peisistratiden, zwei einflußreiche griechische Tyrannenfamilien, bestürmen den König mit Bitten, nach Griechenland zu kommen (6,2), und der Orakeldeuter Onomakritos aus Athen, den sie mit nach Susa gebracht haben, verkündet Xerxes bei jeder Gelegenheit verheißungsvolle Orakel (6,3f.). Nachdem dieser den ägyptischen Aufstand niedergeschlagen hat (7), will er nun tatsächlich einen Zug gegen Athen beginnen und versammelt daher die vornehmen Perser um sich, um mit ihnen zu beraten. In seiner Rede begründet Xerxes seine Entscheidung als Fortsetzung einer von Kyros und Dareios überkommenen Tradition, die überdies von der Gottheit gewollt sei (8α,1). Er stellt den Persern Ehre (τιµή) und Reichtum in Aussicht (8α,2), er skizziert unerhörte Expansionsmöglichkeiten (ibid. und 8γ), und er hebt vor allem auf die unbedingte Notwendigkeit ab, sich an den Athenern zu rächen, die die heiligen Haine und Tempel von Sardes niedergebrannt und in der Schlacht von Marathon die Perser geschlagen haben (8α,2–β,3). Diese Ausführungen werden erwartungsgemäß von Mardonios unterstützt (9). Artabanos aber, der Sohn des Hystaspes und ein Neffe des Xerxes, wagt es, eine anderslautende Meinung zu äußern und auf die Gefahren und Unwägbarkeiten des 19 20

Zur Erzeugung von »epischer Spannung« in den Historien siehe unten, p. 159f. Andere Aspekte als die hier untersuchten beleuchten Hermes 1951, 16–41, de Romilly 1971, 326–331, Schmidt 1979, de Jong 1999, 235–241, Bichler 2001, 318–359, Pietsch 2001, Harrison 2002, 553–559, Funke 2007, Baragwanath 2008, 242–254, Löffler 2008, Grethlein 2011, 104–108.

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3. Xerxes

Vorhabens aufmerksam zu machen (10). Da gerät Xerxes wie so oft in Zorn, beschimpft Artabanos und beharrt auf seiner Absicht, die Athener zu bestrafen und sein Reich gegen sie zu verteidigen; eine Versöhnung mit ihnen sei unmöglich (11). Doch als er in der Nacht näher über den Rat seines Neffen nachdenkt, verwirft er seinen ursprünglichen Entschluß, und trotz eines Traums, in dem er aufgefordert wird, den Krieg zu beginnen, verkündet Xerxes am nächsten Tag, seinen Plan aufgegeben zu haben (12f.). „Mit – nach menschlichem Ermessen – guten Gründen ist die Entscheidung gegen den Krieg gefallen. [. . . ] Der Krieg sollte also nicht stattfinden – und findet doch statt.“21 In der folgenden Nacht nämlich erscheint das drohende Traumbild erneut, und als Xerxes Artabanos in sein Bett steigen läßt, überzeugt der Traum auch diesen von der göttlichen Botschaft (14–18): Xerxes rüstet schließlich doch zum Krieg (19). So sind es letztendlich die Träume, die Herodot Erzählung zufolge den entscheidenden Ausschlag geben.22 Wie Katharina Roettig zeigen konnte, steht Xerxes damit nur scheinbar wieder an derselben Stelle wie schon in VII 11, als er zum ersten Mal beschlossen hatte, den Krieg zu führen: „Es ist also wiederum, wie einige Kapitel zuvor, der Krieg beschlossen. Die Rüstung beginnt. Und doch beginnt der Kriegszug hier unter anderen Umständen, als er vor den Träumen begonnen hätte: Als der Kriegsentschluß das erste Mal gefaßt und bekräftigt wurde, gab es Befürworter und Gegner, die ihre Ansichten vertraten. So kam der erste Entschluß durch Debattieren und Abwägen zustande. Der zweite Entschluß hingegen erlaubt solches Meinen und Abwägen nicht mehr, sondern läßt das zuvor Erreichte gegenstandslos werden. Xerxes, der bei sorgfältiger Überlegung zu der Einsicht gekommen war, daß Artabanos recht hat, sieht sich von einem Gott gehindert, das, was ihm nun als das Beste erscheint, durchzusetzen. Selbst Artabanos, der – wie ein späteres Kapitel zeigt – noch immer meint, daß Ruhigsein das Beste sei, muß sich der Übermacht des göttlichen Wollens fügen.“23

Die genannten Handlungsmotive des Großkönigs lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Sein Berater Mardonios hat Xerxes Rache, Machterhalt, Prestigegewinn und einen Zuwachs an Reichtum in Aussicht gestellt, und die Bitten der Aleuaden und Peisistratiden sowie die Orakelsprüche des Onomakritos haben seinen Entschluß bestärkt. Xerxes selbst benennt diese externen Einflüsse in seinen Reden nicht.24 Er beruft sich auf eine entsprechende Tradition seiner Vorgänger und auf göttliches Geheiß, macht seinen Zuhörern Ehre, Reichtum und Macht schmackhaft und hält ihnen vor Augen, daß Athen als verfeindete Stadt bestraft werden müsse. Schließlich bringen ihn Traumbilder wider besseren Rat dazu, seinen Entschluß in die Tat umzusetzen.25 21 22

Roettig 2010, 37. Gegen Huber 1965, 18, demzufolge Träume in den Historien nicht „in die historische Darstellung im engeren Sinn“ einwirken. 23 Roettig 2010, 44. 24 Gleichwohl greift er inhaltlich einige Punkte aus den Reden anderer auf, zum Beispiel wiederholt er die Weissagung des Onomakritos, er werde den Hellespont überbrücken (VII 6,4), als seinen eigenen Plan (8β,1). 25 Eine Interpretation der Träume bietet Immerwahr 1954, 34–36. Er geht auch der Frage nach, wie sich hier orientalische und griechische Erzählmotive verbinden. Siehe außerdem Frisch 1968, 11–15, Erbse 1992, 75–77, Hollmann 2011, 79–93.

3.2. Gute Gründe für den Krieg

141

Wie bereits im Zusammenhang mit den anderen Kriegsentscheidungen in den Historien bemerkt,26 greift Herodot zur Begründung des zentralen Feldzugs in der Auseinandersetzung zwischen Griechen und Barbaren alle Beweggründe auf, die er in der Darstellung der anderen Kriege entwickelt hat: sowohl solche Motive, wie sie typisch sind für Alleinherrscher (und wie sie vor allem bereits Xerxes’ Vater Dareios zugeschrieben wurden27 ), als auch solche Motive, wie sie dem Leser aus dem komplizierten Interessengeflecht innergriechischer Streitigkeiten bekannt sind. Hier ist vor allem an die Feindschaft mit Athen zu denken, auf die Xerxes mehrfach Bezug nimmt. Xerxes ist der einzige Nichtgrieche in den Historien, der sich auf die Logik der Feindschaft einläßt:28 Weil die Athener in feindseliger Stimmung gegen die Perser den Ionischen Aufstand unterstützen (V 97), kann er sich bei seinem Griechenlandfeldzug auf die Unversöhnlichkeit Athens berufen (VII 11,2). Wenn Herodot nun die in den Büchern I bis VI entwickelten Erklärungsmuster für Kriegsentschlüsse durch Motive ergänzt, die den Xerxeszug als einzigartig unter den Kriegen auszeichnen, ist festzustellen, daß er bei dieser Geschichte fast sein ganzes Inventar menschlicher Beweggründe aufbietet: Gesellschaftliche, politische, ökonomische, religiöse Motive und besonders Ratschläge Dritter beeinflussen den König. Nach einer ersten Lektüre der Passage wird man gerade hier Thomas Harrison zustimmen, der treffend bemerkt: „rather than choosing between alternative causes for the wars, Herodotus apparently amasses them.“29 Allerdings, so sei hinzugefügt, läßt er es dabei nicht bewenden. Sehen wir uns daher die Motivzuschreibungen etwas genauer an. Die Vielschichtigkeit der angesprochenen Motive zeigt, daß Herodot hier ausgesprochen kleinteilig denkt. Dies wird aber zum Teil durch die stringente Narration aufgefangen, die dem möglichen Eindruck, es handle sich hier um lauter unverbunden zu betrachtende, beliebige Einzelfaktoren, deutlich entgegensteht. Die kunstvolle Darbietung von mehreren ineinander verschachtelten Traum- und Ratssequenzen gestattet es, sich der zentralen Frage unter verschiedenen Voraussetzungen und aus immer neuen Blickwinkeln anzunähern, um so zu einem zwar komplexen, dabei aber in sich schlüssigen Bild zu gelangen. Der Erzähler selbst enthält sich einer expliziten Wertung, was die Glaubwürdigkeit der von Xerxes angeführten Motive betrifft. Die Leserschaft wird sich aber an dieser Stelle an die griechischen Expansionspläne des Dareios erinnern,30 wo die Rache an Athen als Vorwand (πρόσχηµα bzw. πρόφασις) entlarvt wurde (VI 44,1 und 94,1): In Wirklichkeit, so kommentierte der Erzähler dort, sei es den Persern darum zu tun gewesen, möglichst viele Griechenstädte zu unterwerfen. Wie die Paralleli26 27

28 29 30

P. 117f. In diesem Aspekt erschöpft sich die Bilanz der Kriegsgründe des Xerxes bei Immerwahr 1954, 31: „His motives are the same as those of Darius: vengeance of the Athenians, and desire for total empire.“ Schon das macht deutlich, daß Herodot sich nicht damit begnügt, Xerxes als typischen Barbaren zu stilisieren. Harrison 2003, 157. Siehe dazu p. 111.

142

3. Xerxes

sierung der Dareios- und Xerxeskriege auf verschiedenen Ebenen nahelegt, mag es um die eigentlichen Kriegsmotive des Xerxes ähnlich stehen. In der Summe hat Xerxes vielfältige gute Gründe für sein Unternehmen, und zwar rationale, nicht emotionale Gründe, denn ausgerechnet bei diesem weitreichenden Kriegsentschluß spielen Gefühle kaum eine Rolle. Dies ist in zweifacher Hinsicht ganz bemerkenswert: Zum einen hat der Abschnitt über die Kriegsentscheidungen anderer Herrscher gezeigt, daß Herodot sonst in den Historien durchaus auch Gefühle als Erklärungen für Kriege namhaft zu machen weiß.31 Zum anderen wird in Herodots Darstellung auch Xerxes selbst im weiteren Verlauf des Kriegs militärische und strategische Entscheidungen aus rein emotionalen Motiven treffen.32 Betrachten wir etwa seine Rückzugsentscheidung (VIII 97,1) nach dem Debakel von Salamis. Sie steht in jeder Hinsicht im denkbar größten Kontrast zu seinem Kriegsbeschluß. In einem einzigen Satz wird erklärt, warum Xerxes plötzlich den Rückzug befiehlt: „Als Xerxes aber die erlittene Niederlage erkannte, fürchtete er, die Hellenen könnten auf den Rat eines Ioniers oder von selbst zum Hellespont segeln, um die Brücken abzubrechen, und er könnte in Europa abgeschnitten werden in der Gefahr, getötet zu werden. Daher beschloß er die Flucht.“33 Walter Marg formuliert es folgendermaßen: „[D]er Grund ist die Furcht um sich selber, die Überlegung, daß die griechische Flotte ihn beim Hellespont abschneiden kann und er dann in höchste Gefahr kommt. [. . . ] Die innere Entscheidung zum Rückzug fällt also sofort, als Xerxes das Geschehen klar wird; sie ist nicht das Ergebnis einer nüchternen strategischen Kalkulation, sondern kommt aus der Angst um sich selber.“34 Marg bilanziert: „Es ist Xerxes’ bisherige stolze Selbstsicherheit, die nun bei der ersten Niederlage zusammenbricht.“35 Bei seinem Kriegsentschluß dagegen zeigt sich Herodots Xerxes als von sachlich nachvollziehbaren Gründen geleitet. Ich komme in diesem Punkt zum gegenteiligen Ergebnis wie Emily Baragwanath. Wenn der Leser in Xerxes’ Rede (VII 8) miterlebt, wie sich dessen Einstellung ändert und er seine Rachepläne ausformuliert, sieht Baragwanath darin eine Entwicklung „with the King being carried away by emotion and no longer governed by the reasoned approach of earlier“.36 Meiner Auffassung nach wird Xerxes hier im Gegenteil sachlich argumentierend gezeigt. Die von Baragwanath ins Feld geführte Rache ist gerade in dieser Rede nicht erkennbar emotional konnotiert, denn Xerxes selbst stellt sie hier in den Kontext der traditionell von einem 31 32 33

P. 108–118. VII 210,1; VIII 90; 97,1; 103. Ξέρξης δὲ ὡς ἔµαθε τὸ γεγονὸς πάθος, δείσας µή τις τῶν ᾽Ιώνων ὑποθῆται τοῖσι ῞Ελλησι ἢ αὐτοὶ νοήσωσι πλέειν ἐς τὸν ῾Ελλήσποντον λύσοντες τὰς γεφύρας καὶ ἀπολαµφθεὶς ἐν τῇ Εὐρώπῃ κινδυνεύσῃ ἀπολέσθαι, δρησµὸν ἐβούλευε [. . . ]. Zur Furcht als Motiv für den Rückzug äußert sich Herodot erneut in VIII 103. 34 Marg 1953, 201. 35 Ibid., 205. Bowies Kommentar zur Stelle, 185, bietet weiterführende Überlegungen zu denkbaren Motiven des historischen Xerxes, der womöglich durch einen Aufstand in Babylon im selben Jahr gezwungen war, sich rasch aus Griechenland zurückzuziehen. Demzufolge ließe Herodots Darstellung Xerxes in ungerechtfertiger Weise in einem schlechten Licht erscheinen (siehe dazu auch die bei Bowie angeführte weitere Literatur). 36 Baragwanath 2008, 246.

3.3. Ein ambivalentes Bild?

143

Perserkönig erwarteten und von der Gottheit geforderten Handlungsweisen (8α,1). Als Emotion wäre allenfalls die im Zusammenhang mit den Träumen anklingende Furcht des Königs anzusprechen, die aber vom Erzähler nicht als Motiv benannt oder aufgegriffen wird. So kommt auch Katharina Roettig zu dem Schluß: „Xerxes hält an seinen Ansichten fest, solange sie ihm sinnvoll erscheinen. Sobald ihm Mittel an die Hand gegeben sind, einen anderen Blickwinkel zu erproben, ist er gern bereit, dies zu tun und sich selbst zu korrigieren. Dabei erweist er sich als selbstkritisch. Sobald er sieht, daß er im Irrtum war, und die Gründe dafür erkennt, scheut er sich nicht, dies sogar vor dem versammelten Kronrat einzugestehen.“37 Doch damit nicht genug. Eine Schlüsselrolle kommt in den Beratungsszenen nun gerade solchen Motiven zu, die in meiner Typologie als konsensfähig bezeichnet wurden:38 Prestige und Ehre, Sitte und Tradition, Strafe und Rache sowie die Feindschaft gegen Athen sind die zentralen Argumente für den Krieg und als solche sicherlich nicht zufällig darauf ausgerichtet, andere von der Legitimität des Vorhabens zu überzeugen.39 Wenn, wie oben argumentiert wurde, in der entscheidenden Wendung nach den Traumgesichten dann die Gottheit das letzte Wort erhält,40 so erscheint die Entscheidung des Xerxes in der Logik der herodoteischen Zuschreibungen als unanfechtbar. Hatten wir festgehalten, daß schon derjenige, der in den Historien ein konsensfähiges Motiv für sich in Anspruch nehmen kann, das Verständnis der anderen Protagonisten erwarten darf,41 so gilt dies in ganz besonderer Weise für die innerhalb des Werks wohl einzigartig überzeugend begründete Entscheidung des Xerxes. Es ist mit Sicherheit davon auszugehen, daß diese Darstellung auf das Verständnis und die Zustimmung der Leserschaft hin angelegt ist.

3.3. EIN AMBIVALENTES BILD? Die überaus vielfältigen Motive, die Xerxes zugeschrieben werden, könnten in ihrer Summe zunächst den Eindruck einer Person erwecken, die hin- und hergerissen ist und keine klaren Prioritäten zu setzen vermag. Spontane Gefühlsregungen wie Zorn oder Angst bringen Xerxes zu Taten, die er unter Umständen schon bald wieder bereut; er bemüht sich, Rücksicht auf Verwandte zu nehmen, Traditionen seiner Vorfahren fortzuführen und persische Sitten zu befolgen; er hegt eigene politische Ambitionen, will aber zugleich den Göttern und Traumbildern gehorsam sein und

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Roettig 2010, 52. Oben, p. 82f. Daneben gehören auch die Gefälligkeit gegenüber den Aleuaden und Peisistratiden und die durch Onomakritos als Zeichen göttlichen Willens interpretierten Orakelsprüche zu den konsensfähigen Motiven. Sie werden erzählerisch aber nicht so stark in den Mittelpunkt gerückt wie die genannten. P. 140. P. 82.

144

3. Xerxes

läßt sich schließlich immer wieder darauf ein, Ratschlägen zu folgen – um nur einen Teil der ihm zugeschriebenen Motive zu nennen.42 So erscheint es gewiß nicht abwegig, wenn für Henry R. Immerwahr die Wankelmütigkeit der zentrale Charakterzug von Herodots Xerxes ist.43 Christian Pietsch betrachtet Xerxes gar als ein „Spielwerk in den Händen der Götter“44 . Karl Reinhardt sieht das Schwanken des Königs als notwendig an, „weil in den Geschichten, die die Majestät in irgendeiner großen Geste zeigen, schon geheim das Gegenteil erhalten ist: indem der Mensch die Rolle, in die er hineingeboren und -gestellt ist, nicht mehr ausfüllt, der Königsornat in einem Mißverhältnis zur Person des Trägers steht, der Purpur um die Majestät zu schlottern anfängt. Auf Xerxes lastet der Fluch, daß er ein Nachfahr ist“45 . Die Motivierung von Xerxes’ Handlungen ist, wie ich zu zeigen versucht habe, indessen keineswegs beliebig. Gerade, was seine zentrale Entscheidung, den Griechenlandfeldzug, betrifft, läßt sich eine klare Linie erkennen. Eigene Wünsche und Befürchtungen des Königs verbinden sich mit Erwartungen, die von anderen an ihn herangetragen werden, zu einer überzeugenden Motivlage, die – denkt man an die Bedeutung der Träume – mehr ist als die Summe einzelner, zunächst vielleicht eher willkürlich erscheinender Motivzuschreibungen. Xerxes erscheint als ein Mann, der sein Handeln rational und nachvollziehbar begründen kann und alle guten Argumente auf seiner Seite weiß.

3.4. HERODOT UND DIE SELBSTDARSTELLUNG DER ACHÄMENIDEN Über mögliche tatsächliche charakterliche Eigenheiten des Großkönigs lassen sich aus heutiger Sicht wohl keine seriösen Aussagen treffen. Um es mit den Worten von Heleen Sancisi-Weerdenburg zu sagen: „In Persian surroundings we do not find any evidence that can be used for constructing a psychological portrait of Xerxes, or of any of the other rulers of the Achaemenid empire.“46 So muß offenbleiben, inwieweit die von Herodot gezeichneten Züge historisch sind.

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Zorn: VII 35; 39; 210,1; 238; VIII 90. Angst: VIII 97,1; 103; IX 109,3. Reue: VII 54; VIII 54. Verwandtschaft: IX 108,1. Sitte/Tradition: VII 8α,1; 50,3; 53,1; IX 110f. Machtpolitik: VII 8α,2.γ; 11,2.3; 53,2. Religion: VII 8α,1; 12–19 mehrfach; VIII 54. Ratschläge: VII 5–19 mehrfach; 235–237; VIII 69; 103. Zur Komplexität von Herodots Xerxesdarstellung überhaupt siehe zuletzt Gruen 2011, 77–79. Immerwahr 1954, 41, und 1966, 179. So sein Titel: Pietsch 2001, siehe vor allem auch 207f. Reinhardt 1940, 358 [Seitenangabe nach der Ausgabe von Marg]). So weit würde die Verfasserin dieser Arbeit in ihrer Einschätzung freilich nicht gehen, zumal sie an Xerxes, der sich laut Herodot vor zehntausenden von Männern durch seine Schönheit und Größe auszeichnet (VII 187,2) und von einem Hellespontier sogar für Zeus selbst gehalten wird (VII 56,2), wahrhaftig nichts Schlottriges zu bemerken vermag. Eine Auseinandersetzung mit dem von Reinhardt postulierten Schwanken des Xerxes bietet Hermes 1951, 42–45. Auch Gruen 2011, 77, vertritt die Ansicht, daß Herodot mehr als eine Karikatur des Königs zu zeigen beabsichtigt. Sancisi-Weerdenburg 1989, 590 [Seitenzählung nach dem Neudruck von 2002].

3.4. Herodot und die Selbstdarstellung der Achämeniden

145

Was sich aber nachweisen läßt, ist die Tatsache, daß der Autor der Historien seinen Xerxes und dessen Motive nicht frei erfunden hat.47 Näheren Aufschluß darüber geben die persischen Königsinschriften, die in der Regierungszeit Xerxes I. (485– 465 v. Chr.)48 entstanden sind. Es versteht sich von selbst, daß uns auch hier nicht der »echte« Xerxes gegenübertritt, aber bei aller Formelhaftigkeit gestatten diese Texte doch einige Einblicke in seine Selbstdarstellung als persischer Großkönig. Sie belegen die Vorstellung des Xerxes, seine Herrschaft sei dem Gott Ahuramazd¯a zu verdanken und seine Taten würden von diesem unterstützt. Ich zitiere zwei Beispiele aus Persepolis in der französischen Übersetzung von Pierre Lecoq49 : „Ahuramazd¯a est le grand dieu [. . . ] qui a fait Xerxès roi“, so heißt es in einer der Inschriften, und in einer anderen: „[T]out ce que j’ai fait, je l’ai fait grâce à Ahuramazd¯a; Ahuramazd¯a m’a apporté son soutien, jusqu’à ce que je l’achève.“50 Auch die Weiterführung von Traditionen seines Vaters Dareios I. wird von Xerxes betont, etwa in folgender Inschrift, die in 14 gleichlautenden Exemplaren gefunden wurde: „[L]orsque mon père Darius quitta le trône, grâce à Ahuramazd¯a, je suis devenu roi sur le trône de mon père; lorsque je suis devenu roi, beaucoup est ce que j’ai fait d’excellent; ce que mon père avait fait, je l’ai préservé et j’y ajouté un autre travail“ (gemeint sind Bauwerke).51 Schon die Inschriften selbst sind ja im übrigen Zeugnisse dieses Traditionsbewußtseins, da sie sich literarisch stark an das Vorbild der epigraphischen Hinterlassenschaften des Dareios anlehnen.52 47

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Zu Herodot und den Achämeniden siehe Briant 1990 und 1996, Flower 2006, Gruen 2011 und weiterführend die hilfreiche Bibliographie bei D. Lenfant, Hérodote d’Halicarnasse, in: D. Lenfant (ed.), Les Perses vus par les Grecs. Lire les sources classiques sur l’empire achéménide, Paris 2011, 214–227. Bezüglich Herodots Quellen über Persien siehe Reinhardt 1940, Immerwahr 1966, 180, Momigliano 1966, vor allem 32f., Tourraix 1995, Kelly 2003, West 2011. Zum Quellenwert der Historien für die persische Geschichte siehe Högemann 1992, 47– 63, und Flower 2006. Einschlägig zur griechischen Perserrezeption ist M. García Sánchez, El Gran Rey de Persia: Formas de Representación de la Alteridad Persa en el Imaginario Griego, Barcelona 2009, in unserem Zusammenhang vor allem 55–82. Zu Xerxes als historischer Person siehe etwa Sancisi-Weerdenburg 1989, Granger 1992 und Briant 1996, 531–585. P. Lecoq, Les inscriptions de la Perse achéménide. Traduit du vieux perse, de l’élamite, du babylonien et de l’araméen, Paris 1997. Diese Übersetzung ist den alten deutschsprachigen Übertragungen vorzuziehen. Die neue deutsche Übersetzung von R. Schmitt, Die altpersischen Inschriften der Achaimendien. Editio minor mit deutscher Übersetzung, Wiesbaden 2009, berücksichtigt nur den altpersischen Text. XPf § 1,1.4; XPh § 6,3–5. Cf. auch XPh §§ 7,4–8, wo Xerxes Gehorsam gegenüber Ahuramazd¯a als den Weg zum Glück beschreibt. (Der erste Buchstabe der Siglen verweist auf den König, in dessen Namen die Inschrift abgefaßt ist, also D für Dareios oder X für Xerxes. Der zweite Buchstabe bezieht sich auf den Fundort der Inschrift, etwa P für Persepolis oder V für den anatolischen Vansee.) Eine Interpretation der zitierten Texte bietet de Jong 2010a, 87f. Zur Religion der Achämeniden siehe etwa Kellens 2002, Jacobs 2006 und de Jong 2010b, zu ihrer religiösen Herrscherlegitimation siehe Ahn 1992. XPf § 4,5–11; ähnlich XPa §§ 3f.; XPc §§ 3f.; XPg § 1; XSa; XSd; XV § 3. Zum größeren Kontext siehe Wiesehöfer 2006, 23f. Sancisi-Weerdenburg 1989, 589 [Seitenzählung nach dem Neudruck von 2002], Ahn 1992, 111–113. Dabei setzt Xerxes aber durchaus eigene Akzente (Granger 1992, 125–129, O’Neil 1988, 6).

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3. Xerxes

Daß auch Herrschaft ein wichtiges Thema der Inschriften ist, liegt auf der Hand. Xerxes, der Großkönig, König der Könige, feiert sich als Gebieter über zahlreiche Länder und Völker:53 außerhalb Persiens noch über Meder, Elamiten, Arachosier, Armenier, Drangianer, Parther, Areier, Baktrier, Sogder, Chorasmier, Babylonier, Assyrer, Sattagyden, Lyder, Ägypter, die Griechen, die im Meer (also auf den Inseln) wohnen, und die Griechen, die jenseits des Meeres wohnen, Mekraner, Araber, Gandharier, Inder, Kappadokier, Daher, amyrgische und orthokorybanlische Skythen, Thraker, Akaufakier, Libyer, Karer und Äthiopier. Doch nicht nur die Aspekte eines göttlichen Willens, von Familientradition und Machtpolitik sind dank der Persepolisinschriften für den achämenidischen König gesichert, sondern auch die Vorstellung, illoyales Verhalten bestrafen zu müssen. So wird ausgeführt, wie Xerxes mit Aufständischen verfährt: „Lorsque je suis devenu roi, parmi les peuples qui sont écrits ci-dessus, il en est un qui s’était révolté; alors, Ahuramazd¯a m’a accordé son soutien; grâce à Ahuramazd¯a, j’ai battu ce peuple et je l’ai remis à sa place.“54 In einer Inschrift, in der Xerxes vermutlich weitgehend eine Vorlage des Dareios zitiert, findet sich auch der Gedanke positiver Reziprozität. Dankbare Gesten des Königs werden auf seine Freude über entsprechende Wohltaten zurückgeführt: „Ce qu’un homme fait, ou quand il apporte selon sa fortune, je suis content de lui et mon plaisir est grand et je suis satisfait et je donne beaucoup aux hommes loyaux.“55 Auch heißt es dort, daß Xerxes Gutes mit Gutem und Schlechtes mit Schlechtem vergilt, wobei wieder der Aspekt der Bestrafung anklingt: „L’homme qui aide, je le protège selon sa collaboration; celui qui nuit, je le punis selon sa nuisance; mon plaisir n’est pas qu’un homme nuise; ce n’est pas non plus mon plaisir qu’il ne soit pas puni s’il nuit.“56 Wer wollte da nicht an Pythios denken, dessen Gastfreundschaft Herodots Xerxes mit einem Geschenk von 7 000 Dareiosstateren vergilt, den er dann aber für eine vermeintliche Anmaßung mit der Ermordung seines Lieblingssohns bestraft, oder an den persischen Steuermann, dessen gute Tat Xerxes mit einem Goldkranz belohnt, um ihm direkt danach für seine schlechte Tat den Kopf abschlagen zu lassen? Diese und andere57 Episoden lassen sich wie narrative Ausgestaltungen der von Xerxes in Persepolis formulierten Maximen lesen – vor deren Hintergrund sie allerdings eine andere Bedeutung erhalten. Die Geschichten wären dann keine Illustrationen der Sprunghaftigkeit des Xerxes, der einen Mann reich beschenkt, nur um ihn in der nächsten Minute töten zu lassen, sondern es wären Illustrationen des einfachen Grundsatzes, konsequent Gutes mit Gutem und Schlechtes mit Schlechtem zu vergelten. Festzuhalten ist folgendes: Es finden sich in den Historien für Xerxes gleich mehrere zentrale Handlungsmotive – göttliches Geheiß, Tradition, Machtstreben, Strafe, Freude und Dankbarkeit –, die in Einklang mit der Selbstdarstellung der achämenidi-

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Formelhaft etwa in XE § 2; XPa § 2; XPb § 2; XPc § 2; XPd § 2; XPf § 2; XPh § 2; XV § 2. Besonders aufschlußreich ist die Völkerliste in XPh § 3, die ich im folgenden zitiere. XPh §§ 4,2–7. XPl § 6. Die entsprechende Dareiosinschrift ist DNb. XPl § 4. Pythios: VII 28f.; 39. Der Steuermann: VIII 118,4. Weitere Beispiele: VII 35; VIII 90; IX 107,3.

3.4. Herodot und die Selbstdarstellung der Achämeniden

147

schen Könige stehen.58 Umgekehrt gibt es zwischen dieser und den Zuschreibungen bei Herodot nur einen einzigen Widerspruch: In dem griechischen Geschichtswerk gehören Angst und vor allem Zorn zu den mehrfach erwähnten Beweggründen des Perserkönigs, wohingegen in einer der Inschriften ausdrücklich postuliert wird, Xerxes lasse sich niemals von Zorn leiten, sondern stets von Gerechtigkeit, und ebenso beherrsche er im Kampf seine Angst (deren Existenz gleichwohl nicht geleugnet wird).59 Alles andere, so muß freilich hinzugefügt werden, wäre in einer herrscherlichen Selbstdarstellung auch erstaunlich. Der genannte Widerspruch ist meines Erachtens mit dem gattungsmäßigen Unterschied befriedigend zu erklären.60 Während sich also mit guten Gründen annehmen läßt, daß Herodots Motivzuschreibungen an Xerxes zumindest in Teilen Anklänge an das herrscherliche Selbstverständnis eines achämenidischen Königs zeigen,61 geht die Zuschreibung der Beweggründe Zorn und Angst jedenfalls nicht auf epigraphische Quellen oder überhaupt eine eigene Darstellung des Xerxes zurück. Sie ist vielleicht eher eine Erfindung Herodots selbst, der damit die teils grotesken Entscheidungen seines Akteurs auf allgemein-menschliche Regungen zurückführt, welche seinen Lesern bereits bestens vertraut sind – handelt es sich dabei doch, wie man sich erinnern wird, um zwei der häufigsten Motive in den Historien überhaupt. Tatsächlich sind zumindest einige dieser Zuschreibungen an Xerxes explizit als Meinung des Erzählers gekennzeichnet.62 Die Vorstellung einer institutionalisierten Feindschaft zwischen Xerxes und den Athenern nach dem Vorbild griechischer Städte63 und Xerxes’ Freude am Wettkampf, als er ein Rennen zwischen seinen eigenen und den thessalischen Pferden inszeniert,64 scheinen ebenfalls Ergänzungen Herodots zu sein. Er hätte den persischen Zügen seiner Figur damit griechische hinzugefügt.

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Die Beschränkung auf die Frage nur nach literarischen – griechischen! – Vorbildern für Herodots Xerxes, wie sie etwa Hermes 1951, 82–91, stellt, greift daher für mein Dafürhalten zu kurz. XPl § 3,3 und 8,5. Daß die Xerxesinschriften mit ihrer betonten Unbestimmtheit, was Namen, Orts- oder Zeitangaben anginge, eben nicht als historiographische Texte gelesen werden können, hat SancisiWeerdenburg 1999 überzeugend nachgewiesen. Der Beweis, daß Herodot Persien bereist und die Inschriften selbst gelesen bzw. vorübersetzt bekommen hätte, muß für diese Argumentation nicht geführt werden. Die Einflüsse persischer Selbstdarstellung auf die Historien sind gerade in bezug auf Xerxes gut belegt (siehe dazu die oben in n. 47 auf p. 145 genannte Literatur, und besonders Kelly 2003). VII 238; VIII 103. Dasselbe gilt für die Zuschreibung von Reue: VII 54; VIII 54. Siehe dazu oben, p. 141. VII 196. Anders als Herodot sieht Kelly 2003, 207, in diesem Wettkampf, den er für historisch hält, keinen einfachen Agon, dessen Zweck sich auf ein reines Kräftemessen beschränkte, sondern einen gezielten Propagandacoup des Großkönigs.

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3. Xerxes

3.5. DIE KUNST DER ERZÄHLERISCHEN METHODE Indem Herodot die Frage nach den Motiven des Xerxes erzählerisch beantwortet, vermeidet er es, scheinbar endgültige Wahrheiten zu postulieren. An jedem Punkt der Erzählung über das Scheitern des Perserkönigs kann sich der Leser an bereits geschilderte Episoden zurückerinnern, die die neueste Wendung der Handlung in einem anderen Licht erscheinen lassen. So konnte gezeigt werden, daß die Zuschreibung von Handlungsmotiven an Xerxes besonders vielschichtig und nicht immer frei von Widersprüchen ist. Ein wichtiger Grund dafür liegt sicherlich in der Vielzahl unterschiedlicher Traditionen, welche Herodot in dieser Frage zur Verfügung standen. Nun lassen sich diese in den auf uns gekommenen Schriftquellen kaum mehr fassen. Eine der wichtigsten Quellen, die wir haben, ist Aischylos mit seinem Drama „Die Perser“, und es wird noch darzulegen sein, daß Herodot tatsächlich die in den „Persern“ vorkommenden Handlungsmotive aufgreift. Wie das Beispiel Aischylos aber auch zeigt, übernimmt Herodot nicht unbesehen, was er in Erfahrung bringt, sondern grenzt sich gerade in seiner Xerxesdarstellung von verbreiteten Meinungen ab: Anders, als es bei Aischylos der Geist Dareios behauptet, ist Xerxes in Herodots Historien eben nicht geisteskrank, und gerade seine Entscheidung für den Feldzug gegen die Griechen steht Herodot zufolge nicht mit Hybris in Verbindung, sondern hat rationale und legitime Gründe.65 Das Beispiel des Xerxes zeigt somit auch, daß Herodot sich nicht darauf beschränkt, Traditionen zusammenzutragen und neu zu arrangieren. Seine erzählerische Methode erlaubt es, die Frage nach den Handlungsmotiven in komplexer Weise zu erörtern, verschiedenen Aspekten des Problems nachzugehen und so zu einem begründeten eigenen Urteil zu kommen. Zugleich aber läßt Herodot seinem Protagonisten den Rest eines Rätsels. Seinen Xerxes deshalb als eine »schillernde Figur« abzuqualifizieren, verfehlt meiner Ansicht nach den Kern der Sache. Als guter Geschichtsschreiber begnügt sich Herodot nicht mit simplifizierenden Erklärungen. Er legt den Charakter des Xerxes nicht eindimensional an, sondern berücksichtigt unterschiedliche Traditionen und Ansätze, griechische und nichtgriechische, auf die er im Zuge seiner Forschungen gestoßen ist. Seine Kunst liegt darin, dennoch eine originelle und in sich schlüssige Erzählung zu bieten, die Antworten auf die Frage nach den Motiven des Perserkönigs bereithält. Wenn Herodot sich nicht anmaßt, die Handlungsmotive eines Xerxes bis ins letzte offenlegen zu können, ist ihm das nicht als Schwäche auszulegen, sondern als eine Stärke.

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Siehe dazu unten, p. 164–169, zu Xerxes p. 166f.

4. ZWISCHENBILANZ: DER HISTORIKER BEI DER ARBEIT Ausgehend von dem im ersten Kapitel detailliert besprochenen Motivinventar der Historien wurde im zweiten Kapitel der Versuch unternommen, einige der zentralen Erklärungsmuster aufzuzeigen, die Herodot für das Handeln bestimmter Personengruppen sowie für bestimmte politische Entscheidungen entwickelt. Wie Herodots Erklärungen in ihrer Komplexität funktionieren, ist am Beispiel des Xerxes im dritten Kapitel nachvollzogen worden. Hier schließen sich nun drei weiterführende Fragen an, die Herodots Arbeitsweise näher beleuchten sollen. Zugleich dienen sie der Bilanzierung dessen, was bisher erarbeitet werden konnte. Anknüpfend an einzelne Beobachtungen, die in den vorangehenden Kapiteln gemacht wurden, ist zunächst zu überlegen, wo die Motivzuschreibungen in den Historien herkommen. Mit Blick auf die von Herodot ins Auge gefaßte Leserschaft ist dann danach zu fragen, auf welchen Erfahrungshorizont die Erklärungen, die er gibt, zugeschnitten sind. Anschließend wird zu überlegen sein, welche Funktion und welche Bedeutung die Motivzuschreibungen in den Historien überhaupt haben.

4.1. WOHER KOMMEN DIE ZUSCHREIBUNGEN? Die Frage nach der Herkunft der Zuschreibungen wurde bisher lediglich gestreift. Sie läßt sich, wie ich denke, auch nur im Einzelfall konkret beantworten, da Herodots Arbeitsweise so vielseitig ist.1 Dennoch können systematische Beobachtungen gemacht werden. Ich unterscheide dabei vier Ebenen, auf die sich die Zuschreibungen zurückführen lassen; sie entsprechen verschiedenen Vorgehensweisen des Autors. Auf der Ebene der Handlung gibt es logisch ableitbare Motive, die dem beschriebenen Vorgang gewissermaßen inhärent sind. Auf der Ebene des Materials sind solche Zuschreibungen anzusiedeln, ohne die eine Erzählung nicht funktionieren würde. Die Ebene der Gegenwartsbezüge bringt Erklärungsmodelle hervor, die von der Gegenwart des Autors oder früherer Bearbeiter der Stoffe auf die dargestellten Epochen und Kulturen übertragen werden. Und schließlich bezieht sich Herodot zustimmend oder kritisch auf die Selbstzuschreibung von Motiven durch die von ihm dargestellten historischen Personen, mithin auf die Ebene der historischen Akteure. 4.1.1. Die Ebene der Handlungslogik Beginnen wir mit der Handlungslogik, bei der der Großteil der in den Historien genannten Beweggründe ansetzt. Diese Beweggründe funktionieren ganz unabhängig von einem historischen Hintergrund und auch ohne den Rahmen einer zusammen1

Siehe dazu auch Luraghi 2005, 85–90.

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4. Zwischenbilanz: Der Historiker bei der Arbeit

hängenden Erzählung.2 So gibt es „elementare Impulse, die zu bestimmten Handlungen gleichsam dazugehören“3 , etwa die Furcht der Krieger, die vor einem übermächtigen Gegner fliehen. Dementsprechend verbindet Herodot fast alle militärischen Rückwärtsbewegungen, von denen er berichtet, mit dem Motiv Furcht;4 eine wenig originelle, dafür aber unmittelbar einleuchtende Erklärung, die selbst für die Deutung von Xerxes’ Rückzugsbeschluß nach der Schlacht von Salamis taugt.5 Solche schlagwortartigen Angaben – das betrifft nicht nur das Motiv Angst – sind in der Regel aus der Handlung erschlossen. Wo sie fehlen, wird der Leser sie problemlos selbst ergänzen können, und dies umso einfacher, als es sich um ein Verfahren handelt, das Herodots Zeitgenossen schon aus den homerischen Epen bekannt und geläufig war.6 Häufig wird auch vom Ergebnis einer Handlung auf das ursprüngliche Motiv geschlossen.7 Heiratet der Pharao Amasis Ladike, eine Frau aus Kyrene, dann hat er sich wohl in sie verliebt (III 31,2). Lassen die Milesier den Tyrannen Histiaios nicht in ihre Stadt, dann wollen sie also keinen neuen Tyrannen (VI 5,1). Kümmern sich die meisten Peloponnesier nicht darum, daß das Perserheer Griechenland bedroht, dann sie sind folglich persisch gesinnt (VIII 73,3). Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren, denn naheliegende Erklärungen wie diese wiederholen sich immer wieder. Die Vorgehensweise des Historikers wird besonders deutlich, als Herodot schildert, wie Xerxes die Leiche des Leonidas köpfen und den Kopf an einen Pfahl schlagen läßt. Aus vielen anderen Zeichen, besonders aber aus dieser Tat, so heißt es, lasse sich ersehen, daß keiner seiner Feinde Xerxes so in Zorn versetzt habe wie Leonidas. Sonst nämlich hielten die Perser einen tapferen Gegner hoch in Ehren.8 Der Zorn als Motiv des Perserkönigs offenbart sich also in Xerxes’ Tat. Am Beispiel der Motive für Feldzüge läßt sich zeigen, daß das Motivrepertoire auch schematisch auf bestimmte Handlungen zugeschnitten sein kann.9 So haben Alleinherrscher in den Historien ganz typische Gründe, Krieg zu führen: In allererster Linie verfolgen sie damit ihre eigenen Machtinteressen. Mitunter wollen sie auch Rache üben (oder geben dies zumindest vor), und daneben spielen Ratschläge und 2 3 4 5

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Baragwanath 2008, 83, spricht von einem „»it must have been so« (τὸ εἰκός) criterion“, wenn Herodot Motive aus den Handlungen erschließt. Huber 1965, 74. Ibid., 72. Das hat Marg 1953 deutlich herausgearbeitet, siehe vor allem 208: Da die Angst des Perserkönigs, „weil versteckt, nicht direkt beobachtet sein kann, müßten ihn [d. h. Herodot, S. F.] Schlüsse von den Handlungen her bestimmt haben.“ Schneider 1974, 155–168, weist das Prinzip, aus den Handlungen auf das Denken der Handelnden zu schließen, in der Literatur von Homer bis in römische Zeit nach. Zum selben Vorgehen bei Thukydides siehe Thompson 1969 und Westlake 1989. Dazu auch Lang 1984, 74. δῆλά µοι πολλοῖσι µὲν καὶ ἄλλοισι τεκµηρίοισι, ἐν δὲ καὶ τῷδε οὐκ ἥκιστα γέγονε, ὅτι βασιλεὺς Ξέρξης πάντων δὴ µάλιστα ἀνδρῶν ἐθυµώθη ζώντι Λεωνίδῃ· οὐ γὰρ ἄν κοτε ἐς τὸν νεκρὸν ταῦτα παρενόµησε, ἐπεὶ τιµᾶν µάλιστα νοµίζουσι τῶν ἐγὼ οἶδα ἀνθρώπων Πέρσαι ἄνδρας ἀγαθοὺς τὰ πολέµια (VII 238). Siehe oben, p. 108–118.

4.1. Woher kommen die Zuschreibungen?

151

göttliche Führung häufig eine entscheidende Rolle. Um die Feldzüge eines Dareios auf machtpolitische Motive zurückführen zu können, benötigt Herodot deshalb keine detaillierten Quelleninformationen etwa über die Befindlichkeit des Königs im Moment seines Beschlusses; analog zu vielen anderen Fällen lassen sich solche Beweggründe aus der Tatsache der Kriegsführung selbst erschließen. Ähnlich werden auch die Motive von Usurpatoren meist aus dem Ergebnis ihrer Handlung heraus erklärt.10 Dort, wo sich Motivzuschreibungen auf der Handlungsebene bewegen, können sie zwar in Einzelfällen auch von Herodot aus seinen Quellen übernommen worden sein, gehen aber in der Regel auf den Autor der Historien selbst zurück.11 So weist Herodot sogar mitunter explizit darauf hin, daß er Beweggründe erschlossen hat.12 Diese situationsbedingt und psychologisch unmittelbar einleuchtenden Angaben bilden den Hintergrund, vor dem unerwartete, kuriose oder scheinbar widersprüchliche Handlungsmotive um so effektvoller wirken. 4.1.2. Die Ebene des Materials Während Zuschreibungen auf der Handlungsebene in vielen Fällen von Herodot selbst ergänzt worden sein werden, haben wir es bei der Ebene des Materials mit solchen zu tun, die untrennbar mit einer bestimmten Geschichte verbunden sind. Diese Zuschreibungen muß Herodot also in seinen Quellen schon vorgefunden haben; sie sind ein notwendiger Bestandteil des jeweiligen Stoffs.13 Zu erinnern ist beispielsweise an die Bedeutung von Orakelweisungen im Kontext von Auswanderungsvorhaben. Die zentrale Rolle des delphischen Orakels kann bereits vor den Historien als ein fester erzählerischer Bestandteil entsprechender Gründungsgeschichten nachgewiesen werden.14 Herodot hat das Motiv zusammen mit dem Stoff in seine Darstellung übernommen. An anderen Stellen hat ein Beweggrund selbst eine Geschichte, die erzählt werden muß. Das ist etwa immer dann der Fall, wenn ausführlich die Vorgeschichte eines Racheakts dargelegt wird. Besonders deutlich wird das bei analeptischen Einschüben, in denen zurückliegende Ereignisse nachgeholt werden, um eine Rachehandlung zu motivieren. Denken wir etwa an den Krieg der Spartaner gegen Samos (III 47–53),15 wo die Erzählung selbst als Erklärmodus fungiert: Der Feldzug wird eingangs als Rachevorhaben begründet. Ein alternativ genannter Beweggrund, Dankbarkeit gegenüber den vertriebenen Samiern, wird nicht weiterverfolgt, die Vor10 11

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Siehe oben, p. 118f., mit Beispielen wie Deiokes oder Peisistratos. Emily Baragwanath stellt Herodots eigenen Anteil an den Zuschreibungen überhaupt in den Vordergrund: „But in any case, in ascribing motives Herodotus was largely working with conjectures, and these are not so dependent on sources“ (Baragwanath 2008, n. 6 auf p. 242, siehe auch p. 3f. und 83). Ähnlich Huber 1965, 173–179, und Montgomery 1965, 43. Rengakos 2011, 399. Als Beispiele führt Rengakos den Haß in III 146,1 an (δοκέω), die Furcht in VII 173,4 (δοκέειν µοι), den Zorn des Xerxes in VII 238,2 (τεκµήρια) und den Haß in VIII 30,2 (συµβαλλόµενος εὑρίσκω). Siehe in diesem Zusammenhang auch Griffiths 2001. Siehe dazu oben, p. 121–134, und besonders den Abschnitt über Kyrene, p. 127–132. Dieser wurde oben, p. 114–117, ausführlich behandelt.

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4. Zwischenbilanz: Der Historiker bei der Arbeit

geschichte der Rache hingegen ist genauer dargelegt: Samische Seefahrer sollen den Spartanern einen wertvollen Mischkrug oder einen kunstvoll gearbeiteten Panzer geraubt haben. Auch Korinth schließt sich dem Racheunternehmen an, und auch das hat eine eigene Geschichte, die im folgenden erzählt wird: Die Samier haben den Korinthern 300 vornehme Knaben aus Kerkyra abgenommen, die diese auf Befehl ihres Tyrannen Periander zu Alyattes nach Sardes zu bringen hatten, wo die gefangenen Knaben kastriert werden sollten. Ein solches Unternehmen verlangt wiederum eine Erklärung: Auch hier handelt es sich um die Geschichte einer Rache, und so wird ausführlich erzählt, warum die Kerkyraier zuvor Perianders Sohn ermordet hatten. Die Rache als Beweggrund der Protagonisten ist hier ein unverzichtbarer Bestandteil des Erzählguts und verbindet einzelne Episoden aus der Geschichte der Beziehungen zwischen Sparta und Samos zu einem größeren Sinnzusammenhang. Ohne die Motivzuschreibungen ließe sich das Geschehen gar nicht in konsistenter Weise referieren. Um ein weiteres Beispiel für die Verknüpfung von Motivangaben und Stoff anzuführen: Mehrfach versetzt ein Traum einen Protagonisten so in Angst, daß er sich bemüht, das im Schlaf geschaute Schicksal zu umgehen. Die daraus resultierenden Ereignisse sind somit unmittelbar mit dem Handlungsmotiv »Traum« verbunden, auf das die ganze folgende Geschichte aufbaut. So entfaltet sich die Erzählung über die Kindheit des Kyros – der zweifach mißachtete Befehl, das Kind zu töten bzw. auszusetzen, Kyros’ Leben als vermeintlicher Hirtensohn, und schließlich seine Entdeckung und Wiedererkennung – ausgehend von den gräßlichen Träumen des Astyages, der um sein Reich fürchtet (I 108).16 Auch die Ungleichgewichtung einzelner Motive in den verschiedenen Logoi der Historien kann ein Indiz dafür sein, daß Herodots Quellen hier bereits entsprechende Schwerpunkte gesetzt haben. So sind Träume als Beweggründe im griechischen Kontext so gut wie gar nicht als Handlungsmotive belegt, während sie in den ägyptischen und persischen Geschichten eine Schlüsselrolle spielen. Schon Herodots Quellenmaterial muß daher entsprechend heterogen gewesen sein.17 Bisweilen ist ein Handlungsmotiv auch an einen charakteristischen Wesenszug einer bestimmten Person gebunden.18 Hier ist etwa an die Wahnsinnstaten des Kambyses (III 25–37) zu denken, an die Gerechtigkeitsliebe des Kadmos (VII 164,2) oder die Neugier des Rhampsinitos (II 121ε,1 und ζ,1). Aus der Zuschreibung einer Charaktereigenschaft wird die Zuschreibung von Beweggründen, indem von einem Charakterzug des Betreffenden auf seine Motive geschlossen wird.19 (Aus Sicht 16

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Dies wird gestützt durch Wesselmann 2011, 318f., die bezüglich dieser Geschichte auf ganz anderem Weg zu einer vergleichbaren Einschätzung kommt: Herodot referiert „diejenigen Teile der traditionellen Überlieferung über Kyros, die ihm Wichtiges auszusagen scheinen“ (Zitat 318). Siehe dazu p. 91f. Dabei ist weniger an tatsächliche Charaktereigenschaften der historischen Persönlichkeiten zu denken als an die Stilisierung einer Figur zum Beispiel als jähzornig. Auch hier bewegen wir uns somit nicht auf der Ebene der historischen Akteure, sondern auf der des Materials: Tatsächlich geht es um Zuschreibung von Eigenschaften. Eine solche Methode läßt sich auch bei Thukydides nachweisen (Thompson 1969, 163f., Westlake 1989).

4.1. Woher kommen die Zuschreibungen?

153

des Lesers funktioniert dieser Zusammenhang genau umgekehrt: Er kann von den Motiven, die in den Historien namhaft gemacht werden, auf die Persönlichkeit der Handelnden schließen.20 Während Herodot die Charaktereigenheiten der Akteure kaum einmal explizit benennt oder gar diskutiert, stellt er ihre Beweggründe ja häufig in sehr deutlichen Worten dar.) Bestimmte Handlungsmotive wie Zorn, Hybris und Bosheit, aber auch der Sinn für Gerechtigkeit sind häufig an persönliche Eigenschaften der Handelnden gebunden, Wahnsinn und Neugier als Beweggründe sogar grundsätzlich darauf zurückzuführen.21 Die auf der Ebene des Materials angesiedelten Motivzuschreibungen beziehen ihre Plausibilität aus der Einheit von Stoff und Erklärung: Wer einen solchen Beweggrund anzweifeln wollte, müßte die betreffende Geschichte überhaupt in Frage stellen. 4.1.3. Die Ebene der Gegenwartsbezüge Auf einer dritten Ebene sind Gegenwartsbezüge anzuführen, die Herodot, aber auch seine Gewährsleute oder frühere Bearbeiter der von ihm behandelten Stoffe, als aktualisierende Elemente in die Darstellung einfließen lassen haben.22 Die an sich triviale Feststellung, daß jeder Text auch durch die Erfahrungen seines Produzenten geprägt ist, wird dort interessant, wo auf diese Weise Brüche entstehen; das heißt im vorliegenden Fall, dort, wo eigene Überlegungen und Vorstellungen der Bearbeiter auf andere Zeiten oder andere Kulturen übertragen werden.23 Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist in den Historien die sogenannte Verfassungsdebatte (III 80–82), in der Herodot persische Adelige im Jahr 522 v. Chr. über politische Konzepte diskutieren läßt, die seiner eigenen Zeit und Kultur entstammen:24 „Der Meinungsstreit, ob 20

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Dabei haben die Motivzuschreibungen, die anderen Akteuren in den Mund gelegt werden, den doppelten Effekt, sowohl die beschriebene als auch die beschreibende Person zu charakterisieren (Baragwanath 2008, 51f.). Siehe dazu oben, p. 39–42, 44, 61. Dieses Phänomen hat Hans Drexler wohl im Auge, wenn er die Motivzuschreibungen in den Historien generell darauf zurückführen will, daß Herodot und seine Gewährsleute eben von sich auf andere schließen würden (Drexler 1972, 209); ein meines Erachtens zu stark vereinfachender Erklärungsansatz. Darauf, daß Herodot von den Verhältnissen seiner Zeit ausgeht, verweist schon Felix Jacoby: „Seine Kritik steckt noch in den Kinderschuhen“ (Jacoby 1913, col. 478). Zu den Gegenwartsbezügen bei Herodot überhaupt siehe Raaflaub 2010, 197–201, und Rengakos 2011, 341 und 373f., jeweils mit Literatur. Ein solches Vorgehen Herodots hat zum Beispiel Steuer 2002 in einer Fallstudie zum Babylonischen Logos überzeugend nachweisen können. Die Mehrzahl der Forscher sieht die Debatte daher als unhistorisch an. Aus der sehr großen Anzahl von Veröffentlichungen zu diesem Thema seien hier nur einige grundlegende Arbeiten genannt: Wüst 1935, 47–62, Apffel 1958, Bringmann 1976. Anders dagegen zum Beispiel noch Schulz 1913, 42–49, der eine „reale Grundlage“ der Geschichte annimmt (Zitat 43). Eine neue Perspektive eröffnet Gruen 2011, 69f. Schon die Griechen des 5. Jahrhunderts bezweifelten die Historizität der Reden, wie Herodots einführende Bemerkung in III 80,1 zeigt (eine Bemerkung, die Günther 2012, 19, als „geradezu aberwitzig“ qualifiziert): „Und es wurden Reden gehalten, die viele Hellenen nicht glauben wollen; sie sind aber gehalten worden.“ (. . . καὶ ἐλέχθησαν λόγοι ἄπιστοι µὲν ἐνίοισι ῾Ελλήνων, ἐλέχθησαν δ’ ὦν.)

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4. Zwischenbilanz: Der Historiker bei der Arbeit

Demokratie, Oligarchie oder Monarchie die beste Regierungsform sei, entstammt dem politischen Milieu Griechenlands; wie sich zeigen wird, kann er in der bei Herodot vorliegenden Form schwerlich vor Mitte des fünften Jahrhunderts v. Chr. entstanden sein“, urteilt Klaus Bringmann in seiner einschlägigen Studie.25 Bezogen auf Motivzuschreibungen lassen sich solche Brüche ebenfalls feststellen. Zu erinnern ist etwa an die Beweggründe des Kambyses, seine Schwester zu heiraten, was Herodot – aus Sicht der heutigen Forschung unzutreffend – nicht etwa auf politische Überlegungen des Königs, sondern auf sein sexuelles Begehren zurückführt.26 Bei Freiheitsliebe und Städtefeindschaften handelt es sich zumindest teilweise um nachträgliche Zuschreibungen, die den Vorstellungen und Verhältnissen der jeweiligen historischen Epoche entweder schlicht nicht gerecht werden oder zumindest deutlich von einer späteren Perspektive geprägt sind.27 Häufig genug jedoch kann nur darüber spekuliert werden, ob und inwiefern Herodots eigene Erfahrungen in seine Einschätzung und Darstellung bestimmter Ereignisse mit eingeflossen sind.28 Die entsprechenden Motivzuschreibungen jedenfalls, das zeigen die genannten Beispiele, müssen deshalb überzeugend gewirkt haben, weil der zeitgenössische Rezipient seine eigenen Alltagserfahrungen und die ihm bekannten Konzepte und Vorstellungen darin wiederfinden konnte. 4.1.4. Die Ebene der historischen Akteure Eine vierte Ebene, auf die sich Motivzuschreibungen zurückführen lassen, ist die der historischen Akteure. Diese Ebene ist in den Historien freilich nur gelegentlich greifbar; die wenigen Belege beweisen aber, daß zumindest einige von Herodots Motivangaben auf Aussagen der historischen Persönlichkeiten selbst oder ihrer Zeitgenossen zurückgehen.29 Die Frage nach der Herkunft der Zuschreibungen ist hier von der Frage nach den verwendeten erzählerischen Perspektiven zu trennen: Die Tatsache, daß Herodot sich auf die Aussagen Beteiligter beruft30 oder solche Aussagen in direkter Figurenrede gestaltet, sagt zunächst nichts darüber aus, wie er auf das Motiv gekommen ist. 25 26 27 28

Bringmann 1976, 267. Siehe dazu oben, p. 90f. Siehe dazu p. 93–97. Ich denke beispielsweise an die bereits erwähnte Beteiligung des Historikers an der Gründung von Thurioi, siehe oben, p. 132f. Überlegungen zum Einfluß von Herodots Lebensumständen auf die Historien überhaupt stellt Fowler 2003 an. 29 Auch bei Thukydides läßt sich ein solches Vorgehen nachweisen (Thompson 1969, Westlake 1989). 30 Die Bewertung der ἐπιχώριοι-Verweise (eine Zusammenstellung der Belege bietet Jacoby 1913, col. 398f.) ist ein Problem für sich. Nino Luraghi hat gezeigt, daß es sich dabei nicht um Quellenangaben handelt, sondern daß Herodot mit solchen Verweisen diejenigen benennt, die eine bestimmte Geschichte für wahr halten (Luraghi 2001a, Luraghi 2005 und Luraghi 2006). Siehe ferner Giangiulio 2001, 135–137, und Hornblower 2002. Roettig 2010 fällt in dieser Frage hinter Luraghi zurück, wenn sie über einen ἐπιχώριοι-Verweis in Hdt. VII 12 schreibt, dies sei „jedoch nur die Quellenangabe“ (n. 54 auf p. 35f.).

4.1. Woher kommen die Zuschreibungen?

155

In manchen Fällen ist es durchaus denkbar, daß ihm entsprechende Selbstzuschreibungen bekannt waren. So wird erwähnt, daß der Dichter Aristeas, als er zu den Issedonen wanderte, φοιβόλαµπτος, von Phoibos ergriffen gewesen sei. Von dieser göttlichen Inspiration seiner Reise berichtet Aristeas den Historien zufolge in seinem Epos (III 13,1). Die Zuschreibung ginge somit auf den Dichter selbst zurück, aus dessen Werk Herodot die Informationen über seinen Beweggrund bezog.31 Mitunter greift Herodot eine Selbstaussage auf, um sie als Vorwand zu entlarven: Während Miltiades demnach bei seinem Zug gegen Paros gegenüber der athenischen Volksversammlung vorgegeben haben soll, die parische Unterstützung der Perser vergelten zu wollen, hegte er in Wirklichkeit einen persönlichen Groll (VI 133,1).32 Auch im Fall der von Peisistratos und seinen Anhängern mehrfach bemühten Blutschuld der Alkmeoniden distanziert sich der Erzähler deutlich.33 Die Behauptung der Spartaner, den Athenern beim Kampf gegen die Perser – es geht um die Schlacht von Marathon – nicht vor dem nächsten Vollmond zur Hilfe kommen zu können, weil sie damit gegen den νόµος verstoßen würden, bleibt unkommentiert (VI 106,3); sie spricht gewissermaßen für sich.34 Wie diese Beispiele verdeutlichen, sind Aussagen über Beweggründe aus heutiger Sicht keinesfalls nur deshalb zutreffender oder auch nur authentischer als andere, weil sie von den historischen Akteuren selbst getroffen worden sein könnten.35 Auch hier handelt es sich um Zuschreibungen, und zwar unabhängig von der jeweiligen Erzählperspektive. Das gilt gleichermaßen auch für die Aussagen anderer Zeitgenossen. Sie unterstellen ihren Gegenspielern mit Vorliebe die schmählichsten und niedersten Beweggründe, etwa den, bestochen worden zu sein.36

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Aristeas von Prokonnesos verfaßte im 7. Jahrhundert v. Chr. das Epos Arimaspeia. Leider ist der Textabschnitt, auf den sich Herodot bezieht, nicht erhalten . . . Vergleichbar sind die vorgeschobenen Rachegründe in IV 167,2f. und VI 44,1. In Wirklichkeit geht es hier, so erfährt der Leser, um handfeste Eroberungspläne. Siehe p. 69f. Cf. auch VIII 111, wo die Andrier behaupten, zu arm zu sein, um die geforderten Zahlung zu leisten. Gegen Thompson 1969, 165, und Westlake 1989, 202f., 219f., die in bezug auf Thukydides davon ausgehen, daß die Informationen, die er durch Befragung der Beteiligten erhalten habe, verläßlicher und wertvoller seien als seine eigenen Überlegungen. Schon Drexler 1972, 20, bemerkt, „auch wenn Äußerungen der Handelnden vorliegen, ist ihnen nicht ohne weiteres zu trauen“. Ähnlich stellt auch Baragwanath 2008, 4, in bezug auf mündliche Traditionen über Gründe und über nachträgliche Rechtfertigungen von Handlungen fest: „The limits and subjective nature of such recourses are evident.“ Wie kompliziert die Sache ist, erhellt auch aus dem Umstand, daß Herodot sich durchaus unterschiedslos auf Selbstaussagen von Handelnden beruft, die wir heute als fiktive Figuren betrachten. Das beste Beispiel dafür sind die expliziten Auskünfte von Göttern über ihre Beweggründe: Die Götter etwa, die eine heilige Schafherde und das Land von Apollonia unfruchtbar machen, teilen durch ihre Orakel mit, dies sei ihre Rache für die Blendung des Euenios (IX 93,3.4). Zu den Bestechungsvorwürfen siehe oben, p. 92f. Ein weiteres Beispiel bietet die durchweg unvorteilhafte Charakterisierung der Aigineten durch die ihnen zugeschriebenen Motive, siehe dazu p. 103.

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4. Zwischenbilanz: Der Historiker bei der Arbeit

4.2. WAS SETZEN HERODOTS ERKLÄRUNGEN BEI DEN LESERN VORAUS? Nachdem im vorangehenden Abschnitt vier Ebenen aufgezeigt wurden, auf die sich die Motivzuschreibungen in den Historien zurückführen lassen, schließt sich nun ein Blick auf die Voraussetzungen ihrer Rezeption an.37 Wenn hier und im folgenden immer wieder von Lesern Herodots die Rede ist, gehe ich davon aus, daß die Historien in ihrer vorliegenden Form für die Rezeption als Schrift konzipiert sind.38 Was muß ein Leser wissen, um Herodots Erklärungen zu verstehen? An welche Erfahrungen knüpft der Historiker an? Diese Überlegungen werden uns zu der Frage führen, welche Funktion und welchen Stellenwert die Motivzuschreibungen in den Historien haben. Manche Erklärungen sind aus der grundsätzlichen menschlichen Erfahrung heraus plausibel.39 Ich denke dabei einerseits an bestimmte Affekte, andererseits an unmittelbaren Zwang und Notlagen. Um einige Beispiele für die erste Gruppe von Begründungen zu nennen: Wer um sein Leben fürchtet, flieht vor seinen Verfolgern (I 157,1), wer zornig ist, handelt unüberlegt (V 42), wer sich freut, zieht seine schönsten Kleider an und feiert (III 27,1). Auch die Motive dessen, der sich einem Zwang oder einer Notwendigkeit fügt, sind offensichtlich: Wer einen Befehl des Königs erhält, gehorcht (V 2,2), und wer bei der Belagerung einer anderen Stadt den Hunger nicht mehr erträgt, muß nach Hause zurückkehren (VII 170,2). Solche Beweggründe sind menschlich nachvollziehbar und weitgehend unabhängig von kulturspezifischen Voraussetzungen.

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Grundsätzliche Gedanken zur Rezeption der Motivzuschreibungen durch den Herodotleser stellt Baragwanath 2008, 9–34, an. 38 Die Fragen, in welchem Maß Herodot die Ergebnisse seiner Forschungen auch mündlich vorgetragen hat und inwieweit sich Spuren von Mündlichkeit im Text erhalten haben, werden nach wie vor diskutiert. Siehe dazu Evans 1980, Flory 1980, Murray 1987, Rösler 1991, Stadter 1997, Calame 1998, diverse Beiträge in Luraghi 2001 (besonders Murray 2001 und Thomas 2001), Patzek 2002, Rösler 2002, Slings 2002 und Wesselmann 2011, 319–341, um einige einschlägige Arbeiten zu nennen. Eine Zusammenfassung bietet Rengakos 2011, 340 und 347– 349. Anregend sind auch die (nicht auf Herodot bezogenen) Beobachtungen in Niles 1999 über „The Poetics and Anthropology of Oral Literature“. Katharina Wesselmann will die Frage, ob Herodots Werk für ein Hör- oder Lesepublikum konzipiert ist, als letztlich marginal auflösen; „von einer Gewöhnung an das Medium Schrift kann jedenfalls weder bei Herodot noch bei seinen Rezipienten die Rede sein“ (Wesselmann 2011, 321f.). Führt man sich vor Augen, daß in der Antike stets laut gelesen wurde, erscheinen die Unterschiede in der Rezeption mündlicher und schriftlicher Ausführungen zumindest stärker fließend, als mitunter angenommen wird. Wie Stewart Flory bemerkt, konnte durch den lauten Vortrag auch ein geschriebenes Werk Menschen erreichen, die selbst nicht lesen konnten (Stewart 1980, 12). Freilich weist er zugleich darauf hin, daß wir nur wenig darüber wissen, wie Bücher im 5. Jahrhundert benutzt wurden (ibid.). 39 Daher kann Emily Baragwanath von Erklärungen „on human level“ sprechen (Baragwanath 2008, 3). Cf. auch Drexler 1972, 209.

4.2. Was setzen Herodots Erklärungen bei den Lesern voraus?

157

Andere Erklärungen setzen den Erfahrungshorizont der griechischen Lebenswelt40 voraus.41 Die allgemeine Bekanntheit von alltäglichen Phänomenen wie der Bestechlichkeit von Amtsträgern (VIII 4,2) oder der Machtgier von Tyrannen (V 31) verleiht diesen Erklärungen Plausibilität. Konzepte wie das von Freiheit und Unterdrückung (I 164) werden ebenso vorausgesetzt wie die Kenntnis sozialer Normen und Konventionen, beispielsweise der Regeln der Gastfreundschaft (IX 76,2.3) oder Asylie (I 159). Auch im religiösen Bereich sind spezielle Vorannahmen etwa über das Handeln der Götter (VII 188–192) notwendig, um der Argumentation folgen zu können. Motivzuschreibungen wie diese rekurrieren also auf bestimmte Erfahrungen, die die Lebenswelt des Autors und seiner gebildeten42 griechischen43 Zeitgenossen prägten. Überhaupt setzen die Historien bekanntlich eine griechische Leserschaft voraus: Der Erzähler geht davon aus, daß die Örtlichkeiten in Delphi allgemein bekannt sind (VIII 122) und daß seine Leser entweder Attika umschifft haben oder aber Tarent kennen (IV 99,4.5), nicht aber den Weg nach Persien (V 52). Es eröffnet sich hier ein Panorama von Gegenwartsbezügen. Sie funktionieren so, wie Kurt Raaflaub es im Blick auf Herodots Bezüge zu zeitgenössischen Ereignissen beschrieben hat: „Although writing about the prehistory and history of the Persian Wars, Herodotus indicates through explicit and implicit references to later events (which reach to the very end of the period he witnessed) that he is deeply aware of and concerned about the history of his own time. These »pointers« connect past and present and thus alert the historian’s public to look out for such connections elsewhere as well. He enhances this effect by emphasising specific issues and patterns that he can expect to resonate with his audiences because they correspond to important aspects of their own experiences.“44

Schließlich konnte auch eine gewisse literarische Vorbildung zum Verständnis von Herodots Erklärungen nur hilfreich sein.45 Wie Raauflaub überzeugend darlegt, war 40

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Ich verwende den von Edmund Husserl geprägten Begriff im Sinne von Rudolf Vierhaus, der das Konzept der »historischen Lebenswelt« für die Kulturgeschichte fruchtbar gemacht hat: „Lebenswelt ist gesellschaftlich konstituierte, kulturell ausgeformte, symbolisch gedeutete Wirklichkeit“ (R. Vierhaus, Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung, in: H. Lehmann (ed.), Wege zu einer neuen Kulturgeschichte (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 1), Göttingen 1995, 5–28, hier 14). Drexler 1972, 209, unterscheidet in den Historien ganz ähnlich spezifisch griechische Motive von allgemein-menschlichen. Siehe zum Bildungsstand von Herodots zeitgenössischer Leserschaft vor allem Flory 1980, der argumentiert, die Historien seien in ihrer unerhörten Länge schon von der schieren Textmenge her eine Herausforderung selbst für gebildete Leser gewesen. Die 50 Stunden, die eine Lektüre von Herodots Werk bei lautem Lesen mindestens erfordert, überstieg die übliche Aufmerksamkeitsspanne bei weitem: „The Athenian audience had a limited attention span, as we see from the relative brevity of individual tragedies and comedies and from Aristophanic banter describing the longings of spectators to slip away in mid-performance“ (15). Damit soll nun nicht gesagt sein, daß es in anderen Kulturen keinerlei vergleichbare Erscheinungen gäbe, sondern daß Herodots Referenzrahmen in bezug auf die genannten Punkte eben erkennbar nicht Persien oder Libyen, sondern Griechenland ist. Raaflaub 2010, 197. Dazu siehe Wesselmann 2011, 15–18.

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4. Zwischenbilanz: Der Historiker bei der Arbeit

zumindest das athenische Lesepublikum bestens darin geübt, mythische Paradigmen in ihrer zeitgenössischen Relevanz zu erfassen und die Bedeutung von kleinen Variationen der traditionellen Mythen zu verstehen: „To them it was not difficult but normal to extrapolate beyond what was explicitly said, to connect what they saw and heard with what they knew and were concerned about otherwise, and to draw their own conclusions. Herodotus, I suggest, could expect his listeners or readers to follow his stories with the same readiness to extrapolate, to grasp implications, and to understand the topical relevance of much of what he had to tell them.“46

Ohne an dieser Stelle auch nur den Versuch zu unternehmen, dieses Thema erschöpfend zu behandeln, sei beispielhaft auf die homerischen Epen verwiesen,47 deren genaue Kenntnis Herodot bei seinen Lesern voraussetzen konnte.48 Auch aus diesem Kontext waren zahlreiche Handlungsmotive, auf die Herodot rekurriert, seiner Leserschaft bestens vertraut. Hier ist etwa an den Zorn des Achill zu denken, der die Ilias programmatisch eröffnet und die gesamte Erzählung leitmotivisch vorantreibt.49 Aber auch weitere zentralen Handlungsgründe, die wir in den Historien kennengelernt haben, werden bereits homerischen Protagonisten zugeschrieben: das Motiv der Ehre (wobei neben der Genugtuung des Achill etwa auch auf die des Chryses50 zu verweisen ist) und das der Rache (erinnert sei an Achills Rache für den Tod des Patroklos51 oder, um auch ein Beispiel aus der Odyssee anzuführen, die Rache des

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Raaflaub 1987, 233. Die Untersuchung Albin Leskys über „Göttliche und menschliche Motivation im homerischen Epos“ (Lesky 1961) ist für die hier behandelte Fragestellung nicht ganz einschlägig, da es dem Verfasser um die Abgrenzung des menschlichen vom göttlichen Anteil an den geschilderten Vorgängen geht. Einen eingehenden Vergleich von Leseraktivität und Handlungsmotivation bei Homer und Herodot bietet Baragwanath 2008, 35–54 (mir scheint allerdings dem Gattungsunterschied zwischen den untersuchten Texten bisweilen wenig Rechnung getragen, vor allem 49f.). Baragwanath kommt zu dem Ergebnis, daß die Art, wie Herodot die Aufmerksamkeit seiner Leser auf die Problematik von Motivzuschreibungen lenkt, bei Homer bereits angelegt ist. Zu sonstigen Bezügen zwischen Homer und Herodot siehe zuletzt de Jong 1999, Boedeker 2002, Marincola 2006, Pelling 2006a, Rengakos 2006a. Einen Forschungsüberblick zu „Herodot und Homer“ bietet Wesselmann 2011, 342–344. Seinerseits sollte der Autor der Historien ja später von seiner Heimatstadt Halikarnassos als der „Prosa-Homer der Geschichtsschreibung“ geehrt werden. Der Wortlaut der wohl aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. stammenden Inschrift SEG XLVIII 1330 ist ῾Ηρόδοτον τὸν πεζὸν ἐν ἱστορίαισιν ῞Οµηρον | ἤροσεν (Zeile 43f., hier zitiert nach der Erstpublikation von S. Isager, The pride of Halikarnassos. Editio princeps of an inscription from Salmakis, ZPE 123, 1998, 1–23; siehe auch H. Lloyd-Jones, The pride of Halicarnassus, ZPE 124, 1999, 1–14). Die berühmte Aufforderung an die Göttin, den Zorn des Achill zu besingen, läßt die Ilias bezeichnend mit dem Wort µῆνις beginnen. Bei Herodot ist diese Vokabel dem Zorn von Göttern und Heroen vorbehalten und nur in VII 229,2 auch für einen Menschen belegt (Powell, 225, s. v. µῆνις). Ohne die umfassende Spezialliteratur zum Thema an dieser Stelle berücksichtigen zu können, sei lediglich auf die entsprechenden Hinweise bei Gehrke 1987, 138f., und Scheid 2005, 404–408, verwiesen. Il. I 9–12. Zu Achills Motiven im Kampf gegen Hektor siehe Il. XXII 271f. und 331–336.

4.3. Wozu überhaupt Motivzuschreibungen?

159

Odysseus an den Freiern52 ). Auch der Traum,53 die Heimatliebe54 und die Scham,55 um nur diese zu nennen, werden als Motivzuschreibungen schon mit den Protagonisten der homerischen Epen verbunden. Wenn Herodot nun seinerseits solche Beweggründe namhaft machte, erschloß er seinen Lesern eine weitere Dimension: Das Erklärungspotential eines Motivs wie Zorn war damit nicht auf eine allgemein-menschliche Nachvollziehbarkeit beschränkt, und die Assoziationen, die ein Wort wie τιµή hervorzurufen vermochte, gingen über den konkreten lebensweltlichen Bezug hinaus. Die genannten Beispiele für die Bekanntheit bestimmter Motive als literarische Topoi werden im nächsten Kapitel noch um Parallelen in den „Persern“ des Aischylos ergänzt werden.56 Was sich jedoch bereits in den hier angestellten Überlegungen andeutet, ist die Vielschichtigkeit der Bezüge, die Herodots Motivangaben dem antiken Leser eröffnen konnten.57

4.3. WOZU ÜBERHAUPT MOTIVZUSCHREIBUNGEN? Die bereits mehrfach berührte Frage nach Funktion und Bedeutung der Motivzuschreibungen innerhalb der Historien läßt sich nicht mit dem Verweis auf einen einzelnen Aspekt beantworten. Sie soll zum Abschluß dieser Zwischenbilanz aufgeworfen werden. Zunächst handelt es sich bei der häufigen Angabe von Beweggründen, wie schon in anderen Arbeiten verschiedentlich gesehen wurde, um eine narrative Strategie. Herodot nutzt Motivzuschreibungen, um einzelne Episoden zu verbinden,58 um Erzählungen, die außerhalb der Hauptlinie seiner Argumentation liegen, in die Darstellung zu integrieren,59 um, während er verschiedene inhaltliche Fragen abhandelt, die Illusion eines fortschreitenden Geschehens aufrechtzuerhalten,60 und um die Spannung zu erzeugen, die den berichteten Ereignissen, da allgemein bekannt, an sich fehlt. Gerade dieser letzte Punkt verdient nun unsere nähere Aufmerksamkeit: Zwar bieten die Historien auch viele »neue« Geschichten, doch der grundsätzliche Ver52 53 54 55 56

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Die Motive für den Freiermord werden ausgeführt in Od. XX 121; XXII 40; 64; XXIV 352. Hier ist an Agamemnons Traum in Il. II 1–40 zu denken. Dieses Motiv ist vor allem mit Hektor verbunden, der in Il. XV 496–499 die Troer und Lykier zum Kampf antreibt, indem er an ihre Heimatliebe appelliert. Prominente Beispiele sind die Aussagen Hektors in Il. VI 441–443 und XXII 99–130. Bezüglich Herodots Anleihen bei der Tragödie im allgemeinen sei auf die neueren Beiträge von Saïd 2002, Kornarou 2004, Griffin 2006 und die Fallstudie Dewald & Kitzinger 2006 verwiesen. Schon Plutarch versteht allerdings vieles davon nicht mehr, wie Baragwanath 2008, 27–34, meint. Huber 1965, 161, 173–179, Lang 1984, 75–79. Stahlenbrecher 1952, 185f. Lang 1984, 75–79. Als ein Beispiel wählt die Verfasserin die Kriegsgründe des Kroisos: Die verschiedenen Angaben (I 46–75) geben weder eine psychologische Entwicklung des Königs wieder, noch gehen sie auf unterschiedliche Quellen zurück. Es handelt sich vielmehr um eine kompositorische Möglichkeit, verschiedene Materialblöcke (Orakelgeschichten, die Geschichte des Astyages etc.) zu verbinden, damit sich die Erzählung dynamisch entfalten kann (ibid., 79).

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4. Zwischenbilanz: Der Historiker bei der Arbeit

lauf der Perserkriege dürfte jedem halbwegs gebildeten Zeitgenossen Herodots bekannt gewesen sein. Daß Xerxes sich dafür entscheiden wird, gegen die Griechen zu ziehen, kann daher als von vornherein klar gelten. Die Kunst des Autors besteht nun darin, dennoch Spannung zu erzeugen, indem er die Darstellung nicht darauf konzentriert, was geschieht, sondern darauf, wie und warum es dazu kommt.61 Die Motivzuschreibungen, die Herodot gibt, sind nun gerade Antworten auf die Frage nach dem warum. Darüberhinaus nutzt Herodot, der bekanntlich das Abschweifende als das Wesen seines Werks charakterisiert,62 entsprechende Überlegungen auch dazu, ganz andere Themenfelder zu eröffnen, indem die Angaben von Beweggründen beispielsweise Anlaß dazu bieten, eine bestimmte fremdländische Sitte zu erklären (I 10,2), einen Charakter näher zu beleuchten (V 30f.) oder eine neue Geschichte zu erzählen (III 47–53).63 Beweggründe, die zugleich literarische Motive sind, stellen zudem intertextuelle Bezüge her, wie wir es am Beispiel vom Zorn des Achill gesehen haben. Entscheidend ist aber für mein Dafürhalten bei den herodoteischen Motivzuschreibungen – und hier sei noch einmal an das programmatische δι’ ἣν αἰτίην ἐπολέµησαν ἀλλήλοισι des Proömiums erinnert! – ihre erklärende Funktion.64 Diese Funktion ist von zweifacher Bedeutung. Zum einen leisten die Motivzuschreibungen als Erklärungen einen Beitrag zur Konsistenz der Erzählung.65 Zum anderen aber – und das geht weit über die vordergründige Bedeutung für die Narration hinaus – zielen die gebotenen Erklärungen auf eine Vermittlung historischer Zusammenhänge ab. Das, was die Historien als Geschichtswerk entscheidend prägt, ist ein im besten Sinn des Wortes historischer Ansatz. Das entscheidende Potential von Herodots Motivzuschreibungen liegt eben nicht darin, Erzählungen auszuschmücken und kompo-

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Siehe Marincola 1987, sowie zwei neuere Arbeiten von Antonios Rengakos: Vor allem im sogenannten Xerxeslogos (VII–IX) wendet Herodot homerische Techniken an – retardation, misdirection des Lesers und dramatic irony –, um trotz der allgemeinen Bekanntheit der Geschehnisse Spannung (epic suspense) zu erzeugen (Rengakos 2006a und 2006b). Rengakos kommt in diesem Zusammenhang auch auf das fear motif zu sprechen, also Angst als literarisches Motiv, das den Leser in die Irre führt (Rengakos 2006a, 199–202). Der Topos der griechischen Angst vor den Persern ist in den letzten drei Büchern immer präsent, so daß die Siege der Griechen als völlig unerwartet erscheinen (dies gilt, so sei aus der Perspektive meiner Fragestellung ergänzt, natürlich auch dort, wo die Angst vor den Persern zugleich als Handlungsmotiv wirksam wird). „Fear and an almost instinctive tendency to flee are the dominant characteristics of the Greeks in every major battle“ (ibid., 200). Cf. auch die Zusammenfassung in Rengakos 2011, 363f. προσθήκας γὰρ δή µοι ὁ λόγος ἐξ ἀρχῆς ἐδίζητο (IV 30,1). Mit diesen Worten leitet er einen Exkurs über die Ursachen für die Erfolglosigkeit der Maultierzucht in Elis ein. Auch an das oben besprochene Beispiel aus III 33 ist zu erinnern, wo die Motivzuschreibungen an Kambyses zur Frage nach dem Ursprung von Geisteskrankheiten führten (p. 39). Siehe ferner Baragwanath 2008, 52f., mit eigenen Beispielen. Dazu auch Stahlenbrecher 1952, 186, Lang 1984, 75. Huber 1965 erwähnt diesen Aspekt merkwürdigerweise nicht (da er ihn für offensichtlich hält?). Siehe auch Hans van Wees in bezug auf Kriegsgründe bei Herodot: „Tracing the causes of conflict not only served as a narrative device, a theme around which the disparate history of nations and empires could be organized, but was a serious historical pursuit for Herodotus“ (van Wees 2002, 343).

4.3. Wozu überhaupt Motivzuschreibungen?

161

sitorisch abzurunden,66 sondern darin, den Rezipienten zurückliegende Ereignisse nahezubringen und verständlich zu machen.67 Dies wird vor allem dann deutlich, wenn der Erzähler dabei auf überzeitliche oder aktualisierende Begründungen zurückgreift, die beim Erwartungshorizont der Zeitgenossen ansetzen. Die Zuschreibung von Handlungsmotiven, die dem Leser aus eigener Erfahrung, teils auch aus anderen literarischen Werken und nicht zuletzt aus analogen Stellen innerhalb der Historien selbst bekannt und vertraut sind, bewirkt in der Regel, daß die Entscheidungen der Handelnden nachvollziehbar und zielgerichtet erscheinen. Auch dort, wo irrationale, widersinnige oder – in der Rückschau – schlicht falsche Entscheidungen getroffen werden, trägt die Diskussion möglicher Beweggründe der Akteure zum Verständnis der Situation bei. Diese Dimension der Motivzuschreibungen erschöpft sich nicht in ihrem Bezug auf die Vergangenheit; das historische Erklären bezieht sich nicht einseitig auf vergangene Ereignisse, sondern schließt umgekehrt auch die Erklärung zeitgenössischer Probleme mit ein. Wenn etwa die Athener bei Herodot in ihren berühmten Reden gegenüber Alexander und den Spartanern das Gold und Land verschmähen, das Mardonios ihnen anbieten läßt, und sich darauf berufen, daß sie um ihre Freiheit kämpfen wollen und sich den übrigen Griechen durch Blut, Sprache, Religion und Sitte verbunden fühlen (VIII 143f.), so läßt das die Verhandlungen, die die Athener gut dreißig Jahre später, im Jahr 449/448 v. Chr., mit den Persern führten, in einem durchaus zweifelhaften Licht erscheinen: Der zeitgenössische Leser mag darüber ins Nachdenken geraten, welche Motive wohl in diesem jüngsten Fall die ausschlaggebenden waren.68 Das historische Erklären stellt die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart in beide Richtungen her.69 Der Leser kann sich auf diese Weise in die Handelnden hineinversetzen und sich mit ihnen identifizieren: Welcher Soldat würde nicht desertieren, wenn er drei Jahre lang vergeblich auf seine Ablösung als Grenzwache gewartet hat (II 30)? Das Nachdenken über Motive verringert damit die kultur- und zeitbedingte Distanz und Fremdheit des Lesers gegenüber den Protagonisten: Er mag es merkwürdig finden, daß die Skythen ihren König Skyles ermorden, nur weil sie ihn als Dionysosmysten erblicken (IV 78–80), aber er wird die Erklärung verstehen, daß sie bestimmte Sitten haben und diesen entsprechend handeln (IV 76,5). Ebenso merkwürdig wird es ihm vielleicht zunächst erscheinen, daß die Athener und andere Ionier einst ihre ionische Stammeszugehörigkeit verleugnet haben sollen, doch der Erzähler erklärt eingehend, daß zu dieser Zeit der ionische der weitaus schwächste und unbedeutendste unter den 66 67 68 69

Überlegungen dazu, wie andere Erzähler diesbezüglich verfahren, stellt Herodot in II 116,1 und III 16,7 an. Cf. Hollmann 2011, 76, in bezug auf die Träume. Das Beispiel entnehme ich Raaflaub 2010, 198: „[W]hen Herodotus wrote this, Athens had long come to a (probably informal) agreement with the Persians.“ Cf. wieder Raaflaub 2010, 200, der sich freilich auf Gegenwartsbezüge in den Historien überhaupt bezieht, nicht speziell auf die Frage der Motive: „[T]he present offered the historian a template for the presentation and interpretation of the past so that the past could become for his audience and readers a means to understand, interpret, and cope with the present.“ Und, ibid., 201: „[T]he historian intended precisely to make the past meaningful and important to the present, to enable it to speak to his readers.“

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4. Zwischenbilanz: Der Historiker bei der Arbeit

griechischen Stämmen war und sich die Ionier deshalb ihrer Stammeszugehörigkeit schämten (I 143,2.3). Daß der Leser im Verlauf seiner Lektüre dazu gebracht wird, immer häufiger selbst nach Motiven zu suchen und die Intentionen der Beteiligten kritisch zu hinterfragen, hat die Studie von Emily Baragwanath detailliert aufgezeigt: „The narrative’s staging of successful and failed readings of motives guides readers in moulding their own interpretative methodology, to be used especially on those occasions when no motives are ascribed, or when Herodotus suggestes several possible options. But equally, it equips readers on occasion to challenge the Herodotean interpretation.“70

Die Diskussionen über wahre und falsche Motive, die der Erzähler, aber auch die Figuren selbst untereinander führen, und die Diskussion über Wahrheit überhaupt werden auf diese Weise immer wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und mit Überlegungen zur Legitimität bestimmter Motive und zum Wert einzelner Taten verbunden.71 Die Frage nach Beweggründen ist bei Herodot so immer auch eine Frage nach der historischen Wahrheit. Es ist das Erklären der vergangenen Ereignisse, das die ἱστορίη kennzeichnet und im Zentrum von Herodots Darstellung steht. So kann es auch nicht als Zufall betrachtet werden, daß es meistens der Erzähler selbst ist, der in den entsprechenden Zusammenhängen seine Stimme erhebt: Von ihm erfährt der Leser in aller Regel näheres über die Handlungsmotive der Akteure, sei es, daß er das Geschehen lediglich kommentiert, sei es, daß er gelegentlich die Ansichten anderer referiert und sie mitunter auch korrigiert. Nur in gut zehn Prozent der untersuchten Fälle werden hingegen den Figuren selbst Aussagen über ihre Motive oder die anderer in den Mund gelegt. Die Zuschreibung von Handlungsmotiven behält Herodot weitgehend der Erzählerperspektive vor. Er gibt sich somit weniger als Referent denn als Interpret, und das hat, wie ich meine, durchaus seine Berechtigung. Erst Herodots lebhaftes Interesse für die Hintergründe von Entscheidungen, sein Forschen nach älteren Deutungsversuchen und Meinungen anderer, und nicht zuletzt seine eigenen Überlegungen, Erklärungen und Interpretationen machen aus den zahllosen Geschichten, die er gehört und gelesen hat, Geschichtsschreibung.72 Dabei gilt sein Interesse nicht abstrakten Erklärungsmodellen: Herodot sucht die historische Wahrheit in den Handelnden selbst.

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Baragwanath 2008, 80. Auf die aktive Rolle des Publikums weist auch Lang 1984, 74, hin. Etwa in IV 11,2–4 oder VI 137. Zum κλέος im Licht der Handlungsmotivation siehe Baragwanath 2008, 64–78, am Beispiel der Darstellung des Leonidas und seiner Taten. Zur Umarbeitung von stories in history siehe auch van Wees 2002, 349, und Luraghi 2005, 90.

5. HANDLUNGSMOTIVE BEI AISCHYLOS UND BEI THUKYDIDES Ausgehend von den zuletzt angestellten Überlegungen zu Herodots Arbeitsweise sollen zwei Vergleiche es ermöglichen, die Eigenheiten seiner Handlungsmotivation herauszuarbeiten. Dabei wird es mir darum gehen, die Vorgehensweise des Aischylos und die des Thukydides mit derjenigen Herodots zu kontrastieren. Ein gemeinsamer historischer Kontext ergibt sich aus der zeitlichen Nähe der drei Autoren zueinander; auch kennen die Verfasser natürlich ihre(n) jeweiligen Vorgänger. Ein solcher Vergleich weist zugleich chronologisch in zwei Richtungen über Herodots Historien hinaus, ohne daß sich freilich deshalb von einer folgerichtigen Entwicklung im Sinn eines »Fortschritts« sprechen ließe. Der Vergleich mit den „Persern“ des Aischylos bietet sich deshalb an, weil die Tragödie dasselbe Thema behandelt wie Herodots Geschichtswerk.1 Thukydides ist ein zweiter idealer Vergleichspunkt, da seine Fragestellung und Herangehensweise in mancher Hinsicht an Herodot anschließt.2 Sein Thema, der Peloponnesische Krieg, bildet zugleich den zeithistorischen Hintergrund, der die Abfassung beider Geschichtswerke prägt.3 Sowohl bei Aischylos als auch bei Thukydides sind wir zudem in der glücklichen Lage, daß sich sogar Motivangaben für konkrete Entscheidungen finden lassen, welche auch bei Herodot besprochen werden. Somit wird es im Einzelfall möglich sein, verschiedene Erklärungen derselben Handlung miteinander zu vergleichen.

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Siehe dazu Immerwahr 1966, 44: „The Histories derive their subject from the particular view which the Greeks had of the importance of their fight against Persia, and is therefore similar to the views found in the Persians of Aeschylus. The two works have in common their Oriental structure, by which the unity of viewpoint is manifested in the description of the effect of the Persian Wars upon the Persians themselves rather than the effect upon the Greeks. Aeschylus and Herodotus treat the same subject, which is »Persai«“. Cf. Immerwahr 1954, 45, wo auch Thukydides in den Vergleich mit einbezogen wird. Dies konnte Grethlein 2010, 149–280, zuletzt wieder untermauern: Als die ersten Vertreter der neuen Gattung Geschichtsschreibung stehen Herodot und Thukydides vor den gleichen Problemen (149f.), und beide grenzen sich von Dichtung und Rhetorik ab (279). Vgl. auch Blösel 2012, Scardino 2012 und Stahl 2012. Thukydides schreibt zwar mehr als 20 Jahre später als Herodot, beginnt aber mit seinem Werk, als das des Herodot noch nicht abgeschlossen ist. Der Sommer 431 v. Chr. und damit der Beginn des Peloponnesischen Kriegs ist der terminus post quem für mindestens ein Drittel von Herodots Historien, nämlich den auf VI 91 folgenden Teil (Rösler 2002, 80). Es ist nicht ohne Reiz, „sich klar zu machen, daß das zeitliche Verhältnis der beiden Historiker keineswegs das eines einfachen Nacheinander ist. Als nämlich Thukydides sein Geschichtswerk konzipierte und vorbereitete, da mag er sich noch ganz als Begründer des historischen Großtextes gefühlt haben“ (Rösler 1991, 220). Cf. auch Stadter 2012, 39, und bezüglich möglicher Einflüsse von Thukydides auf Herodot ibid., 43.

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5. Handlungsmotive bei Aischylos und bei Thukydides

5.1. DIE „PERSER“ DES AISCHYLOS Aischylos ist etwa 40 Jahre vor Herodot, um das Jahr 525 v. Chr., in Eleusis geboren. Er erlebte die Perserkriege als Zeitzeuge4 in Athen5 . Seine „Perser“ wurden im Frühjahr 472 v. Chr. im Athener Dionysostheater aufgeführt, wo sie den Preis gewannen.6 Anders als bei Herodot und Thukydides haben wir es hier mit einer Tragödie zu tun, also mit einer Gattung, die als Kontrast zur Historiographie dienen kann. Schon aus formalen Gründen sind daher gewisse Unterschiede zur Handlungsmotivation in der Geschichtsschreibung zu erwarten. Anzumerken ist auch, daß das Stück einen nicht annähernd so großen Umfang hat wie die Werke der beiden Historiker. Dies schlägt sich auch in der entsprechend sehr viel geringeren Anzahl von benannten Handlungsmotiven nieder: Nur 15 Motivangaben lassen sich belegen. 5.1.1. Das Motivrepertoire Doch auch auf dieser Grundlage sind einige weiterführende Beobachtungen zu machen. Im Vergleich zu Herodot läßt sich zunächst einmal feststellen, daß alle in den „Persern“ namhaft gemachten Beweggründe auch in den Historien vorkommen. Dies sind Angst, Hybris, Wahnsinn, Gram, Fürsorglichkeit, Gefälligkeit, Strafe und Rache, Freiheitsliebe, Heimatliebe, Machtstreben, das Werben um die Gunst der Götter sowie ein Ratschlag.7 Vier dieser Motive – Angst, Strafe und Rache, Machtstreben sowie das Befolgen von Ratschlägen – gehören bei Herodot zu den am häufigsten genannten Gründen für menschliches Handeln. Zorn und Orakel als weitere zentrale Motive der Historien dagegen kommen bei Aischylos nicht vor. Interessant ist, daß die wenigen Handlungsmotive, die in den „Persern“ genannt werden, bereits fast die gesamte Bandbreite abdecken, die Herodot bieten wird. Die Akteure nennen emotional und charakterlich begründete Motive neben gesellschaftlich, politisch und religiös begründeten Motiven und externen Faktoren.8 Lediglich 4

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Möglicherweise kämpfte Aischylos 490 v. Chr. sogar selbst in der Schlacht von Marathon, in der nach Herodot VI 114 sein Bruder Kynegeiros gefallen sein soll, und 480 v. Chr. in der Schlacht von Salamis. Einführend zu „Aischylos und Athen“ siehe die umfassende Monographie Thomson 1957. Zum Leben und Werk des Aischylos sei beispielhaft verwiesen auf Wilamowitz-Moellendorff 1914, Murray 1940, Meier 1988, 75–185, West 1990, Lossau 1998, Latacz 2003, 86–160, Föllinger 2009, J. Robson, Aristophanes. An Introduction, London 2009, und Zimmermann 2011a. Zu den „Persern“ siehe neben den genannten Werken Deichgräber 1974, 32–59, die verschiedenen Beiträge in Ghiron-Bistagne, Moreau & Turpin 1993, Belloni 1994, Hall 1996, Harrison 2000b, Garvie 2009 und Grethlein 2010, 74–104. Bezüge Herodots auf die „Perser“ hat zuletzt Griffin 2006 untersucht; siehe ferner Gelzer 1973, Harrison 2002, 571f. und Saïd 2002, 137–145. Die berücksichtigten Stellen sind Pers. 159–170, 233, 402–405, 473f., 537–540, 609–621, 697, 744–752, 753–758 und 834–836. Die Motive kommen jeweils ein einziges Mal vor; lediglich Gram und Fürsorglichkeit sind jeweils zweimal belegt. Die Gewichtung der einzelnen Bereiche entspricht der Reihenfolge meiner Aufzählung. Emotion/Charakter: fünf Belege, Gesellschaft: vier Belege, Politik: drei Belege, Religion: zwei Belege, externe Einflüsse: ein Beleg.

5.1. Die „Perser“ des Aischylos

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wirtschaftliche und ästhetische Aspekte kommen gar nicht vor; bei Herodot werden diese Motive allerdings auch nur eine untergeordnete Rolle spielen. Betrachten wir nun die Handlungsmotive im einzelnen. In der Rahmenhandlung der „Perser“ am Grab des Dareios in Susa, die Aischylos in das Jahr 480 v. Chr. setzt, sind die Handlungen mit naheliegenden Motiven verknüpft. So kommt die Königin Atossa ans Grab ihres Gatten, weil sie angesichts des ungewissen Schicksals von Xerxes’ Heer in Angst und Sorge um das Königshaus ist.9 Sie hat Blumenketten und Libationsgaben für ein Totenopfer mitgebracht: Milch, Honig, Quellwasser und Olivenöl. Mit ihrem Opfer will sie den verstorbenen Dareios beschwichtigen und den Göttern der Unterwelt ihre Ehre erweisen.10 In dieser Atossa ist der Typus der orientalischen Herrscherin, wie wir ihn bei Herodot kennengelernt haben, bereits vorgeprägt.11 Auch die Handlungen der herodoteischen Frauen werden von Emotionen, von der Sorge um ihre Familie und von dem Bemühen, die Götter milde zu stimmen, geleitet sein.12 (Das Repertoire spezifisch weiblicher Motive ist bei Herodot jedoch zumindest punktuell um politische und wirtschaftliche Aspekte erweitert, die in den Beweggründen von Aischylos’ Atossa nicht anklingen.) Als schließlich der Totengeist selbst auf der Bühne erscheint, bewegt sich auch sein Motiv ganz im Rahmen dessen, was wir bei Herodot als erwartbares und übliches Verhalten kennengelernt haben: Der Geist des Dareios reagiert mit seinem Erscheinen aus der Unterwelt entgegenkommend auf die Klagen des Chors.13 Richten wir unser Augenmerk nun auf das Geschehen im fernen Griechenland, das von den Akteuren referiert wird. Für die vorliegende Studie sind vor allem zwei Punkte von Interesse: die Motive des Xerxes für seinen Feldzug und die Motive der Griechen, sich gegen die Perser zu verteidigen. Das Handeln der Griechen, um damit zu beginnen, wird ganz unzweideutig auf ihre Freiheitsliebe zurückgeführt.14 Der Bote, der Atossa die Nachricht von der verheerenden Niederlage bei Salamis überbringt, zitiert seinerseits das Kampfgeschrei der Griechen: Sie rufen sich gegenseitig dazu auf, ihre Heimat, ihre Kinder und Frauen, ihre Götterschreine und die Gräber ihrer Vorfahren zu befreien.15 Gleich zweimal ertönt die Aufforderung ἐλευθεροῦτε. In der Aufzählung dessen, was es in dieser Schlacht zu befreien gilt, klingen Heimatliebe, Sorge um die Familie und religiöses Pflichtbewußtsein der Griechen 9

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Atossa in Pers. 159–170. Der Traum, von dem die Königin in 181–199 erzählt, wird von ihr nicht als Beweggrund benannt. Zur mütterlichen Sorge der Atossa um ihren Sohn, den sie mit Vorliebe als παῖς bezeichnet, siehe Kierdorf 1966, 62–64, 79f. Angst wird auch in 391 thematisiert, wo der Bote berichtet, wie die Barbaren von φόβος ergriffen werden, als sie die Griechen den Paian anstimmen hören; diese Furcht löst jedoch keine Handlung aus. Zur Angst bei Aischylos siehe auch de Romilly 1958 und Schnyder 1995, wo es freilich nicht um die Frage der Handlungsbegründung geht. Mit „Psychologie bei Aischylos“ befaßt sich Föllinger 2009, 36f. Atossa in Pers. 609f. und 621f. Zu den Frauenrollen bei Aischylos siehe Föllinger 2009, 38–40. Auch sie verweist auf Parallelen bei Herodot, allerdings ohne ins Detail zu gehen. Siehe oben, p. 99–101. Dareios in Pers. 697. Siehe diesbezüglich auch Gelzer 1973, 38f. Der Bote in Pers. 402–405.

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5. Handlungsmotive bei Aischylos und bei Thukydides

an. Ganz anders dagegen die Kriegsgründe der Perser: Atossa macht deutlich, daß Xerxes Athen unterwerfen16 und auf diese Weise Rache (τιµωρία) üben wollte;17 auch habe sich ihr Sohn von schlechten Ratgebern leiten lassen.18 Der Geist des Dareios hebt auf die Jugend, Frechheit und Hybris des Xerxes ab, vermutet gar, hinter seiner Kriegsentscheidung müsse eine Geisteskrankheit stehen.19 Hier werden – was in den „Persern“ sonst nicht vorkommt – also verschiedene Ansichten über mögliche Beweggründe laut, wobei es sich nicht um gegenteilige, sondern einander ergänzende Positionen handelt. Aischylos kontrastiert mit diesen Zuschreibungen in seiner Tragödie sehr deutlich die hehren Motive der Griechen – Freiheitsliebe, Heimatverbundenheit, Fürsorglichkeit und religiöses Pflichtbewußtsein – mit den Rache- und Expansionswünschen, der leichten Beeinflußbarkeit, der Hybris und dem Wahnsinn des jungen Perserkönigs.20 Wenn Herodot sich später mit denselben Ereignissen beschäftigt, wird er in gewisser Weise zu ähnlichen Ergebnissen kommen:21 Freiheitsliebe ist auch in den Historien ein Charakteristikum der Griechen,22 und auch in der herodoteischen Analyse des Xerxeszugs sind Machtstreben, die Rache an Athen und der Einfluß diverser Ratgeber entscheidende Faktoren.23 Der Historiker macht sich dennoch nicht die Schwarzweißmalerei der „Perser“ zu eigen. Seine Griechen sind nicht nur freiheitsliebend und heimatverbunden, sondern auch bestechlich, neidisch und kleinlich.24 Umgekehrt wird Xerxes bei Herodot keineswegs als geisteskrank dargestellt, und speziell im Zusammenhang mit der Entscheidung, gegen Griechenland zu ziehen, wird auch nicht auf seine Hybris abgehoben. Mit einer entsprechenden Tradition der Vorväter, die es fortzuführen gilt, mit einem göttlichen Auftrag für sein Tun, mit der Sorge um sein Reich, dem Bemühen darum, den eigenen Ruhm zu mehren, und nicht zuletzt mit dem legitimen Ansinnen, eine verfeindete Stadt bestrafen zu wollen, hat Xerxes aus Sicht des herodoteischen Erzählers im Gegenteil sehr gute und durchaus auch rationale Gründe für den Krieg gegen die Griechen.25

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Atossa in Pers. 233. Atossa in Pers. 473f., cf. 476f. Atossa in Pers. 753–758. Dareios in Pers. 744–752. Zur Hybris des Xerxes in den „Persern“ und in Herodots Historien siehe Saïd 2002, 139–141. Auf einen entsprechenden Gegensatz weist auch Gelzer 1973, 39, hin: „Was die Griechen zum Widerstand treibt, ist nicht der Befehl eines Despoten, sondern jedes einzelnen Willen zur Freiheit.“ Zu politischen Bezügen der „Perser“ überhaupt siehe etwa Podlecki 1966, 8–26, und Harrison 2000b. Zu den Kriegsmotiven bei Aischylos und Herodot siehe auch Saïd 2002, 142–145. Verwiesen sei außerdem auf Bichler 2001, 318–322, wo die herodoteische Darstellung von Xerxes’ Kriegsbeschluß ebenfalls mit der bei Aischylos verglichen wird, sowie auf die Analyse der griechischen Kriegsgründe in den Historien bei Harrison 2002, 566–569, und van Wees 2002, 344–348. Siehe dazu oben, p. 93–96. Siehe dazu p. 139–143. Siehe dazu p. 88–98. Siehe dazu p. 142f.

5.1. Die „Perser“ des Aischylos

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Als dagegen bei Aischylos Xerxes endlich selbst in Erscheinung tritt, ist der einst so stolze und wilde26 König ein Bild des Jammers.27 Aus Schmerz (ὑπ’ ἄλγους) über sein Unglück hat er seine Gewänder in Fetzen gerissen28 und läßt nun seine verzweifelte Klage hören . . . 5.1.2. Erzählperspektiven und Gattung Wenn Herodot, wie eingangs konstatiert wurde, das gesamte Motivrepertoire der „Perser“ übernimmt, so erweitert er es doch um sehr viele Beweggründe und setzt auch deutlich andere Schwerpunkte als Aischylos. Zudem ist seine Darstellung, wie der direkte Vergleich der Kriegsmotive von Griechen und Persern gezeigt hat, sehr viel ausgewogener und differenzierter; handelt es sich doch um eine historische Analyse und nicht um eine dramatische Zuspitzung des behandelten Geschehens. Während Aischylos seinen Protagonisten die Beweggründe ganz nach Belieben und den dramaturgischen Notwendigkeiten entsprechend andichten kann (wobei er sich teils im erwartbaren Rahmen von Konventionen bewegt, wie es beim Totenopfer der Atossa oder den Trauergesten zu sehen war, teils aber auch überraschende und verstörende Einblicke gibt, etwa über den Geisteszustand des Perserkönigs), sieht sich Herodot der Suche nach der historischen Wahrheit verpflichtet. Hier kommen auch gattungsbedingte Unterschiede zum Tragen. In den „Persern“ sind die Motivzuschreibungen notwendigerweise ausschließlich in direkter Figurenrede gestaltet,29 also immer als Selbst- oder Fremdwahrnehmung durch einen bestimmten Protagonisten fokussiert.30 Herodot dagegen verfügt über eine unabhängig auftretende Instanz: Sein Erzähler trifft fast alle Motivzuschreibungen selbst,31 und dort, wo sich die handelnden Figuren äußern, ist es ihm möglich, ihre Aussagen zu gewichten, zu bewerten, zu relativieren oder zu korrigieren. Die Akteure der „Perser“ dagegen sprechen ihre eigene Wahrheit aus, die als nicht zu hinterfragen präsentiert und folgerichtig auch nicht angezweifelt wird. Diese Beobachtung könnte für das Verständnis der Historien von Bedeutung sein. Wie bereits besprochen, sagt die jeweils gewählte Erzählperspektive nichts über den Ursprung einer Motivzuschreibung aus.32 Wenn Herodot die Erklärung einer Handlung den Beteiligten selbst in den Mund legt, so ist dies daher auch nicht zwangsläufig als eine Strategie aufzufassen, die dem Autor dazu diente, sich von dem

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δούριος (Pers. 718 und 754). Zur aischyleischen Xerxesdarstellung siehe besonders Kierdorf 1966, 73–80. So hatte Dareios es in Pers. 834–836 prognostiziert (cf. auch 199, 468, 847f.). Auch das Zerreißen der Kleider bei den persischen Frauen wird durch den Chor als Trauergestus erklärt (537– 540). Zu den Erzählperspektiven bei Aischylos siehe Barrett 2004 (mit Literatur). Der Chor, der als eine übergeordnete Instanz das Geschehen beurteilen könnte, interessiert sich, anders als der herodoteische Erzähler, nicht für die Frage nach Motiven. In Pers. 537–540 rekurriert er ein einziges Mal auf einen Beweggrund, der allerdings ohnedies evident ist. Siehe dazu p. 162. P. 154f.

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5. Handlungsmotive bei Aischylos und bei Thukydides

zu distanzieren, was die Figuren sagen.33 Im Gegenteil sind ganz verschiedenartige Konstellationen möglich. Zwar gibt es, wie verschiedentlich gezeigt wurde, auch Fälle, in denen das Schweigen des Erzählers auf die Zweifel des Autors hindeutet. Auch hier gilt allerdings, daß die Erzählperspektive an sich noch keine weitergehenden Schlüsse zuläßt, sondern daß entsprechende Einschätzungen erst im jeweiligen Kontext möglich sind. Die Motive für das Handeln der Götter sind ein gutes Beispiel dafür, wie ganz unterschiedliche Erzählstrategien ein stimmiges Gesamtbild ergeben können, das die Skepsis des Historikers widerspiegelt.34 In der Mehrzahl der Fälle finden wir aber keinen Anhaltspunkt für eine solche Distanzierung. Denken wir etwa an den Skythenzug des Dareios, wo sich die Analyse, die als indirekte Figurenrede der Skythen präsentiert wird, am Ende als richtig erweist. Der Perserkönig, so argumentieren die Skythen, habe schon ganz Aisen und Thrakien unterworfen. Würde es sich um einen gezielten Rachezug handeln, dann hätte Dareios doch die anderen Völker auf seinem Weg unbehelligt lassen müssen, sein Ansinnen sei es aber, auch alle anderen Länder in seine Gewalt zu bringen. Obwohl der Erzähler diese Aussage nicht kommentiert, zeigen die Ereignisse im Fortgang der Erzählung nur zu deutlich, daß die Skythen die Motive des Dareios zutreffend dargestellt haben. Die Annahmen der Könige der Nachbarvölker dagegen erweisen sich als falsch.35 Umgekehrt ist auch dort, wo der herodoteische Erzähler sich explizit äußert, nicht immer eine Stellungnahme zu erwarten. Er referiert etwa zwei gegensätzliche Standpunkte, nur um dann anzumerken, er selbst kenne die Wahrheit nicht.36 Festzuhalten ist daher: Es könnte sich bei dem erzählerischen Verfahren, Motivzuschreibungen aus der Perspektive der Akteure selbst zu formulieren, um eine Technik handeln, die Herodot aus der Tragödie übernommen hat. Wie Aischylos bedient sich gelegentlich auch Herodot verschiedener Sprecher, um unterschiedliche Positionen durchzuspielen. Diese bleiben mitunter gleichwertig nebeneinander stehen, ohne daß der auktoriale Erzähler eine Entscheidung treffen würde;37 die Fokussierung durch eine der handelnden Personen muß daher keine Wertung implizieren. Es wird dem Leser bei diesen Gelegenheiten selbst überlassen, seine Schlüsse zu ziehen.

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Zu Distanzierungsstrategien in den Historien siehe ferner Casevitz 1995, der die Mittel einer distanciation ironique untersucht. Siehe dazu oben, p. 104–108. Hdt. IV 118f. Cf. meine Überlegungen dazu oben, p. 111. – An anderer Stelle wieder bieten zwei unterschiedliche Versionen über den Hergang eines Geschehens eine im Kern übereinstimmende Erklärung, die der Leser selbst zu erkennen hat, etwa in der oben, p. 38–39, besprochenen Episode III 32. Ein Beispiel dafür wäre Hdt. VI 81f. Auch sonst zeichnet sich der herodoteische Erzähler ja dadurch aus, Fragen aufzuwerfen, die er dann offen stehen läßt (siehe dazu Dewald 1987 und 2002 sowie Marincola 2006, 22–24). So kann er beispielsweise konstatieren, er wisse nicht, warum die Erdteile drei unterschiedliche Namen, noch dazu Frauennamen, erhalten hätten, und warum der ägyptische Nil und der kolchische Phasis als die Grenzflüsse zwischen ihnen betrachtet würden (Hdt. IV 45,1, siehe auch die Überlegungen zur Stelle bei Thomas 2000, 80–83).

5.2. Das Geschichtswerk des Thukydides

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Bei allen Parallelen: Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Texten besteht darin, daß Beweggründe bei Aischylos zwar hier und da en passant erwähnt werden, aber nirgends grundsätzlich thematisiert sind. Das Augenmerk des Autors liegt auf ganz anderen Problemen; die Frage nach Handlungsmotiven macht erst Herodot zu einem zentralen Thema. Thukydides wird ihm darin nachfolgen.

5.2. DAS GESCHICHTSWERK DES THUKYDIDES Thukydides ist um das Jahr 460 v. Chr. geboren, mithin etwa 25 Jahre nach Herodot. Als athenischer Stratege war er in den 420er Jahren selbst am Peloponnesischen Krieg beteiligt, wurde aber 423 für 20 Jahre aus der Stadt verbannt. Sein Werk umfaßt die Ereignisse vom Beginn des Kriegs im Jahr 431 bis zum Sommer 411, kann aber nachweislich erst nach dem Kriegsende 404 abgeschlossen worden sein.38 Das Geschichtswerk des Thukydides ist wie das des Herodot von Fragen nach Ursachen und Gründen geprägt39 (wenngleich die Antworten, die beide Autoren finden, wie ihre Methoden im einzelnen durchaus unterschiedlich sind).40 Es erstaunt jedenfalls nicht, daß Thukydides mindestens ebenso häufig nach Handlungsmotiven fragt wie Herodot.41 38

Zu Leben und Werk des Thukydides siehe beispielsweise Finley 1942, de Romilly 1947 und 1956, Drexler 1976, Connor 1984, Cawkwell 1997, Rood 1998, Nicolai 2001, Dewald 2005, de Romilly 2005, Greenwood 2006, den Sammelband Rengakos & Tsakmakis 2006 mit zahlreichen instruktiven Beiträgen, Rengakos 2011, 381f., Stadter 2012. In unserem Zusammenhang ist außerdem Grethlein 2010, 205–280, von besonderem Interesse, wo das Werk des Thukydides in Abgrenzung von anderen Erinnerungsgattungen gelesen wird. 39 Programmatisch wird dies in Thuk. I 23 angekündigt. Siehe auch den Kommentar zur Stelle bei Hornblower, I 62–66, mit weiterer Literatur. Zur Rekonstruktion von Geschichte bei Thukydides siehe Gehrke 1993. Zu den übereinstimmenden Grundannahmen bei Thukydides und Herodot siehe Stadter 2012. 40 West 2011, 255, bringt freilich mit Recht folgendes in Erinnerung: „Herodotus ranges much further in both time and space, and if his standards of evidence had been as exacting as those set by Thucydides, he would never have got started.“ 41 Für die vorliegende Untersuchung wurde die statistische Auswertung exemplarisch auf die Bücher I und II beschränkt. Schon hier sind circa 270 Handlungsmotive belegt; hochgerechnet auf insgesamt acht Bücher dürfte sich somit eine Gesamtzahl ergeben, die die etwa 600 Belege bei Herodot deutlich übertrifft. – Um meine Vorgehensweise offenzulegen, seien hier beispielhaft die berücksichtigten Belegstellen aus Buch I aufgeführt: Thuk. I 2,1f. (Notlage); 4 (Besitzgier); 5,1 (Besitzgier, Fürsorglichkeit, Ehre); 8,3 (Besitzgier); 9,2 (Angst, Besitzgier); 9,3 (Angst); 11,1 (Armut/Geldnot, Notlage); 12,3 (Notlage); 14,3 (Ratschlag); 17 (Angst [?], Besitzgier); 18,2 (Machtstreben); 23,6 (Angst, Machtstreben); 24f. (Notlage, zustimmendes Orakel); 25,1–3 (Orakel, Gefälligkeit, Fürsorglichkeit, Gerechtigkeitssinn, Feindschaft, Ehre); 25,4 (Stolz, Ehre); 26,1 (Zorn, Gefälligkeit); 26,2 (Angst); 26,3 (Zorn, Gefälligkeit, Verwandtschaft); 30,2 (Strafe/Rache); 30,3 (Bündnistreue); 31,1 (Zorn); 31,2 (Angst, Kalkül); 32–45 (Ratschlag, Gefälligkeit, Ehre, Kalkül, Besitzgier, Machtstreben, Notlage); 33,3 (Angst, Machtstreben, Feindschaft); 32,4 (Kalkül); 37,2–5 (Kalkül); 47,3 (Freundschaft); 49,4 (Zwang); 49,7 (Notlage); 50,4 (Angst); 50,5 (Angst); 52 (Angst); 53,4 (Vertragstreue); 55,1 (Kalkül); 56f. (Angst, Kalkül); 57,3–5 (Feindschaft [?]); 58,1 (Notlage, Kalkül); 58,2 (Ratschlag); 60,1.2 (Freundschaft); 61 (Notlage); 64,1 (Angst); 65,1 (Notlage); 67,1 (Fürsorglichkeit); 67,2 (Angst); 68–87 (Rat-

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5. Handlungsmotive bei Aischylos und bei Thukydides

So, wie Herodot besondere Sorgfalt darauf verwendet, Kriege zu begründen, schildert auch Thukydides nicht nur in aller Breite die Vorgeschichte des Peloponnesischen Kriegs,42 sondern immer wieder auch die Motive der verschiedenen Parteien.43 Dabei geht er allerdings sehr viel systematischer vor. Seine Analyse des Bürgerkriegs in Kerkyra44 steht der Systematik eines Aristoteles45 sehr viel näher als entsprechenden Geschichten bei Herodot46 .

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schlag, Machtstreben, Freundschaft, Verwandtschaft, Feindschaft, Vertragstreue); 68f. (Friedenswunsch); 70 (Besitzgier, Heimatliebe, Angst); 73,5 (Notlage); 74,1–3 (Pflichtbewußtsein, Heimatliebe, Bündnistreue); 74,3 (Angst); 74,4 (Angst, Heimatliebe); 75,2 (Gefälligkeit); 75,3 (Notlage, Angst, Ehre, Kalkül); 75,4 (Feindschaft, Machtstreben); 80–87 (Ratschlag, Kalkül, Freiheitsliebe, Ehre, Gesetzestreue, Sitte/Tradition, Bündnistreue, Angst, Machtstreben); 90,1 (Machtstreben, Gefälligkeit, Angst); 90,3 (Ratschlag); 91,1 (Freundschaft); 91,3 (Angst, Kalkül); 92 (Kalkül, Freundschaft); 93 (Ratschlag, Machtstreben); 95,1 und 96,1 (Freiheitsliebe [?], Verwandtschaft, Feindschaft); 95,7 (Angst [?], Überdruß, Kalkül); 99,1.2 (Armut/Geldnot, Freiheitsliebe [?]); 99,3 (Heimatliebe); 101,1.2 (Gefälligkeit); 101,2 (Notlage); 102,3 (Angst, Kalkül); 102,4 (Zorn); 103,1 (Notlage); 103,2 (Orakel); 103,3 (Zorn); 104 (Gefälligkeit); 105,6 (Ehre); 107,5.6 (Kalkül, Mißtrauen, Wertschätzung der Demokratie); 107,7 (Bündnistreue); 112,4 (Notlage); 115,2.3 (Gefälligkeit); 118,2 (Notlage); 118,2.3 (Machtstreben, Notlage, zustimmendes Orakel); 120–125 (Ratschlag, Ehre, Machtstreben, Strafe/Rache, Feindschaft, Besitzgier, Freiheitsliebe, zustimmendes Orakel, Vertragstreue, Gefälligkeit, Verwandtschaft, Kalkül, Friedenswunsch, Notlage); 123,1 (Angst, Kalkül); 126,1 (Kalkül); 126,3–5 (Orakel, Machtstreben); 126,8 (Überdruß); 126,10 (Notlage); 126,12 (Beschwichtigen göttlichen Zorns); 128,3 (Machtstreben, Kalkül); 129,1 (Freude); 129,3 (Dankbarkeit); 130 (Stolz); 131,2 (Zwang, Kalkül); 132,5 (Angst); 134,4 (Orakel); 136,1 (Angst); 136,2 (Notlage); 136f. (Schutzpflicht, Ehre); 137,2 (Angst, Zwang, Besitzgier); 137,4 (Dankbarkeit, Freundschaft, Bewunderung, Machtstreben); 139,1.2 (Strafe/Rache); 140–145 (Ratschlag, Machtstreben, Notlage, Sitte/Tradition). Thuk. I 23–145, zu den Motiven der Hellenen auch II 8. Die Argumente, die die Beteiligten austauschen, decken die gesamte Bandbreite der überhaupt von Thukydides verwendeten Motive ab; auch dies eine Parallele zu Herodot, der bei der Begründung des Xerxeszugs ähnlich vorgeht. Weiterführend zur Vorgeschichte des Kriegs bei Thukydides siehe Schwartz 1919, 117–153, Sealey 1957, Andrewes 1959, Kagan 1969, Kallet-Marx 1989, Richardson 1990, Badian 1993, Meyer 1997, Rood 1998, 203–248. Besonders ausführlich erörtert werden die Motive der Beteiligten bei der Entscheidung für den Sizilienzug und vor der vernichtenden Schlacht im Hafen von Syrakus im Jahr 413 v. Chr., die der Erzähler in Thuk. VII 87,5 als bedeutendstes Ereignis des ganzen Kriegs einstuft: VI 24; 69,3; VII 13; 50; 56–58. Siehe auch die in den Reden der Feldherren vor der Schlacht noch einmal beschworenen Motive: VII 61–64; 66–68; 69,2. Einen Vergleich des Sizilienzugs bei Thukydides mit der Darstellung des Xerxeszugs bei Herodot bietet Rood 1999 und vor ihm schon Montgomery 1965, 45–50. In Thuk. III 81 werden bei der Darstellung des eigentlichen Geschehens bereits verschiedene Motive der Beteiligten namhaft gemacht, die in 82f. dann in methodischer Weise analysiert werden. Zu den inneren Kämpfen in Kerkyra siehe weiterführend Gehrke 1985, 88–96, und Intrieri 2002. Siehe dazu p. 21–23 in der Einleitung. Hier wäre etwa an die Darstellung der Staatsstreiche des Peisistratos zu denken (Hdt. I 59,3; 60; 63).

5.2. Das Geschichtswerk des Thukydides

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5.2.1. Das Motivrepertoire Die Handlungsmotivation bei Thukydides hat die Forschung bereits beschäftigt.47 Da die einschlägigen Arbeiten jedoch ganz andere Ziele verfolgen als die hier vorgelegte,48 stützen sich die folgenden Ausführungen vorrangig auf meine eigenen Beobachtungen. Die häufig zu lesende Einschätzung, die Angaben von Beweggründen bei Thukydides seien im Vergleich zu denen bei Herodot objektiver, da genuin politisch,49 wird dabei kritisch zu prüfen sein. Ginge man von dieser Vorannahme aus, so ist zunächst überraschend, daß das thukydideische Repertoire mit 42 zu unterscheidenden Motiven zumindest im Umfang demjenigen Herodots (mit 51 verschiedenen Motiven) kaum nachsteht.50 Dabei handelt es sich nun auch keinesfalls um ausschließlich politische Beweggründe. Abgesehen von den (auch bei Herodot nur gelegentlich angesprochenen) ästhetisch begründeten Motiven, die bei Thukydides nicht vorkommen, finden wir hier alle uns bekannten Bereiche wieder. Emotional und charakterlich begründete, gesellschaftlich begründete und politisch begründete Motive begegnen mit der größten Häufigkeit, gefolgt von externen Faktoren, wirtschaftlichen und schließlich religiösen Argumenten.51 Der Unterschied zu Herodot ist somit eher quantitativer Art: Politisch begründete Motive sind bei Thukydides tendenziell stärker gewichtet als bei seinem Vorgänger, ebenso die externen Einflüsse. Religiöse Aspekte treten in den Hintergrund. Diese Tendenz wird auch bestätigt, wenn man danach fragt, welche Beweggründe in den thukydideischen Historien am häufigsten genannt werden: Dies sind Angst, Kalkül, Machtstreben und Notlagen.52 Orakelweisungen dagegen, die bei Herodot

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Thompson 1969, Schneider 1974 und Westlake 1989, siehe ferner Stahl 1966 mit einer verwandten Fragestellung. Verwiesen sei auch auf Huart 1968, dessen Gegenstand „Le vocabulaire de l’analyse psychologique dans l’œuvre de Thucydide“ ist. Vergleichende Überlegungen zur Motivation bei Herodot und Thukydides bieten Stahlenbrecher 1952, 143–163, Huber 1965, 195f., Montgomery 1965, 69–71, 238–241, de Romilly 1971, 333, 337, und Baragwanath 2008, 82–87. Zu sonstigen Bezügen zwischen Herodot und Thukydides siehe etwa Hunter 1982, Cobet 1986, Rood 1999, Rösler 2002, Grethlein 2005 und 2008. Das wurde p. 24–30 näher ausgeführt. Eine solche Auffassung vertreten Stahlenbrecher 1952, 143–163, Huber 1965, 195f., und de Romilly 1971, 333, 337. (Ähnliche Einschätzungen lassen sich auch dort finden, wo es den Verfassern nicht speziell um die Handlungsmotivation zu tun ist. So gelangt Grethlein 2008, 138, zu dem Urteil, Thukydides lehne „den Versuch ab, Geschichte moralisch oder theologisch zu deuten.“) – Anders als die genannten Forscher kommt Thompson 1969, 160, zu dem Schluß, für Thukydides stünden „personal considerations“ als Motive im Vordergrund, siehe übereinstimmend auch Westlake 1989, vor allem 208. Dies entspricht dem geringeren Textumfang seines Werks, das nur etwa zwei Drittel so lang ist wie das des Herodot (cf. Flory 1980, 16). Für die Bücher I und II zusammengenommen sind Emotion/Charakter, Gesellschaft und Politik je etwa 70mal belegt, äußere Einflußnahmen knapp 50mal, Ökonomie 20mal und Religion elfmal. Thompson 1969, der nicht quantifizierend, sondern qualifizierend vorgeht, kommt zu einem vergleichbaren Ergebnis; neben Angst (δέος) und Vorteil (ὠφελία) macht er als drittes wichtiges Motiv die Ehre (τιµή) aus.

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5. Handlungsmotive bei Aischylos und bei Thukydides

zu den zentralen Motiven gehören, kommen ebenso wie Zorn oder Strafe und Rache vergleichsweise weniger häufig vor.53 Innerhalb der einzelnen Bereiche setzt Thukydides ebenfalls eigene Schwerpunkte. Die Bandbreite emotional und charakterlich begründeter Motive ist bei ihm geringer als bei Herodot. Neben Angst begegnet gelegentlich auch Zorn, und vereinzelt die Motive Neid, Bewunderung, Freude, Neugier, Mißtrauen, Gram, Überdruß, Reue und Stolz. Liebe und sexuelles Begehren sind – darauf wird noch zurückzukommen sein – nur ein einziges Mal thematisiert. Hybris, Wahn, Bosheit und Scham dagegen werden nirgends als Beweggründe benannt. Auch das Inventar religiöser Motive ist im Vergleich zu Herodot eingeschränkt. Träume und ausdrückliches göttliches Geheiß kommen nicht vor, und Orakel werden mitunter nur noch als Bestätigung eines bereits geplanten Vorhabens aufgefaßt. (Gleichwohl gibt es auch bei Thukydides Orakelweisungen, die eine Initiative überhaupt erst anstoßen oder die die Entscheidungsträger dazu bringen, von einem geplanten Vorhaben abzurücken.54 ) Besonders markant aber sind die Verschiebungen dort, wo es um politische und militärische Aspekte und externe Einflüsse geht. Anders als in den bisher genannten Bereichen zeichnet sich hier gegenüber dem herodoteischen Repertoire keine Einschränkung, sondern eine Erweiterung ab. So werden Kalkül – sei es in bezug auf militärstrategische Erfordernisse oder einen erhofften Vorteil (ὠφελία) –, Machtpolitik, Notlagen und Sachzwänge deutlich stärker gewichtet. Das Motiv der Feindschaft wird inhaltlich ausgeweitet; Thukydides bezieht sich nicht mehr ausschließlich auf die Feindschaft zwischen Städten, sondern auch zwischen Einzelpersonen.55 Persönlichen Feindschaften innerhalb der Bürgerschaft spricht er immer wieder große Bedeutung zu, etwa wenn die Gegner des Alkibiades den Hermenfrevel aufgreifen, um gezielt Gerüchte zu schüren, die Alkibiades schaden sollen.56 Thukydides führt außerdem fünf vollkommen neue politische Motive ein. Die Wertschätzung der Demokratie57 , der Wunsch nach Frieden, Pflichtbewußtsein, Bündnistreue und das Einhalten von Verträgen treten neben die aus Herodot bekannten Beweggründe wie Heimat- und Freiheitsliebe.

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Daß Thukydides Rache als Erklärung grundsätzlich ablehnt, wie de Romilly 1971, 333, meint (siehe auch Montgomery 1965, 70f.), ist dagegen meiner Einschätzung nach unzutreffend, siehe die oben in n. 41 auf p. 169f. angegebenen Belege für Buch I. Thuk. I 25,1–3; 103,2; 126,3–5; 134,3; III 104,1; V 32,1; 116,1. Vergleichbar starr fixierte Gegnerschaften einzelner Akteure kommen bei Herodot kaum vor. Entsprechende Handlungen werden bei ihm sehr konkret auf eine bestimmte Tat des anderen zurückgeführt, die den Zorn oder die Rache des Betroffenen hervorruft. Die einzige Ausnahme ist Hdt. VI 65,2, wo eine persönliche Feindschaft als Beweggrund angeführt wird. Thuk. VI 28,1. Das dem entgegengesetzte Motiv derjenigen, die andere Verfassungen durchsetzen wollen, schiene mir hingegen mit „Wertschätzung der Oligarchie“ bzw. „Wertschätzung der Tyrannis“ nicht treffend charakterisiert. Wie Thukydides anläßlich entsprechender Situationen deutlich macht, geht es den Handelnden um die eigene Machtstellung, nicht um eine grundsätzlich von ihnen bevorzugte Verfassung (siehe etwa VIII 64).

5.2. Das Geschichtswerk des Thukydides

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5.2.2. Der Stellenwert politischer Handlungsmotive Ein Beispiel für die Verbindung gleich mehrerer dieser Motive bietet die Schilderung der ersten Bundesgenossenversammlung der Spartaner im Jahr 432 v. Chr.58 In dieser Versammlung wird darüber verhandelt, ob ein Krieg gegen Athen begonnen werden soll; am Ende aber entscheiden die Spartaner nur über die aus ihrer Sicht zunächst drängende Frage, ob Athen als vertragsbrüchig zu betrachten sei. Neben den Erwartungen ihrer Freunde und Stammesverwandten59 und den Sitten ihrer Väter60 werden in dieser Debatte vorrangig politische Argumente angeführt: Die spartanischen Redner beschwören Freiheitsliebe, Gesetzestreue und Bündnistreue ihrer Landsleute61 und erörtern den Zuhörern verschiedene taktische Optionen.62 Der Erzähler seinerseits bewegt sich auf derselben Linie. Wenn er als entscheidendes Kriegsmotiv der Spartaner ihre Sorge über die wachsende Macht der Athener ausmacht,63 so setzt er damit gegenüber den ideellen Beweggründen, die die Beteiligten selbst namhaft machen, zwar einen anderen Akzent, bleibt aber in seiner Argumentation politisch. Dennoch scheint es mir nicht angemessen, bei Thukydides von einem absoluten Vorrang des Politischen zu sprechen, da der Historiker mitunter zu ganz gegenteiligen Einschätzungen kommt. Das eindrücklichste Beispiel dafür liefert sein Exkurs über die Tyrannenmörder.64 Der verbreiteten politischen Interpretation, derzufolge die Ermordung des Hipparchos im Jahr 514 v. Chr. auf die Beseitigung der Tyrannis in Athen abgezielt habe, setzt er eine gänzlich unpolitische Erklärung entgegen: Aristogeiton habe Hipparchos aus Liebesschmerz und Angst töten wollen, da dieser seinen Geliebten Harmodios umwarb.65 Harmodios seinerseits habe sich dem Vorhaben angeschlossen, weil der von ihm zurückgewiesene Hipparchos die Ehre seiner Schwester verletzt hatte.66 In größter Wut, so der thukydideische Erzähler, verübten daher die beiden Verschwörer ihre Rache.67 Diese Darstellung der Ereignisse ist eine deutliche Absage an jeden Versuch, das Geschehen politisch interpretieren zu wollen: Liebe, Angst, Zorn, Ehre und Rache haben dem Erzähler zufolge die Mordtat motiviert und eben nicht der Wunsch nach Freiheit und Demokratie.68 Die dem Autor erkennbar am Herzen liegende Wahrheit über die Tyrannenmörder mag ein Sonderfall sein; Parallelen lassen sich aber auch in ganz nebensächli58 59 60 61 62 63 64

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Thuk. I 67–87. Diese werden in der Rede der Korinther formuliert (Thuk. I 68–71). Auf diese hebt der spartanische König Archidamos in seiner Rede ab (Thuk. I 80–85, hier 85). Thuk. I 84,1 (Freiheitsliebe); 84,3 (Gesetzestreue); 86,2.3 (Bündnistreue). Thuk. I 80–82. Thuk. I 88; 118,3. Thuk. VI 54–59, siehe auch I 20. Weiterführend sei hier lediglich auf den aktuellen Diskussionsbeitrag Schweizer 2009 und die dort, 246–250, gegebenen bibliographischen Angaben verwiesen, sowie auf Grethlein 2010, 214–220. Thuk. VI 54,3. Thuk. VI 56,1; 57,3. Thuk. VI 57,3. Die anhaltende Forschungsdebatte über die wahren Hintergründe des Mordes an Hipparchos zeigt jedoch, daß es Thukydides nicht gelungen ist, mit seiner Darstellung das letzte Wort zu behalten. Siehe dazu Wilson 1979, 47–51, Rood 1998, 26–31, Funke & Haake 2006, 376– 379.

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5. Handlungsmotive bei Aischylos und bei Thukydides

chen Schilderungen finden, wo es gar nicht darum geht, einer bestimmten Meinung zu widersprechen, und wo dennoch ein naheliegendes sachliches Motiv nicht als ausschlaggebend benannt wird. Ein Beispiel bietet die Befestigung von Pylos: Als Demosthenes aus strategischen Gründen dazu rät, das günstig gelegene Vorgebirge zu befestigen, hören die anderen athenischen Feldherren und ihre Mannschaften nicht auf ihn. Sie laufen Pylos nur deshalb an, weil ein Unwetter sie an der Weiterfahrt hindert, und schließlich ist es der reine Überdruß, der die untätigen Soldaten dazu bringt, sich nach einer Beschäftigung umzusehen und den Platz doch noch zu befestigen. Nicht etwa aus Einsicht, sondern nur, um der Langeweile zu entgehen, sind sie nun sogar bereit, sich in Ermangelung geeigneten Werkzeugs passende Steine zusammenzusuchen und den notwendigen Lehm, für den es an zweckmäßigen Behältern fehlt, auf dem Rücken herbeizutragen, um Mauern zu errichten.69 Ein strategisches Motiv benennt Thukydides nicht. Aufschlußreich in bezug auf den Stellenwert politischer Motive ist auch ein direkter Vergleich der Begründung von Ereignissen, die sowohl bei Herodot als auch bei Thukydides besprochen werden.70 Alle Belege finden sich in der Vorgeschichte des Kriegs in Buch I, wo verschiedentlich auf die Perserkriege Bezug genommen wird.71 Dabei geht es zunächst um zwei militärische Entscheidungen der Perser unter Xerxes. Thukydides läßt seinen Erzähler als eine allgemein bekannte Tatsache erwähnen, daß im zehnten Jahr nach der Schlacht von Marathon der Barbar wieder mit einem großen Heer ins Land gekommen sei, in der Absicht, Griechenland zu unterwerfen.72 Gegenüber der breiten Darstellung von Xerxes’ Kriegsentscheidung bei Herodot73 haben wir es hier mit einer fast beiläufigen Bemerkung zu tun; der thukydideische Erzähler interessiert sich an dieser Stelle gar nicht näher für die Perser, die in ὁ βάρβαρος summarisch abgehandelt sind, und für ihre Entscheidungsfindung. Während sein Vorgänger, wie wir gesehen haben, zur Erklärung des Xerxeszugs sein gesamtes Motivrepertoire aufbietet – von Rache und Ehre über familiäre Traditionen, den Wunsch nach Expansion und Besitzgier bis hin zu göttlichem Geheiß, um nur einige Beispiele zu nennen –, beschränkt Thukydides sich in einem Satz auf das, was er als den Kern der Sache ausmacht: Die Perser wollen über Griechenland herrschen. Das ist kein Gegensatz zu Herodots Darstellung, aber eine radikale Verengung auf den machtpolitischen Aspekt. Eine zweite Entscheidung der Perser wird bei Thukydides von den Athenern kommentiert. In der bereits erwähnten Versammlung in Sparta kommt auch eine athenische Gesandtschaft zu Wort, die zufällig vor Ort ist und die Gelegenheit nutzen will, die Spartaner zu beschwichtigen.74 Die Gesandten wollen den Zuhörern die Größe und Bedeutung Athens vor Augen führen und berufen sich daher auf ih69 70

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Thuk. IV 3f. Die entsprechenden Belegstellen sind erwartungsgemäß nicht sehr zahlreich; will Thukydides doch gerade nicht über die vergleichsweise unbedeutenden früheren Kriege schreiben (Thuk. I 1), mit denen sich Herodot befaßt hat. Zur Bezugnahme auf die Perserkriege bei Thukydides siehe Tzifopoulos 1995 und Rood 1999. δεκάτῳ δὲ ἔτει µετ’ αὐτὴν αὖθις ὁ βάρβαρος τῷ µεγάλῳ στόλῳ ἐπὶ τὴν ῾Ελλάδα δουλωσόµενος ἦλθεν. (Thuk. I 18,2.) Hdt. VII 5–19, siehe dazu im einzelnen oben, p. 139–143 und 117f. Zur Rede der Athener in Sparta siehe de Romilly 1947, 205–229, und Raubitschek 1973.

5.2. Das Geschichtswerk des Thukydides

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re Verdienste in den Perserkriegen. Unter anderem verweisen sie auf die Schlacht von Salamis; diese sei es gewesen, die die Perser daran gehindert habe, den Peloponnes zu verheeren. Den größten Beweis dafür, so die Athener, habe der Barbar selbst gegeben, denn nach der Niederlage in der Seeschlacht zog er sich mit dem Großteil seines Heeres zurück, weil er seine Macht unterlegen glaubte.75 Damit teilen die thukydideischen Athener zwar Herodots Einschätzung, was die Bedeutung dieser Schlacht,76 nicht aber, was die Beweggründe der Perser für ihren Abzug betrifft. Während Herodot die Todesangst des Xerxes in den Vordergrund rückt,77 zielt die Erklärung der Athener bei Thukydides auf die militärische Ausweglosigkeit der Situation ab. Auch dies ist wiederum nicht unbedingt ein Gegensatz, zumal auch Herodot die persische Niederlage als vernichtend darstellt. Während er aber die Angst des Königs als letztendlich ausschlaggebend benennt, ist es bei Thukydides die Überlegung zur Ungleichheit der Kräfte, die die Perser zum Rückzug bewegt. Wenn die Athener in ihrer Rede anschließend darauf abheben, sie hätten seinerzeit sogar ihre Stadt aufgegeben, da sie es für ihre Pflicht hielten, Griechenland zu retten und ihre Verbündeten zu schützen,78 so ist auch hier der Akzent deutlich anders gesetzt als bei Herodot. Zwar schildert dieser ebenfalls die bedrohliche Situation, die sich aus dem Anrücken der Perser ergibt,79 die Überlegungen der Athener im Vorfeld der Entscheidung80 und die Bedeutung ihrer freiheitsliebenden Haltung.81 Letzten Endes aber verlassen die Athener seiner Darstellung zufolge deshalb ihre Stadt, weil sie den Spruch des delphischen Orakels befolgen wollen und im Verschwinden Athenas in Gestalt der heiligen Schlange von der Akropolis ein Zeichen sehen.82 Herodot stellt also eher den konkreten Anlaß als ausschlaggebend dar, während in der Rede bei Thukydides auf die grundlegenden Überzeugungen der Protagonisten abgehoben wird.83 Eine generelle Regel, derzufolge Thukydides gegenüber Herodots Darstellung das Politische in den Vordergrund rücken würde, läßt sich jedoch nicht aufstellen, da auch das Gegenteil belegt ist. Ich denke hier an eine weitere Belegstelle aus der Rede der athenischen Gesandten, die am Rande erwähnen, die anderen griechischen Städte hätten sich seinerzeit den Persern aus Angst um ihr Land (δείσαντες [. . . ] περὶ τῇ χώρᾳ) ergeben, anstatt gegen sie zu kämpfen.84 Hier ist es die thukydideische 75 76 77 78 79 80 81 82 83

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τεκµήριον δὲ µέγιστον αὐτὸς ἐποίησεν· νικηθεὶς γὰρ ταῖς ναυσὶν ὡς οὐκέτι αὐτῷ ὁµοίας οὔσης τῆς δυνάµεως κατὰ τάχος τῷ πλέονι τοῦ στρατοῦ ἀνεχώρησεν. (Thuk. I 73,5.) Cf. Hdt. VII 139. Hdt. VIII 97, siehe dazu oben, p. 142. Thuk. I 74,1–3. Im Grunde ist diese Bedrohung das eigentliche Thema der Bücher VII und VIII. Besonders konzentriert im Rat des Themistokles (Hdt. VII 140–144). Hdt. VII 139,5.6. Hdt. VIII 41, siehe dazu oben, p. 70f. Dies mag freilich weniger auf eine unterschiedliche Meinung der beiden Historiker zurückzuführen sein als auf die Tatsache, daß bei Thukydides nicht der Erzähler spricht, sondern die Athener selbst, die ihre Entscheidung in ein möglichst günstiges Licht rücken wollen und deshalb die Selbstlosigkeit ihrer Motive – Heimatliebe, Pflichtbewußtsein und Bündnistreue – betonen. Thuk. I 74,4. Siehe ferner auch III 62,4, wo die Thebaner ihr Medisieren damit rechtfertigen, daß sie von ihren Tyrannen gezwungen worden seien, die Perser zu unterstützen.

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5. Handlungsmotive bei Aischylos und bei Thukydides

Darstellung, in der ein Gefühl – Angst – thematisiert wird, während Herodot das perserfreundliche Verhalten diverser Städte in erster Linie auf sachliche und politische Gründe zurückführt:85 Die Griechen, die entlang des Wegs des Perserheeres leben, werden schlicht gezwungen, sich an dem Feldzug zu beteiligen,86 die Argeier wollen, verschiedenen Versionen zufolge, entweder der spartanischen Herrschaft entgehen, sich die Wertschätzung des Xerxes erwerben oder mehr Macht erringen,87 und die Thessaler folgen der alternativlosen Notwendigkeit, handeln ὑπὸ ἀναγκαίης, da die anderen Griechen den Tempepaß preisgegeben haben.88 Diese differenzierte Analyse unterschiedlicher politischer und strategischer Situationen wird in der Rede bei Thukydides auf die Angst der Poleis um den eigenen Landbesitz reduziert. In einer ganz anderen Frage, nämlich der Verbannung der angeblich blutschuldigen Familien aus Athen, ist es wieder Herodots Darstellung, die nicht nur differenzierter ist, sondern auch mehr auf die politische Dimension abhebt. Zwar referiert Herodots Erzähler auch die offizielle Begründung, mit der Kleomenes die Verbannung des Kleisthenes und 700 athenischer Familien habe rechtfertigen wollen, nämlich deren Blutschuld, doch er gibt klar zu verstehen, daß Kleomenes eigentlich seinem Gastfreund Isagoras gefällig sein will, der seinerseits in Parteistreitigkeiten der Bürgerschaft von Athen verstrickt ist.89 Während Herodot diese Hintergründe des Geschehens ausleuchtet, beschränkt sich der thukydideische Erzähler darauf, mit dem Fluch der Göttin gewissermaßen nur die offizielle Darstellung anzuführen.90 Diese Gegenüberstellung macht erneut deutlich, daß das Etikett des Politischen der Vielfalt und Komplexität der bei Thukydides gebotenen Handlungserklärungen nicht gerecht wird. Auch im konkreten Vergleich zur Erklärung derselben Ereignisse bei Herodot heben die thukydideischen Motivzuschreibungen zwar in einigen Fällen stärker auf politische Aspekte ab, aber eben nicht durchgängig.91

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Zu Herodots Darstellung der unterschiedlichen Positionierung griechischer Poleis gegenüber den Persern in VII 131–178 siehe Vannicelli 2004. Hdt. VII 108,1. Hdt. VII 149; 150; 152,3. In der ersten Version spielen auch ein Orakel und Angst, in der zweiten außerdem die Bitten des Xerxes und sein Appell an die gemeinsame verwandtschaftliche Abkunft der Perser und Argeier von Perseus und Andromeda eine Rolle. Hdt. VII 172–174, griechisches Zitat 172,1. Siehe ferner Hdt. VIII 26,1 und 116, wo es sich aber um kleinere Personengruppen, nicht um Städte handelt, die die Perser unterstützen. Hdt. V 70–72, siehe dazu oben, p. 69f., wo herausgearbeitet wurde, daß Herodot die Rechtfertigung des Vorgehens durch den Fluch als reinen Vorwand darstellt. Thuk. I 126,12. Hugo Montgomery vermutet, daß der unzutreffende Eindruck, Thukydides unterscheide sich in diesem Punkt grundsätzlich von Herodot, darauf zurückzuführen sei, daß bei Thukydides die „Gefühlswallungen bei Kollektiven auf[treten], was den dargestellten ursächlichen Zusammenhang realistischer erscheinen lässt, als wenn sie auf Einzelpersonen bezogen sind. Denn wenn ein Grosskönig von Staunen, Zorn oder Furcht ergriffen wird und deshalb unüberlegt handelt, so scheint dies, wenigstens in den Augen moderner Leser, befremdend. Wenn sich hingegen eine Volksmasse von Gefühlswallungen hinreissen lässt, erscheint uns die Behauptung glaubwürdiger, obgleich der Wahrheitsgehalt derartiger Aussagen natürlich höchst zweifelhaft und schwer zu beweisen ist“ (Montgomery 1965, 70). Zu Herodot als politischem Denker siehe auch Raaflaub 1987.

5.2. Das Geschichtswerk des Thukydides

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Eine dezidierte Auseinandersetzung mit den Thesen seines Vorgängers oder gar eine Gegendarstellung dazu scheint, was die Zuschreibung von Handlungsmotiven betrifft, im übrigen nicht die Absicht des Autors gewesen zu sein. Thukydides stimmt, wie gezeigt werden konnte, in der historischen Analyse möglicher Handlungsmotive prinzipiell durchaus mit Herodot überein. Letztendlich ist es eine Frage der Gewichtung verschiedener Faktoren, wenn Thukydides einzelne Aspekte aus Herodots Darstellung herausgreift und als ausschlaggebend in den Vordergrund stellt. Dabei ist zu bedenken, daß die zuletzt besprochenen Ereignisse zwar alle außerhalb des eigentlichen Themas von Thukydides’ Werk liegen und es sich deshalb (von den Hintergründen der Räumung Athens abgesehen) um vergleichsweise nebensächliche Bemerkungen handelt. Die Eingrenzung seiner Fragestellung auf den Peloponnesischen Krieg tut aber nun der Tatsache keinen Abbruch, daß die historischen Ereignisse, um die es hier geht, von Thukydides prinzipiell als durchaus bedeutend betrachtet werden; läßt er doch den Perserkrieg als das wichtigste Geschehen der Vergangenheit gelten.92 Man wird deshalb mit Sicherheit annehmen dürfen, daß Thukydides sich auch über die Ereignisse des Jahres 480/479 v. Chr. eine fundierte Meinung gebildet hatte.93 Gerade in knapp hingeworfenen und unbetonten Randbemerkungen, wie es die besprochenen Belegstellen sind,94 kann die Meinung des Autors daher durchaus adäquat zum Ausdruck kommen. 5.2.3. Motive der Zeitgeschichte Im Vergleich der beiden Historiker läßt sich zeigen, daß es sich bei den Motivzuschreibungen nicht um Universalien handelt, die von den Entstehungsbedingungen eines Werks völlig unabhängig wären. Zwei Punkte erscheinen mir dabei bedenkenswert. Erstens verändert sich die Handlungsmotivation bereits mit der Verengung des historischen Gegenstands auf hauptsächlich politisch-militärische Vorgänge. Wo beispielsweise Frauen gar nicht erst vorkommen – und bei Thukydides erschöpft sich ihre Bedeutung bis auf wenige Ausnahmen in der stereotypen Erwähnung, daß Frauen und Kinder in Sicherheit gebracht oder nach der Eroberung einer Stadt in die Sklaverei verkauft werden95 –, dort ist der Spielraum des Historikers, Motive wie eheliche Liebe und sexuelles Begehren zu thematisieren, von vornherein beschränkt.96 Die

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Thuk. I 23,1. Zur Bedeutung der Perserkriege für Thukydides siehe Rood 1999. Die Diskussion der Beweggründe der Athener für die Aufgabe ihrer Stadt (Thuk. I 74,1–3) ist, wie gesagt, die einzige Ausnahme. Hier handelt es sich nicht um die Erwähnung eines als allgemein bekannt vorausgesetzten Zusammenhangs, sondern um ein sorgfältig ausgestaltetes Kernstück der athenischen Argumentation, hinter der bestimmte Absichten der handelnden Personen stehen. 95 Beliebig herausgegriffene Beispiele dafür sind Thuk. IV 123,4 und V 3,4. 96 Bei Herodot ist das Objekt von Liebe oder Begehren immer eine Frau. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang auch, daß beide Handlungsmotive bei Herodot vor allem nichtgriechischen Akteuren zugeschrieben werden; auch deren Rolle ist bei Thukydides sehr viel geringer.

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5. Handlungsmotive bei Aischylos und bei Thukydides

Möglichkeiten der Handlungsmotivation sind somit nicht nur von der Gattung, sondern innerhalb der Geschichtsschreibung selbst auch vom jeweiligen Sujet abhängig.97 Zweitens macht der Vergleich der beiden Geschichtswerke deutlich, daß zumindest gewisse Motivzuschreibungen konkrete historische Zustände widerspiegeln. Während beispielsweise bei den von Herodot geschilderten Kriegen gegenseitige Waffenhilfe noch spontan und unverbindlich gewährt wird,98 setzt die thukydideische Argumentation institutionalisierte Bündnisse und feste Verträge voraus99 (die freilich immer wieder neu diskutiert und auch gebrochen werden). Ganz augenfällig ist die zeithistorische Gebundenheit von Motivzuschreibungen auch dort, wo Entscheidungen mit der Wertschätzung der Demokratie begründet werden, die es zum Beispiel gegen äußere Feinde zu verteidigen gilt.100 Eine vom Volk beherrschte Stadt wie Argos etwa zaudert nicht lange, lieber ein Bündnis mit Athen zu schließen als mit Sparta, da auch Athen demokratisch verfaßt ist.101 Wenn Thukydides sich mit einem knappen Verweis auf entsprechende Überlegungen der Argeier begnügen kann, setzt er voraus, daß solche Überlegungen seinen Lesern selbstverständlich sind. Die Handlungsmotivation verweist hier somit auf die historischen und kulturellen Gegebenheiten, an die sie gebunden ist. Bewegen wir uns, um die Gegenprobe anzustellen, andererseits mit Herodot im Ägypten des 3. Jahrtausends v. Chr., so ist erwartungsgemäß von Demokratie oder Städtebündnissen nicht die Rede. Der Autor hält in diesem historischen Kontext ganz offensichtlich Rache oder Orakelweisungen für die plausibleren Motive, und dies auch bei politischen Handlungen.102 Auch wenn er an anderer Stelle, wie verschiedentlich zu sehen war, durchaus anachronistische Zuschreibungen trifft, so konnte doch herausgearbeitet werden, daß er tendenziell in den zeitgeschichtlichen Passagen stärker politisch argumentiert als in bezug auf die ferne Vergangenheit.103 Will man nun Herodots Motivinventar speziell für die Zeitgeschichte charakterisieren, so ist festzustellen, daß ideelle politische Motive wie Gesetzestreue und Gerechtigkeitssinn, daneben aber auch politisch-taktisches Kalkül, die Einflußnahme Dritter und Sachzwänge sowie wirtschaftliche Aspekte hier deutlich stärker gewichtet sind. Die Freiheitsliebe ist bei Herodot sogar ein spezifisch zeithistorisches Phänomen. Träume dagegen kommen zur Handlungsbegründung in den Büchern V bis IX (von Xerxes einmal abgesehen) überhaupt nicht mehr vor. Die Parallelen eines solchen Vergleichs verschiedener Erzählstränge innerhalb der Historien gegenüber dem Vergleich von Herodot und Thukydides drängen sich auf: Hier wie dort war die Tendenz zu erkennen, bei zeitgenössischen Ereignissen 97 98 99 100 101 102 103

Diesen Zusammenhang vermutet schon Montgomery 1965, 70, ohne der Frage jedoch näher nachzugehen. Siehe dazu oben, p. 111f. Etwa in Thuk. I 53,4; 86; 107,7; V 30, um einige beliebige Beispiele zu nennen. Argos: Thuk. V 44,1; VI 61,3. Athen: I 107,5.6; VIII 21; 53,2; cf. auch 82,1; 89. Kerkyra: III 81. Mantineia: V 29,1. Thuk. V 44,1. Die alte Freundschaft zwischen den beiden Städten und die Hoffnung auf eine schlagkräftige Unterstützung durch die Athener werden ebenfalls als Motive genannt. Etwa Hdt. II 29,5; 100. Siehe dazu im einzelnen p. 87f.

5.2. Das Geschichtswerk des Thukydides

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politisch begründete Motive und externe Faktoren stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Diese Beobachtung gestattet uns weitergehende Schlüsse: Die Handlungsmotivation der beiden Autoren ist demnach nicht grundsätzlich verschieden. Vielmehr setzt sich bei Thukydides eine Entwicklung fort, die sich bereits innerhalb der Historien Herodots abzeichnet. Diese Entwicklung ist gekennzeichnet durch eine zunehmende Betonung politischer Zusammenhänge, vor allem unter Berücksichtigung von Diskursen, die für die Autoren gegenwärtig aktuell waren (Freiheit und Demokratie), sowie durch die zunehmende Betonung von Sachzwängen und anderen äußeren Einflüssen, teilweise auch von wirtschaftlichen Aspekten. Dabei haben auch emotional oder charakterlich, gesellschaftlich und religiös begründete Motive weiterhin ihren Platz (etwa Angst, Zorn, Ehre, Freundschaft oder Orakel, um nur einige zu nennen). Innerhalb dieser Bereiche zeichnen sich aber auch gewisse Einschränkungen ab, wie vor allem darin deutlich wird, daß Träume als Erklärungsmuster wegfallen.104 Die These von der Politisierung bei Thukydides hat also auch im Hinblick auf die Handlungsmotive eine gewisse Berechtigung. Sie gilt aber nicht uneingeschränkt, da Motive wie Angst, Ehre oder Orakel, die aus heutiger Sicht wohl schwerlich als »politisch« und »rational«105 einzustufen wären, bei Thukydides durchaus noch ihren Platz haben. Wichtig ist daher die Feststellung, daß es hier gegenüber Herodot keinen Bruch gibt. Dies fügt sich in das in der Diskussion der letzten Jahre gewonnene Bild, wonach die Nähe von Herodot und Thukydides in vielerlei Hinsicht größer ist, als in der älteren Forschung angenommen:106 „In interpreting Herodotus, Thucydides rethought his predecessor’s modes of presentation, subject, and themes. He adopted Herodotus’ treatment of war by campaign seasons for his whole narrative. Significant echoes from Herodotus gave focus and power to his narrative. While continuing and expanding the theme of suffering, he gave more importance to the polis, seen as a unit and a historical actor. Thucydides took over and further developed Herodotus’ narrative techniques, including authoritative statements by the narrator, speeches, vivid description, and dialogue“.107

Dies gilt auch für Herodots Handlungmotivation, die Thukydides aufgreift und weiterentwickelt. Der Nachweis, wie umfangreich und ausdifferenziert das von Thukydi104 Ob Träume als Handlungsmotive in Betracht gezogen werden, ist meiner Einschätzung nach aber auch eine Frage des Quellenmaterials. Für Herodot konnte gezeigt werden, daß es sich um ein Spezifikum der Darstellung griechischer Geschichte handelt, daß Träume als irrelevant für die Handlungsmotivation betrachtet werden. In seinen Quellen zur ägyptischen und persischen Geschichte dagegen fand Herodot offenbar entsprechende Motivzuschreibungen vor, die er in seinem Werk aufgreifen konnte. 105 Zur Rationalität bei Herodot und Thukydides siehe den jüngst erschienenen Beitrag von Rubincam 2012. Es stellt sich allerdings die grundsätzliche Frage, ob »Rationalität« überhaupt eine hilfreiche Kategorie für die Interpretation antiker Geschichtsschreibung sein kann. 106 Zu nennen sind vor allem Grethlein 2010, 149–280, und der wegweisende Beitrag von Stadter 2012, sowie Blösel 2012, Scardino 2012 und Stahl 2012. Siehe zur Zusammenfassung des aktuellen Diskussionsstandes Rengakos 2011, 372f. 107 Stadter 2012, 63.

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5. Handlungsmotive bei Aischylos und bei Thukydides

des gebotene Spektrum an Motiven ist, und auch die Tatsache, daß dieses gegenüber Herodots Inventar von Motiven unter dem Einfluß aktueller Debatten in mancher Hinsicht verengt, in anderen Punkten erweitert wurde, stärkt meine eingangs aufgestellte These, daß beide Historiker auf Handlungsmotive zurückgreifen, die bereits als abgrenzbare Kategorien in der Vorstellungswelt der Griechen verankert waren.108 Wo Herodot freilich die Geschichte einer Entscheidung erzählt und so die ihr zugrundeliegenden Motive sichtbar macht, werden die Beweggründe bei Thukydides sehr viel häufiger explizit benannt. Was die narrativen Techniken betrifft, so gibt Thukydides in Übereinstimmung mit dem Vorgehen bei Herodot Motivangaben zwar durchaus auch aus der Perspektive der Handelnden wieder,109 behält sie aber in den meisten Fällen dem Erzähler vor.110 Dort, wo der Erzähler spricht, führt er jedoch, anders als der herodoteische Erzähler es immer wieder tut, nicht verschiedene Versionen auf, sondern bietet nur eine einzige Erklärung an.111 Die von Herodot in Anleihe an die Tragödie entwickelte Technik, verschiedene Meinungen gegeneinanderzustellen und gegebenenfalls auch so stehenzulassen, wird bei Thukydides zugunsten einer eindeutigen Entscheidung aufgegeben, bei der alternative Deutungen von Handlungsmotiven keinen Platz mehr haben.112

108 Siehe p. 23. 109 Die Reden dienen, wie bei Herodot, dann in der Regel dazu, verschiedene mögliche Motive, die gegeneinander stehen, abzuwägen. Ein Beispiel bietet die Nikiasrede in Thuk. VI 9–14. 110 Zu den Erzählperspektiven bei Thukydides siehe Rood 2004 und Rengakos 2006b. Wie Thompson 1969, 158, zutreffend feststellt, stimmen die in den Reden der Protagonisten genannten Motive grundsätzlich mit dem überein, was der Erzähler sagt. 111 H. D. Westlake deutet diesen Unterschied dahingehend, daß Herodot sich häufiger unsicher sei (Westlake 1989, 221, n. 1). Der Verfasser geht bei seiner Einschätzung freilich davon aus, daß die bei Thukydides angegebenen motives and feelings keine Zuschreibungen, sondern authentische historische Tatsachen sind (219f.; cf. ebenso Thompson 1969, 165). 112 Die einzigen Belegstellen für eine Diskussion verschiedener Interpretationen von Handlungsmotiven sind der oben besprochene Peisistratidenexkurs in Thuk. VI 54–59 und die schwer durchschaubaren Absichten des Tissaphernes, die in VIII 46,5 und 56,2.3 bereits skeptisch angesprochen, in 87 dann von allen Seiten beleuchtet werden, ehe der Erzähler zwar seine eigene Meinung ausdrückt, die Frage letztendlich aber offen läßt. Cf. auch Montgomery 1965, 75–77, mit einer Zusammenstellung von Belegstellen dafür, daß der Autor möglicherweise eine Unsicherheit oder Distanzierung zum Ausdruck bringen will, etwa durch ein einführendes λέγεται, sowie Westlake 1989, 202.

6. ERGEBNISSE Die Frage nach den Motiven historischer Akteure ist für Herodot fundamental. Er entwickelt in seinem Werk ein umfassendes und elaboriertes Inventar von Beweggründen, das ihm die präzise Einordnung und Erklärung menschlichen Handelns ermöglicht. Im ersten Kapitel wurde dargelegt, daß sich in den Historien emotional und charakterlich, gesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich, ästhetisch, religiös und durch äußere Einwirkungen begründete Motive unterscheiden lassen; im einzelnen umfaßt die erarbeitete Typologie 51 verschiedene Handlungsmotive.1 Eine feste Hierarchie von Motiven oder ein bestimmtes Reihungsschema bei der Aufzählung von mehreren Beweggründen ist nicht zu erkennen. Die große Anzahl von Motiven, auf die Herodot zurückgreifen kann, ihre Vielschichtigkeit und nicht zuletzt die Tatsache, daß Herodot die Frage nach den Handlungsmotiven zu einer zentralen Frage seines Werks macht, verweist auf die Differenziertheit der Diskussionen seiner Zeit. Zwar sind die mündlichen Diskurse des 5. Jahrhunderts für uns nicht mehr unmittelbar zu fassen. Wer aber mit Hans-Joachim Gehrke die Griechische Geschichte als eine Vielzahl von Geschichten begreift,2 kann hier ein frappierendes Beispiel für die Vielgestaltigkeit konkurrierender Geschichtsdeutungen im alten Griechenland finden. Herodot wäre jedoch nicht Herodot, würde er sich damit begnügen, Handlungsmotive nur punktuell zu benennen. In den Historien finden sich wiederkehrende Erklärungsmuster, die auf das Handeln bestimmter Personen(gruppen) oder auf bestimmte Entscheidungen zugeschnitten sind. Diese Erklärungsmuster wurden im zweiten Kapitel aufgezeigt und analysiert.3 Es konnte gezeigt werden, daß zwischen Akteuren der ferneren Vergangenheit und denen der Zeitgeschichte keine grundsätzlichen Unterschiede gemacht werden. Dennoch gibt es einige Besonderheiten der Darstellung zeithistorischer Entscheidungen: Politische Motive, darunter vor allem die Liebe zur Freiheit, fließen hier deutlich häufiger ein als in bezug auf länger zurückliegende Ereignisse, ebenso wirt1 2

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Die Typologie findet sich p. 35–83. Gehrke 2008, 5, schlägt einen Zugang vor, der „die Vielgestaltigkeit der griechischen Geschichte“ besser abbildet, „ihre Fragmentierung in über 1 000 Poleis, in verschiedensten Dimensionen, Regionen, Organisationsformen, auch polisübergreifend. Wir gelangen zu Griechischen Geschichten statt zu Griechischer Geschichte, entwickeln einen Sinn für die Pluralität auf lokaler Ebene sowie für darüber hinaus gehende »ethnische«, regionale und panhellenische Bezüge und Verflechtungen und lernen, konkurrierende Versionen zur Kenntnis zu nehmen; denn bei den Griechen existierte keine einheitliche, etwa auf Herrschaft gestützte und von dort her kontrollierte Erinnerungspflege wie etwa im Alten Orient oder in Ägypten.“ Cf. die englische Version Gehrke 2010, 17f. Oben, p. 85–134.

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6. Ergebnisse

schaftliche Motive, namentlich Bestechung. Umgekehrt kommen hingegen Träume in der Zeitgeschichte kaum als Handlungsmotive vor.4 Dies korrespondiert in Teilen mit den Unterschieden zwischen griechischen und nichtgriechischen Handlungsträgern. Während sich auch bei diesen Akteuren bezüglich der meisten Beweggründe erstaunlicherweise keine Abweichungen ergeben, werden ideelle politische Motive (Freiheitsliebe, Gerechtigkeitsliebe, Gesetzestreue und Feindschaft) ebenso wie Bestechung als materielles Motiv ausschließlich oder vorrangig Griechen zugeschrieben, wohingegen Träume fast ausschließlich im nichtgriechischen Kontext von Bedeutung sind. Diese Unterschiede zwischen Griechen und Nichtgriechen lassen sich teils auf die Heterogenität von Herodots Quellenmaterial zurückführen, teils auf entsprechende Diskurse seiner Schreibgegenwart, die vorrangig in den griechischen λόγοι der Historien aufgegriffen werden.5 Weiter wurden die Handlungsmotive von Männern und Frauen analysiert. Hier lassen sich, anders als zwischen den bisher betrachteten Gruppen, Unterschiede ganz grundlegender Art feststellen. Das Motivrepertoire der weiblichen Akteure ist sehr viel stärker begrenzt als das der männlichen. Es beschränkt sich fast ausschließlich auf Gefühle (unter denen Gram und Scham die wichtigsten sind) und auf gesellschaftliche Motive (vor allem die Fürsorge gegenüber Angehörigen), sowie drittens auf die Sorge um ein gutes Verhältnis zu den Göttern. Angesichts des breiten Spektrums an weiblichen Rollen in den Historien, das Herrscherinnen, Feldherrinnen und Priesterinnen umfaßt und daher politische Handlungsbegründungen durchaus erwarten ließe, sind die Geschlechtervorstellungen, die den Motivangaben für die herodoteischen Frauen zugrundeliegen, sehr konventionell.6 Die Beweggründe kollektiver Akteure stimmen weitgehend mit denen von Einzelpersonen überein; auch sie handeln beispielsweise aus Angst, Zorn, Neid oder Reue. Die jeweiligen Gruppen von Handelnden unterscheiden sich untereinander jedoch deutlich, wie am Beispiel der weitgehend komplementären Motivzuschreibungen an die Spartaner und an die Athener gezeigt werden konnte, die auf eine sehr unterschiedliche Selbstdarstellung der Poleis zurückzuführen sind.7 Auch über die Motive von Göttern und Heroen äußert sich der Erzähler. Göttliche Handlungen werden fast immer als Strafe oder Rache interpretiert, wobei Zorn oder Neid als ergänzende Motive hinzukommen können. Es handelt sich hier ausschließlich um Reaktionen auf ein vorhergehendes menschliches Verhalten. Auffällig ist, daß Herodot seine Motivzuschreibungen an Götter und Heroen wesentlich zurückhaltender formuliert als die an menschliche Protagonisten. Es findet sich keine einzige Zuschreibung an eine Gottheit, die ohne weitere Zusätze stehen bliebe; Verweise auf die Aussagen und Meinungen anderer oder die Diskussion verschiedener Erklärungsmöglichkeiten dienen der Distanzierung Herodots von diesen Mutmaßungen über das göttliche Handeln. Dies weist darauf hin, daß er gerade in diesem Bereich sehr sorgsam geprüft und bedacht haben muß, was seine Quellen an mög-

4 5 6 7

Zu den Akteuren der ferneren Vergangenheit und denen der Zeitgeschichte siehe p. 85–88. Zu griechischen und nichtgriechischen Figuren siehe p. 88–98. Bezüglich geschlechterspezifischer Handlungsmotivation in den Historien siehe p. 98–101. In bezug auf kollektive Akteure siehe p. 101–104.

6. Ergebnisse

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lichen Motivationen vorgegeben haben. Mit seiner skeptischen Haltung ist Herodot intellektuell ganz auf der Höhe der zeitgenössischen Diskussion.8 In einem zweiten Teil der Analyse von Erklärungsmustern wurden bestimmte politische Entscheidungen besprochen, denen sich Herodot mit besonderer Aufmerksamkeit zuwendet: Kriege, Usurpationen und Aufstände, Auswanderungen und Koloniegründungen. Machtinteressen betrachtet der Autor als den wichtigsten Grund für Kriege einzelner Herrscher und Tyrannen – was dem Bild der angeblich unpolitischen und unsachgemäßen Erklärungen Herodots, wie es oft gezeichnet wird, deutlich widerspricht. Rache spielt ebenfalls eine wichtige Rolle (mitunter wird sie freilich als Vorwand entlarvt), daneben Orakelweisungen, Ratschläge und charakterlich bedingte Motive. Bei den Kriegen zwischen griechischen Poleis ist das Motivspektrum größer, und Herodots Erklärungen sind komplexer. Neben den genannten Motiven sind hier vor allem Ehre, Freundschaften und Feindschaften von Bedeutung. Das komplizierte Geflecht innergriechischer Beziehungen erfordert offenbar in der Regel vielschichtigere Motiverklärungen als die Eroberungskriege orientalischer Herrscher. Oftmals ist es dem Erzähler gar nicht möglich, einen Kriegsgrund mit einem Wort oder Satz zu benennen, sondern es scheint ihm erforderlich, die Motive der einzelnen Parteien in einer ausführlichen Geschichte zu erzählen. Die eigentliche Motivangabe liegt in der Narration selbst, in der Stoff und Erklärung zu einer Einheit verschmelzen.9 Ganz eindimensional ist im Vergleich dazu die Motivierung von Usurpationen, die übereinstimmend mit dem Machtstreben der Beteiligten begründet werden. Auch hier sind die Motive also politische. Die Aufstände von Untertanen und Soldaten dagegen werden in den meisten Fällen auf eine Kränkung der Aufständischen durch den jeweiligen Machthaber zurückgeführt, also unpolitisch erklärt.10 In den Geschichten über Auswanderungen sind es Notsituationen und äußere Bedrohung, die die Betroffenen dazu bringen, ihre Heimat zu verlassen; Freiheitsliebe ist dabei ein häufig genannter Aspekt. Dort, wo es um die Gründung neuer Kolonien geht, ist das zentrale Motiv der Akteure in den Historien die Befolgung delphischer Orakelweisungen. Wie am Beispiel von Kyrene anhand anderer literarischer sowie epigraphischer Quellen belegt werden kann, muß das Orakelmotiv bereits vor Herodot Teil der Tradition gewesen sein. Für andere Gründungsgeschichten läßt sich dies mit guten Gründen ebenfalls vermuten, da der Historiker es hier mit entsprechend vorgeformtem Erzählmaterial zu tun hatte. Die Zuschreibung von Freiheitsliebe dagegen scheint zumindest in einigen Fällen auf Herodot selbst zurückzugehen.11 Die Einsichten zu den Motiven und Erklärungsmustern, die in den ersten beiden Kapiteln der Studie gewonnen werden konnten, wurden im dritten Kapitel am Beispiel des Xerxes zusammengeführt und vertieft.12 Xerxes ist diejenige Person in den Historien, über deren Motive sich Herodot mit Abstand am ausführlichsten äußert. Wie bereits in älteren Arbeiten herausgestellt worden ist, sind die Taten des 8 9 10 11 12

Zu den Motivzuschreibungen an Götter und Heroen siehe p. 104–108. Zur Erklärung von Kriegen siehe p. 108–118. Siehe zu den Herrscherwechseln und Aufständen p. 118–121. Zu den Motiven für Koloniegründungen siehe p. 121–134. P. 135–148.

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Perserkönigs von einer irritierenden Ambivalenz geprägt. Einen neuen Zugang zum Verständnis der Xerxesfigur bietet meines Erachtens die Analyse von Herodots Erklärung für den Bau des Athoskanals: Hier wird Xerxes als spezifische und exklusive Eigenschaft die µεγαλοφροσύνη zugeschrieben, ein ebenfalls ambivalenter Begriff, der die beiden Extreme umfaßt, zwischen denen die Figur sich bewegt, Großherzigkeit und Größenwahn. Gleichzeitig stellt Herodot den Bau des Athoskanals aber in den Zusammenhang mit anderen Bauprojekten, indem er darauf verweist, Xerxes habe bei Zeitgenossen und Nachwelt damit Ehre einlegen wollen. Das scheinbar größenwahnsinnige Vorhaben des Xerxes, dessen Nutzen in keinem Verhältnis zu dem dafür betriebenen Aufwand steht, wird mittels gezielter Motivzuschreibung in ein bekanntes und allgemein akzeptiertes Handlungsschema eingeordnet und erscheint so besser nachvollziehbar und verständlich. Damit knüpft Herodot an seine Begründung für den Griechenlandzug des Xerxes an. Der für die Perser verhängnisvolle Kriegsentschluß wird, wie ich zu zeigen versucht habe, in den Historien als eine gute, nachvollziehbare und von rationalen Gründen geleitete Entscheidung dargestellt. Eine richtungsweisende Rolle kommt dabei denjenigen Motiven zu, die in meiner Typologie als konsensfähig eingeordnet wurden. Prestige und Ehre, Sitte und Tradition, Strafe und Rache sowie die Feindschaft gegen Athen sind ausnahmslos solche Motive, die in den Historien als allgemein akzeptiert dargestellt werden. Im Gesamtkontext des Werks und gemäß der Logik der herodoteischen Zuschreibungen erscheint die Entscheidung des Xerxes nicht nur als gerechtfertigt, sondern als unanfechtbar. Herodots Darstellung der Hintergründe von Xerxes’ Entscheidung ist damit klar auf eine zustimmende Haltung der Rezipienten hin angelegt. Über die tatsächlichen Motive des historischen Xerxes können aus heutiger Sicht kaum seriöse Aussagen getroffen werden, wohl aber darüber, welche Handlungsmaximen Xerxes I. in seinen Inschriften propagiert hat. Ein Seitenblick auf die persischen Königsinschriften ermöglicht den Nachweis, daß zentrale Motive, die Herodot dem Xerxes zuschreibt, in Einklang mit der Selbstdarstellung der historischen Achämenidenkönige stehen. Manch eine Erzählung, die sich in den Historien über Xerxes findet, läßt sich als narrative Ausgestaltung der in den achämenidischen Inschriften formulierten Maximen lesen. In deren Kontext kann die Ambivalenz im Verhalten von Herodots Xerxes wenngleich nicht aufgelöst, so doch erklärt werden. Den originär persischen Zügen seiner Figur hat Herodot griechische hinzugefügt, wenn er beispielsweise Xerxes seine Feindschaft gegenüber Athen nach dem Modell griechischer Städtefeindschaften inszenieren läßt. Indem Herodot die Frage nach den Motiven des Xerxes erzählerisch beantwortet, vermeidet er es, scheinbar endgültige Wahrheiten zu postulieren. Wie ein Vergleich mit den Motivzuschreibungen bei Aischylos zeigt, übernimmt der Geschichtsschreiber nicht unbesehen, was er in Erfahrung bringt, sondern grenzt sich gerade in seiner Xerxesdarstellung von verbreiteten Meinungen ab. Das Beispiel des Xerxes belegt somit auch, daß Herodot sich keineswegs darauf beschränkt, Informationen zusammenzutragen. Seine erzählerische Methode erlaubt es, die Frage nach den Handlungsmotiven in komplexer Weise zu erörtern, verschiedenen Aspekten genauer nachzugehen und schließlich zu einem begründeten Urteil zu kommen.

6. Ergebnisse

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Das vierte Kapitel diente als Zwischenbilanz. Die Motivzuschreibungen in den Historien lassen sich auf vier unterschiedliche Ebenen zurückführen, die den verschiedenen Vorgehensweisen Herodots entsprechen:13 Auf der Ebene der Handlung gibt es logisch ableitbare Motive, die dem beschriebenen Vorgang gewissermaßen inhärent sind, wie die Angst auf der Flucht vor den Feinden. Sie sind aus der jeweiligen Situation heraus psychologisch plausibel. Auf der Ebene des Materials sind solche Zuschreibungen anzusiedeln, ohne die eine Erzählung nicht funktionieren würde. Das ist etwa bei den Orakeln in den Gründungsgeschichten der Fall, die ihre Konsistenz und ihre Plausibilität aus der Einheit von Stoff und Erzählung beziehen. Die Ebene der Gegenwartsbezüge bringt Erklärungsmodelle hervor, die in einer aus heutiger Sicht teils anachronistischen Weise auf andere Epochen übertragen werden, wie es beispielsweise für das Konzept der Freiheitsliebe gezeigt wurde. Die aktualisierende Bezugnahme auf zeitgenössische Diskussionen verleiht diesen Zuschreibungen ihre Plausibiliät. Auf der Ebene der historischen Akteure schließlich bezieht sich Herodot zustimmend oder kritisch auf die Selbstzuschreibung von Motiven durch die von ihm dargestellten historischen Personen, etwa im Fall der angeblichen Blutschuld der Alkmeoniden. Mit Hilfe der Unterscheidung dieser vier Bezugsebenen läßt sich zumindest in manchen Fällen mit einiger Sicherheit sagen, ob Zuschreibungen auf Herodot selbst oder auf ältere Quellen zurückgehen. Motivzuschreibungen können damit im besten Fall ein Signal für die Herkunft und das Alter der jeweiligen Tradition sein. Es konnte gezeigt werden, daß dagegen die jeweils gewählten Erzählperspektiven unabhängig von der Herkunft der Motivangaben sind. Selbst wenn man von der Antwort auf die Frage, woher er die Motivzuschreibungen im einzelnen hat, einmal absieht, läßt sich daher von Erklärungen Herodots sprechen: Der Autor der Historien ist es, der die Angaben aus diversen Traditionen und Quellen auch in dieser Hinsicht zu einem Ganzen geformt hat. Die Entwicklung eines vielseitigen Inventars von Beweggründen zur Erklärung historischen Handelns ist seine eigene Leistung. Die Handlungsmotive, die Herodot aufführt, knüpfen gezielt an Erfahrungen der Leser an.14 Einige, wie Freude oder Zwang, sind aus der allgemeinen menschlichen Erfahrung heraus nachvollziehbar, andere wie die Asylie setzen den historischen Erfahrungshorizont der griechischen Lebenswelt voraus, und wieder andere stellen, wie an Beispielen aus den homerischen Epen gezeigt wurde, literarische Bezüge her. Es eröffnet sich damit ein weites Panorama, in dem der Leser die Handlungserklärungen sinnvoll verorten kann. Es konnte in diesem Zusammenhang herausgearbeitet werden, daß die Angabe von Handlungsmotiven in den Historien nicht nur formale erzählerische Aufgaben erfüllt, sondern auch inhaltlich von entscheidender Bedeutung für das Erklären historischer Zusammenhänge ist:15 Durch das konsequent immer neu angestoßene Nachdenken über die Beweggründe historischer Akteure werden zeitlich fernliegende und befremdliche Ereignisse verständlich gemacht, und die Entscheidungen der Handeln13 14 15

Siehe dazu p. 149–155. Siehe dazu p. 156–159. Siehe dazu p. 159–162.

186

6. Ergebnisse

den erscheinen in aller Regel nachvollziehbar und zielgerichtet. Besonders deutlich wird das dort, wo Herodot auf überzeitliche oder aktualisierende Begründungen zurückgreift, um komplexe historische Situationen zu erhellen. Der Rezipient kann sich dadurch in die Handelnden hineinversetzen und sich mit ihnen identifizieren. Die Diskussion über historische Wahrheit erhält dank der immer neu aufgeworfenen Fragen über die Motive der Beteiligten einen zentralen Stellenwert innerhalb der Historien. Umgekehrt dient das Erklären historischer Zusammenhänge bei Herodot auch dazu, im Licht der vergangenen Ereignisse gegenwärtige Probleme besser zu verstehen. Die Leser, die sich mit den Motiven der historischen Persönlichkeiten befassen, werden auf diese Weise dazu angeregt, auch über zeitgenössische Probleme und Entscheidungen nachzudenken. Um die gewonnenen Ergebnisse abzusichern, wurde im fünften Kapitel ein Vergleich mit der Zuschreibung von Handlungsmotiven einerseits in den „Persern“ des Aischylos, andererseits im Geschichtswerk des Thukydides angestellt. Der Vergleich zu den „Persern“ des Aischylos16 hat meine These untermauert, derzufolge die Zuschreibung von Motiven spezifischen Besonderheiten der jeweiligen Gattung angepaßt ist; im Fall der Historien einer Gattung, die den Lesern überhaupt erst nahegebracht werden mußte.17 Die Fokussierung von Motivzuschreibungen durch die handelnden Figuren dient Herodot demnach nicht als Distanzierungsstrategie, die etwa als Ausdruck der Skepsis des Autors gelesen werden könnte. Dort, wo Herodot seinen Protagonisten Motivzuschreibungen in den Mund legt, greift er vielmehr ein Verfahren aus der Tragödie auf: Er verzichtet dann mitunter bewußt auf den auktorialen Erzähler, der sonst in den Historien die wichtigste Instanz der Motiverklärung darstellt, und überläßt es dem Leser, ähnlich dem Zuschauer eines Theaterstücks seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Der Vergleich zwischen den Geschichtswerken des Herodot und Thukydides18 ergab, daß die Handlungsmotivation erstens abhängig ist von der konkret behandelten Thematik und daß sie zweitens je nach dem historischen Kontext, in dem das Werk entstand, variiert. Dies stützt meine Überlegungen zum Erklärungspotential von Motivangaben: Während Motive wie Angst aus grundsätzlichen menschlichen Erfahrungen heraus verständlich sind, sind andere wie die Wertschätzung der Demokratie an spezifische historische und kulturelle Voraussetzungen gebunden. Thukydides setzt eine Entwicklung fort, die schon innerhalb der Historien seines Vorgängers zu beobachten war: Bereits bei Herodot zeichnet sich ab, daß politische Zusammenhänge, Sachzwänge und teilweise auch wirtschaftliche Aspekte in der Zeitgeschichte zunehmend an Bedeutung gewinnen; eine Tendenz, die sich dann bei Thukydides verstärkt, wo die politischen Motive noch deutlich stärker ausdifferenziert sind. Daneben haben aber auch bei Thukydides emotional-charakterlich, gesellschaftlich und religiös begründete Motive weiterhin ihren (durchaus nicht marginalen) Platz. Unter diesen wären etwa Angst, Zorn, Ehre, Freundschaft oder Orakel zu nennen; andere wie die Träume kommen schon bei Herodot in der Zeitgeschichte kaum mehr vor. 16 17 18

P. 164–169. Bezüglich der Etablierung der Geschichtsschreibung als Gattung siehe p. 32. P. 169–180.

6. Ergebnisse

187

Die zunehmende Betonung politischer Motivzuschreibungen bei Thukydides stellt somit gegenüber Herodot keinen Bruch dar. Thukydides bietet ein Repertoire von Motiven, das gegenüber Herodot in einigen Bereichen verengt, in anderen ausdifferenziert ist. Er führt eine Entwicklung fort, die in den herodoteischen Historien nicht nur angelegt, sondern bereits begonnen und damit in entscheidenden Linien vorgegeben ist.19 Diese Ergebnisse fügen sich in die aktuelle Forschungstendenz mit Beiträgen von Philip A. Stadter oder Jonas Grethlein, wonach die Gemeinsamkeiten zwischen Herodot und Thukydides wieder stärker in den Vordergrund gestellt werden. Für die Arbeit mit den herodoteischen Historien als Quelle gewinnen wir nähere Einsichten in die Vorgehensweise des Autors. Herodot argumentiert nicht grundsätzlich »unsachlich« oder »unhistorisch«. Er folgt bestimmten Regeln, wenn er die berichteten Ereignisse kommentiert und deutet, und geht analytisch, aber zusammenhangsbetont vor. In seinen Erklärungen werden, ganz im Sinn einer intentionalen Geschichte,20 zeitgenössische Geschichtsvorstellungen faßbar, wie es unter anderem für den Freiheitsdiskurs oder die Begründung von Kriegen nachzuweisen versucht wurde. Die hier vorgelegte Analyse zeigt aber auch, daß man der in den Historien angelegten Komplexität mit eindimensionalen Interpretationen kaum gerecht werden wird – wie anders ließe sich auch die seit Jahrhunderten immer wieder neu belebte Faszination für Herodot erklären? So ist es, um zum Ausgangspunkt dieser Studie zurückzukehren, nicht möglich, die αἰτίη der Perserkriege aus Herodots Sicht in einem Satz zu resümieren: Ungezählte Ereignisse sind ihm für die Vorgeschichte von Bedeutung, zahlreiche Meinungen und Standpunkte werden von ihm in ausgeglichener Weise einbezogen. Dabei erscheint Herodot als ein interpretierender Erzähler. Schon das beliebige Beispiel eines überschaubaren kleinen Feldzugs – um von den grundlegenden Ursachen der Feindseligkeiten zwischen Griechen und Barbaren ganz zu schweigen – macht deutlich, wie vielschichtig und kompliziert die Gründe für einen Krieg sein können. Persönlicher Ehrgeiz, Machtgelüste und Habgier der Entscheidungsträger fließen als Motive ebenso ein wie militärisch-taktisches Kalkül, die Gefühlslage der Soldaten oder göttliches Geheiß. Bei allen Einwänden, die der moderne Forscher dagegen im einzelnen erheben mag, kommt Herodot der komplexen historischen Realität in der Vielschichtigkeit seiner Erklärungsversuche unter Umständen doch näher, als manch monokausales Erklärungsmodell21 es vermag: Auf der Suche nach historischer Wahrheit ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

19

Wenn Antonios Rengakos die Kronratssitzung zu Beginn von Hdt. VIII als „eine allgemeine Analyse des Imperialismus mit thukydideischen Begriffen (»Mehrhabenwollen«, das Beispiel der Vorfahren etc.)“ auffaßt (Rengakos 2011, 374), ließe sich diese Übereinstimmung auch genau umgekehrt erklären: Thukydides stützt sich auf ein Inventar menschlicher Handlungsmotive, das er bei Herodot bereits elaboriert vorfindet. 20 Siehe dazu p. 17f. 21 Hier ist etwa an die p. 27f. besprochenen Ansätze zu denken.

ANHANG: DIE MOTIVE IM ÜBERBLICK EMOTIONAL UND CHARAKTERLICH BEGRÜNDETE HANDLUNGSMOTIVE

Motiv

Belegstellen

Angst

I 80; 85; 86,6; 107; 108; 117,2; 155,2; 157,1; 160,1; 169,2; II 139; III 1,2.3; 13,3; 25,7; 30,2.3; 31,3–5; 35,4; 124; 130,1; 137,2; 148; IV 43; 115f.; 125,5; 128; 164,3; V 19,1; 35; 92δ,1; 98,3; 124–126; VI 9; 37,2; 74,1; 75,1; 75,2; 77; 95,2; 138,2.3; VII 38; 47,2; 104,4.5; 149,1; 173; 191,1; 207; 213,2; VIII 4,1; 15,1; 36,1; 38,1; 60–63; 72; 74; 86; 94,1; 97,1; 100; 103; 112; 130; 132; 141,1; IX 46; 58,3; 70,4.5; 109,3

Zorn

I 61,2; 73,4; 114,4.5; 117–119; 141; 159; 189,2–190,1; II 121ε,1; 161,4; II 162,5.6; III 1,1.4; 4,2; 11,1; 25,1; 32; 34f.; 126,2; IV 128; 154,4; V 19,2; 33,2.3f.; 42; VI 40,1; 73; 85; 87; 133,1; VII 1,1; 35; 39; 133f.; 137,1; 197,3; 210,1; 229,2; 238; VIII 27–29; 90; 138,1; IX 5; 73; 107,1.2; 110

Hybris

I 8,1; 32,1; 84,3; 189,1; 204,2; II 111,1.2; IV 164,4; V 81,2; VI 137,3; VII 38,1; 210,1; IX 3

Wahn

III 25,2; 29,1; 30,2–33; 34–35,4; 35,5; 36,3–37,1; 37f.; 85,2; VI 75,1; 75,3

Bosheit

II 121δ,6; III 120,1.2; 145f.; V 98,1; VI 49,2; 108,2.3; VII 239,2

Neid

III 30,1; IV 205; VI 61,1; VIII 109,3; 124,1; 125,1; IX 71

Bewunderung

I 122,1; II 121ζ,2; V 12–15; 47,2; VII 180; 181; IX 25,1

Freude

I 54,1; III 27; IV 91; VII 28,3; VIII 99,1

Neugier

I 29f.; 86,2; 90; II 2; 32,2; 121ε,1.ζ,1; III 14,1; IV 81,5; VII 205,3; VIII 116; IX 18

Mißtrauen

I 46,3; 158,2; III 27; 135,3

Liebe

V 39f.; VII 69,2; IX 111,3.4

sexuelles Begehren

I 8–10; II 131,1; III 31,2; VI 61f.; IX 108 Fortsetzung nächste Seite

190

Anhang: Die Motive im Überblick

Motiv

Belegstellen

Mitleid

I 45,2; III 14,11; 52,3; 119,3; IV 165,2 und 167,1; V 92γ,3; VII 46,2

Gram

II 121γ,2; 129,3; 131,2; III 50,3

Überdruß

I 66; II 18; 30; 119,2.3; VI 12,2.3; IX 117

Reue

I 45; 121; 130,2; V 90,1; VII 54,3; VIII 54

Scham

I 10,2.3; 82,8; 143,2f.; III 133,1; IX 85,3

Stolz

I 143,3; VII 24

GESELLSCHAFTLICH BEGRÜNDETE HANDLUNGSMOTIVE

Motiv

Belegstellen

Ehre

I 37; 61,2; 73,5; 114,4; 115,1; 120,5.6; 207,5; II 141,1.2; 162,6; III 1,2.3; 2; 48; 120; 137,5; 154,1; 155,2; V 19f.; 42; 74,1; VI 15; 67; 73; 87; VII 5; 24; 107; 150; 163,1; 220,4; 232; VIII 15,1; 16; 105; IX 17,4.5; 71; 107,1.2

Wetteifer

II 121ε,3–5; 136,3.4; VII 196

Andenken

I 185f.; II 101,2; 110,1; 121,1; 126,1; 135,3.4; 136,3.4; 148,1; IV 81,6; 166; VI 109,3; VII 24; 220; 232; IX 71; 85,3

Sitte und Tradition

I 10,3; 145–146,1; VII 5–8; 11; 50,3; 53,1, 114,2; 136,1; IX 79; 110f.

Verwandtschaft

I 109,2.3; III 19,2; 119,4–6; IV 145,3–5; VII 150; VIII 22 und 85; 144; IX 108,1

Freundschaft

I 163,3; II 181,1; 152,5; III 14,10; VI 21,1; V 30,3–31,3; 33,3; VI 89

Gastfreundschaft

II 182; IX 76,2f.; 85,3

Schutzpflicht

I 73,3; II 115,4.6; IV 165,2; IX 76,2.3

Fürsorglichkeit

I 85; 91; 156,1; 163,3; II 108; 120,2; 121α,2.β,2; III 25,7; 40; 53,2; 124; V 92δ,1; 97; VI 3; 37,1; VII 17,2; 220f.; 239,2; VIII 60β; 99,2; 118; IX 45; 73 Fortsetzung nächste Seite

191

Politisch begründete Handlungsmotive

Motiv

Belegstellen

Gefälligkeit

I 41f.; 115,1; III 47,1; 119,7; 136,2; 139–141; IV 43,2.3; 119,1; 145,3–5; 161,2; V 19,2; 44; 70–72; 74,1; 80f.; 99,1; VI 5,1; 23,3.4; 34–36; 89; 100,1; 106; VII 6,2; 150; 189,3; 191,2; VIII 85; IX 60f.; 85,3; 91f.; 109,3; 110f.

Dankbarkeit

I 42,2; 54,2; 69–70,1; 210,2.3; III 47,1; 134,5; 139–141; IV 165,2; V 11; 99,1; VI 30,2; 108,1; VII 29; 114,2; 192,2; VIII 118,4; IX 107,3

Strafe und Rache

I 2,1; 3; 4,3; 10,2; 13; 34,1; 73; 74,1; 103,2; 105,4; 115,2.3; 120,1; 123,1; 124,1; 144; 146,3; 159,4; 189,2– 190,1; 212–214; II 100; 114f.; 120,5; 152,1–3; III 3; 11; 14,4.5; 47,1; 49,2 und 53,7; 52,7; 109,2; 120f.; 127; IV 1,1 und 4; 43,6; 167,2 (Barkaier); 167,2.3 (Pheretime); V 25; 74,1; 77,1; 79,1; 89,2; VI 43f.; 64f.; 75,3 und 84; 84,2; 85; 87; 94; 101,3; 133,1; 137; 138,1; VII 5–11 passim; 35; 39; 170,1; 197; VIII 90; 105f.; 109,3; 116; 118,4; 144; IX 58,4.5; 65; 93,3.4; 110; 113,1; 119f.; 120,4

Schwur

I 146,3; 176; 212,3; II 115; III 19,2; VI 62

POLITISCH BEGRÜNDETE HANDLUNGSMOTIVE

Motiv

Belegstellen

Freiheitsliebe

I 95,2; 120,5.6; 126,5.6; 127,1; 164,2; 169,1; 210,2.3; III 142; IV 128; 147; V 2,1; 64,2; 78; 92; 98,2.3; 109; VI 5,1; 11–12,2; 22,1; 34–36; 109f.; VII 135,3; 168,1; VIII 3; 72; 143; IX 45; 122

Gerechtigkeitssinn

III 148; V 75,1; VII 164; VIII 79

Gesetzestreue

I 29f.; 97,2.3; III 31,3–5; VI 106,3; VII 104,4.5

Heimatliebe

I 165,3; III 130,3; IV 11,2–4; 76,3.4; V 35,4; 50; 98,2.3; VIII 60α

Feindschaft

III 48f.; V 81,2 und 89,1; 87f.; 97; VI 65,2; VII 11,2f.; VIII 30,1; IX 38,1 Fortsetzung nächste Seite

192

Anhang: Die Motive im Überblick

Motiv

Belegstellen

Machtstreben

I 46,1; 59,3; 60; 63; 66,1; 67; 71,1; 73,1; 89f.; 96,2; 99; 102,1; 106,2; 108; 120,5.6; 185; II 120,2; 161,4; III 30,2.3; 44,2; 53,1; 68–79; 119,2; 122,2–4; 134; 143,1.2; IV 118,3–5; 137; 146,1; 167,2.3; V 12,1; 23f.; 30,3–31,3; 32; 35; 91; VI 44,1; 65 und 73; 94; 95,2; 109f.; VII 6,1; 8α,2.γ; 11,2f.; 149,1; 152,3; 163,1; 165; IX 122

Kalkül

I 77,4; 79; 109,2.3; 152,2.3; III 150,2; IV 119; 120; 127; 130; 134f.; V 37,2; 124–126; VI 13; VII 149; 168,2–4; 219f.; VIII 3; 69; 73,3; 109; 136; IX 8; 13

WIRTSCHAFTLICH BEGRÜNDETE HANDLUNGSMOTIVE

Motiv

Belegstellen

Besitzgier

I 154; 165,1; 187,5; II 152,5; III 36,4.5; 57,1.2; 67,3; 122,2–123,1; IV 203,4; V 31; 78; 97; VI 13; 23,4–6; 100,2; 132; 137; VII 5; 19,2; 213,1; VIII 5,1.2; 112,1; IX 38,1

Bestechung

III 56; V 25; 63,1; VI 50; 66; 72; 82; VIII 4,2; 5,1 (Eurybiades); 5,1f. (Adeimantos); IX 5

Armut und Geldnot

I 196,5; II 126,1; 174; VIII 26,1; 51,2; 111

ÄSTHETISCH BEGRÜNDETE HANDLUNGSMOTIVE

Motiv

Belegstellen

Sinn für Schönheit

I 8–10; 112,1; IV 147,4; V 13f.; 31,1; 47,2; VI 61f.; VII 31; 180; IX 25,1

literarische Gestaltung

II 116,1; III 16,7

Externe Faktoren als Handlungsmotive

193

RELIGIÖS BEGRÜNDETE HANDLUNGSMOTIVE

Motiv

Belegstellen

Gewinnen göttlicher Gunst

I 50f.; 67; 86,2; II 119,2.3; 181,4.5; IV 35,2; 76,3.4

Beschwichtigung göttlichen Zorns

I 61,1; 167,1–3; V 70–72; VI 139,1; VII 133f.; 136,2; 137,1; 197,3

Orakel

I 13; 53,3; 66,2.3; 67; 158f.; 165,1; 167,1–3; 167,4; 174,3– 6; II 29,5; 139; 152,1; 152,3; 158; IV 15; 150f.; 155f.; 157; 159,2–4; 161,1.2; 203,1; V 1,2; 43; 63,1; 79f.; 82,1.2; 90; VI 34–36; 76,1; 77; 118,3; 139,1.2; VII 6,3.4; 140–144; 148; 169; 178; 189,1.2; 197,1; 197,3; 220,4; VIII 36; 41; 51,2.3; 60γ; 114,1; 136; 141,1; IX 36f.; 93f.

Traum

I 34; 107; 108; 121; 209f.; II 139 und 152,1; 141,3.4; III 30,2.3; 124; 149; VI 118; VII 18f.; VIII 54

göttliches Zeichen

I 74,2.3; 87f.; 174,3–6; II 175,5; III 76,2.3; 86,2; 149; 153; IV 5; 151; 156; 157; V 92β.γ; VI 82; VII 38,1; 219,1; VIII 38,1; 41,3; IX 10,3; 36f.; 91f.; 120,3

göttliches Geheiß

I 62,4; 126,5.6; IV 13,1; VI 105,2.3; VII 170,1; VIII 106,3; IX 91,1

EXTERNE FAKTOREN ALS HANDLUNGSMOTIVE Motiv

Belegstellen

Ratschlag

I 19,2; 40; 80; 89f.; 97,2.3; 108; 113,1; 121; 124; 156,2; 167,4; 191,1; 206,3–208; II 121β,2; III 1,1; 41; 134; 145f.; IV 97f.; 114; 115,2; 137; 154,2; 158; V 23f.; 31; 35; 39f.; 43; 51; 79f.; VI 22,2–23,3; 52; 83; 94; 100,3.4; 108,4; 109f.; VII 5–19; 143f.; 173; 219f.; 235–237; VIII 46,3; 58; 60; 69; 75; 103; 110,1; IX 10,1; 18; 31,2; 39,1; 122

Notlage

III 65,1; 131,1; IV 105,1; 150f.; V 35,1; 35,4; 47,1; 82; VI 29; 139; VII 170,2 (Abbruch der Belagerung und Stadtgründung); 172,1; VIII 79

Zwang

I 8–10; 11f.; 41f.; 74,4; 86,4.5; 98,2; 157,2; II 121γ,2; 128,4.5; IV 15; 155f.; V 2,2; VI 101,3; VII 16f.; 19,2; 108,1; 220; 222; VIII 41; 112; IX 16

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS ANTIKE QUELLEN Herodot: Textausgaben und Übersetzungen Die Herodotzitate in der vorliegenden Arbeit folgen der Oxforder Ausgabe von Carl Hude. Die deutschen Übersetzungen im Text sind meine eigenen. J. Feix, Herodot. Historien [griechisch-deutsch], 2 vol., Darmstadt 1995. A. Horneffer & H. W. Haussig, Herodot: Historien [deutsch], Stuttgart 4 1971. C. Hude, Herodoti Historiae, 2 vol., Oxford 3 1927, 2 1927, Nachdrucke 1960, 1962. Ph.-É. Legrand, Hérodote: Histoires [griechisch-französisch], 9 vol., Paris 1946, 1948, 1949, 1945, 1946, 1948, 1951, 1953, 1955. H. B. Rosén, Herodoti Historiae, 2 vol., Leipzig 1987, 1997.

Sonstige Autoren Die im Text verwendeten Abkürzungen antiker Werke richten sich nach LSJ und OLD. Aeschylus: Persians [griechisch-englisch], hg. von E. Hall, Warminster 1996. Aristotelis Ars Rhetorica, hg. von W. D. Ross, Oxford 1959. Aristoteles: Rhetorik [deutsch], übersetzt von F. G. Sieveke, München 2 1987. Aristotelis Ethica Nicomachea, hg. von I. Bywater, Oxford 1894. Aristoteles: Nikomachische Ethik [deutsch], übersetzt von F. Dirlmeier (Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung 6), Berlin 2 1960. Aristotelis Politica, hg. von W. D. Ross, Oxford 1957. Aristoteles: Politik Buch IV–VI [deutsch], übersetzt und eingeleitet von E. Schütrumpf, erläutert von E. Schütrumpf und H.-J. Gehrke (Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung 9 III), Berlin 1996. Cornelius Nepos [lateinisch-deutsch], hg. von G. Wirth, Amsterdam 1994. Cornelius Nepos: Berühmte Männer. De Viris Illustribus [lateinisch-deutsch], hg. von M. Pfeiffer unter Mitarbeit von R. Nickel, Düsseldorf 2006. Diodorus of Sicily [griechisch-englisch], vol. III: Books IV 59–VIII, vol. IV: Books IX–XII 40, hg. von C. H. Oldfather, vol. XII: Fragments of Books XXXIII–XL, hg. von F. R. Walton, London 1970, 1961, 1967. Die Fragmente der griechischen Historiker (FGrHist), hg. von F. Jacoby, 1. Teil: Genealogie und Mythographie, 2. Teil: Zeitgeschichte, A. Universalgeschichte und Hellenika, Berlin 1926. Die Fragmente der Vorsokratiker [griechisch-deutsch], hg. von H. Diels, 6. Auflage hg. von W. Kranz, vol. 2, Berlin 1952. Œuvres complètes d’Hippocrate [griechisch-französisch], hg. von É. Littré, vol. II, vol. VI, Paris 1840, 1849. Hippocratis De Aere Aquis Locis. Hippokrates: Über die Umwelt [griechisch-deutsch], hg. von H. Diller (Corpus Medicorum Graecorum I 1,2), Berlin 1970.

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REGISTER STELLEN Von den Belegen aus Herodots Historien sind nur diejenigen Stellen aufgenommen worden, die näherhin besprochen werden. Aischylos Persae 148, 164 159–170 164f. 181–199 165 199 167 233 164, 166 402–405 164f. 468 167 473f. 164, 166 476f. 166 537–540 164, 167 609–621 164 609f. 165 621f. 165 697 164f. 718 167 744–752 164, 166 753–758 164, 166 754 167 834–836 164, 167 847f. 167 Archilochos F 23 West 120 Aristoteles Ethica Nicomachea I 3 (1095b 23–25) 48 II 4 (1105b 19–24) 22 VI 15 (1128b 11f.) 47 Politica V 2 (1302a 16–30) 21 2f. (1302a 37–1303b 17) 21 4 (1303b 2–28) 22 4 (1303b 17–19) 22 Rhetorica I 5 (1361a 28–b2) 48 II 2–11 (1378a 30–1388b 30) 22 2f. (1378a 30–1380b 34) 37 5 (1382a 20–1383b 10) 35 6 (1383b 11–1385a 15) 47

6 (1383b 18f.) 100 6 (1383b 21f.) 100 8 (1385b 11–1386b 7) 46 10 (1387b 22–1388a 30) 42 Cornelius Nepos Miltiades I 1–4 123 Diodor VIII 17 128 XII 10,5 133 35,1–3 133 XXXV 13 131 Hekataios (FGrHist 1) F 127 65 Herodot Proömium 11, 160 I 2–5,2 56f., 114 4,3 113 5,2 99 5,3 85 8,1 41 8–10 45, 91 8–12 129 8–13 119f. 10,2 100, 160 10,2.3 99 12 120 13 121 29f. 44 32,1 41 34 75 34,1 104, 106 34,2 104 44 104 45 47 45,2 104 46,1 63, 110

214

46,3 44 46–75 30, 159 49–63 64 50f. 69 53,2 72 53,3 110 54,1 43 54,2 55 59,3 170 60 170 61,1 69 61,2 121 62,1 60 62,4 76, 120 63 170 66 46, 102, 113 67 67, 102 68,6 113 71,1 63, 110 73,1 63 73,1.2 110 74,1 110 74,2.3 76, 93 75,2 110 85,4 35 86,2 44, 68 87,2 68 87,3.4 110 90 44 91 54, 104f., 120 95,1 91 95,2 96, 121 96,2 118 99 20 102 110 103,2 110 105,4 100, 106 107–128 75 108 91, 152 109f. 52f., 93 112,1 100 117,3 52f. 117–119 37 120,5 61 120,5.6 96 121 75 123,1.2 121 124–126 118 126,5.6 77, 96, 119 127 96, 121 127,2 77 128 75

Register

130,2 121 130,3 119 143,2.3 162 146,3 100 152,2.3 64, 102 154 121 157,1 156 158 74 158,2 44 159 105, 157 164 94, 157 164–167 123f. 167,1–3 69 168f. 124 174,3–6 20, 76 174,5 137f. 176 60 185,1 50, 64 185f. 100 186,1 50 189,2–190,1 59 196,5 65 201 110 204,2 41 204f. 110 205 99 206,3–208 49 207 20 207,5 99 209f. 75 212–214 100f. 214 99 II 86f. 2 44 18 46 29,5 178 30 46, 122, 161 32,2 44 53 108 56 102 100 100, 178 101,2 50 108 137 110,1 50 112–120 66 115,4.6 60 116,1 66, 161 119,2.3 46, 67 120 87 120,2 64 120,5 59, 106 121α,1 50

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Stellen

121ε,1 44, 152 121ε,3–5 50 121ζ,1 44, 152 124f. 50 126,1 50, 65 129,3 46 131 90 131,2 99 133 74 133,4 16 135,3.4 50 135,4 90 136,3.4 50 139 74, 76, 86 139,1 91 141 75, 93 141,1.2 121 148,1 50 152,1–3 110 152f. 112 158 76, 137f. 161,4 87, 112, 121 162 119 162,6 121 175,5 76 181,4.5 67, 100 III 1–3 39, 110f. 2 49 4 37, 112 11 37 13,1 155 14,1 44 16,7 66, 161 19,2 53, 60, 112 21,2 20 25,1.2 39, 111 25,7 36 25–37 152 27 43, 45 27,1 156 30,1 77 31 39 31,2 90, 150 32 38f., 168 33 39f., 77, 160 34f. 39 38 52 39–53 114–117 43 53 47–53 151, 160 48,1 116 48f. 49, 63, 113

49 52, 96f. 49–53 21 50,3 46 54–56 114 56 92 56,2 117 61–64 75 76,2 76 80,1 153 80,2 136 80–82 96, 153 86 120 86,2 76 119,4–6 52f., 100 121,2 42 122–125 65 124 75, 100 128,4.5 80 131,1 80, 122 133,1 99 134 111 135,3 45 137 54 137,5 49 139–141 55, 112 142 61, 95 143,2 60 146,1 151 148 61 150,2 64 IV 1,1 111 4 111 5 76, 120 11 62 11,2–4 162 11,3 62 13,1 77 23 70 30,1 160 35,2 67, 100 38 138 43 135f. 45,1 168 76,3.4 67 76,5 52, 161 78–80 52, 121, 161 81,3–6 90 81,5 44 81,6 50 91 43, 90 99,4.5 157 105,1 122

216

115 101 115f. 122 118 111 118f. 168 119 111 128 60, 96 145,3–5 53 146,1.2 102 147 125, 127 147,4 64 150,3 73, 131 150–159 127–129 155,2.3 131 155,3.4 73 155f. 80 159,4 87, 112 159,6 121 164,2 130 164,4 73 166 50 167,2f. 155 205 59, 106 V 88 1,1 111 1,2 20 2,1 60, 94 2,2 156 12–15 43 19 40 25 65 30f. 160 31 79, 157 32 63 35 35f. 35,1 121 35,4 121 37,2 64 39f. 45 40,2 52 42 156 42,2 126 42–48 124–126 43 33 44 72 47,1 122 49–51 62 49f. 102, 112 52 157 55 33 63,1 92, 100 63,2 72, 102 70,2 69

Register

70–72 69, 176 71,1 69f. 72,1 69 74,1 49, 55 75,1 61, 112 77,1 33, 103, 114 78 102f. 79,1 114 80–89 103 80f. 63, 103, 114 81,2 41, 96, 113 82–88 114 85 104 85,2 103 87,2 104 88,3 96, 100, 103 89,1 63, 96, 103, 113 89,2 103 89,2–90 114 89–90,1 73 90 102 90f. 72 91 102, 113 92 112 92α 95 92β–δ 73 92γ,3 73 92δ,1 100 92ε,2–η,1 95 92ζf. 73 97 103, 113, 141 105 111 VI 3 121 5,1 150 12,2.3 46 22–23,3 124 32 116 34–36 123 44 137 44,1 22, 111, 141, 155 49 103f. 49,2 42 50 92 52 79, 102 54,3 173 61f. 45 62 60 65,2 63, 172 66 100 73 49 75 77 75,1–3 106f.

217

Stellen

75,3 59 81f. 168 82 65, 92 84 59, 106f. 84,3 106 85 56 87 40, 103 89 114 91 163 94 111 94,1 22, 141 95,2 137 98,1.3 106 100,1 20 100,3.4 103 105,2.3 76, 103 106,3 102, 155 107 74 108,3 42 109,3 51 114 164 123,2 92 132 103 133,1 113, 155 137 65, 103, 162 137,3 41 139 80 139,1 69 VII 86f., 175 5 58 5–19 11, 79, 139f., 174 6,2 55 6,3.4 72 6,3–5 55 8 140, 142f. 8α,2 63 8α,2–β,3 58 8γ 63 9 58 10ε 137 11,2.3 63 11,4 58 12 78, 154 12,1 91 12–17 74, 76 14–19 78 16α,2 137 19 74 22,3 137 22–24 90, 136–138 24 49f. 28,3 43

31 90, 136 35 59 37,2 72 38,1 41, 76 39 136 39,2 58 45f. 136 46,2 46 54 147 54,3 47 56,2 144 89–95 136 94,2–4 77 99 98 102,2 102 104,4.5 102 107 49 108,1 176 131–178 176 133f. 69 136,1 52, 107 136,2 69, 137 137 106 137,1 69 139 175 139,5 94 139,5.6 73, 102, 175 140,2 71 140–144 103, 175 141,4 71 142f. 71 143f. 103 149 176 150 53, 176 152,3 176 153,1 33 164 61 164,1 122 164,2 152 168,1 94 169 112 170 86 170,1 77 170,2 122, 156 172,1 80 172–174 176 173,4 151 180 43 181 43 187,2 144 188–192 106, 157 189,1.2 103

218

189,3 54, 105f. 191,2 54, 105f. 196 50, 147 197,3 69, 106 205,3 44 210,1 142 220 50 222 80 229,2 158 232 50 233,1 80 237,2 89 238 147, 150 238,2 151 239,2 42 VIII 175 3 94, 102 4,2 135, 157 26,1 65, 176 30,1 63, 96 30,2 151 41 70f., 103, 175 41,1 33 41,2 71 51,2 71 53,2 72 54 147 64 172 69,2 99 73,3 150 85 53 87 98 87,1 99 88,1 99 90 142 92,1 43 93 99 97 175 97,1 142 99,1 43, 90 101,1 99 103 99, 142, 147 105f. 116 106,3 77 107 99 109 135 109,2–4 42 109,3 106 109,5 42 110,1 103 111 65, 155 111f. 135

Register

112 80 114,1 102 116 19f., 44, 176 118,4 136 122 157 124,1 42 125,1 42 141,1 102 143f. 93, 102f., 161 144 53 IX 5 92 8 64, 102 13 64 18 44 31,2 78 65 106 71 50, 92 76,2.3 157 85,3 51, 90 91,1 76 93,3.4 105, 155 100f. 76 107,3 136 108 91 108,1 136 108–112 52f. 110 100 111,3.4 45 113,1 121 117 46 119f. 106 120,3 76 121 133 122 126, 133f. Hippokrates De aere, aquis, locis I 23f. Diller 133 De morbo sacro I 1 Jouanna 40 Homer Ilias 45, 150 I 1 158 9–12 158 II 1–40 159 VI 441–443 159 XV 496–499 159 XXII 99–130 159 271f. 158 331–336 158 Odyssea 45, 150 VI 99

219

Stellen

XX 121 159 XXII 40 159 46 159 XXIV 352 159 Inschriften DNb Lecoq 146 OlBer VII 207–210 124 SEG IX 3 129–132 SEG XLVIII 1330 158 XE Lecoq 146 XPa Lecoq 145f. XPb Lecoq 146 XPc Lecoq 145f. XPd Lecoq 146 XPf Lecoq 145f. XPg Lecoq 145 XPh Lecoq 145f. XPl Lecoq 146f. XSa Lecoq 145 XSd Lecoq 145 XV Lecoq 145f. Nikolaos von Damaskos (FGrHist 90) F 47,6 119 Papyri P. Oxy. 2382

120

Pindar Pythiae IV 60 131 V 55–69 129 60–62 129 85–93 129 Platon Respublica II 359d 119f. Plutarch De Herodoti malignitate 859d 116 864e–866a 44 Protagoras 80 B4 Diels & Kranz Thukydides I 1 174 2,1f. 169 4 169 5,1 169

16, 24

108

8,3 169 9,2 169 9,3 169 11,1 169 12,3 169 13,4 96 14,3 169 17 169 18,2 169, 174 20 173 20–22 66 23 169 23,1 177 23,6 169 23–145 170 24f. 169 25,1–3 169, 172 25,4 169 26,1 169 26,2 169 26,3 169 30,2 169 30,3 169 31,1 169 31,2 169 32,4 169 32–45 169 33,3 169 37,2–5 169 38 96 47,3 169 49,4 169 49,7 169 50,4 169 50,5 169 52 169 53,4 169, 178 55,1 169 56f. 169 57,3–5 169 58,1 169 58,2 169 60,1.2 169 61 169 64,1 169 65,1 169 67 169 67–87 173 68 97 68–71 173 68–87 169 68f. 170

220

70 170 73,5 170, 175 74,1–3 170, 175, 177 74,3 170 74,4 170, 175f. 75,2 170 75,3 170 75,4 170 80–85 173 80–87 170 84,1 173 84,3 173 86,2.3 173 88 173 90,1 170 90,3 170 91,1 170 91,3 170 92 170 93 170 95,1 170 95,7 170 96,1 170 99,1.2 170 99,3 170 101,1.2 170 102,3 170 102,4 170 103 170 104 170 105,6 170 107,5.6 170, 178 107,7 170, 178 112,4 170 115,2.3 170 118,2 170 118,2.3 170 118,3 173 120–125 170 123,1 170 126,1 170 126,3–5 170, 172 126,8 170 126,10 170 126,12 170, 176 128,3 170 129,1 170 129,3 170 130 170

Register

131,2 170 132,5 170 134,3 172 134,4 170 136,1 170 136,2 170 136f. 170 137,2 170 137,4 170 139,1.2 170 140–145 170 II 8 170 71,2 94 III 62,4 175 81 170, 178 82f. 170 104,1 172 IV 3f. 174 123,4 177 V 3,4 177 29,1 178 30 178 32,1 172 44,1 178 116,1 172 VI 9–14 180 24 170 28,1 172 54–59 173, 180 56,1 173 57,3 173 61,3 178 69,3 170 VII 13 170 50 170 56–58 170 61–64 170 66–68 170 69,2 170 87,5 170 VIII 21 178 46,5 180 53,2 178 56,2.3 180 82,1 178 87 180 89 178

221

Antike Personen

ANTIKE PERSONEN Achill 158, 160 Adrastos 47 Agamemnon 159 Agetos 60 Ahuramazd¯a 145 Aischylos 163f., 186 Alexander I. 40, 53, 93, 161 Alkibiades 172 Alyattes 116, 152 Amasis 37, 53, 66, 68, 86, 115, 119, 150 Amestris 87 Amyntas I. 40 Anacharsis 52, 67 Anaxandrides 45, 52, 124 Andromeda 176 Anticharos 125 Aphrodite 67f. Apollon 44, 68, 123f., 128, 130–133 Archegetes 129 Loxias 54, 104, 125 Phoibos 77, 155 Apries 87, 112, 119, 121 Archidamos 173 Arge 67 Argeia 79 Argos 59 Ariantes 44, 50, 90 Aristagoras 35f., 62, 79, 120f. Aristeas 77, 155 Aristodikos 44, 74 Aristogeiton 33, 173 Ariston 45, 60 Arkesilaos 73 Arpoxais 120 Artabanos 74, 137, 139f. Artaphernes 35, 79 Artayktes 76, 133 Artaynte 91 Artembares 133f. Artemis 116 Artemisia 98f., 101 Aryandes 50 Astyages 37, 60, 75, 77, 91, 110, 118, 152 Asychis 50 Athena 71 Atossa 111, 165 Atys 47, 104 Battos Boges

80, 127–129, 131 49

Boreas 54, 105f. Bulis 52, 69, 87 Cheops Chryses

50, 65 158

Dareios 19, 43, 45, 49f., 55, 57, 75f., 80, 85, 90, 96, 104, 111, 117f., 120, 139, 141, 145, 148, 151, 165–168 Dareios, Sohn des Xerxes 91 Deiokes 80, 88, 118, 151 Demaratos 36, 42, 59, 63, 102, 107 Demokedes 45, 49, 54, 122 Demosthenes 174 Dorieus 33, 72, 124f. Euenios 155 Europa 56f. Gelon 33, 61 Grinnos 73, 127, 131 Gyges 45, 54, 119f., 129 Harmodios 33, 173 Harpagos 37, 52f., 77, 93f., 118 Hegesistratos 76 Hekataios 65 Hektor 87, 159 Helena 57, 66f., 87 Hephaistos 75 Hermotimos 77 Herodot 86, 89f., 95, 97f., 103, 108, 114, 131f., 147, 149–162, 167–169, 179f., 182, 184–187 Hipparchos 33, 173 Hippias 74, 95 Hippodamos 132 Hippokrates 124 Histiaios 36, 120f., 150 Homer 66 Hystaspes 139 Intaphernes 52f. Io 56f. Isagoras 69f., 176 Kadmos 61, 152 Kallimachos 51 Kambyses 36–39, 43–45, 49, 66, 75, 77, 90, 110–112, 152, 154, 160 Kandaules 41, 45, 80, 91, 119

222

Kimon 49 Kleisthenes 69, 92, 176 Kleomenes 49, 55, 59, 61f., 69f., 77, 92, 106f., 114, 125, 176 Kolaxais 120 Krios 92 Kroisos 30, 35, 41, 43f., 54f., 59, 63, 68f., 72, 77, 85, 93, 99, 104, 110, 115, 120, 159 Ktesias 16 Kyaxares 110 Kynegeiros 164 Kyno 100 Kypselos 73 Kyrnos 124 Kyros 30, 37, 41, 44, 49, 52, 59, 63, 68, 75, 77, 80, 88, 93, 96, 98–101, 110, 118f., 133f., 139, 152 Labda 73 Ladike 67f., 150 Laios 125 Leon 43 Leonidas 44, 50, 57, 80, 87, 150, 162 Leotychides 49, 56, 63, 76 Lipoxais 120 Lykides 92 Lykophron 46, 117 Maiandrios 61, 95f. Mandane 75 Mardonios 57f., 78, 139f., 161 Masistes 45 Masistios 43 Medeia 57 Megabates 63, 120 Megabazos 94 Megakles 69, 121 Menelaos 46, 67, 86 Milon 49 Miltiades, Sohn des Kimon 51, 113, 123, 155 Miltiades, Sohn des Kypselos 123 Min 86 Minos 77 Moiris 50 Mykerinos 16, 46, 73, 90 Myskellos 128 Nausikaa 99 Nikias 180 Nitetis 49 Nitokris 50, 64

Register

Odysseus 159 Onomakritos 55, 72, 139f., 143 Opis 67 Oroites 65 Otanes 136 Paktyas 44 Panionios 77 Patarbemis 121 Patroklos 158 Pausanias 63 Peisistratos 60, 64, 69, 118, 120f., 123, 151, 155, 170 Periander 46, 73, 116f., 152 Perseus 176 Phanes 37 Pheretime 57 Phraortes 110 Phronime 129 Plutarch 24, 159 Polykrates 53, 61, 65, 92, 96, 100, 112, 114 Poseidon Soter 106 Prexaspes 39 Priamos 64, 86f. Protagoras 108, 132 Psammenitos 44 Psammetichos 44, 110, 112 Pythes 43 Pythios 41, 58, 76 Rhampsinitos 44, 50, 152 Rhodopis 50, 86, 89 Sabakos 86, 91 Sataspes 135f. Sesostris 50, 137f. Sethos 75, 93 Sisamnes 65 Skyles 52, 161 Smerdis 38, 75 Soklees 73, 95 Solon 44 Sperthias 52, 69, 87 Syloson 55, 112 Telesarchos 61 Thalthybios 69 Themistokles 42, 80, 135 Theopomp 43, 65 Theras 125, 127 Thukydides 66, 163, 169, 177, 179f., 186f. Timodemos 42 Tissaphernes 180 Tomyris 98f., 101

Orte und Völker

Xerxes 11, 32, 42f., 46f., 49–53, 55, 58f., 63, 72, 74f., 77–80, 85, 87, 89–91, 93, 99, 102, 105, 117f., 134–148, 150f., 160, 165–167, 174–176, 183f.

223

Zeus 137, 144 Eleutherios 61, 96 Zopyros 135

ORTE UND VÖLKER Abdera 124 Abydos 46 Achaier 69, 87 Ägypten, Ägypter 16, 27, 37–39, 43, 49, 64, 66f., 75, 89, 91–93, 110, 121, 136f., 139, 146, 178 Äthiopien 36, 39, 46, 111, 146 Agyllaier 69 Aigina, Aigineten 40f., 49, 63, 70, 73, 96, 103f., 114, 155 Aioler 136 Akaufakier 146 Alalia 123 Amazonen 101 Andrier 155 Apis 46, 86 Apollonia 59, 155 Araber 75, 146 Arachosier 146 Araxes flumen 49 Areier 146 Argos, Argeier 53, 59, 87, 107, 176, 178 Arkadien, Arkader 65, 113 Armenier 146 Asien 42, 62, 111, 168 Assyrer 75, 146 Athen, Athener 33, 41f., 46f., 53, 57, 59f., 63, 65, 69–73, 87, 92f., 95f., 99, 102– 104, 106f., 113f., 118, 123, 132f., 135, 139–141, 143, 147, 155, 157, 161, 164, 169, 173–178 Athos mons 90, 136–138, 184 Attika 49, 55, 63, 65, 73, 114, 157

Delphi, Delpher 43f., 50, 55, 65, 68, 73, 90, 107, 122f., 125–128, 131–133, 137, 151, 157, 175, 183 Dolonker 123 Dorer 136 Drangianer 146

Babylon, Babylonier Baktrier 146 Bisalter 44 Boioter 114

Kalapodi 96 Kappadokier 146 Karchedonier 123 Karer 37, 86, 112, 136, 146 Karthago 53, 112 Karystier 80 Kerkyra, Kerkyraier 52, 63, 87, 94, 96f., 116, 152, 170, 178 Kilikier 136 Kimmerer 62

64f., 142, 146

Chalkis, Chalkider 33, 55, 114 Chersones 123, 137 Chorasmier 146 Daher

146

Egestaier 125 Eion 49 Elamiten 146 Elephantine 46 Eleusis 49, 55, 59, 107, 164 Elis 160 Epidamnos 97 Eretria 55, 57 Euphrat flumen 50 Europa 42, 139 Gandharier 146 Griechen 37f., 53, 56f., 59, 64, 73, 76, 80, 88–97, 107, 111, 113, 146, 153, 160, 165f., 176, 180–182 Gyndes flumen 59 Halikarnassos 37, 98, 158 Hellespont 46f., 59, 142 Hyele 123f. Hymettos mons 65 Inder 146 Ionier 46f., 53, 62, 86, 112, 136, 142, 161 Issedonen 77, 155 Isthmos von Korinth 137

224

Knidier 137 Korinth, Korinther 49, 52, 61, 63, 73, 95– 97, 112, 116f., 152, 173 Kos 61 Kreta, Kreter 77, 86, 112 Kroton 72, 122, 125, 128 Kykladen 35, 79 Kyme 44, 59 Kyprier 136 Kyrene 68, 112, 127–132, 150f., 183 Kyrnos 123f. Lemnos 69 Libyen, Libyer 44, 46, 73, 124f., 127f., 131, 135, 146 Lindos 115 Lyder 64, 93, 120, 146 Lykier 136 Magier 60, 76, 96, 106, 118 Makedonien 40 Mantineia 178 Marea 46, 86 Massageten 110 Meder 64, 93, 96, 118, 146 Mekraner 146 Milet, Milesier 35, 55, 62, 150 Mykale 76 Nasamoner 44 Naxos, Naxier 79, 120 Neurer 122 Nil flumen 168 Paioner 43 Pamphyler 136 Paros, Parier 80, 155 Parther 146 Pelasger 41, 65, 69, 79 Perinthos, Perinthier 60, 94 Persepolis 145 Persien, Perser 16, 36, 40, 43, 56f., 59f., 63f., 70–73, 77, 90–92, 94, 96, 102, 106, 110, 116, 118f., 123f., 126, 133, 136, 144–147, 150, 153, 155, 166, 174–176 Phalakroi 70 Phasis flumen 168 Phoiniker 53, 56f., 112, 125, 136 Phokaia, Phokaier 94, 123f. Phokis, Phoker 63, 96 Plataiai, Plataier 42, 51, 90

Register

Platea 127f. Poseidonia 124 Pylos 174 Rhegion

123f.

Salamis 70f., 98, 142, 150, 165, 175 Samos, Samier 49, 55, 60f., 111, 114–117, 124, 132, 151f. Sardes 116, 139, 152 Sattagyden 146 Serdaier 124 Sestos 46, 133 Sigeion 95 Sizilien 33, 61, 86, 125, 170 Skiathos 43 Skythen 44, 52, 59f., 62, 90, 92, 96, 107, 111, 146, 161, 168 Sogder 146 Sparta, Spartaner 36, 42, 46, 52f., 56, 59, 62, 64, 67, 69, 72, 78f., 89, 92, 95, 101– 103, 107, 112–117, 124f., 151f., 155, 161, 173f., 176, 178 Strymon flumen 49 Sunion 40 Susa 43, 52, 62, 90, 121, 139, 165 Sybaris, Sybariten 72, 124f., 132 Syrakus 22, 170 Syrer, palästinische 136 Tarent 157 Tearos flumen 43, 90 Tegea, Tegeaten 46, 67, 79, 113 Teios, Teier 124 Tempepaß 80, 176 Theben, Thebaner 44, 63, 78–80, 114, 175 Thera, Theraier 73, 80, 127–132 Thermopylai 44, 80 Thessalien, Thessaler 63, 79, 87, 96, 176 Thrakien, Thraker 50, 111, 123, 146, 168 Thurioi 108, 132f., 154 Troia 57, 59, 64, 87, 113 Troizen 70f. Tyrsener 123 Van lacus 145 Velia s. v. Hyele Zankle Zyprier

124 s. v. Kyprier

Handlungsmotive

225

HANDLUNGSMOTIVE Dieser Index bietet nicht ein allgemeines Sachverzeichnis, sondern ein Verzeichnis der in dieser Studie untersuchten Handlungsmotive. Die Angaben verweisen, so nicht anders vermerkt, auf Handlungsmotive bei Herodot. Eine Zusammenstellung der Belege zu den einzelnen Handlungsmotiven in den Historien findet sich im Anhang, p. 189–193. Andenken 50f., 81, 86, 89f., 138, 184, 190 Angst 22, 35–37, 54, 75, 81, 86f., 101, 120, 136, 142f., 147, 150, 156, 160, 175f., 182, 185, 189 bei Aischylos 164f. bei Thukydides 169–173, 175f., 179 Armut und Geldnot 65, 192 bei Thukydides 169f. Begehren, sexuelles 22, 45, 66, 86, 89–91, 97, 100, 154, 177, 189 bei Thukydides 172 Besitzgier 62, 64–66, 77, 79, 81, 102f., 112, 121, 134f., 139f., 192 bei Thukydides 169f. Bestechung 65, 88f., 92f., 100, 135, 155, 157, 166, 182, 192 Bewunderung 22, 42f., 66, 86f., 189 bei Thukydides 170, 172 Bosheit 22, 41f., 86, 100, 103, 153, 189 Bündnistreue bei Thukydides 169f., 172f., 175, 178 Dankbarkeit 55, 81, 87, 112, 114f., 117, 136, 151, 191 bei Thukydides 170 Demokratie, Wertschätzung von, bei Thukydides 170, 172, 178 Ehre

40, 48f., 61, 77, 79, 81f., 86f., 100, 113, 121, 125f., 134, 138–140, 143, 158f., 166, 176, 183f., 190 bei Thukydides 169f., 173

Feindschaft 63, 82f., 89, 96f., 100, 103, 112–114, 116, 140f., 143, 147, 154, 166, 172, 182–184, 191 bei Thukydides 169f., 172 Freiheitsliebe 60–62, 73, 81, 87–89, 93– 96, 102f., 112, 119, 121, 123–125, 127, 134, 154, 157, 161, 166, 175f., 178, 181– 183, 185, 191 bei Aischylos 164–166 bei Thukydides 170, 173 Freude 22, 43, 87, 89–91, 136, 156, 185, 189

bei Thukydides 172 Freundschaft 53, 72, 82, 86, 100, 112, 114, 116, 183, 190 bei Thukydides 169f., 173, 178 Friedenswunsch bei Thukydides 170, 172 Fürsorglichkeit 54, 86f., 100, 104, 112, 138, 182, 190 bei Aischylos 164–166 bei Thukydides 169 Gastfreundschaft 53, 58, 82, 86, 100, 157, 190 Gefälligkeit 54f., 72, 87, 105f., 110, 112, 114f., 136, 139f., 176, 178, 191 bei Aischylos 164f. bei Thukydides 169f. Geheiß, göttliches 76f., 82, 103, 119, 139f., 143, 145, 151, 166, 193 Gerechtigkeitssinn 61, 87, 89, 112, 147, 152f., 178, 182, 191 bei Thukydides 169 Gesetzestreue 62, 87, 89, 102, 178, 182, 191 bei Thukydides 170, 173 Gestaltung, literarische 66f., 192 Göttergunst, Gewinnen von 67–69, 100, 182, 193 bei Aischylos 164f. Götterzorn, Beschwichtigen von 69f., 82, 176, 185, 193 bei Thukydides 170, 176 Gram 46, 86, 99, 182, 190 bei Aischylos 164, 167 bei Thukydides 172 Heimatliebe 62, 102, 112, 159, 166, 191 bei Aischylos 164–166 bei Thukydides 170, 175 Hybris 22, 41, 86, 100, 103, 110, 137, 148, 153, 166, 189 bei Aischylos 164, 166 Kalkül 64, 87, 102, 135, 178, 192 bei Thukydides 169–172, 174, 178

226

Register

Liebe 22, 45, 66, 89–91, 100, 120, 177, 189 bei Thukydides 172f. Machtstreben 61–64, 77, 79, 81, 87, 100, 102, 110–113, 119, 121, 134, 139–141, 143, 146, 150f., 157, 166, 176, 183, 192 bei Aischylos 164, 166 bei Thukydides 169–174 Mißtrauen 44f., 189 bei Thukydides 170, 172 Mitleid 22, 45f., 73, 87, 136, 190 22, 42, 64f., 89, 92, 100, 104, 106, 166, 182, 189 bei Thukydides 172 Neugier 22, 44, 68, 86, 100, 153, 189 bei Thukydides 172 Notlage 79f., 100, 122, 129, 142, 156, 176, 183, 193 bei Thukydides 169–172, 174f.

bei Thukydides 170 Schwur 60, 191 Sitte und Tradition 51f., 82, 87, 121, 139, 143, 145, 155, 161, 166, 184, 190 bei Thukydides 170, 173 Stolz 22, 47, 137, 190 bei Thukydides 169f., 172 Strafe und Rache 40, 48, 54–60, 65, 73, 81f., 86f., 100, 103–107, 110–119, 121, 136, 139–143, 146, 150–152, 155, 158, 166, 178, 182–184, 191 bei Aischylos 164, 166 bei Thukydides 169f., 172f.

Neid

Orakel 70–77, 79, 81f., 86f., 100–103, 110, 112–114, 120, 122–129, 131f., 137, 139f., 143, 151, 175f., 178, 183, 185, 193 bei Thukydides 169–172, 179 Pflichtbewußtsein bei Thukydides 172, 175

Tradition s. v. Sitte und Tradition Traum 74–79, 82, 86, 88f., 91, 97, 100, 104, 118, 140, 143, 152, 159, 178f., 182, 193 bei Aischylos 165 Überdruß 46, 86, 101, 113, 161, 190 bei Thukydides 170, 172, 174 Vertragstreue bei Thukydides 169f., 172, 178 Verwandtschaft 52f., 62, 82, 101, 116, 143, 161, 176, 190 bei Thukydides 169f., 173

170,

Rache s. v. Strafe und Rache Ratschlag 78f., 81, 87, 100, 102f., 111, 124–126, 139–144, 150, 166, 178, 183, 193 bei Aischylos 164, 166 bei Thukydides 169f. Reue 22, 46f., 87, 121, 147, 182, 190 bei Thukydides 172 Scham 22, 47, 57, 99, 159, 162, 182, 190 Schönheit, Sinn für 66, 79, 192 Schutzpflicht 54, 86, 100, 112, 157, 185, 190

Wahn 39, 41, 44, 77, 81, 100, 103, 111, 148, 153, 166, 189 bei Aischylos 164, 166 Wetteifer 50, 86, 147, 190 Zeichen, göttliches 71f., 75–77, 82, 86, 93, 100, 120, 129, 175, 193 Zorn 22, 37–40, 54, 59, 81, 86f., 104, 111, 121, 125f., 140, 143, 147, 150f., 153, 155f., 158–160, 182, 189 bei Thukydides 169f., 172f. Zwang 80, 87, 100, 119, 129, 156, 176, 178, 185, 193 bei Thukydides 169f., 172, 175

Matthias Steinhart

Bilder der virtus Tafelsilber der Kaiserzeit und die großen Vorbilder Roms: Die Lanx von Stráze Collegium Beatus Rhenanus – Band 2

Im Jahre 1939 wurde in der Slowakei eine römische Silberplatte mit reicher figürlicher Verzierung gefunden, die Matthias Steinhart hier neu deutet. Anhand literarischer Parallelen zeigt der Autor, dass es sich um Darstellungen berühmter Ereignisse aus der Frühzeit Roms handelt: Brutus, Lucretia, die Schlachten am See Regillus und an der Veseris sowie Verginia. Damit sind Episoden der römischen Geschichte versammelt, die als vorbildhafte Exempla zum richtigen Handeln auffordern sollten. Die Wahl der Bilder entspricht zudem zentralen Vorstellungen der römischen Stoa. Die Darstellungen werden aber auch vor dem Hintergrund der besonderen Funktion und Bedeutung von Silbergefäßen und -geräten in der römischen Kultur diskutiert. ............................................................................. Matthias Steinhart Bilder der virtus 124 Seiten mit 15 Farb- und 7 s/w-Abbildungen auf 7 Tafeln. Kart. ISBN 978-3-515-09631-7

Aus dem Inhalt Vorwort p Einleitung p Mittelmedaillon und Griffplatte der Lanx: Das Mittelmedaillon: Der Eid auf die Republik | Die Griffplatte: Die Versöhnung zwischen Römern und Sabinern p Der Randfries der Lanx: Die zwölf Szenen des Randfrieses | Die bisherigen Deutungen des Randfrieses: Brutus und die frühe Republik | Die neue Deutung: Exempla der römischen Geschichte p Bildprogramm und Geschichtsauffassung der Lanx: Das Bildprogramm | Römisches Silbergeschirr als Medium der memoria p Schluss. Die Lanx von Stráže in ihrer Zeit p Bibliographie p Register

Franz Steiner Verlag Birkenwaldstr. 44 · D – 70191 Stuttgart Telefon: 0711 / 2582 – 0 · Fax: 0711 / 2582 – 390 E-Mail: [email protected] Internet: www.steiner-verlag.de

Doris Meyer (Hg.)

Philostorge et l’historiographie de l’Antiquité tardive / Philostorg im Kontext der spätantiken Geschichtsschreibung In Zusammenarbeit mit Bruno Bleckmann, Alain Chauvot und Jean-Marc Prieur Collegium Beatus Rhenanus – Band 3

Doris Meyer (Hg.) Philostorge et l’historiographie de l’Antiquité tardive / Philostorg im Kontext der spätantiken Geschichtsschreibung 2011. 352 Seiten. Kart. ISBN 978-3-515-09696-6

Die Ekklesiastike historia des heterodoxen Historikers Philostorg (um 430 n. Chr.) bietet wertvolle Einblicke in die Kirchen- und Profangeschichte des 4. Jahrhunderts seit Konstantin, aber auch in die Welt der spätantiken Wissenschaft und Bildung. Die Deutung der Geschichte sowie ihrer Protagonisten unterscheidet sich signifikant von derjenigen der kanonischen Kirchenhistoriker Sokrates, Sozomenos oder Theodoret. Dieser Band, der die Beiträge des ersten wissenschaftlichen Kolloquiums zu Philostorg versammelt, widmet sich neben der Rekonstruktion des unvollständig erhaltenen Werks, von dem Photios im 9. Jahrhundert eine umfangreiche Epitome anfertigte, vor allem der Analyse der Traditionen und Quellen, aus denen Philostorg seine bisweilen einzigartigen Informationen schöpfte. .............................................................................

Mit Beiträgen von Doris Meyer, Antonio Baldini, Michel Festy, Bruno Bleckmann, Jean-Marc Prieur, Hanns Christof Brennecke, Guy Sabbah, Philippe Bruggisser, Michel Matter, Hartmut Leppin, Pierre-Louis Malosse, Giuseppe Zecchini, Eckhard Wirbelauer, Timo Stickler, Gabriele Marasco, Annick Martin, Alain Chauvot, Peter Van Nuffelen

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Wie kam Xerxes zu seiner fatalen Kriegsentscheidung? Die Frage nach den Handlungsmotiven ist für Herodot grundlegend. Er greift auf ein differenziertes Inventar von Beweggründen zurück und entwickelt feste Erklärungsmuster, um die Entscheidungen seiner Akteure nachvollziehbar zu machen; ein Vorgehen, an das Thukydides in seinem Werk anknüpft. Susanne Froehlich analysiert die von Herodot benutzten Motive sowie ihre erzählerische Umsetzung und bezieht dabei die historischen Kontexte mit ein, um die Arbeitsweise des Geschichtsschreibers näher zu beleuchten.

Pourquoi Xerxès prit-il la fatale décision d’entrer en guerre? Pour Hérodote, il faut se représenter les motifs qui guident les actions des hommes. Utilisant un procédé qui sera repris par Thucydide, Hérodote emploie un inventaire nuancé de mobiles et développe des schémas d’explication qui lui servent à élucider les décisions prises par les acteurs historiques. Le présent volume propose ainsi une analyse des motifs invoqués par Hérodote et de leur adaptation narrative, en les replaçant dans leurs contextes historiques, ce qui permet d’éclairer sa méthode de travail.

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