Handbuch Sprache und Religion 9783110295856, 9783110296297, 9783110393927

The Handbook of Language and Religion offers the first extensive amalgamation of research findings on religion from ling

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German Pages 514 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Zur Konzeption des Handbuchs
Teil I: Theoretische und historische Aspekte des linguistischen Gegenstands „Sprache und Religion“
1. Religionslinguistik
2. Religionen in der Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Deutschen
Teil II: Sprache in den Weltreligionen und religiösen Strömungen der Spätmoderne
3. Sprache in der jüdischen Religion
4. Reden von und über Gott in den christlichen Religionsgemeinschaften
5. Sprache und Offenbarung. Zur Rolle des Arabischen im Islam
6. Buddhistische Praxis und Sprache
7. Sprachverkörperung Gottes
8. Religion als Ressource in säkularisierten Gesellschaften
9. Postmoderne Religiosität und Spiritualität
Teil III: Schlüsselbegriffe im Feld Sprache und Religion
10. Transzendenz
11. Das Unsagbare
12. Charisma
13. Sprachspiel der Verkündigung
14. Verehrung – die Messe als ritueller Handlungskomplex
15. Vergegenwärtigung
Teil IV: Repräsentationsformen religiöser Wissensbestände in ausgewählten Darstellungsmodi und -medien
16. Predigt als Kommunikationsgeschehen
17. Bibelillustration als intermodale Form christlicher Exegese und Verkündigung
18. Metamorphosen des absoluten Buches zwischen 1800 und 1900
Teil V: Verzeichnisse
Abkürzungen
Index
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Handbuch Sprache und Religion
 9783110295856, 9783110296297, 9783110393927

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Handbuch Sprache und Religion HSW 18

Handbücher Sprachwissen

| Herausgegeben von Ekkehard Felder und Andreas Gardt

Band 18

Handbuch Sprache und Religion Herausgegeben von Alexander Lasch und Wolf-Andreas Liebert

ISBN 978-3-11-029585-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-029629-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039392-7 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany

www.degruyter.com

Inhalt Alexander Lasch/Wolf-Andreas Liebert  Zur Konzeption des Handbuchs | 1

Teil I:

Theoretische und historische Aspekte des linguistischen Gegenstands „Sprache und Religion“ 

Wolf-Andreas Liebert  1. Religionslinguistik | 7 Thomas Gloning  2. Religionen in der Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Deutschen | 37

Teil II: Sprache in den Weltreligionen und religiösen Strömungen der Spätmoderne  Heidrun Deborah Kämper  3. Sprache in der jüdischen Religion | 69 Albrecht Grözinger  4. Reden von und über Gott in den christlichen Religionsgemeinschaften | 92 Lirim Selmani  5. Sprache und Offenbarung. Zur Rolle des Arabischen im Islam | 109 Werner Vogd  6. Buddhistische Praxis und Sprache | 154 Anand Mishra  7. Sprachverkörperung Gottes | 179 Ulla Fix  8. Religion als Ressource in säkularisierten Gesellschaften | 192 Markus Hero  9. Postmoderne Religiosität und Spiritualität | 222

VI | Inhalt

Teil III: Schlüsselbegriffe im Feld Sprache und Religion  Alexander Lasch  10. Transzendenz | 241 Wolf-Andreas Liebert  11. Das Unsagbare | 266 Pamela Steen  12. Charisma | 288 Helmut Ebert  13. Sprachspiel der Verkündigung | 312 Albrecht Greule/Sebastian Kiraga  14. Verehrung – die Messe als ritueller Handlungskomplex | 338 Christine Stridde  15. Vergegenwärtigung | 356

Teil IV: Repräsentationsformen religiöser Wissensbestände in ausgewählten Darstellungsmodi und -medien  Elżbieta Kucharska-Dreiß  16. Predigt als Kommunikationsgeschehen | 385 Nina-Maria Klug  17. Bibelillustration als intermodale Form christlicher Exegese und Verkündigung | 417 Angelika Jacobs  18. Metamorphosen des absoluten Buches zwischen 1800 und 1900 | 443

Teil V: Verzeichnisse  Abkürzungen | 485 Index | 487

Alexander Lasch/Wolf-Andreas Liebert

Zur Konzeption des Handbuchs Mit diesem Handbuch wird nicht nur der Forschungsstand zum Thema „Sprache und Religion“ zusammengefasst, sondern vielmehr soll eine interdisziplinäre Diskussion eröffnet werden, die für die Linguistik auf den Anschluss an den aktuellen Forschungsdiskurs anderer Disziplinen zielt: Wie wir bereits in einem Problemaufriss im ersten Band der Handbuchreihe dargestellt haben, bewegten sich (1) die Forschungen bisher tendenziell eher in einem sehr engen Feld von Arbeiten im Umfeld christlicher Textsorten. Diese Fokussierung auf eine einzelne Religion haben (2) soziologische, psychologische oder philosophische Ansätze jedoch längst aufgegeben. Damit hat sich für diese Disziplinen ein neues Feld zu erforschender Phänomene eröffnet und zugleich die Möglichkeit ergeben, gesellschaftliche Prozesse zu untersuchen, in der sich die Rolle von Religionen, und wie diese bewertet werden, fundamental verändert. Diese Veränderungen zeigen sich sowohl in der Abschwächung der These von der Säkularisierung als auch in für die Spätmoderne spezifischen Ausprägungen einer selbstermächtigten Religiosität oder Spiritualität. Zugleich lässt sich eine Re-Fundamentalisierung von Religion beobachten, die von der Linguistik noch gar nicht in den Blick genommen wurde. Dies hat insbesondere in der Religionssoziologie zu einer Fülle von Studien und gegenstandsadäquaten Ausdifferenzierungen geführt. Da sich in der Linguistik bislang keine vergleichbare Ausdifferenzierung der Forschung zum Gegenstand „Sprache und Religion“ vollzogen hat, wurden für dieses Handbuch (1) sowohl Linguistinnen und Linguisten als auch Forschende aus anderen Disziplinen eingeladen, sich in ihren Beiträgen pointiert damit auseinanderzusetzen, welche Bedeutung Sprache zukommt, wenn man sie unter den Prämissen der Handbuchreihe zum Religiösen in Beziehung setzt. (2) Auch die Struktur des Handbuchs musste diesen Versuch der Ausdifferenzierung widerspiegeln – es fächert deshalb den Gegenstandsbereich einer „Religionslinguistik“ auf, ohne dabei Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen (oder angesichts der Forschungslandschaft zum Thema zum jetzigen Zeitpunkt zu können). Nachdem im ersten Teil grundlegende „Theoretische und historische Aspekte des linguistischen Gegenstands ‚Sprache und Religion‘“ behandelt werden, soll im zweiten Teil „Sprache in den Weltreligionen und religiösen Strömungen der Spätmoderne“ zum einen ein allgemeiner Überblick über die Bedeutung von Sprache in den großen Religionen gegeben werden: Vereint sind Artikel über die abrahamitischen Religionsgemeinschaften (Judentum, Christentum, Islam) sowie – erstmals in dieser Zusammenstellung – zu Buddhismus und Hinduismus. Zum anderen werden ein (religionssoziologischer) Überblick über das Feld der spätmodernen Religiosität und Spiritualität gegeben sowie Überschneidungen von Religion und Säkulargesellschaft thematisiert. Dieser Teil bildet, so breit aufgestellt die Themen auch im Hin-

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blick auf den Stand der linguistischen Forschung auch sein mögen, nur eine Auswahl relevanter Themen ab. Im dritten Teil werden einschlägige „Schlüsselbegriffe des Feldes Sprache und Religion“ benannt und beschrieben. Auch hier ist uns bewusst, dass die behandelten Schlüsselwörter bei Weitem nicht erschöpfend sind, und auch im Moment noch nicht die Spannweite haben, wie wir sie in der Anlage des Handbuchs konzipiert hatten. Schließlich werden im vierten und letzten Teil „Repräsentationsformen religiöser Wissensbestände in ausgewählten Darstellungsmodi und -medien“ diskutiert. Die hier versammelten Beiträge stehen exemplarisch für ein breites, erst noch auszumessendes Themenfeld. So fehlen bspw. Repräsentationsformen in den Neuen Medien, die eine zentrale Rolle einnehmen. Besonders die letzten beiden Teile des Handbuchs dürften, so unsere Hoffnung, von einem breiteren Forschungsinteresse erheblich profitieren und könnten dann, etwa in einer weiteren Auflage des Handbuchs, den Gegenstand „Sprache und Religion“ wesentlich facettenreicher widerspiegeln. Zu den einzelnen Beiträgen: Theoretische und historische Aspekte des linguistischen Gegenstands „Sprache und Religion“ Wolf-Andreas Liebert stellt in „Religionslinguistik. Theoretische und methodische Grundlagen“ Überlegungen dazu an, wie an die philosophische Anthropologie und an die Verfahren und Erkenntnisse der Religionswissenschaft oder der Religionssoziologie angeschlossen werden kann, um eine entsprechende Religionslinguistik zu begründen. Thomas Gloning geht in seinem Beitrag „Religionen in der Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Deutschen“ vor allem auf die historischen Aspekte des Gegenstands ein. Er systematisiert den Zusammenhang von Religion und Sprachgebrauch in der Geschichte des Deutschen und der Geschichte der Deutschen Sprachwissenschaft und benennt in Bezug auf verschiedene Fragestellungen Desiderata für zukünftige Studien. Sprache in den Weltreligionen und religiösen Strömungen der Spätmoderne Im Beitrag „Sprache in der jüdischen Religion“ von Heidrun Deborah Kämper wird das Judentum als kommunikativ-performatives religiöses Glaubenssystem vermittelt. Das allgemein-religiös geltende Phänomen der Kommunikativität soll dabei qualitativ hinsichtlich seiner Ausprägungen als Proprium religiöser jüdischer Praxis dargestellt und kulturanalytisch beschrieben werden. Albrecht Grözinger behandelt in seinem Beitrag „Reden von und über Gott in den christlichen Religionsgemeinschaften“ das metaphorische Sprechen als Charakteristikum christlicher Religionsgemeinschaften auf Basis der Bibel. Bereits dort zeigt sich auf verschiedenen Ebenen eine besondere Bewusstheit der Problematik der Versprachlichung, was nicht zuletzt dazu führt, dass sich in der Theologie ein spezifisches Verständnis von Metaphorik entwickelt, welches in einem ständigen Dialog mit nichttheologischen Metapherntheorien reflektiert und in der heutigen pluralen Gesellschaft auch gerechtfertigt werden muss. Im Islam hat die Sprache des Arabischen bekannterma-

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ßen eine besondere Bedeutung, da sie nicht nur Offenbarungsmedium, sondern konstitutives Merkmal der Offenbarung selbst ist, wie Lirim Selmani in seinem Beitrag „Sprache und Offenbarung. Zur Rolle des Arabischen im Islam“ zeigt. Das Arabische (des Korans) wird zu einer vollkommenen Sprache erhoben, was sich wiederum auf das Bewusstsein der Gläubigen (und die Sprachentwicklung des Arabischen selbst nachhaltig) auswirkt. Werner Vogd entfaltet in seinem Beitrag „Buddhistische Praxis und Sprache“ eine sozialanthropologische Perspektive, die Sprache als leiblich verkörperte Praxis versteht, aber die Differenz von psychischem Verstehen und Kommunikation besonders hervorhebt, um den Blick auf eine Negativsprache zur Thematisierung eines soteriologischen Ziels zu eröffnen. Anand Mishra betrachtet in seinem Beitrag zur hinduistischen Religion Vallabhacaryas Behauptung über das Bhagavata-Purana als „Sprachverkörperung Gottes“. Die durch Vallabhacaryas Prinzipien etablierten Methoden altindischer Grammatiker bedürfen besonderer Würdigung, da sie sich erheblich und fruchtbar irritierend von den Textzugängen unterscheiden, wie man sie aus der abendländischen Philologie zu kennen meint. Der Beitrag „Religion als Ressource in säkularisierten Gesellschaften“ von Ulla Fix ist am Beispiel des Montagsgebets vom Herbst 1989 in der damaligen DDR ein entschiedenes Plädoyer dafür, dass innerhalb eines Kommunikationsbereiches wie etwa dem der christlichen Kirche(n) auch die wechselseitigen sprachlich-kommunikativen Unterschiede und spannungsgeladenen Einflussnahmen zwischen dieser Institution und ihrem (säkularen) Umfeld untersucht werden müssen, indem Tendenzen der Sakralisierung öffentlicher Rede und Entsakralisierung der Rede im religiösen Raum in den Blick genommen werden. In „Postmoderne Religiosität und Spiritualität“ von Markus Hero schließlich rücken Betrachtungen zeitgenössischer religiöser Institutionen und gegenwärtiger religiöser Inhalte sowie eine Betrachtung der aktuellen Aushandlungs- und Aneignungsweisen des Religiösen in Prozessen der „Selbstermächtigung“ in den Mittelpunkt. Schlüsselbegriffe im Feld „Sprache und Religion“ Alexander Lasch setzt sich mit dem für das Thema „Sprache und Religion“ zentralen Schlüsselbegriff der „Transzendenz“ auseinander. Dabei soll ein operationalisierbarer Transzendenzbegriff entwickelt werden, der Transzendenz als ‚außerweltliche Innerweltlichkeit‘ auffasst. Damit bleibt Religion stets in der Welt gegenwärtig und kann durch empirisch-linguistische Verfahren erschlossen werden. In seinem Artikel „Das Unsagbare“ fasst Wolf-Andreas Liebert Unsagbarkeit bzw. die Unmöglichkeit von Expressivität als eine anthropologische Konstante. Er plädiert dafür, dass es einer Abgrenzung des Unsagbaren in anderen Lebensbereichen vom Bereich des Religiösen bedarf. Schließlich wird das Unsagbare in seiner paradoxalen Struktur als konstituierendes Moment von Religionen herausgearbeitet. Der semantisch vage und polyseme Ausdruck „Charisma“ geht nach Pamela Steen über die Bezeichnung einer sozialen und emotionalen Wirkung hinaus, etabliert hierarchische soziale Beziehungen und konstituiert so Machtgefüge. Gleichzeitig werden durch die Ver-

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wendung des Ausdrucks „Charisma“ Transzendenzbehauptungen vom Legitimationsdruck entlastet. Im Beitrag „Sprachspiel der Verkündigung“ von Helmut Ebert wird anhand der Textart Predigt Verkündigung als Sprachspiel aus kommunikativfunktionaler und kognitiv-funktionaler Sicht betrachtet. Sprachliche Mittel und Verfahren sowie die kommunikativen Aufgaben der Verkündigung werden als Analysekategorien diskutiert und angewendet. Die Messe als religiöses Ritual wird kommunikationstheoretisch von Albrecht Greule und Sebastian Kiraga in ihrem Beitrag „Verehrung – die Messe als ritueller Handlungskomplex“ untersucht. Gegenstand der Beschreibung sind dabei sowohl die „ordentliche“ (nachkonziliare) als auch die „außerordentliche“ (tridentinische) Form der Messe. In Christine Striddes Beitrag wird mediale „Vergegenwärtigung“ als Moment religiöser und ästhetischer Kommunikation in den Blick genommen. Die Begriffe der „Vergegenwärtigung“ sowie der „Präsenz“ werden dafür zusätzlich aus Sicht verschiedener Disziplinen beleuchtet. Repräsentationsformen religiöser Wissensbestände in ausgewählten Darstellungsmodi und -medien Elżbieta Kucharska-Dreiß betrachtet die „Predigt als Kommunikationsgeschehen“. Mithilfe der Erkenntnisse wissenschaftlicher Disziplinen wie Rhetorik, Psychologie und Kommunikationswissenschaft wird die Predigt tiefgreifend erschlossen und zugleich aufgezeigt, dass sie zu interdisziplinärer Betrachtung und Erforschung einlädt. Nina-Maria Klug untersucht die „Bibelillustration als intermodale Form christlicher Exegese und Verkündigung“. Der Beitrag wirft durch seinen Einbezug von Illustrationen und Bildern eine multimodale Perspektive auf die christliche Exegese. Es werden Formen, Funktionen und Begründungen der Bibelillustration, ihre Bezugnahmen zum Text und die Exegese mit semiotischen Mitteln beschrieben. Der Beitrag „Metamorphosen des absoluten Buches zwischen 1800 und 1900“ von Angelika Jacobs beschließt das Handbuch. Sie setzt sich mit dem Buch als Metapher auseinander und zeigt, wie sich das romantische Konzept des absoluten Buches entwickelt hat. Die daran anschließenden Metamorphosen des absoluten Buches nach Kant ziehen eine Auseinandersetzung mit Novalis, Brentano, Kierkegaard sowie Livre mit sich.

Dank Zu besonderem Dank für die Unterstützung bei der Einrichtung des Handbuchs sind wir Toke Hoffmeister (Kiel) verpflichtet; bei der Korrektur halfen uns Swantje Köhler (Koblenz), Melanie Lange (Koblenz), Marrit Sophie Petzolt (Kiel), Thomas Philippsen (Koblenz) und Sebastian Veletić (Kiel) tatkräftig. Auch ihnen sei herzlich gedankt. Alle im Handbuch verbliebenen Fehler und Ungenauigkeiten verantworten allein wir als Herausgeber.

| Teil I: Theoretische und historische Aspekte des linguistischen Gegenstands „Sprache und Religion“

Wolf-Andreas Liebert

1. Religionslinguistik Theoretische und methodische Grundlagen Abstract: Im Folgenden soll eine neue Teildisziplin der Linguistik, die Religionslinguistik, vorgeschlagen werden. Damit wird für die Linguistik eine Ausdifferenzierung nachvollzogen, die bereits Jahrzehnte zuvor in anderen Disziplinen stattgefunden hat, etwa als Religionssoziologie, Religionsphilosophie oder Religionspsychologie. Dabei geht es nicht nur darum, einen methodologischen Rahmen für linguistische Analysen im Bereich der Religion zu schaffen, sondern eine theoretische Basis herzustellen, auf die sich eine solche Methodologie stützen kann. Zu dieser theoretischen Grundlegung wird die Philosophische Anthropologie Helmuth Plessners herangezogen, insbesondere das dort entwickelte Konzept der „exzentrischen Positionalität“. Aus der Konzeption einer exzentrischen Positionalität ergeben sich Konsequenzen für die Begriffe Kultur und Religion, die hier zu einem Konzept unterschiedlicher Haltungen zum Transzendenten weiterentwickelt werden. Diese Haltungen sind die transzendente, die non-transzendente und die transtranszendente Positionierung. Während sich die transzendente Positionierung dadurch auszeichnet, dass ein Transzendentes als existierend angenommen wird, ist dies in der non-transzendenten Positionierung nicht der Fall bzw. es liegt ein unentschiedenes Moment darin (die Weber’sche ‚Unmusikalität‘). In der transtranszendenten Positionierung zeigt sich eine dritte Möglichkeit, die im Text entwickelt wird. Aufbauend auf diesen Positionierungen wird dann die linguistische Diskussion, insbesondere um den Begriff der kommunikativen Praktiken, eingebracht und auf den Bereich des Religiösen bezogen: Kommunikative Praktiken wie das Gespräch mit transzendenten Wesen, etwa im Gebet oder anderen Formen, erscheinen dann insbesondere in ihrem Wirklichkeitsstatus unterschiedlich, je nachdem, welche Positionierung der Beobachter einnimmt. Methodologisch können durch die Arbeit am Manifesten kulturorientierte medien-, bild-, text-, diskurs- und interaktionslinguistische Ansätze zum Zuge kommen. Schließlich werden als Ergebnis Konsequenzen für die Grundlinien einer Religionslinguistik thesenartig vorgestellt. 1 2 3 4 5 6

Einleitung Die innere Dissoziation des Lebens – Einführung in die philosophische Anthropologie Helmuth Plessners Die Positionierungen der Transzendenz, Non-Transzendenz und Trans-Transzendenz Sprache und kommunikative Praktiken im Bereich des Religiösen Thesen zur Grundlegung einer Religionslinguistik Literatur

DOI 10.1515/9783110296297-002

8 | Wolf-Andreas Liebert

1 Einleitung Können wir mit Gott sprechen? Können wir mit Engeln sprechen? Weder ein einfaches ‚nein‘, noch ein einfaches ‚ja‘ sind hier befriedigend. Zu unklar scheinen die Begriffe ‚Gott‘, ‚Engel‘ und was dann wohl ‚sprechen‘ bedeuten könne, und ob darüber überhaupt gesprochen werden kann bzw. darf, um – wie Ludwig Wittgenstein (1966) ausgeführt hat – keine Unsinnssätze zu produzieren. Was bedeutet es aber dann, wenn in der Bibel davon gesprochen wird, dass ein Engel zu Maria oder anderen Menschen spricht? Wenn Menschen Marienerscheinungen haben oder Milliarden von Menschen regelmäßig beten? Handelt es sich bei dem, was als Antwortendes erfahren wird, um eine innere Stimme oder eine Halluzination? Oder gar um eine ‚ganz normale‘ Kommunikation? Ist ‚ganz normal‘ im Kontext eigener „symbolischer Universa“ zu verstehen, das sind „sozial objektivierte Sinnsysteme, die sich einerseits auf die Welt des Alltags beziehen und andererseits auf jene Welt, die als den Alltag transzendierend erfahren wird.“ (Luckmann 1991, 80)? Ist es überhaupt Kommunikation, wenn jemand betet? Und wenn ja, mit wem wird dann gesprochen? Vielleicht mit „religiösen Wesen“ (Latour 2014, 424)? Handelt es sich, wie William James (1917, referiert wird 1997, 492ff.) meinte, um eine Verständigung mit einem uns selbst unbekannten Teil, unserem eigenen ‚höheren Selbst‘? Für das postmodernistische Denken mag dies ein sympathisches Modell sein, das sich so lesen ließe: Wir sind selbst mannigfach dissoziierte Wesen und haben dabei auch noch das Beste vergessen, dass wir nämlich selbst der Gott sind, den wir fälschlicherweise als einen äußeren verehren (oder verachten, ignorieren etc.). Die traditionellen Religionen gründeten dann auf der fatalen Annahme, dass das Transzendente eine Art zweiter (‚Hinter‘-)Welt darstelle. Doch diesem Anthropomorphismus stünde der „Theomorphismus“ der Gleichsetzung des Menschen als Gott gegenüber (Plessner 1975, 345). Oder stecken wir irgendwo dazwischen fest und müssen in die Gottwerdung, die homoiosis theo, flüchten, wie Sokrates meinte (Platon, Theaitetos, 176b)? Kann sich ein forschendes Subjekt hier neutral verhalten, d. h. keine Stellungnahme zur Frage von Konstruktion oder Wirklichkeit abgeben? Etwa indem es wie im symbolischen Interaktionismus in einen kurzfristigen Relativismus verfällt und Teilnehmerkategorien als Fiktion verbucht, solange die Ergebnisse seines Handelns – in einem konsensualen Sinne! – real sind (Thomas/Thomas 1928/1970)? Welche Folgen real sind und welche nicht, und wie diese zu unterscheiden wären, bleibt dabei im Dunkeln. Oder indem wie in der Konversationsanalyse schlicht auf jedwede externe Kategorisierung verzichtet wird, so dass Gebet ist, was Betende Gebet nennen und im Display anzeigen – ansonsten gibt es einfach kein Gebet. Oder indem das Gebet in Anlehnung an die Medienforschung zur parasozialen Interaktion (Horton/Wohl 1986) erklärt wird? Wie kann diese seltsame Verständigung mit Transzendentem, die in der Regel nur für einzelne Subjekte oder einzelne Gruppen

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wahrnehmbar ist, und dabei eine den Alltag übersteigende bisweilen auch erschütternde Realität für dieses besitzt, sinnvoll beschrieben werden? Gibt es etwa Fälle, bei denen sich verschiedene Subjekte und Gruppen mit denselben transzendenten Wesen verständigt haben, obwohl sie verschiedenen symbolischen Universa angehören? Und wie wäre dies feststellbar? Es scheint für ein Forschungssubjekt, das einem bestimmten symbolischen Universum nicht angehört, auf den ersten Blick unmöglich zu sein, diese Art von Kommunikation zu beobachten, wenn das oder die transzendenten Wesen nicht manifest sind, zumindest nicht in einer Weise, dass sie intersubjektiv als Außenweltliche zugänglich sind und beobachtet werden können. Bei näherem Hinsehen stellt dies überraschender Weise für eine interaktionale Linguistik (z. B. Gumperz 1978; Hausendorf/Schmitt 2010) jedoch nicht wirklich ein Problem dar, denn zumindest einer verständigt sich ja, d. h. selbst, wenn jemand betet oder auch nur innerlich mit Gott spricht, so findet dies doch immer in einem situierten Kontext statt. Allerdings muss die interaktionale Linguistik dazu einige zentrale Annahmen aufgeben, etwa dass nur Interaktionssituationen untersucht werden können, in denen sich menschliche Subjekte verständigen. Wird diese Annahme fallen gelassen, kommen auch Situationen in den Blick, bei denen ein Teilnehmer a) nicht menschlich ist, b) einen ungeklärten oder umstrittenen Wirklichkeitsstatus hat oder c) fiktiv ist. Dabei handelt es sich in allen drei Fällen um kulturelle Kategorien, deren Zuschreibungen zu konkreten Subjekten sich im Lauf der Jahrhunderte immer wieder geändert haben. Dieser reiche Kontext müsste sinnvoll in die Interaktionsanalysen eingebracht werden (vgl. dazu Metten 2014 sowie Habscheid 2016). Weiterhin wird damit unterstellt, dass geklärt wäre, was es denn mit den menschlichen Partnern in einer Verständigungssituation auf sich habe. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn wer oder was denn zur Kategorie der Menschen gehöre bzw. was der Mensch denn sei, stellt ebenso eine kulturelle Kategorie dar, die dem Wandel unterworfen ist. Ja, die Kategorie Mensch selbst ist von Foucaults Wette herausgefordert, „dass der Mensch“ – und hier müsste man ergänzen die Anthropologie – „verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (Foucault 1974, 462). Während die Kategorie des Menschen vielleicht (noch) nicht ganz verschwunden ist, entstehen Gelegenheiten für andere Kategorien, sich bemerkbar zu machen, eben nicht-menschliche Wesen (vgl. Latour 2001, 2011, 2014). Wenn wir diese Erweiterung einmal unterstellen, dann erweitert sich das Feld möglicher Kommunikationssituationen immens – und die linguistische Anthropologie kann sich von anderen Disziplinen noch dadurch abgrenzen, als mindestens ein menschliches Wesen an einer Verständigungssituation beteiligt sein muss, um von ihr untersucht zu werden. Wenn diese erweiterte Anthropologie einmal akzeptiert wird, dann können viele analytische Verfahren der Linguistik wieder zum Zuge kommen, denn die an der Verständigungssituation Beteiligten werden sich zu verstehen geben, welche Kategorien sie sich zuschreiben, wie sie sich zueinander positionieren und in welchem Wirklichkeitsmodus (Liebert 2002, 44–47; Latour 2011, 2014, 409ff.) ihre

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Kommunikation zu verstehen ist. Dies kann als eine erweiterte Form von Kontextualisierungshinweisen aufgefasst werden, die dann nicht nur das Verstehen im engeren Sinn steuern, sondern im Grunde ein Dispositiv darstellen, das als kulturelle Kohärenz erfahren wird, und durch iterierte Praktiken aufrechterhalten und modifiziert wird (Gnosa 2016, 320ff.). Häufig werden diese Kategorisierungen stillschweigend und anscheinend problemlos vorausgesetzt, jedoch können unterschiedliche Wirklichkeitsauffassungen jederzeit zum Tragen kommen. Dann bricht sich eine Kontroverse Bahn, und was bislang als kulturelle Kohärenz und bloße Ressource wahrgenommen wurde, entpuppt sich als ein sperriges Dispositiv mit einer spezifischen Aussagen-, Machtstrategie- und Medienkonfiguration (Gnosa 2016). Das Dispositiv wird manifest und kann beobachtbar bearbeitet werden. Gewendet auf die Situation des Betenden, der sich – aus seiner Sicht? – mit einem transzendenten Wesen verständigt, wird der Betende genauso wie in anderen Situationen Kontextualisierungshinweise geben, die zumindest zum Teil manifest sind. Sollen also linguistische Untersuchungen über Sprache und kommunikative Praktiken im Bereich des Religiösen durchgeführt werden, so wird die Auseinandersetzung mit dem Religiösen, insbesondere welcher Wirklichkeitsstatus ihm zukommen und wie es mit Sprache und Kultur zusammenhängen mag, Teil der Analyse sein müssen. Mit der Behandlung dieser Dinge tut sich die Linguistik jedoch recht schwer, da das Feld Sprache und Religion lange Zeit nahezu brach lag und erst langsam von der Linguistik wieder bemerkt und bearbeitet wird (vgl. Lasch/Liebert 2015). Diese hier vorliegenden Überlegungen stützen sich in weiten Teilen auf grundlegende Gedanken zum Verhältnis von Sprache, Religion, Kultur und Wirklichkeit, die an anderer Stelle vorgelegt werden (Liebert im Erscheinen) und die hier auf die Grundlegung einer Religionslinguistik zugespitzt werden und damit den Anschluss an die Arbeiten der Religionswissenschaft, der Religionsphilosophie, der Religionspsychologie oder der Religionssoziologie ermöglichen.

2 Die innere Dissoziation des Lebens – Einführung in die philosophische Anthropologie Helmuth Plessners Welche theoretischen Grundlagen sind nun geeignet, einen linguistisch plausiblen Zusammenhang von Sprache, Kultur, Religion und Wirklichkeit aufzubauen? Während sich die Theolinguistik an der (zumeist christlichen) Theologie orientiert (vgl. Greule/Kucharska-Dreiß 2011), soll im Folgenden der Versuch gemacht werden, die weiteren Betrachtungen zum Verhältnis von Kultur, Sprache, Religion und Wirklichkeit mit Bezug auf die Religionssoziologie zu entwickeln und zwar insbesondere auf dem Boden der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners. Die Grund-

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gedanken Plessners scheinen etwa im totalen Transzendenzbegriff Luckmanns (1991, 77ff.) durch und werden auch in der jüngeren Religionssoziologie angeführt (Knoblauch 2009, 56f.), allerdings ohne diese ausdrücklich zu entfalten. Im Unterschied zu paläoanthropologischen Begründungen von Kultur und Religion, wie sie etwa Durkheim (2014) oder Freud (2009) leisten, legt Plessner diese Grundlagen durch eine Analyse der Bedingungen der Möglichkeit von Leben, Menschsein, Kultur und Religion. Da die philosophische Anthropologie in der Linguistik bislang kaum rezipiert wurde, ist es jedoch notwendig, diese zunächst auf die hier angesprochene Fragestellung bezogen zu erläutern. Der Mensch ist in Helmuth Plessners Philosophischer Anthropologie (1975) keine harmonische Einheit, sondern – ähnlich wie in der Schizoanalyse von Deleuze/Guatarri (1974) – konstitutionell ein ‚zersplittertes‘ Wesen. Diese Spaltung wird von Plessner mit dem Begriff der Positionalität begründet, also der Möglichkeit von biologischen Einheiten, eine Position zu besitzen und sich bei zunehmender Komplexität auch dieser Position gewahr zu werden, ‚aus dem Nichts‘ ein absolutes Hier und Jetzt zu gewinnen, das ein eigenes, – je nachdem mehr oder weniger starkes – autonomes Agieren erlaubt. Verschiedene Formen von Positionalitäten werden genutzt, um kategoriale Unterschiede zu machen, vom anorganischen zum organischen und innerhalb des Organischen dann von den Pflanzen zu einfachen und komplexen Tieren und schließlich zum Menschen, den nach Plessner eine exzentrische Positionalität auszeichne. Dieser Begriff soll nun zunächst erläutert werden, da aus ihm eine Begründung von Kultur, Sprache, Religion und Wirklichkeit abgeleitet werden kann. Sodann wird der Religionsbegriff Plessners kritisch diskutiert und ein Feld dreifacher Positionierung, der transzendenten, der non-transzendenten und der trans-transzendenten, begründet. Damit wird auch der nicht-totale Transzendenzbegriff Luckmanns (1991, 80) wieder eingebracht, ohne damit eine universale Binarität zu behaupten.

2.1 Exzentrische Positionalität Bereits höhere Tiere besitzen nach Plessner eine Positionalität, in der ein Erfahrendes und ein Erfahrenes voneinander abgehoben sind, was so auch eine Leiberfahrung ermöglicht (Plessner 1975, 123ff.). Damit sind bereits höhere Tiere in grundlegender Weise einer Doppeldeutigkeit ausgesetzt: Nur auf diese doppeldeutige Weise (eine Doppeldeutigkeit also, die keine Eindeutigkeit verbirgt oder durch solche zu ersetzen wäre) steht das lebendige Ding in Distanz zu seinem Körper, zu dem, welches er selbst ist, zu seinem eigenen Sein. Er ist selbst – in ihm. Die Position ist eine doppelte: das der Körper selber Sein und das im Körper Sein, und doch Eines, da die Distanz zu seinem Körper nur auf Grund völligen Einsseins mit ihm allein möglich ist. Die raumhafte Mitte, der Kern bedeutet das Subjekt des Habens oder das Selbst. (ebd., 237)

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Dadurch können sich Tiere in ihrem Körper gegenwärtig fühlen und sind in der Lage, spontan zu handeln. Sie besitzen ein absolutes Hier und Jetzt, eine positionale Mitte, deren sie sich allerdings nicht gewahr sind. Damit gewinnt Plessner bei Tieren ein funktionales Selbst, das allerdings „noch kein Bewußtseinssubjekt“ (ebd., 159) ist. Durch eine weitere Abhebung entsteht die Bedingung des Menschseins: Die Schranke der tierischen Organisation liegt darin, daß dem Individuum sein selber Sein verborgen ist, weil es nicht in Beziehung zur positionalen Mitte steht, während Medium und eigener Körperleib ihm gegeben, auf die positionale Mitte, das absolute Hier-Jetzt bezogen sind. Sein Existieren im Hier-Jetzt ist nicht noch einmal bezogen, denn es ist kein Gegenpunkt mehr für eine mögliche Beziehung da. Insoweit das Tier selbst ist, geht es im Hier-Jetzt auf. (…) Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht als Mitte. Es erlebt Inhalte im Umfeld, Fremdes und Eigenes, es vermag auch über den eigenen Leib Herrschaft zu gewinnen, es bildet ein auf es selber rückbezügliches System, ein Sich, aber es erlebt nicht – sich. (ebd., 288, Herv. W.-A. L.)

Zusätzlich zur Leib-Selbst-haften Abhebung im Tier entsteht also eine weitere Spaltung, die einen potenziell unendlichen, reflexiven Regress in Bezug auf die LeibSelbst-hafte Abhebung ermöglicht, was einen neuen Positionalitätstyp ergibt, die exzentrische Positionalität: Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch. Exzentrizität ist die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld. (ebd., 291f., Herv. W.A. L.)

Diese Exzentrik bedeutet die Entstehung eines Ichs, zugleich aber auch den Verlust des einfachen, ungebrochenen „Aus-der-Mitte-Lebens“, d. h. eines Erlebens, ohne das Erleben wieder erleben zu müssen: Als Ich, das die volle Rückwendung des lebendigen Systems zu sich ermöglicht, steht der Mensch nicht mehr im Hier-Jetzt, sondern „hinter“ ihm, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts, geht er im Nichts auf, im raumzeithaften Nirgendwo-Nirgendwann. Ortlos-zeitlos ermöglicht er das Erlebnis seiner selbst und zugleich das Erlebnis seiner Ort- und Zeitlosigkeit als des außerhalb seiner selbst Stehens, weil der Mensch ein lebendiges Ding ist, das nicht mehr nur in sich selber steht, sondern dessen „Stehen in sich“ Fundament seines Stehens bedeutet. […] Er lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben. (ebd., 292)

Während das Tier also aus seiner Mitte heraus lebt, ist der Mensch dissoziiert zur Leib-Selbst-Abhebung. Daher ist für den Menschen eine Dreiheit charakteristisch: innerhalb, außerhalb und als „Hiatus“, einer „Kluft“ (ebd., 291) als einer psychophysisch „neutrale[n] Einheit“ (ebd., 292). Diese Dreiheit bildet allerdings kein harmonisches Ganzes, und kann auch nicht in irgendeiner dialektischen Weise aufgelöst oder aufgehoben werden, sondern verbleibt in ihrer Abgehobenheit voneinander, denn nur so ist ein Ich-Bewusstsein möglich:

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Ihm ist der Umschlag vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des Leibes ein unaufhebbarer Doppelaspekt der Existenz, ein wirklicher Bruch seiner Natur. Er lebt diesseits und jenseits des Bruches, als Seele und als Körper und als die psychophysisch neutrale Einheit dieser Sphären. Die Einheit überdeckt jedoch nicht den Doppelaspekt, sie lässt ihn nicht aus sich hervorgehen, sie ist nicht das den Gegensatz versöhnende Dritte, das in die entgegengesetzten Sphären überleitet, sie bildet keine selbständige Sphäre. Sie ist der Bruch, der Hiatus, das leere Hindurch der Vermittlung, die für den Lebendigen selber dem absoluten Doppelcharakter und Doppelaspekt vom Körperleib und Seele gleichkommt, in der er ihn erlebt. (ebd.)

Das Gebrochene, Dissoziierte ist also das, was den Menschen ausmacht. Nicht als eine ‚Strafe‘, sondern als schlichte Konstitutionsbedingung, denn nur durch die Dissoziation, die Selbst-Distanzierung kann ein inneres Erleben überhaupt stattfinden. Bei Luckmann (1991) bildet dieses zugleich Innerhalb- und Außerhalb-Stehen die Grundlage für den oben erwähnten totalen Transzendenzbegriff, d. h., dass der Mensch konstitutiv transzendent sei. Das von Plessner angeführte dritte Charakteristikum, der „Hiatus“, spielt dagegen keine erkennbare Rolle. Im Folgenden wird sich zeigen, dass es genau der „Hiatus“ ist, der bei Plessner das entscheidende Charakteristikum für die Begründung für Kultur, Religion und Sprache bildet, und dass sich daraus verschiedene Formen von Transzendenz und Nicht-Transzendenz entwickeln lassen, die allesamt die von Plessner vorgestellte Exzentrik des Menschen zur Grundlage haben.

2.2 Begründung menschlicher Kultur aus der exzentrischen Positionalität: natürliche Künstlichkeit Aus der Exzentrik folgt für Plessner das Grundmerkmal der „natürlichen Künstlichkeit“ (Plessner 1975, 309) der menschlichen Existenz, aus dem sich ergibt, warum menschliche Kultur entstehen kann. Da der Mensch nicht wie das Tier aus seiner Mitte lebt, sondern darum weiß und damit aus dieser gerissen ist, lebt er nicht einfach, sondern entwirft sein Leben. Dies ergibt das „Paradoxon in der Lebenssituation des Menschen“ (ebd., 305) und zwingt ihm ein Leben in Antinomie auf, „sich zu dem erst machen zu müssen, was er schon ist, das Leben zu führen, welches er lebt“ (ebd., 310). Dieser „Schmerz um die unerreichbare Natürlichkeit der anderen Lebewesen“ (ebd.) ist die Grundlage für die Entstehung von menschlicher Kultur als eines nicht-natürlichen „Komplements“. Erst die menschlichen Artefakte, die sich von ihm loslösen und eine Eigenheit entwickeln, können das Gleichgewicht vorübergehend herstellen: In dieser Bedürftigkeit oder Nacktheit liegt das Movens für alle spezifisch menschliche, d. h. auf Irreales gerichtete und mit künstlichen Mitteln arbeitende Tätigkeit, der letzte Grund für das Werkzeug und dasjenige, dem es dient: die Kultur. (ebd., 311, Herv. i. Orig. durch Sperrung)

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So ist auch zu verstehen, dass komplexe menschliche Kulturen (‚Hochkulturen‘) bereits zu früheren Zeiten der Menschheitsgeschichte entstanden sind. Blickt man auf die ältesten Zeugnisse menschlicher Kultur, minoische oder auch jung- und altsteinzeitliche Kulturen, so ist immer auch ein ganzes kulturelles ‚Arsenal‘ enthalten: Reflexionsfähigkeit, kontrafaktisches Denken, das Nachdenken über den Tod, die Entwicklung naturnaher und metaphysischer Modelle, Philosophie und Religion, Sprache – als Gesten- oder Lautsprache –, wahrscheinlich auch von Anfang an Schrift oder ein anderer visueller, abstrakter Zeichengebrauch, wie er bereits in den Lascauxhöhlen zu beobachten ist. Auch Zahl- und Zeitbegriff, Dein und Mein, Vergleichen, Messen, Abwägen und damit verbunden Wirtschaften und Handel sind von Beginn an vorhanden, ebenso wie der Begriff des Ich und Du, die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, eine Form von Gesetz und Rechtsprechung, strategische Politik, Architektur, Theater, Kunst, Malerei, Musik, Handwerk und Technik (Kleiderherstellung, Fortbewegungsmittel, Waffen u. a.). Mit dem Menschsein entsteht also immer auch menschliche Kultur in ihrer ganzen Vielfalt von Reflexion, Ästhetik, Technik, Sprache, Mathematik, Politik, Recht, Alterizität und Dialogizität. Auch wenn man also davon ausgeht, dass Kultur ein Wesensmerkmal des Menschen bildet, das sich direkt aus seiner Exzentrizität ergibt, können Kulturen doch immer mehr oder weniger komplex sein. Eine Gerichtetheit, etwa im Sinne eines Zivilisationsprozesses (Elias 1969) als einer evolutionären oder auch nur historischen Entwicklung, ist in dieser Sicht kaum haltbar (vgl. z. B. Duerr 1993). Gerade zur Zeit der eben erwähnten minoischen Kultur existierten viele verschiedene menschliche Kulturen unterschiedlichster Komplexität. So gesehen, könnte man genau so gut folgern, dass sich einzelne Hochkulturen schon mit Beginn der Menschheit finden lassen müssten, also – je nach Position – ca. 300.000 Jahre v. Chr. oder deutlich früher. Die Fragen, die uns heute als philosophische plagen, die Sinnfragen und auch die immer neuen Sinnformeln (Liebert 2003; Geideck/Liebert 2003), die jede Kultur aufs Neue ersinnt, quälen uns also nicht nur heute, sondern von Anbeginn an – und werden dies auch immer tun, denn sie gehören zur Konstitution der exzentrischen Positionalität des Menschen: Durch seine Taten und Werke, die ihm das von Natur verwehrte Gleichgewicht geben sollen und auch wirklich geben, wird der Mensch zugleich aus ihm herausgeworfen, um es auf’s Neue mit Glück und doch vergeblich zu versuchen. Ihn stößt das Gesetz der vermittelten Unvermittelbarkeit ewig aus der Ruhelage, in die er wieder zurückkehren will. Aus dieser Grundbewegung ergibt sich die Geschichte. Ihr Sinn ist die Wiedererlangung des Verlorenen mit neuen Mitteln, Herstellung des Gleichgewichts durch grundstürzende Änderung, Bewahrung des Alten durch Wendung nach vorwärts. (Plessner 1975, 339)

So kann man auch den Mythos von Sisyphos verstehen, wenn der Stein, den Sisyphos immer wieder auf den Berg rollen muss, die kulturellen Artefakte sind, die Menschen immer wieder herstellen, um ins Gleichgewicht zu kommen. Im Moment

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der Loslösung der Schöpfung oder der Aufführung des Rituals gelingt dies bestenfalls, doch ist dies erreicht, ist also in der Sisyphosanalogie der Stein unter großen Kraftanstrengungen gerade auf die Spitze des Berges gewälzt, beginnt der Moment des Gefühls des Friedens und der völligen Ausgeglichenheit zu verfliegen – der mühsam nach oben gewälzte Stein rollt bereits unaufhaltsam hinunter. Wer darin die dem Menschen zukommende, nicht hintergehbare Daseinsweise erkennt und sie dennoch immer wieder zu hintergehen sucht, den muss man sich mit Albert Camus (1983, 101) „als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Die exzentrische Positionalität ist damit Grundlage der Entstehung von Kultur mit dem immer aufs Neue verlorenen Gleichgewicht, aus der nun auch die Begründung von Religion geleistet werden kann.

2.3 Begründung der Religion aus der exzentrischen Positionalität Als weiteres Grundmerkmal, das sich als Konsequenz aus der exzentrischen Positionalität ergibt, führt Plessner den „utopischen Standort“ des Menschen an (1975, 341ff.): Die exzentrische Positionalität ermöglicht eine nicht festlegbare Reflexionsmöglichkeit, die potenziell unendlich ist, und damit die Erfahrung absoluter Nichtigkeit („Seine Existenz ist wahrhaft auf Nichts gestellt.“ (ebd., 293; vgl. dazu auch Eßbach 2008)). Die Erkenntnis der Vergänglichkeit der eigenen Schöpfungen, seiner Bodenlosigkeit und seiner „konstitutiven Wurzellosigkeit“, die er „an sich selbst“ erfährt (ebd., 341), gibt ihm das Bewußtsein der eigenen Nichtigkeit und korrelativ dazu der Nichtigkeit der Welt. Sie erweckt in ihm angesichts dieses Nichts die Erkenntnis seiner Einmaligkeit und Einzigkeit und korrelativ dazu der Individualität dieser Welt. So erwacht er zum Bewusstsein der absoluten Zufälligkeit des Daseins und damit zur Idee des Weltgrundes, des in sich ruhenden notwendigen Seins, des Absoluten oder Gottes. (ebd.)

Allerdings gelingt es ihm, wie oben bereits angesprochen, auch damit nicht, die exzentrische Positionsform zu hintergehen, und einen dauernden Frieden zu erlangen, da auch „dieses Bewußtsein nicht von unerschütterlicher Gewißheit“ (ebd., 342) ist. Die Exzentrizität verlangt zwar nach einer Eindeutigkeit, verwirft sie aber auch zugleich wieder, „eine beständige Annullierung der eigenen Thesis“ (ebd.). Hier teilen sich nach Plessner nun zwei Wege des Umgangs mit der Exzentrik: Der eine Weg besteht darin, die Vergänglichkeit und die konstitutive Paradoxalität und damit auch die Vergeblichkeit des Erreichenwollens eines ewigen Friedens oder unbedingten Gleichgewichts zu leben, der andere Weg ist nach Plessner die Religion: Will er die Entscheidung so oder so, – bleibt ihm nur der Sprung in den Glauben. Die Begriffe und das Gefühl für Individualität und Nichtigkeit, Zufälligkeit und göttlichen Grund des eigenen Lebens und der Welt wechseln allerdings im Lauf der Geschichte und in der Breite mannig-

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facher Kulturen ihr Gesicht und ihr Gewicht für das Leben. Doch steckt in ihnen ein apriorischer, mit der menschlichen Lebensform an sich gegebener Kern, der Kern aller Religiosität. (ebd.)

Damit sind bereits die vielfältigen Formen religiöser Erfahrung angesprochen (James 1997), die in verschiedenen Kulturen und Zeiten je unterschiedlich ausfallen, was die Frage aufwirft, was denn für das Religiöse letztlich das entscheidende Merkmal sei? Plessners Antwortet lautet, dass Religion ein „Definitivum“ schaffe: Das, was dem Menschen Natur und Geist nicht geben können, das Letzte: so ist es –, will sie ihm geben. Letzte Bindung und Einordnung, den Ort seines Lebens und seines Todes, Geborgenheit, Versöhnung mit dem Schicksal, Deutung der Wirklichkeit, Heimat schenkt nur Religion. […] Wer nach Hause will, in die Heimat, in die Geborgenheit, muß sich dem Glauben zum Opfer bringen. Wer es aber mit dem Geist hält, kehrt nicht zurück. (Plessner 1975, 342)

Hier blickt man also auf die bereits angesprochene Weggabelung, der Weg der Religion führt nach Hause, der andere Weg in die ‚Hauslosigkeit‘ (vgl. Schumann 1999, 58ff.). Dabei ist der ‚andere Weg‘, der in Gegensatz zur Religion gesetzt wird, keineswegs klar: Was bedeutet der Subjektsatz „Wer es aber mit dem Geist hält“? Handelt es sich um eine Form von Säkularität oder von Atheismus? Folgt man Plessner weiter, ergibt sich dieser ‚andere Weg‘ durch ein unbedingtes Infragestellen selbst des Weltgrundes, ja jeglicher Idee: Dem menschlichen Standort liegt zwar das Absolute gegenüber, der Weltgrund bildet das einzige Gegengewicht gegen die Exzentrizität. Ihre Wahrheit, ein existenzielles Paradoxon, verlangt jedoch gerade darum und mit gleichem inneren Recht die Ausgliederung aus dieser Relation des vollkommenen Gleichgewichts und somit die Leugnung des Absoluten, die Auflösung der Welt. (Plessner 1975, 346)

Auf diese Weise ergibt sich, dass schließlich gar nichts übrig bleibt, also auch kein Atheismus. Dies scheint Plessner selbst erschreckt zu haben, so dass das Buch mit einem scheinbaren Ausweg aufwartet, der im Folgenden Marcionischer Ausweg genannt werden soll. Plessner schließt sein Buch mit dem Satz: Er [der Geist, W.-A. L.] zerstört den Weltkreis und tut uns wie der Christus des Marcion die selige Fremde auf. (ebd.)

Dieser Schlusssatz wirft eine Reihe von Fragen auf, die nun behandelt werden sollen.

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2.4 Der Marcionische Ausweg – Probleme des Religionsbegriffs Plessners Ohne hier näher auf die Marcionische Philosophie einzugehen, sei hier lediglich erwähnt, dass sich Plessner auf die Publikation von Adolf von Harnack Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott bezieht, die Anfang der zwanziger Jahre in zwei Auflagen erschien, und somit in die Stufen eingehen konnte. In Harnacks Marcion geht es um die Theologie des Gnostikers aus dem 1./2. Jh., der den Gott des Alten Testaments als falsch verwirft und das Christentum ausschließlich auf dem Neuen Testament aufbaut. Christen, die den Gott des Alten Testaments anbeten, kennen daher den ‚wahren‘ Gott nicht, der als unbekannt gilt. Die Welt ist daher nicht Heimat, wohingegen die Fremde selig erscheint: […] der bekannte Gott dieser Welt ist ein verwerfliches Wesen; das Evangelium aber ist die Botschaft vom fremden Gott; er ruft uns nicht aus der Fremde, in die wir uns verirrt, in die Heimat, sondern aus der grauenvollen Heimat, zu der wir gehören, in eine selige Fremde. (von Harnack 1924, 225, Herv. i. Orig. durch Sperrung) .

Nun könnte man schließen, dass am Ende der Philosophischen Anthropologie doch wieder alles in Religion mündet, um die es sich beim Marcionismus zweifellos handelt. Doch durch die Vergleichspartikel wie ist auch eine Interpretation möglich, dass es lediglich um die affektive Paradoxie der seligen Fremde geht, die hier von Harnack übernommen werden soll. Doch übernommen für was? Es bleibt die Weggabelung, eine fundamentale Entscheidung, ‚so oder so‘ – und die Erkenntnis, dass selbst der Atheismus geleugnet werden muss, und höchstens ein Weg verbleibt, der vorhin als Hauslosigkeit bezeichnet wurde. Deutet sich hier eine weitere Stufe an? Eine weitere Abhebung von der doppelten Abhebung? Für Plessner ist die exzentrische Positionalität das Siegel der Stufen des Organischen, eine weitere Stufe sei „unmöglich“ (Plessner 1975, 291). Aber wie ist dann das Verhältnis von Kreisförmigkeit und unendlicher Geraden, Plessners Symbole für Religion und den Geist, zu verstehen? Woher kommt auf einmal diese Wahlmöglichkeit, wo es doch nur Exzentrik geben sollte?

2.5 Religionen der Unendlichkeit in Heinrich von Kleists Marionettentheater Die vorangegangenen Ausführungen vorausgesetzt, liest sich Heinrich von Kleists Marionettentheater aus dem Jahr 1810 wie eine literarische Fassung der Genese der exzentrischen Positionalität einschließlich ihrer Aufhebung in einem neuen Konzept der Unendlichkeit, das weder in Plessners Symbol des Kreises noch im Symbol der Geraden aufgeht.

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Worum geht es in dieser Erzählung? Der Erzähler begegnet einem bekannten Balletttänzer, Herrn C., der die dem Erzähler zunächst absonderlich anmutende Behauptung aufstellt, dass die Marionetten des hiesigen Marionettentheaters in ihren Bewegungen anmutiger seien als die des hiesigen, professionellen Balletts. Die Überzeugung des Erzählers ändert sich erst, als ihm ein eigenes Erlebnis einfällt, das er Herrn C. berichtet: Er habe einen für seine ‚Anmut berühmten‘ Bekannten. Diesen habe er bei einer besonders anmutigen Geste beobachtet und ihn dann gebeten, ebendiese zu wiederholen. Doch dieser Versuch der Wiederholung misslang Mal ums Mal, was dramatische Folgen nach sich zog: Von diesem Tage, gleichsam von diesem Augenblick an, ging eine unbegreifliche Veränderung mit dem jungen Menschen vor. Er fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn. Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hatte. (von Kleist 2001, 344)

Diese Erzählung der Brechung spontaner Handlung durch Reflexion nutzt nun der Gesprächspartner des Erzählers, Herr C., um seine kühne Behauptung der Anmut von Marionetten zu belegen. Danach ist die Unmittelbarkeit an den Grad der Reflexion gekoppelt: Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. (ebd., 345)

Dies würde nun tatsächlich bedeuten, dass eine Marionette ohne jedes Bewusstsein auch die grazilsten Bewegungen ausführen würde. Doch nun wird zugleich in mehreren Analogien eine Möglichkeit eröffnet, den ‚Hiatus‘ zu überwinden – durch das imaginäre Konzept der Unendlichkeit und eine religiöse Transformation: Doch so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punkts, nach dem Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der andern Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott. (ebd.)

Die Aufhebung des Hiatus gelingt also nicht durch weitere Reflexion, sondern durch eine unbekannte Transformation, einen Transit, der das „Unendliche“ gleichsam ‚durchtunnelt‘. Dann hört die Eine Welt auf zu existieren: Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt. (ebd.)

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Kleists Erzählung lässt sich nun so lesen, als habe er die bei Plessner angeführten Symbole der Kreisförmigkeit (als Symbol für die heimatgebende Religion, die ein jenseitiges Transzendentes kennt) und der Unendlichkeit der Geraden (als Symbol für den freien Geist, der kein Transzendentes kennt) in einem neuen Symbol verschmolzen, dem Bild der unendlichen Schleife, die als Möbiusband aus der Mathematik des 19. Jahrhunderts kommend in die Literatur der Gegenwart Einzug gehalten hat (vgl. Hofstadter 2007). Auch die unendliche Schleife durchbricht den Weltkreis, wäre „das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt“, nur setzt sie sich nicht ins Unendliche fort wie die Gerade, sondern kehrt ewig wieder, ohne je anzukommen und ohne je begonnen zu haben. Die bisher in Anlehnung an Plessner bloß symbolisch gefassten drei Weisen des Umgangs mit der exzentrischen Positionalität des Menschen sollen im Folgenden begrifflich genauer analysiert werden, und zwar das Kreissymbol als Transzendenz, das Symbol der unendlichen Geraden als Non-Transzendenz und das Symbol der Schleife als Trans-Transzendenz. Diese Weisen des Umgangs mit der Exzentrik sollen als idealtypische Positionierungen verstanden werden.

3 Die Positionierungen der Transzendenz, NonTranszendenz und Trans-Transzendenz 3.1 Die Positionierung der Transzendenz (Kreis) Der eine eben thematisierte Weg ist die Religion, die in der Unsicherheit Sicherheit und in der Heimatlosigkeit Heimat bietet. Das von Plessner eingeführte Symbol des Kreises erweist sich als angemessen, als Religion in diesem Sinne verstanden ein Innen und ein Außen bietet und damit zwei zunächst einander unzugängliche Welten konstituiert, die konkret dann meist asymmetrisch als eine irdische und eine himmlische Welt – oder je nach kultureller Ausformung in anderer Weise – versprachlicht wird (Luckmann 1991, 80). Religion beansprucht nun, eine Verbindung zwischen beiden Welten herzustellen und damit die anscheinend Getrennten wieder zusammenzuführen und damit die unaufhörliche Exzentrik zur Ruhe zu bringen. Wenn Plessner in diesem Zusammenhang von Religion spricht, so könnte dies zu Missverständnissen führen, da Religion häufig vereinfachend als Institution verstanden wird. Dagegen hat sich in der Religionssoziologie der Begriff der Transzendenz durchgesetzt. Von einem Begriff der Transzendenz auszugehen, hat sich insbesondere auch in der empirischen Forschung bewährt, gerade wenn nicht nur traditionelle kirchlich institutionalisierte Formen untersucht werden, sondern informelle, spirituelle Netzwerke und Gemeinschaften (Knoblauch 2009). Hubert Knoblauch (ebd., 53ff.) hat darüber hinausgehend den Vorschlag gemacht, auf das

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Zweiweltenkonzept des Transzendenzbegriffs vollständig zu verzichten. Sein Unbehagen spitzt er in dem Wort „binär“ zu, was implizit den Vorwurf des Reduktionismus enthält, und dass spezifische Formen von Religiosität, etwa die Mystik, damit nicht erfasst werden könnten. Sein Vorschlag geht nun dahin, ausschließlich den totalen Transzendenzbegriff Luckmanns (1991) zu verwenden. Der totale Transzendenzbegriff Luckmanns meint die das Biologische überschreitende Geistigkeit des Menschen, was ihn zu einem transzendenten Wesen per se macht und sein Alltag somit voller ‚kleiner‘, ‚mittlerer‘ und ‚großer‘ Transzendenzen erscheint. Neben diesem totalen Begriff von Transzendenz bringt Luckmann aber auch einen nichttotalen Transzendenzbegriff vor, der sich wie oben ausgeführt, in spezifischen symbolischen Universa zeigt (Luckmann 1991, 80). Auch wenn die Einwände, die Knoblauch vorbringt, nachvollziehbar sind, würde man doch das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn man den Zweiweltenansatz völlig aufgeben würde, denn im Phänomenbereich spielt dieses Verständnis von Transzendenz im Selbstverständnis vieler Akteure eine wichtige Rolle – gerade in spätmodernen, spirituellen Netzwerken macht sich teilweise eine ‚gnadenlose‘ Binarität bemerkbar. Hier soll Transzendenz daher in seiner bekannten Bedeutung beibehalten werden, und das, was Knoblauch als darin nicht enthalten ausgemacht hat, beispielsweise non-duale oder mystische Ansätze, soll durch den weiter unten entwickelten Begriff der TransTranszendenz erfasst werden. Transzendenz soll hier als Positionierung angesprochen werden, da mit dem Begriff der Transzendenz zwar die meisten Religionen und sogar viele spätmoderne, spirituelle Netzwerke erfasst werden können, aber eben nicht alle. Eine transzendente Positionierung stützt sich auf das Behauptungsgefüge: a) dass die Exzentrik überwunden werden könne, b) dass es ein Definitivum gebe, c) dass eine Verbindung mit einem Transzendenten bestehe, d) dass diese Verbindung über Praktiken und Rituale hergestellt werden könne und e) dass die Religion nicht nur einem Kreis von Auserwählten zugänglich sei, sondern direkt oder indirekt allen initiierten Gläubigen, die sich in die transzendente Ordnung einfügen können. Der Transzendenzgedanke kann in zwei Formen erscheinen: Zum einen als eine Welt hinter den Erscheinungen, zu der es zu gelangen gilt. Zum anderen als eine Überwölbung der ‚realen Welt‘ mit Konzepten und Begriffen, die das Kontrafaktische als real erscheinen lässt, so dass man sich aus diesem Konstrukt befreien muss. Es handelt sich also um ein Desillusionierungskonzept wie im Platonischen Höhlengleichnis (vgl. Liebert 2015). In beiden Formen geht es darum, dass einem Subjekt das Alltägliche fraglich wird und es auf ein ‚Dahinter‘-Liegendes stößt und zu dieser Welt Zugang erhält. Dann setzt das Definitivum ein: Das Subjekt erkennt im besten Fall diese Wahrheit (Es gibt ein Transzendentes: Gott oder andere transzendente Wesen.) und orientiert sich nun an den (konventional-kulturellen) Praktiken der religiösen Institutionen oder auch Netzwerken, um seine Erfahrungen in die Narrationen und Formen der Religion einzupassen oder seine eigenen Erzählungen zu ergänzen. Wie verschiedentlich festgestellt wurde, hat sich in der Spätmoderne

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ein tiefgreifender Wandel vollzogen, der darin besteht, dass Bekehrungserlebnisse nicht mehr von den traditionellen Institutionen aufgefangen werden können, sondern religiöse Heimat zunehmend in einem Modus der Selbstermächtigung und damit verbunden individualistischer Metaphysik-Brikolagen gefunden wird, deren Definitivum auch durch ein Feindbild artikuliert wird (zum Feind wird dann die Gerade, d. h. Heimatlosigkeit, Wissenschaft, Denken, rationales Räsonnement). Dies wurde im Anschluss an Luckmanns These von der „unsichtbaren Religion“ (1991) und Knoblauchs These, „auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft“ (2009) zu sein, ausführlich diskutiert (vgl. etwa Bochinger/Engelbrecht/Gebhardt 2009; Lasch/Liebert 2015).

3.2 Die Positionierung der Non-Transzendenz (Gerade) Plessners Bild der unendlichen Geraden steht für den dauernden Fortschritt, den Geist der Freiheit, Infragestellung von allem, Heimatlosigkeit, und ist Ausdruck einer ‚religiösen Unmusikalität‘ (Weber 1994, 65) oder eines Agnostizismus, aber auch von dezidierteren Positionen des Atheismus und des Nihilismus (sowohl in seiner menschenfreundlichen wie in seiner zynischen Variante), dem angesichts des unendlichen Wandels immer neuer (auch religiöser) Sinnkategorien jegliche (vorrangige) Berechtigung von bestimmten Kategorien und schließlich auch jeglicher Sinn überhaupt abhandenkommt. Hier ist auch die aufgeklärte Wissenschaft und Philosophie zu finden, und zwar sowohl Realismus als auch (Radikaler) Konstruktivismus, der für Josef Mitterer (2001, 120) letztlich ebenfalls einen Realismus darstellt. Das Infinite der Geraden lässt zunächst vermuten, dass hier im Gegensatz zur Religion keine Finitheit und keine Verabsolutierung möglich ist. Doch bereits Plessner konstatiert, dass beide in einem unversöhnlichen Gegensatz, und daraus resultierend einem permanenten mehr oder weniger offenen Konflikt liegen. Zwischen den Positionierungen der Transzendenz und Non-Transzendenz bestehe „trotz aller geschichtlichen Friedensschlüsse und der selten aufrichtigen Beteuerungen, wie sie z. B. heute so beliebt sind, absolute Feindschaft“ (Plessner 1975, 342). Damit erhebt sich die Frage, warum dieser Streit überhaupt entstehen kann. Was hat die nontranszendente Positionierung zu verteidigen? Spezifische non-transzendente Positionierungen wie die atheistische können in diesem Konflikt zum Definitivum werden, wenn das Konzept der unendlichen Geraden mit Ausdrücken wie Fortschritt, Rationalität oder Wissenschaft absolut gesetzt wird. Dann erscheinen transzendente Positionierungen als Aberglaube oder Humbug, bestenfalls als narkotisierendes Herrschaftsinstrument.

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3.3 Die Positionierung der Trans-Transzendenz (Möbius-Schleife) Die eben besprochenen Positionierungen der Transzendenz und der Non-Transzendenz wurden noch ganz im Sinne der Philosophischen Anthropologie formuliert. Mit der dritten Kategorie wurde diese Sichtweise mit Gedanken Heinrich von Kleists erweitert. Wenn Plessner vom „Absoluten“ spricht, so denkt er das Absolute vom Menschen und seiner Exzentrik her, das der Mensch nicht aufgrund seines Willens, sondern aufgrund seiner Exzentrik sogleich überwindet. Hier ist sozusagen das Feuer des Prometheus in die innere Konstitution des Menschen eingelassen, das er nicht hintergehen kann, das ihn zwingend zu Gottgleichheit führt – gegen den Willen der Götter. Und der Mythos zeigt anscheinend genau dies, dass nämlich der Mensch als erkennendes Wesen erst mit Prometheus und seiner Intervention begänne. Allerdings bleibt das Menschsein dadurch auch mythisch und Plessner hütet sich davor, hier einem Biologismus oder Evolutionismus zu verfallen. Die Entstehung der Exzentrik ist zwar bio-logisch über die Stufen des Organischen plausibel zu machen, aber nicht erklärbar, denn: Hier kommt eben etwas vollkommen Neues hinzu, eine geistige Wesenheit, und diese schlägt gewissermaßen wie der Blitz an dieser Stelle ein. Warum, wissen wir nicht. Durch diesen Einschlag des Geistigen wird der Mensch zum Menschen. (Plessner 2002, 182)

Religion mit ihrem Versprechen, die Exzentrik überwinden zu können, wird für die Philosophische Anthropologie zum Störfaktor, denn dass der Mensch durch irgendetwas in ein stabiles Gleichgewicht gebracht werden könne – das ist nach Plessner unmöglich. Daher ist diese Weggabelung am Ende der Stufen so rätselhaft, bei der der Mensch anscheinend wählen kann, wo doch eine solche Wahlmöglichkeit in der Exzentrik nicht vorgesehen ist. Was sind also die Bedingungen für die Möglichkeit einer solchen Wahl? Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist es, Religion als eine Art Narkotikum zu betrachten. Im Unterschied zu Marx und anderen wird eine solche Behauptung von Plessner nicht explizit ausgesprochen, ist aber in seiner Konzeption angelegt, wenn er etwa mit Bezug auf Kierkegaard (1967, 40f.) von einem „Sprung in den Glauben“ spricht. Für Religion, also für die ‚Einnahme des Narkotikums‘, kann man sich folglich entscheiden, nach dessen Einnahme ist man allerdings für die Dauer der Narkose willenlos – und somit wäre Transzendenz eine Positionierung, durch die man sich willentlich willenlos machen kann. Wenn darin ein (vorübergehender) Gleichgewichtszustand erreicht wird, kann Sucht entstehen, d. h., dass die nachnarkotische Exzentrik den gerade erzeugten Gleichgewichtszustand wieder überwindet und die Exzentrik durch eine ‚höhere Dosis‘ erneut betäubt werden muss – ein Prinzip, nach dem sich auch die „freiwillige Knechtschaft“ (La Boétie 1981) verstehen lässt. Die grundlegende Exzentrik des Menschen wird dabei aber nicht beseitigt, auch nicht, wenn einzelne Menschen sich selbst zerstören (etwa durch übermäßigen

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Drogengebrauch oder den Freitod). Hier schließt sich natürlich die Frage an, ob hier nicht auch der Grund für die gattungsspezifische Selbstzerstörungstendenz des Menschen, den Freud’schen Todestrieb (Freud 2009) ausgemacht werden kann. In jedem Fall wäre Religion nicht das einzige ‚Narkotikum‘, sondern stünde in einer Reihe mit Versprechen von kollektivem Schutz, Glück, Status u. a., die auch in säkularen Gesellschaften ein zentrales Herrschaftsmittel darstellen. Eine transzendent positionierte Religion wäre in dieser Sichtweise daher das Versprechen eines Auswegs, eines Heimwegs, der aus der Sicht des Erlebens des Einzelnen stimmig sein kann, der aus der Sicht des (gegenüber dem Narkotisierten) Wachen allerdings nur ein scheinbarer wäre. Eine transzendent positionierte Religion wäre somit ein Synonym für Fundamentalismus (Latour 2014, 415). Betrachtet man jedoch die schiere Anzahl von Menschen, die den narkotischen einem nicht-narkotischem Zustand vorziehen, dann weiter darin, dass es nicht spezifisch für Religion ist, einen ‚anästhetischen‘ Weg anzubieten, sondern bekanntes Mittel von (nicht-religiösen) Herrschaftsroutinen und -strukturen, dann bleiben recht wenig Nicht-Narkotisierte übrig, so dass diese mit ihrer Diagnose selbst in Rechtfertigungszwang geraten. Schließlich macht ein genaues Betrachten von Menschen mit Bekehrungserlebnissen von Religionen es unmöglich, sie als bloß Narkotisierte oder psychisch Kranke abzutun. Das ist eins der wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung von William James (1997). Die Erklärung von Religion im Sinne einer Positionierung der Transzendenz kann sich daher nicht darin erschöpfen, sie generell als narkotisch zu betrachten, auch wenn der religiöse Glaube zu einem wesentlichen Teil genau darin bestehen mag, und Gläubige unter bestimmten Umständen den Manipulationen von Herrschaftseliten ausgeliefert sind. Plessner deutet daher am Schluss der Stufen selbst einen neuen Typ von Religion an, den vorher besprochenen Marcionischen Ausweg. Allerdings wird dies von ihm nicht weiter fortgeführt, so dass dieser neue Typ nun mit Bezug auf die oben ausgeführten Gedanken Kleists und auch Emmanuel Lévinas’ (2004) ausgeführt werden soll, ohne dabei den Grundgedanken der Exzentrik aufzugeben. Das Denken vom Menschen ausgehend hin zum Transzendenten ist die bevorzugte Denkfigur der non-transzendenten Positionierung. Dies trifft auch auf die Philosophische Anthropologie zu, in der aus den Stufen des Organischen die Bedingungen für das Menschsein abgeleitet werden, und das Absolute dann als eine notwendige Folge aus der Exzentrik des Menschen erscheint. Für Emmanuel Lévinas besteht der große Perspektivenwechsel darin, eine Positionierung jenseits dieser Positionierungen einzunehmen. Er führt dafür den Begriff L’Autre ein. Der Grundgedanke der Stufen war die Dissoziation des Lebens. Nun kann dieser Gedanke viel weiter gefasst werden als die Dissoziation des Seins als L’Autre. Diese Dissoziation kann freilich nur eine paradoxale sein, denn es handelt sich nicht um die Aufsplitterung eines Ganzen in Teile, sondern um eine unendliche, nie aufhörende Dissoziation, ohne dass damit je eine Veränderung passiert wäre. Die Annahme der Dissoziation des Seins vermeidet die Inversion der Psychologie, die Dissoziation in die

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Innenwelt zu verlegen, um dann das Transzendente als Teil der Innenwelt zu beweisen. Der ‚Kniff‘ der Inversion besteht zunächst darin, ein Bewusstes und ein Unbewusstes anzunehmen, um dann alles religiöse Erleben als aus dem Unbewussten entstehend zu verstehen, um schließlich in der Hilfskonstruktion eines ‚höheren‘ Teils des ‚eigenen‘ Selbst zu enden (auch wenn es sich um ein ‚dialogisches Selbst‘ (Hermans/Kempen 1993) handeln sollte): [Da] die höheren Fähigkeiten unseres eigenen verborgenen Geistes […] die Kontrolle ausüben, ist das Gefühl der Vereinigung mit einer Macht jenseits unserer selbst nicht nur scheinbar, sondern buchstäblich wahr. (James 1997, 491)

Der letzte Teil dieses ‚Kniffs‘ zeigt sich schließlich darin, dass von einem „Gefühl der Vereinigung“ gesprochen wird, dem eine objektive ‚Wahrheit‘ zuerkannt werden kann. William James hat dies bei seiner weiteren Ausführung seiner Begründung einer Religionswissenschaft erkannt, insbesondere die Schwierigkeit, die sich daraus ergibt, dass ausgehend von einem individuellen Selbst dann beliebig viele dieser höheren Selbste für die je einzelnen, individuellen Selbste angenommen werden müssten. Religion wäre dann letztlich doch bloße individuelle Projektion und eben nicht objektiv – oder wie James schreibt – „buchstäblich wahr“. James spricht deshalb auch zurückhaltend von einem „Einstieg“, nach dessen Durchschreiten sich „Schwierigkeiten“ ergäben (ebd.). Schließlich führt er die hinduistischen Konzepte Atman und Brahman an, in denen das menschliche Selbst (Atman) nicht nur nicht getrennt vom göttlichen Selbst (Brahman) ist, sondern in diesem aufgeht, ein Denken, das bereits an Emmanuel Lévinas’ L’Autre erinnert. Im abstrahierenden Schlussteil der Vielfalt stellt William James als das Gemeinsame aller von ihm untersuchten religiösen Erfahrungen die „Tatsache“ heraus, „daß das personale Bewußtsein in ein größeres Selbst übergeht, von dem rettende Erfahrungen ausgehen“ (ebd., 492, Herv. i. Orig.). Ist hier durch das Verb übergehen noch ein passivisches Anderes angesprochen, so ist mit dem Adjektiv rettende bereits die Quelle angedeutet, das größere Selbst, und das, was sie tut, nämlich retten – und damit wird bereits bei James eine Denkfigur vom Transzendenten ausgehend zum Menschen hin manifest. Noch deutlicher artikuliert sich dieses Denken, wenn James – fast schon im Geiste einer realistischen Ontologie (Gabriel 2013; Dreyfus/Taylor 2016) – einen vom Weltlichen geschiedenen Transzendenzbereich ausmacht, der sogar Impulsgeber für das Weltliche sei: Insofern unsere geistigen Impulse in dieser Region ihren Ursprung haben (und die meisten von ihnen haben in ihr ihren Ursprung, denn sie verfügen über uns in einer Weise, die wir mit Worten nicht erklären können), gehören wir ihr inniglicher an, als wir der sichtbaren Welt angehören, weil wir am innigsten zu dem gehören, zu dem unser Geist gehört. […] Wir Menschen und Gott haben etwas gemeinsam zu erledigen; indem wir uns selbst seinem Einfluss öffnen, erfüllt sich unsere eigene Bestimmung. (James 1997, 492, markierte Passagen von mir neu übersetzt, Begründung in Liebert im Erscheinen, W.-A. L.)

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Auch in diesem Zitat wird deutlich, dass William James bereits eine Wende vom Denken des Menschen hin zu einem Denken des Anderen vollzogen hat, wie es Emmanuel Lévinas (2004) mit dem ‚Einbruch des Anderen‘ ausdrückt, und die für James die Grundlage einer jeden Religionswissenschaft ausmachen muss. Nach James (1997) muss die Welt des Religiösen über genuine Konstitutionsbedingungen verfügen, die sich von denen einer nicht-religiösen Welt unterscheiden, und die sich in anderen Fakten, anderen Verhaltensweisen sowie einem „eigenen Tatsachenbereich, wie alles Wirkliche ihn beansprucht“ (ebd., 495), zeigen. Bei Latour (2014) macht das Religiöse daher auch eine eigene „Existenzweise“ aus, in denen „religiöse Wesen“ die Fähigkeit besitzen, menschliche Wesen anzusprechen und zu verwandeln, ohne „daß man ihr Erscheinen oder Verschwinden […] beherrschen kann“ (ebd., 427). Man könnte diesen Gedanken weiterführen, dass dem Religiösen auch ein eigener Wissensbegriff zukommen muss, der sich bei Autoren wie Jürgen Habermas (2001) oder Jacques Derrida (2008) in der Paarformel „Glaube und Wissen“ zeigt. Diese Formel deutet an, dass es mehr als bloßer Glaube, auch mehr als dogmatischer Glaube sein muss, aber auch nicht das, was wir üblicherweise unter Wissen (im Sinne eines propositionalen Gehalts) verstehen. Dafür soll mit Bezug auf Gendlin (1962) der Begriff des gefühlten Wissens eingeführt werden, der sich neben analytischen und empirischen Wissensbegriffen verortet, und der geeignet sein könnte, die angedachte Überschneidung von Glaube und Wissen im religiösen Bereich zu beschreiben. Gefühltes Wissen meint ein (noch) nicht klar Artikuliertes, kognitiv Unscharfes, aber im Erleben Spürbares, das in der Sicherheit seiner Gültigkeit dem Wissen gleichgestellt wird, obwohl es nicht durch bestimmte Routinen des Zweifels und der Überprüfung gelaufen ist und auch nicht laufen kann, ohne seine Bedeutung zu verlieren (vgl. dazu auch Latour 2011). Auch wenn gefühltes Wissen schwer artikulierbar ist, ist es doch auf der Metaebene beschreibbar (vgl. Paul 1990, 28) und bildet eine ganze Kultur des Nichtsagbaren aus. Von einem Unsagbaren überhaupt sprechen zu können, setzt den Begriff des gefühlten Wissens voraus. In der Linguistik gibt es noch kaum analytische Konzepte dafür, die Resonanztheorie Hartmut Rosas (2016) bietet dafür aber einen guten Ausgangspunkt (vgl. Liebert in diesem Band, „Unsagbares“). Hubert Knoblauch wendet sich gegen dieses Konzept des L’Autre, trotz dessen Gründung in der menschlichen Interaktion, da ihm der Zugang von einer anderen Perspektive als der menschlichen verdächtig als eine transzendente Positionierung erscheint: Anstatt wie Buber, Lévinas und Derrida das (göttliche) Andere und damit die Transzendenz vorauszusetzen, könnte man Transzendenz als ein Merkmal der Begegnung mit dem menschlichen Anderen ansehen, aus dem dann die Vorstellung eines absolut Anderen (also eines personalisierten Gottes) extrapoliert werden kann. Die Anderen sind nicht die verborgenen Götter – nicht die Götter kommen zuerst, sondern die Menschen. (Knoblauch 2009, 67)

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Hier scheint die Scheidelinie zwischen Religionssoziologie und Religionsphilosophie zu verlaufen. Bevor man diese aber wirklich ziehen will, muss hier ein mögliches Missverständnis angesprochen werden: L’Autre ist bewusst doppeldeutig gewählt und kann sowohl ‚das Andere‘ als auch ‚der Andere‘ bedeuten. Diese beiden Bedeutungen können somit nicht wie im obigen Zitat gegeneinander ausgespielt werden, denn Lévinas betrachtet (durchaus im Einklang mit Martin Buber (1997)) beide nicht nur als nicht Getrennte, sondern als untrennbar Verbundene. Dies erinnert an die rätselhafte Stelle im Humanismusbrief, der auf Parmenides als einen Unverstandenen hinweist mit seinem Ausspruch ‚Sein existiere‘, woraus Heidegger (1968, 22) folgert, Seiendes existiere eigentlich nicht. Wenn hier und im Folgenden vom Anderen oder L’Autre gesprochen wird, bleibt dies jedoch ein kulturelles, sprachliches Konstrukt, das als Konstrukt jederzeit infrage gestellt werden kann, und hilflos versucht, über sich selbst hinaus zu verweisen: „Was also ungeboren ist und nicht geboren werden kann, was vor dem Sein kommt“ (Derrida 2008, 47) oder durch Begriffe wie der des „Zweitlosen“ – so der Versuch von Peter Fuchs (Fuchs 1989; vgl. dazu Liebert in diesem Band, „Unsagbares“). Die hierfür von Ludwig Wittgenstein formulierte Sprachgrenze führt zu einer tautologischen oder paradoxalen Sprache, da dies anscheinend die angemessene Ausdrucksweise darstellt, um in der trans-transzendenten Positionierung über das Absolute zu sprechen, und die nicht nur Jacques Derrida zur Begegnung mit der japanischen und indischen Philosophie geführt hat (Elberfeld 1998), sondern vor ihm bereits Arthur Schopenhauer (2006, 541) die Frage stellen lässt, „eine unendliche Zeit ist vor meiner Geburt abgelaufen; was war ich alle jene Zeit hindurch?“ Die insbesondere in Schopenhauers Werk im 19. Jahrhundert sichtbar einsetzende Auseinandersetzung mit buddhistischem und hinduistischem Denken ist bisher noch kaum untersucht, ebensowenig wie die Auseinandersetzung des buddhistischen Denkens mit der westlichen Philosophie (vgl. z. B. Nishitanis Konzept der „Selbstrealisation der Wirklichkeit“ (1982, 41)).

3.4 Zwischenfazit Ausgangspunkt war das Problem, dass sich eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Religion immer auch zu Religion in grundsätzlicher Weise verhalten muss. Diese Verhaltensweisen wurden idealtypisch als transzendente, als non-transzendente und als trans-transzendente Positionierung formuliert. Sie wurden anhand verschiedener einschlägiger Arbeiten, die Religion fundieren wollen, entwickelt. Bislang konnten damit zumindest einige Konfliktlinien zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die über Sprache und Religion forschen, beschrieben werden, zumindest wie sie sich gegenwärtig sehen. Dass es sich hier um Idealtypen handelt, soll vorsichtshalber noch einmal betont werden. Möglicherweise können diese Idealtypen auch hilfreich sein, um das Gegenstandsfeld alltäglicher Religiosi-

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tät und Spiritualität besser zu verstehen. Dieses zu prüfen, muss jedoch an anderer Stelle geschehen.

4 Sprache und kommunikative Praktiken im Bereich des Religiösen 4.1 Expressivität und Verständigung Die Bezugnahme auf die Philosophische Anthropologie hat nicht nur Konsequenzen für das Verständnis von Religion und Transzendenz, sondern auch für Sprache und Kommunikation. So ergibt sich aus der Exzentrizität Wirklichkeit als ein gegenständlich nur durch ein entsprechend doppelt distanziertes Subjekt, das als Grundmerkmal der „vermittelten Unmittelbarkeit“ (Plessner 1975, 321ff.) thematisiert wird. Dieses bewusste Vermittlungsmoment ist für Plessner der Grund, dem Menschen eine grundlegende Expressivität zuzuschreiben. Dieses Ausdrucksbedürfnis zeigt sich nicht nur in einem allgemeinen Gefühl eines verbalen Ausdrückenwollens, sondern in einem Ausdrucksbedürfnis anderer Art, das vielfach in seiner psychologischen Bedeutung unterschätzt wird, ein Bedürfnis nach mimischer Darstellung, überhaupt nach Darstellung bzw. Wiedergabe erlebter Dinge, beunruhigender Gefühle, Phantasien, Gedanken, das nicht mit dem gleichen Recht auf die Sozialität zurückführbar ist. […] Es hat wohl zunächst in der Tendenz, das Flüchtige des Lebens durch Gestaltung aufzubewahren und es übersichtlich zu machen, seinen Grund. (ebd., 323)

Dieses Zeigen-Wollen nimmt bereits in Gedanken vieles voraus, das später empirisch gezeigt werden konnte (vgl. etwa Tomasello 2009). Für Plessner folgt daraus, dass Expressivität ein Grundmoment des Menschen ausmacht: Jede Lebensregung der Person, die in Tat, Sage oder Mimus faßlich wird, ist daher ausdruckshaft, bringt das Was eines Bestrebens irgendwie, d. h. zum Ausdruck, ob sie den Ausdruck will oder nicht. Sie ist notwendig Verwirklichung, Objektivierung des Geistes. (Plessner 1975, 337, Herv. i. Orig. durch Sperrung)

Diese stark an Wilhelm Diltheys (1958) Ansatz von Erleben und Lebensäußerung (vgl. ebd., 86ff., 191ff.) erinnernde Passage entspricht in ihrer Weite ganz dem heutigen Verständnis von Multimodalität (vgl. Schmitt 2007). Konsequenterweise wird die Sprache erst als „Expression zweiter Potenz“ eingeführt: Das exzentrische Zentrum der Person, vollziehende Mitte der sogen. ‚geistigen‘ Akte, vermag durch eben seine Exzentrizität die Wirklichkeit, welche der exzentrischen Position des Menschen ‚entspricht‘, auszudrücken. So laufen die Wesensbeziehungen zwischen Exzentrizität, Immanenz, Expressivität, Wirklichkeitskontakt in der Sprache und ihren Elementen, den Be-

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deutungen, auf eine überraschende Weise zusammen. Die Sprache, eine Expression in zweiter Potenz, ist deshalb der wahre Existentialbeweis für die in der Mitte ihrer eigenen Lebensform stehende und also über sie hinausliegende ortlose, zeitlose Position des Menschen. In der seltsamen Natur der Aussagebedeutungen ist die Grundstruktur vermittelter Unmittelbarkeit von allem Stofflichen gereinigt und erscheint in ihrem eigenen Element sublimiert. Zugleich bewährt sich an der Sprache das Gesetz der Expressivität, dem jede Lebensregung der Person, die nach Erfüllung verlangt, unterliegt: es gibt nicht die Sprache, sondern Sprachen. Die Einheit der Intention hält sich nur in der Zersplitterung in verschiedene Idiome. (Plessner 1975, 340)

Sprache ist somit im Zwischen der Mitwelt angesiedelt, was eine Verständigungssituation als Ausgangspunkt angemessen erscheinen lässt und nicht vorab „gegebene“ Kommunikationspartner (vgl. Metten 2014, 326). In diesen Zitaten wie in anderen Schriften (vgl. etwa Plessner 2005) zeigt sich ein Konzept von Sprache und Verständigung, das ebenso wie zuvor die Gedanken von James an postmodernistische Alteritätsideen etwa von Emmanuel Lévinas erinnert und das gut anschließbar an verständigungsorientierte Modelle einer kulturwissenschaftlichen Linguistik ist: Eine linguistische Kulturforschung begegnet den Subjekten, den Ereignissen und Artefakten daher grundsätzlich hinsichtlich ihrer medialen Erfahrungen und Eigenschaften, d. h. hinsichtlich der spezifischen Relationen und Beziehungen, die sich zwischen diesen ausgebildet haben. (Metten 2014, 430f.)

Es ist hier nicht der Raum, um diese Bezüge im Einzelnen auszuführen, von Belang ist hier zunächst nur, dass der für die Begründung von Religion und Kultur eingeführte Ansatz Plessners im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Linguistik wieder aufgegriffen und fortgeführt werden kann. Im Folgenden soll es nun darum gehen, wie eine sinnvolle Verbindung der hier vorgestellten und erweiterten Konzepte mit linguistischen Ansätzen hergestellt werden kann. Dazu muss zuerst noch einmal spezifischer auf die linguistischen Ansätze im Bereich Religion eingegangen werden, um dann auch im Rückgriff auf allgemeinere Modelle von Sprache und Kommunikation das Feld Sprache und Religion neu zu verstehen.

4.2 Religionslinguistik statt Theolinguistik Wie eben gezeigt, ist das Feld des Religiösen ausgesprochen heterogen und ruft die Diskussion von Grundannahmen hervor, die in sprach- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen normalerweise als gegeben vorausgesetzt werden. Dazu gehört insbesondere das Akzeptieren einer wirklichen für alle verbindlichen Welt, auf der zumindest der wissenschaftliche Beobachter seine soziale Welt als Konstruktion konstruiert. Unter anderem deshalb wurde in der Linguistik auch eine theoretische Auseinandersetzung mit religiösen – bzw. wie Stephan Habscheid ausführt generell

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kulturellen – Phänomenen vermieden oder diese auf eine ‚dünne Beschreibung‘ abstrakter Regelbeschreibung reduziert (vgl. Habscheid 2016, 133ff.). In der deutschsprachigen Linguistik spielt außerdem die beschriebene Fixierung auf christliche oder monotheistische Religionen sowie eine generell eurozentrische Perspektive eine entscheidende Rolle für die enorme Beschränkung des bisher untersuchten Phänomenbereichs. Es gibt nur einige kleinere Studien (z. B. Bouma/Aarons 2004; Bayer 2009; Lasch 2011), ansonsten bleibt es bei historischen Arbeiten, dabei noch eingeschränkt auf die Sprache des christlichen Glaubens (vgl. dazu Lasch/Liebert 2015). Eine Sonderstellung nimmt die Arbeit von Ingwer Paul (1990, 2004) ein. Auch wenn sie thematisch dem linguistischen Fokus auf das europäische Christentum verbunden bleibt, geht sie theoretisch und methodisch neue Wege. Der ethnographische Ansatz erweist sich dabei als geeignet, die kommunikative Vollzugswirklichkeit von Gottesdiensten zu verstehen. Außerdem erkennt Paul in Anlehnung an Durkheim und ritualtheoretische Forschungen den grundlegend anderen Charakter der vorhin beschriebenen transzendenten Positionierung. So kann Paul zeigen, wie die transzendente Positionierung eines christlichen Gottesdienstes bereits durch Vorerwartungen, dann aber auch durch kommunikative Praktiken hergestellt wird: Die Gottesdienstbesucher werden in der rituellen Kommunikation zu Akteuren in einer anderen Wirklichkeit. (Paul 1990, 31)

Der Ansatz von Paul birgt viele Anschlussmöglichkeiten, die in der Linguistik allerdings kaum aufgegriffen wurden, so dass diese dann wie eine Neueinsetzung der Diskussion um Sprache und Religion wirken (vgl. z. B. Ehlich 1997). Linguistisch prominent hat sich dagegen die Bezeichnung „Theolinguistik“ herausgebildet (Greule/Kucharska-Dreiß 2011), die allerdings genau die eben genannten Einschränkungen besitzt, die etwa das Erforschen von nicht-christlichen Religionen oder von spätmodernen Formen der Spiritualität unmöglich macht, und die kaum Anschlussmöglichkeiten an einen anthropologischen oder kulturwissenschaftlichen Ansatz bietet. In anderen Disziplinen gab es dagegen ein Reihe von disziplinären Neubildungen, die diese Einschränkungen gerade aufbrechen und sich dadurch ganz neue Phänomengebiete erschließen, was auch zur einer großen Bereicherung der theoretischen und methodischen Diskussion geführt hat. Dazu gehört zunächst die Religionswissenschaft, die sich als non-transzendentes Pendant zur Theologie konstituiert hat, aber auch Teilfächer wie die Religionspsychologie oder die Religionssoziologie. Bereits bei Émile Durkheim findet sich ein weiter Religionsbegriff, der eine Engführung auf eine bestimmte Religion unmöglich macht.

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Wer in der Religion nur eine natürliche Äußerung der menschlichen Tätigkeit sieht, dem sind alle Religionen ohne Ausnahme lehrreich; denn alle drücken den Menschen auf ihre Weise aus und können und also helfen, diesen Teil unserer Natur besser zu begreifen. (Durkheim 2014, 44)

Auch wenn Max Weber in seiner bekannten Untersuchung Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1963) eine christliche Religion in den Fokus nimmt, so folgen doch darauf die – zumindest in der Linguistik – weniger prominenten Arbeiten zur Wirtschaftsethik im Konfuzianismus und Taoismus (1963), Hinduismus und Buddhismus (1966) sowie die Entwürfe zur jüdischen Religion (1976). Betrachtet man die Konzeptionen und Grundannahmen in diesen Teildisziplinen, so gibt es hier mit gutem Grund keine Bildungen wie Theopsychologie oder Theosoziologie. In Anlehnung an die konzeptionelle Nomenklatur in den zuvor genannten Disziplinen soll daher die Einführung einer Religionslinguistik vorgeschlagen werden.

4.3 Verständigung Können wir mit Engeln sprechen? Diese Frage stellt sich sogleich anders, als nun unmittelbar Engel auch außerhalb des christlichen Spektrums in den Blick kommen, etwa im Islam oder aber auch im spirituellen Markt postmodernistischer Religiosität (vgl. dazu auch Ebertz/Faber 2008). Es stellt sich aber auch die Frage der eigenen Positionierung und der Vorentscheidungen, die ggf. getroffen werden, wenn diese Frage aus einer transzendenten, einer non-transzendenten oder einer trans-transzendenten Positionierung verstanden wird: In der transzendenten Positionierung stellen Engel eine Realität dar, in der non-transzendenten Positionierung gibt es keine Engel, die sprechen könnten, also können wir uns nur mit Illusionen oder bestenfalls Projektionen unterhalten. In der trans-transzendenten Positionierung stehen die beiden Aussagen nicht im Widerspruch zueinander, was den Vorteil hat, dass die kulturelle Konstruiertheit einer Verständigung mit Engeln analysiert werden kann, ohne damit zugleich auch eine illusionäre Verständigung zu unterstellen. Damit kann diese Art der Verständigung in ihrer Eigenheit in den Blick genommen werden. Wir müssen dazu aber neu lernen, was sprechen bzw. sich verständigen in diesem Zusammenhang bedeuten kann, darauf hat insbesondere Bruno Latour (2011, 2014, 409ff.) eindringlich hingewiesen. Dazu kann sowohl auf die mit der Philosophischen Anthropologie eingeführten Kategorien, als auch auf das vorhin genannte, differenzorientierte Kommunikationsmodell Mettens (2014) zurückgegriffen werden, in dem zunächst eine Verständigungssituation unterstellt und erst danach nach einer möglichen Kategorisierung der Beteiligten gefragt wird. Wie könnte diese Verständigung im Bereich des Religiösen grundsätzlich charakterisiert werden? In der Plessner’schen Kategorie wäre der Ausgangspunkt vor allem die Innenwelt, da die Inhalte als Subjekt erlebt und ausgedrückt werden, dann auch

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die Mitwelt, in der die Exzentrik aufhebbar erscheint. Die Außenwelt wäre dagegen nur indirekt beteiligt, v. a. über materielle Anker, die in Gegenständen, atmosphärischen Erscheinungen oder aber in den Körpern der Beteiligten stattfinden kann. Zwar mag es seltsam anmuten, dass die Außenwelt eine andere Rolle spielt, als wir normalerweise erwarten. Aber sie ist nicht völlig verschwunden, sondern eben ‚bloß‘ indirekt beteiligt. Diese Diskussion ist ähnlich derjenigen in der Ethnologie, ob etwa ‚Hexen fliegen‘ oder Schamanen mit Tieren ‚sprechen‘ können (Duerr 1985, 173ff.). Hans Peter Duerr zieht hier einen Vergleich zur Sprache der Schizophrenie: Wie sich das, was das Tier zum Hexer sagt, von der gewöhnlichen Sprache unterscheidet, so unterscheiden sich auch die ‚Stimmen‘, die der Schizophrene hört, von der gewöhnlichen Stimme. (Duerr 1985, 173)

Greifen wir Hans Peter Duerrs Analogie der Sprache von Schamanen und Schizophrenen auf, dann zeigt sich die oben angesprochene Notwendigkeit, einen neuen Begriff davon zu entwickeln, was in diesem Zusammenhang ‚sprechen‘ oder ‚sich verständigen‘ bedeuten kann. Diese andere Art der Beteiligung der Außenwelt oder genauer des Zusammenspiels von Innen-, Mit- und Außenwelt lässt die gesamte Verständigungssituation zu einer indirekten werden und drückt sich auch in einer Indirektheit der Sprache aus, in Gleichnissen, Allegorien, Bildern, Metaphern. Wenn es etwa Berichte gibt, in denen eine Person erzählt, sie kommuniziere mit einem Licht, dann wird die Kommunikationssituation zunächst als eine Verständigung betrachtet, die diese Person und das Licht in besonderer, noch zu untersuchender Weise relationiert. Dadurch rücken Fragen in den Vordergrund, wie dieses Licht wahrgenommen wurde, d. h. wie die Außenwelt in indirekter Weise beteiligt war, wie dem Erleben Ausdruck gegeben wurde oder auch welche Vergemeinschaftungshandlungen eventuell stattgefunden haben oder stattfinden. Dies schließt übrigens nicht aus, dass diese Verständigung auch psychologisch gedeutet werden kann, aber eben erst in einem weiteren Schritt. Es geht also darum, die Verständigung mit Transzendentem zunächst in ihrer Eigenart zu betrachten. Dabei ist die Religionslinguistik nicht auf bestimmte Formen der Verständigung festgelegt, weder auf verbale Interaktionen, noch auf textuelle Kommunikation. Sie umfasst das gesamte Spektrum der Verständigung. Damit ist nicht nur eine grundlegende Multimodalität gemeint, sondern auch die lokale, regionale und globale Kontextualisierung der Situation selbst. Diese erscheint als ein „Netz der Verweise […], durch welches Lokales und Regionales mit Überregionalem und Globalem auf komplexe Weise verwoben sein kann“ (Metten 2014, 441).

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5 Thesen zur Grundlegung einer Religionslinguistik Abschließend sollen die Konsequenzen für eine Religionslinguistik in thesenhafter Form vorgestellt werden. 1. Die sprachwissenschaftliche Forschung zum Thema Sprache und Religion sollte in einer Teildisziplin organisiert werden, die Religionslinguistik heißt. 1.1 Religionslinguistik grenzt sich in den Grundannahmen und der Methodologie von der Theolinguistik ab. 1.2 Religionslinguistik kann an die interaktionale Linguistik, die Text- und Diskurslinguistik, die Bildlinguistik und insbesondere an die Multimodalitätslinguistik anschließen. 1.3 Die zentralen interdisziplinären Anknüpfungspunkte sind die Religionsphilosophie, die Religionswissenschaft und die Religionssoziologie. 1.4 Meta-methodologisch ist sie einem hermeneutischen, kontextuellen Paradigma verpflichtet. 2. Religion wird als anthropologisches Konstituens betrachtet, daher finden sich in allen menschlichen Kulturen auch religiöse Verständigungspraktiken. Diese können innerhalb der großen Weltreligionen stattfinden (Kämper, Grözinger, Selmani, Mishra und Vogd in diesem Band) oder aber in lokalen oder individualistischen Praktiken und Netzwerken. 2.1 Insbesondere die bislang ausgeschlossenen, nichtchristlichen Religionen gerade auch außerhalb des europäischen Horizonts sind daher Untersuchungsfeld der Religionslinguistik (Selmani, Mishra und Vogd in diesem Band). 2.2 Ebenso sind die bislang nicht untersuchten postmodernistischen, spirituellen Netzwerke sowie die esoterischen Märkte Teil der Religionslinguistik (Hero in diesem Band). 2.3 Auch eine non-transzendente Positionierung und damit auch alle Varianten von Atheismus sind Untersuchungsfeld einer Religionslinguistik. 2.4 Schließlich sind auch religionsähnliche Kulte oder Ideologien (Makrides 2012; Steen und Fix in diesem Band) Gegenstand der Religionslinguistik. 3. Eine Religionslinguistik bezieht sich auf das Konzept der exzentrischen Positionalität. 3.1 Sie geht von drei grundsätzlichen Weisen des Umgangs mit der exzentrischen Positionalität aus: der transzendenten (Lasch in diesem Band), der non-transzendenten und der trans-transzendenten. 3.2 Sie fragt dann nach Positionierungen des eigenen Forschungsansatzes, aber auch nach Positionierungen im Untersuchungsfeld. Als trans-transzendente Positionierung kann die Religionslinguistik auch das Konzept des Anderen einschließen, wie es im L’Autre von Emmanuel Lévinas ausgedrückt ist.

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4. Religionslinguistik ist grundlegend empirisch orientiert, und beansprucht, Aussagen über die kulturelle Wirklichkeit im Feld des Religiösen machen zu können. 5. Religionslinguistik arbeitet am Manifesten authentischer Verständigungssituationen, daher kann die Religionslinguistik sowohl an eine interaktionale, textuale oder piktorale Linguistik anschließen (Klug in diesem Band). 6. Religionslinguistik geht von einer grundlegenden, anthropologischen Expressivität aus und ist daher grundsätzlich multimodal, auch wenn der Fokus aus analytischen Gründen eingeschränkt werden kann. 7. Religionslinguistik ist kulturwissenschaftlich orientiert. Sie geht von einem Konzept der Verständigung aus und sucht nach der Eigenart der Verständigung mit Transzendentem (u. a. Kämper, Grözinger, Stridde und Lasch in diesem Band sowie Liebert in diesem Band, „Unsagbares“). 8. Religionslinguistik betrachtet Kommunikation als situiert; diese Situiertheit wird jedoch wiederum durch Diskurse und Dispositive kontextualisiert.

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Thomas Gloning

2. Religionen in der Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Deutschen Abstract: Der Zusammenhang von Religionen und Sprache bzw. Kommunikation ist facettenreich: Religionen sind auf vielfältige Weise auch sprachlich konstituiert. Die Ausübung von Religionen weist zahlreiche kommunikative Bestandteile auf, darunter auch rituelle Elemente. Religionen sind auch soziale Erscheinungen, deren Einbettung in Lebensformen und gesellschaftliche Einrichtungen ebenfalls auf Sprache und Kommunikation angewiesen ist. Diese Zusammenhänge von Religion und Sprache kann man einzelsprachlich perspektivieren und fragen, wie sich der Zusammenhang in einem bestimmten sprachlichen Bereich, z. B. im Deutschen, darstellt. Im Anschluss stellt sich die Frage, wie sich der Zusammenhang von Religion und Sprache bzw. Kommunikation in diesem Sprachbereich historisch entwickelt hat. In diesem Beitrag eröffne ich eine mehrperspektivische Sicht auf den Zusammenhang von Religion(en) und Sprache bzw. Kommunikation in der Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Deutschen. Neben die Frage nach chronologischen Perspektiven treten der Aspekt der sprachlichen Konstitution religiöser Praktiken und Gegenstände sowie die Fragen nach religionsbezogenen Kontroversen, nach der Aushandlung religiöser Vielfalt in textuellen Behandlungen eigener und fremder Religionen sowie nach der Rolle unterschiedlicher Medien bei der Behandlung religionsbezogener Themen in der Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Deutschen. 1 2 3 4 5 6 7 8

Gegenstand, Perspektiven, Themenübersicht Aspekte des Zusammenhangs von Religion und Sprache in der Geschichte des Deutschen Sprache und die Konstitution religiöser Gegenstände und Praktiken Der Zusammenhang von Religion und Sprache mit linguistischen Beschreibungsparametern Religiöse Kontroversen in der Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Deutschen Eigene und andere Religionen – Diskurse zwischen Faszination und Bedrohung Religionen und Medien in der Sprachgeschichte des Deutschen Literatur (in Auswahl)

1 Gegenstand, Perspektiven, Themenübersicht Religionen als soziale Erscheinungen und persönliche Glaubensüberzeugungen sind auf das Engste mit dem Gebrauch von Sprache und mit historisch verfestigten Formen des Sprachgebrauchs und der Kommunikation verknüpft. Der personale Bezug wird u. a. erkennbar in den kommunikativen Praktiken von Gläubigen, die zum Beispiel beten, Texte ihrer Glaubensvereinigung lesen (z. B. heilige Grundtexte,

DOI 10.1515/9783110296297-003

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Zeitschriftenbeiträge, Mitteilungen), beichten oder an gemeinschaftlichen Ritualen teilnehmen. Am Beispiel der Beichte, aber auch am jüdischen Kaddisch oder am Gebetsruf eines Muezzin wird die Bindung sprachlicher Verfahren an bestimmte Glaubensumgebungen besonders deutlich. Solche etablierten Praktiken und die dabei genutzten Texte und Medien sind gleichzeitig eine Brücke zur Religion als einer sozial verfassten Erscheinung: Glaubensgemeinschaften sind auch Kommunikationsgemeinschaften, kanonische Texte wie die Bibel, der Koran, Thora und Haggadoth oder die Reden des Buddha sind zentrale kommunikative und spirituelle Grundlagen ihrer Religionen. Rundbriefe, Zeitschriften und Spendenaufrufe sind Beispiele für Arten von Texten, die für die Organisation religiöser Gemeinschaften und die Umsetzung ihrer Ziele genutzt werden. Der Vollzug religiöser bzw. religiös geprägter Handlungen im engeren und weiteren Sinne ist in vielen Fällen an den rituellen Gebrauch von Sprache gebunden (z. B. Gottesdienst, Eheversprechen, Flüche mit religiösem Hintergrund). Wenn man nach dem Zusammenhang von Religion, Sprache bzw. Sprachgebrauch und Kultur fragt und dabei auch die Perspektive der historischen Entwicklung mit einbezieht, dann gelangt man zu einer Vielfalt von relevanten Teilaspekten und einer erheblichen Komplexität von Zusammenhängen zwischen diesen Aspekten in ihren jeweiligen historischen Ausprägungen. In diesem Beitrag will ich versuchen, zentrale Teilthemen und Verbindungen zwischen diesen Teilthemen in ihren Grundzügen und in ihrer historischen Dynamik in der Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Deutschen zu profilieren und in ihrem Zusammenhang darzustellen. Im Vordergrund stehen dabei eine Reihe von Leitfragen und Perspektiven, denen in der folgenden Darstellung jeweils ein eigener Abschnitt gewidmet ist. Während Ansätze einer „Theolinguistik“ (Wagner 1999) in der deutschen Forschung in der Regel auf die christliche Religion bezogen sind und gelegentlich auch den persönlichen Glaubenshintergrund der Forschenden durchscheinen lassen, will ich hier eine anthropologisch-kulturgeschichtliche Perspektive einnehmen, in der Religionen und ihre Praktiken als Elemente menschlicher Lebensformen betrachtet werden (vgl. dazu u. a. Asad 1993; Kapferer 1997; Winch 1964; Geertz 1960/76; Liebert in diesem Band, „Religionslinguistik“), auch in ihrer historischen Verankerung und in ihrer sprachlichen Verfasstheit (vgl. u. a. Ehlich 1997).

2 Aspekte des Zusammenhangs von Religion und Sprache in der Geschichte des Deutschen Um die Aspekte des Zusammenhangs von Religion und Sprachgebrauch in der Geschichte des Deutschen zu systematisieren, kann man zunächst eine zeitlich-chronologische Perspektive einnehmen und für historische Zeitquerschnitte fragen, welche Aspekte dieses Zusammenhangs in einzelnen Zeiträumen in welcher Weise

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ausgeprägt waren und wie sich auf dieser Grundlage dann auch Längsschnitt-Entwicklungen rekonstruieren lassen. Welche Zeiträume für die Querschnitte abzugrenzen sind, hängt auch von der jeweiligen Erscheinung ab, die man betrachtet. Es ist jedenfalls nicht ratsam, sich im Hinblick auf einzelne Erscheinungen an den üblichen sprachgeschichtlichen Periodisierungsvorschlägen („Frühneuhochdeutsch“) zu orientieren, die auf lautgeschichtlichen, sprachsystematischen, außersprachlichen oder anderen Kriterien beruhen. Freilich haben einzelne Kriterien wie z. B. die Erfindung des Buchdrucks ganz offenkundig auch Berührungspunkte mit den Zusammenhängen zwischen Sprachgebrauch und Religion. Einige wichtige Entwicklungen sollen im Folgenden exemplarisch hervorgehoben werden. Die zentrale Entwicklung im frühen Mittelalter war die Christianisierung der germanischen Stämme im Zuge der iro-schottischen Mission. Im Rahmen und im Gefolge dieser Entwicklung bildete sich eine eigene religiöse Schriftlichkeit heraus. Neu gegründete Klöster (u. a. Fulda, Sankt Gallen, Weißenburg, Reichenau) waren die Zentren dieser neuen Schriftlichkeit, die erhebliche Bedeutung hatte für die Entwicklung der geschriebenen deutschen Sprache und ihrer regionalen Schreibsprachen (vgl. Sonderegger 2000). In Übersetzungen wurden systematisch auch Verfahren der Eindeutschung und der Nachbildung von fremdsprachigen, lateinischen Wortschatzelementen entwickelt und angewandt, die für Werner Betz, der die althochdeutsche Benediktinerregel untersuchte (1965; vgl. Simmler 1985), der Ausgangspunkt für eine allgemeine Typologie der Lehnbildungen waren. In einer kommunikationsgeschichtlichen Perspektive kann man allerdings über viele Aspekte des mündlichen Sprachgebrauchs, der im Rahmen der Missionierung eine zentrale Rolle gespielt haben muss, nur sehr wenig sagen, weil die kommunikationsgeschichtlich auswertbaren Quellen für diese Zeiträume nicht sehr umfangreich sind. Im Hinblick auf eine globale Geschichte der kommunikativen Verfahren in Missionierungskontexten wären solche Befunde sehr wertvoll, etwa um sie mit Befunden zur Missionierung bzw. zum Religionskontakt im frühneuzeitlichen Südamerika (Oesterreicher 1999) oder in anderen Regionen (vgl. dazu Lasch 2009) zu vergleichen. Im Hoch- und Spätmittelalter durchdringt und prägt das christliche Weltbild alle Lebensbereiche und auch die Formen des Sprachgebrauchs, die darauf bezogen sind. In der schönen Literatur werden an vielen Stellen christliche Werte, Themen und Tugenden thematisiert, so zum Beispiel im Ackermann von Böhmen das Thema Tod. Es entstehen daneben volkssprachige Übersetzungen theologisch-scholastischer Werke aus dem Lateinischen, die auch frühe Ansätze einer systematischen theologischen Begriffsbildung aufweisen (Gindele 1976). Eine Vielzahl von Texten ist auf religiöse Aspekte des Alltags und speziell auf die Lebensform von Mönchen und Nonnen bezogen: Schwesternbücher, Ordensregeln, spirituelle Briefwechsel, Stiftungsdokumente, sog. Seelgeräte, Wallfahrtsanleitungen, Berichte über Reisen zum Heiligen Grab und viele andere Texttypen gehören zum religiös geprägten Textkosmos des Hoch- und Spätmittelalters. Mit der Verfügbarkeit des Buchdrucks

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seit der Mitte des 15. Jahrhunderts werden zunehmend auch religiöse Texte in deutscher Sprache verfügbar: Bibelübersetzungen, Artes moriendi, Predigtsammlungen und Traktate gehören u. a. zu den früh im Druck verfügbaren deutschen Texten (vgl. die Beiträge in Achnitz 2011 und in Schwarz/Simmler/Wich-Reif 2009). Das 16. und das 17. Jahrhundert sind weiterhin geprägt von der religiösen Durchdringung des Alltags und damit auch des kommunikativen Haushalts, sodann aber vor allem auch durch die religionspolitischen Auseinandersetzungen im Umkreis von Reformation und Gegenreformation. Flugschriften bzw. Streitschriften sind das wesentliche Medium dieser Auseinandersetzungen, sie sind in großer Zahl gedruckt und gelesen worden (vgl. u. a. Schwitalla 1983; 1986; 1999; 2000; Bremer 2005; Gloning 1999; 2013). Auch Luthers Bibelübersetzung spielt eine zentrale Rolle für das reformatorische Programm und für das sola-scriptura-Prinzip. Indirekt und im Verbund mit anderen Faktoren trug diese Bibelübersetzung auch zur Entwicklung und Verbreitung einer überregional gültigen Standardsprache und auch zur Partizipation von breiteren Lesergruppen am Schriftsprachgebrauch, zu denen auch Frauen gehörten, bei (vgl. u. a. Besch 1984; 1999; 2008; Sonderegger 1998). Darüber hinaus ist der gedruckte Katechismus eine neue Textform, die in besonderer Weise in die Organisation der religiösen Unterweisung in Lehr-/Lern-Situationen eingebunden ist. Aber auch hier kann man sich die Frage stellen, wie neben diesen großen Linien der kommunikative Alltag unterschiedlicher Personengruppen von der religiösen Lebensform geprägt war. Kann man die religiöse Prägung und die darauf bezogenen sprachlichen Anteile im Alltag eines Bauern im Vogelsberg im Jahr 1580 mit einiger Zuversicht rekonstruieren? Briefwechsel, Tagebücher und chronikalische Quellen geben vereinzelt Aufschluss, insgesamt sind aber die Quellen für eine Kommunikationsgeschichte des religiös geprägten Alltags meist nicht zureichend, um zum Beispiel einen kommunikativen ‚Normaltag‘ in einiger Breite zu rekonstruieren (vgl. dazu Gloning 2015). Im Hinblick auf das 17. und 18. Jahrhundert kann man zunächst die Entstehung einer wissenschaftlich-philologisch untermauerten Bibelkritik und darauf bezogene Kontroversen hervorheben, die auch Lessings Auseinandersetzung mit Goeze einschließen (Lessing 1989; 1993; Weidner 2006). Es entstehen eigene theologische Zeitschriften, in denen sich neue Darstellungsformen herausbilden. Innerhalb der Zeitschriftenentwicklung sind besonders allgemeine und theologische Rezensionsorgane zu nennen, die zum einen den Wissensaustausch über religiös-theologische Publikationen fördern, die zum anderen auch Werkzeuge der Kritik und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung werden (Habel 2007). Mit dem Pietismus bildet sich im späten 17. und im 18. Jahrhundert eine neue Frömmigkeitsbewegung aus, die nicht nur einen eigenen Textkosmos (vgl. Lasch 2005), sondern auch eigene Formen des Wortgebrauchs hervorgebracht hat, die bei August Langen (1968) sehr gut dokumentiert werden. Und auch hier sind zahlreiche Kontroversen zwischen Vertretern des Pietismus und der Orthodoxie zu verzeichnen (Gierl 1997; Fritz/Glüer

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im Erscheinen; Gloning 2013; Bremer 2005), die unter anderem auch neue Formen der mündlichen Kommunikation betrafen, z. B. den religiösen Austausch in privaten Konventikeln. Der Pietismus, aber auch andere religiöse oder religionsphilosophische Strömungen wie der Pantheismus hatten weitreichende Auswirkungen auf die Literatur vor allem des 18. Jahrhunderts. Hervorzuheben sind weiterhin die zahlreichen Reisebeschreibungen der Aufklärung, in denen zum einen neue Kenntnisse über andere religiöse Lebensformen auch im deutschen Sprachraum verbreitet wurden, in denen zum anderen aber auch prinzipielle Reflexionen über das Verhältnis unterschiedlicher Religionen und ihres Zusammenhangs mit verschiedenen Lebensformen angestellt wurden (vgl. u. a. Möller 2016). Die Figur des „edlen Wilden“ wurde dabei eine wichtige Darstellungseinheit im Kulturvergleich auch in religiöser Hinsicht. Im 17. und 18. Jahrhundert gewinnt sodann das Thema „religiöse Toleranz“ einen zunehmenden Stellenwert (zur Geschichte der Toleranzidee vgl. Lutz 1977; Kisch 1961; Zurbuchen 1991). Lessings Nathan der Weise (1779) stellt in gewissem Sinne eine Kondensierung und einen literarischen Höhepunkt dieser Entwicklung dar (Niewöhner 1988; Freimark/Kopitzsch/Slessarev 1986). Neben diesen ‚Highlights‘ der kultur- und kommunikationsgeschichtlichen Entwicklung gilt aber auch für diesen Zeitraum, dass ein breites Repertoire von traditionellen religiösen Texttypen und mündlichen sowie rituellen Kommunikationsformen weiter genutzt wurde. Für das 19. Jahrhundert kann man zunächst die bürgerliche Emanzipation der Juden hervorheben, die eine breite Diskussion um Assimilation vs. Abgrenzung und kulturell-religiöse Eigenständigkeit der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens mit sich brachte, die ins 20. Jahrhundert hineinreichte (Schulte 1993). Hierzu gehören auch antisemitische Sprech- und Kommunikationstraditionen des 19. Jahrhunderts, zu denen u. a. Namenpolemik, persönliche Herabsetzung und große Kontroversen („Berliner Antisemitismusstreit“) gehörten (Bering 1987; 1991; Boehlich 1965). Diese Diskussion trug mit zur Entstehung der zionistischen Bewegung bei, die in sprachlicher Hinsicht auch ein erhebliches Kommunikationsvolumen in deutscher Sprache hervorbrachte, z. B. in Form von Briefwechseln, Konferenzen, diplomatischen Verhandlungen, Denkschriften, Kontroversen usw. (vgl. Herzl 1983–96; Krupp 2001). Betrachtet man von den religiösen Anfängen in der Geschichte der deutschen Sprache her die Verhältnisse im 20. und 21. Jahrhundert, dann zeigt sich im Hinblick auf religiösen und religionsbezogenen Sprachgebrauch ein Bild von einiger Komplexität, dessen Herausbildung in vielen Fällen auch Resultate der vergangenen Jahrhunderte, z. B. des 19. Jahrhunderts, darstellen. Ich hebe fünf zentrale Komponenten hervor. Wir finden erstens institutionalisierte Religionsverbände und Kirchen mit einer Vielzahl von Kommunikationsformen, die sich nicht nur auf den religiösen Kern von Verkündigung (z. B. Predigt), Verehrung (z. B. Gebet) und Vergegenwärtigung (z. B. Abendmahl), sondern auch auf Aspekte der Organisation und der Verwaltung be-

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ziehen. Zur letzteren Gruppe gehören z. B. die Ausbildungskommunikation (z. B. Unterweisungsgespräche), die auf unterschiedliche Berufsbilder im Bereich der Kirchen und Religionsverbände gerichtet ist (Hochschulstudium, Vorbereitungsdienst, Prüfungen, Formen der Zertifizierung usw.), zahlreiche Text- und Gesprächstypen sowie komplexe Medienangebote, die sich auf Religionsverbände als Wirtschaftsunternehmen mit einer Außendarstellungskomponente beziehen (z. B. Spendenaufrufe, Bettelbriefe, Rechnungslegungen, Berichtswesen, Pressekonferenzen, Einweihungsreden, Dienstgespräche, Internetangebote), schließlich auch Beitragsformen, die sich auf Religionsverbände als soziale Institutionen in einer Öffentlichkeit beziehen (z. B. Formen der Thematisierung caritativer Beiträge zum Gemeinwesen, Stellungnahmen zu Missbrauchsfällen, Formen der Untersuchungs- und der Krisenkommunikation bei Fällen von Amts- und Finanzmissbrauch). Kirchentage, Feiertagsfestivitäten in Kirchengemeinden oder kirchliche Fachkonferenzen sind kommunikative Großereignisse mit einer komplexen Binnenstruktur. Der religiöse und religionsbezogene Sprachgebrauch ist im 20. und 21. Jahrhundert zweitens intensiv durch eine breite und funktional vielfältige Anwendung unterschiedlichster traditioneller und jeweils neuer Medien geprägt (siehe hierzu Abschnitt 7). Drittens sind Religionen als Überzeugungs- und Sinnsysteme ein wichtiger Gegenstand und Hintergrund öffentlicher Diskurse; die Vertreter von Religionen sind darauf aufbauend zentrale Akteure in der Auseinandersetzung um zahlreiche öffentliche Diskursthemen. Zu solchen Themen gehören bzw. gehörten u. a. die Abtreibungsdiskussion (vgl. Böke 1995), die Frage nach der Beurteilung vieler Themen aus dem Bereich der Sexualität (Empfängnisverhütung, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Beurteilung unterschiedlicher sexueller Praktiken; vgl. u. a. Tönnesen 1995), aber auch Themen wie Euthanasie, das Verhältnis von Religion und Staat oder jeweils aktuelle Themen wie z. B. die Flüchtlingsthematik, Obdachlosigkeit, embryonale Stammzellenforschung, Pränataldiagnostik, Hirntod, Gewalt, Terrorismus, Sterbehilfe und viele andere mehr. Viertens sind religiöse bzw. religionsbezogene Themen in unterschiedlicher Weise auch Gegenstand der öffentlichen Berichterstattung. Die Presseberichterstattung spiegelt zum einen die Präsenz religiöser Themen im öffentlichen Interessenund Diskussionshaushalt (vgl. z. B. Overbeck 2016 zu religiösen Themen in SZ, FAZ, taz und ZEIT zwischen 1946 und 2012), sie trägt darüber hinaus auch zur Verbreitung der Standpunkte unterschiedlicher Gruppierungen und Akteure, z. B. der Kirchen bzw. von Kirchenvertretern, bei (Beispiele in Stötzel/Wengeler 1995; Stötzel/ Eitz 2002, passim). Fünftens kann man quer zu den bisher genannten Gesichtspunkten fragen, welche Rolle unterschiedliche sprachliche Mittel für die kommunikativen Aufgaben im Rahmen des religiösen Sprachgebrauchs spielen. Im Bereich der öffentlichen Diskurse spielen etwa Wortbildungen und sog. Interpretationsvokabeln wie „werdendes Leben“ eine zentrale Rolle für die Erzeugung von Sichtweisen und die Durchset-

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zung von Geltungsansprüchen. Theologie und Religionswissenschaft haben eine eigene, hoch entwickelte und historisch gewachsene fachliche Terminologie. Ein breites Spektrum von textuellen Mustern lässt sich auf die vielfältigen Aufgaben im Bereich des religiösen Sprachgebrauchs beziehen. Sie reichen von Gebeten über die bereits genannten Muster des Verwaltungsschrifttums bis hin zu komprimierten und auch in diesem Handbuch häufig zitierten Artikeln in enzyklopädischen Werken wie z. B. Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). Das Repertoire der sprachlichen Mittel und ihrer typischen Anwendungsweisen im Bereich des religiösen oder religionsbezogenen Sprachgebrauchs ist in der jüngeren Sprachgeschichte von beträchtlichem Umfang und von erheblicher Komplexität. Dazu gehören auch Formen der Kommunikation von Religionsgegnern oder -skeptikern. Jenseits dieser hier nur skizzenhaft möglichen chronologischen QuerschnittPerspektive auf große Zeiträume lässt sich die chronologisch-diachrone Perspektive auch auf einzelne Aspekte und Fragestellungen des religiösen bzw. religionsbezogenen Sprachgebrauchs anwenden. So kann man zum Beispiel fragen: Wie entwickeln sich einzelne religiös geprägte Texttypen und das Spektrum religiöser Texttypen im Lauf der Zeit (vgl. u. a. Pfefferkorn 1994; 2005; Neuß 1989; Simmler 2000; Lasch 2011; Schwarz/Simmler/Wich-Reich 2009)? Oder: Welche Rolle spielen Formen der Missionierung in der Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Deutschen, welche Quellen gibt es dazu (z. B. Sonderegger 2000; Merensky 1996; Laures 1957; Paucke 1959–66; Lasch 2009)? Wie werden und wurden religiöse Themen in der Geschichte der ‚schönen‘ Literatur im Deutschen behandelt (z. B. Langenhorst 2009; Hammer 2013; Weidner 2016)? Wann, wie und mit welchen Absichten wurden Grundtexte einzelner Religionen (z. B. Bibel, Koran, Thora, Pali-Kanon) ins Deutsche übersetzt (z. B. Bobzin 1995; 2007)? Welche Reichweiten hatten die Übersetzungen jeweils? Eine sprach- und kommunikationsgeschichtliche Zusammenschau solcher Aspekte und eine auf solche einzelnen Fragestellungen bezogene Forschungsübersicht in historischer Perspektive ist, soweit ich sehen kann, derzeit ein Desiderat.

3 Sprache und die Konstitution religiöser Gegenstände und Praktiken Ausgangspunkt für die Thematisierung der sprachlich-kommunikativen Konstitution religiöser Gegenstände und Praktiken können Fragen wie die folgenden sein: „Wo ist eigentlich das Fegefeuer? Wie sieht es da aus? Hat es schon einmal jemand gesehen?“, „Warum gibt es das Fegefeuer nicht in allen Religionen?“, „Kann man das Fegefeuer erfinden?“, „Wie kann man entscheiden, welche Götter es ‚wirklich gibt‘ und welche nur erfunden sind?“, „Wie kommt es, dass es so viele verschiedene Götter in den Religionen der Welt gibt?“, „Was macht einen Raum, der früher als

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Turnhalle gedient hat, zu einer Moschee?“, „Was unterscheidet und was verbindet die Äußerung von ja in einer kirchlichen Trauzeremonie von den vielen anderen Gebrauchsweisen von ja?“, „Was passiert eigentlich, wenn ursprünglich gläubige Menschen vom Glauben abfallen oder ihren Glauben wechseln? Was passiert dann mit dem Fegefeuer und anderen Gegenständen, an die sie geglaubt haben?“. Fragen dieser Art mögen naiv klingen, sie berühren aber grundlegende Aspekte der Konstitution von Religionen, religiösen Gegenständen und Praktiken. Eine erste Familie von Kommunikationsformen bezieht sich auf die Stiftung von Religionen. Zahlreiche Religionen werden auf eine Stifterfigur zurückgeführt, deren Wirken zu Lebzeiten in wesentlichen Teilen auch aus Formen des Sprachgebrauchs besteht, deren Resultate dann auch in Stiftungsnarrative und Gründungslegenden eingehen (z. B. Unterweisungsreden; vgl. Selmani, Vogd, Lasch, Steen in diesem Band). Formen der Offenbarung haben eine weltliche, diesseitige Komponente, die sprachlich und textgebunden ist (vgl. auch Stridde in diesem Band). Die Konstitution von Religionen ist weiter darauf angewiesen, dass ihre Grundlagen, ihre Prinzipien, Praktiken usw. in der Zeit weiter überliefert und an die jeweils nächste Generation weitergegeben werden (vgl. auch Kämper in diesem Band). Auch die Tradition von Religionen ist wesentlich auf Sprachgebrauch und Kommunikation gegründet, z. B. bei der religiösen Unterweisung von Kindern oder bei der Ausbildung von religiösen Amtsträgern. Im deutschen Sprachraum gehören zu solchen initialen Dokumenten vor allem Übersetzungen ins Deutsche. Natürlich sind mit all diesen sprachlichen, textuellen und kommunikativen Verfahren der Konstitution von Religionen letztlich auch Glaubensfragen verbunden. Auch wenn man Glaubensfragen für den Bereich der wissenschaftlichen Darstellung methodisch ‚suspendiert‘, gehört ihre Thematisierung als kulturelle Erscheinungen insofern mit in den Bereich der Sprach- und Kommunikationsgeschichte, als der ‚Sitz im Leben‘ dieser Texte und Kommunikationsformen auch eine der Aufgaben für eine kultur-, ideen- und sozialgeschichtliche Sprachgeschichtsschreibung ist. Das gilt auch für die Frage nach dem Status und der Erzeugung religiöser Gegenstände im weitesten Sinne: Kultgegenstände, Feiertage, Personen mit einer besonderen religiösen Stellung, Texte mit einer besonderen religiösen Bedeutung, höhere Wesen aller Art usw. müssen, damit sie in einem religiösen System verfügbar sind, als solche erst ‚erzeugt‘ werden. Viele Religionen weisen beträchtliche Inventare von religiösen Gegenständen auf. Wenn man jeweils fragt, wie diese Gegenstände konstituiert bzw. wie sie zu ihrem religiösen Status gekommen sind, dann wird man zurückgeworfen auf sprachliche und textuelle Verfahren (deren Beurteilung, wie oben schon gesagt, in den Bereich persönlicher Glaubensentscheidungen fällt). Man kann sich das erneut mit scheinbar naiven Fragen verdeutlichen: „Was macht aus einem gewöhnlichen Wochentag im Jahr den Karfreitag?“, „Was macht aus einem Stück Stoff eine Stola?“, „Wie kommen die Engel in die Welt?“, „Wie und wodurch wird eine bestimmte Person ein Rabbi?“ Vergleichbare Fragen kann man für viele Elemente von Religionen stellen, um die wesentliche Rolle sprachlich-

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kommunikativer Anteile bei ihrer Konstitution zu ermitteln. Formen des Weihens, der Segnung, der (Um-)Wandlung mit ihren einerseits kommunikativen, andererseits rituell bestimmten Aspekten gehören in diesen Funktionskreis des Sprachgebrauchs. Auch die Konstitution heiliger Orte bzw. sakraler Räume im weitesten Sinn ist vielfach auf den Gebrauch von Sprache, auf Kommunikation und darauf bezogene situierte Praktiken angewiesen. Maurice Halbwachs hat in seiner 1941 erstmals veröffentlichten Studie La topographie légendaire des évangiles en Terre sainte (2008) gezeigt, wie die Konstitution heiliger Orte auf sprachlich-kommunikativen Traditionen beruht. Die religions- und kulturwissenschaftliche Forschung zu Themenbereichen und Stichwörtern wie „Kultort“, „sacred space“ oder „(de)sacralization“ (u. a. Elsas 1998; Smith 1987; Linenthal 2011) bietet vielfältige Anknüpfungspunkte auch für die Frage nach den kommunikativen Anteilen an der Konstitution heiliger Orte bzw. sakraler Räume in der Geschichte des Deutschen. Das thematische Spektrum reicht von der textuellen Konstitution mittelalterlicher Wallfahrtsorte in Pilgerberichten bis hin zu den Praktiken der Einrichtung religiöser Kultorte im deutschsprachigen Raum für unterschiedliche Glaubensgemeinschaften. Grenzen, Schwellen oder Übergangszonen trennen heilige Orte von ihrer Umgebung. Man muss sich dann fragen, wie solche Schwellenbereiche ihre Wirksamkeit erlangen. Auch hierbei spielen rituelle Handlungen mit kommunikativen Anteilen eine wesentliche Rolle, wenn etwa durch eine förmliche Einweihung ein Gebäude, das vor wenigen Wochen noch ein Rohbau war, nun zu einem Gotteshaus wird. Einen anderen, nicht minder interessanten Status haben zum Beispiel Städte oder Wohnviertel, die durch die Gemeinsamkeit religiöser Überzeugungen geprägt sind: Sie sind aber keine ‚heiligen Orte‘, sie werden auch nicht ‚eingeweiht‘, sie sind vielmehr das Produkt komplexer Entwicklungen, die teilweise geplant, teilweise das Resultat des Zusammenspiels vieler individueller Entscheidungen sind, die von ähnlichen Zielsetzungen bedingt sind (vgl. z. B. Tronu Montane 2012). Für die Konstitution religiöser Gegenstände und Praktiken spielen auch Verwendungen bzw. Verwendungsweisen von Bildern und ikonographische Traditionen im weitesten Sinne eine wesentliche Rolle (ausgewählte Aspekte greift Klug in diesem Band auf). Im Traditionsraum der Spielarten der christlichen Religion gibt es eine reiche Ikonographie zu unterschiedlichen Gegenständen (Dreifaltigkeit, Jesus, Teufel, Engel, Jungfrau Maria, Hölle, Kreuzigung, die Heiligen usw.), die allerdings in der Kommunikationsgeschichte des Christentums selbst zum Teil kontrovers diskutiert wurde. Bedingungsfaktoren dabei war nicht nur die Frage, ob in einer Spielart des Christentums ein bestimmter Gegenstand überhaupt vorkommt, sondern auch die Frage nach der Art und noch grundsätzlicher die Frage nach der Legitimität der bildlichen Repräsentation überhaupt (vgl. Belting 1990). Historische Phänomene wie der Bildersturm im Rahmen der Reformation und die darauf bezogenen Texte, mit denen die Rolle von Bildern im Zusammenhang mit der Religion diskutiert wurden, beziehen sich auf die Frage nach der Legitimität von Bildern und

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von bestimmten Formen der Bildverwendung im Rahmen einer Religion. Unabhängig von diesen kritischen Strängen sind aber Traditionen des Bildgebrauchs in vielen Bereichen wesentliche Komponenten der Konstitution religiöser Gegenstände. Im Hinblick auf die historische Tiefe von Traditionen des christlich geprägten Bildgebrauchs bieten unter anderem das Lexikon der christlichen Ikonographie, Untersuchungen zu den Illustrationen mittelalterlicher Handschriften und motivgeschichtliche Untersuchungen wertvolle Aufschlüsse. In Bezug auf religiöse bzw. religionsbezogene Praktiken wie Gebete, Beschwörungen, Anrufungen höherer Mächte, Verfluchungen in unterschiedlichen Kontexten usw. ist die Frage der Entstehung und der Konstitution im Einzelfall nicht leicht rekonstruierbar. Charles Taylor hat in seinem Beitrag über Bedeutungstheorien (zuerst 1980, Nachdruck 1992) jedenfalls darauf hingewiesen, dass in umfassenden Bedeutungs- und Sprachtheorien Platz sein müsse für Formen des invokativen Sprachgebrauchs. Wenn religiöse Gegenstände und Praktiken zu Objekten von Wissenschaften werden, müssen sie (wie theoretische Gegenstände in anderen Wissenschaften auch) neu konstituiert werden. In den Theologien und der Religionswissenschaft dienen unter anderem Formen der Definition, der Begriffsklärung und der Begriffsbestimmung, der textuellen Einführung und andere diskursive Verfahren der wissenschaftlichen Neu-Konstitution religiöser Gegenstände als Objekte wissenschaftlicher Forschung. So bringen die Theologien und die Religionswissenschaft(en) eigene Terminologien, eigene Diskurse (Neubert 2016) und umfangreiche darauf bezogene Textwelten hervor. Die theologische und religionswissenschaftliche Fachkommunikation hat eine der ältesten, umfangreichsten und komplexesten Fachliteraturen in der Geschichte des Deutschen erzeugt.

4 Der Zusammenhang von Religion und Sprache mit linguistischen Beschreibungsparametern In der Sprachwissenschaft ist es ein wichtiges und traditionsreiches Darstellungsund Organisationsprinzip von Erkenntnissen, Befunde der Forschung auf einzelne Ebenen der sprachlichen Struktur bzw. des Sprachgebrauchs zu beziehen. Diese Ebenen reichen von der lautlichen Ebene über Schreibweisen, Fragen der Flexion, der grammatischen Organisation, des Wortgebrauchs und der Wortbildung, der syntaktischen Organisation bis hin zu Fragen der Dialog- und der Textorganisation mit allen pragmatischen Fragestellungen, die darauf bezogen sind. Im Anschluss an diese wissenschaftsgeschichtliche Tradition kann man nun fragen, welche dieser systematischen Ebenen bzw. welche Aspekte des Sprachgebrauchs in besonders prominenter Weise mit Fragen der Religion bzw. mit Fragen des religiösen Sprach-

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gebrauchs zu tun haben und wie sich diese Zusammenhänge in einer historischen Perspektive darstellen. Aus der Perspektive des religiösen bzw. religionsbezogenen Sprachgebrauchs sind Texte/Texttypen und Formen der (mündlichen, schriftlichen, multimodalen) Kommunikation die wichtigste Beschreibungsebene. Wie im Beitrag von Lasch/ Liebert (2015) erwähnt, sind Arbeiten zu religiösen Textsorten und Kommunikationsformen sowie zu ihrer Geschichte in der Forschung zum religiösen Sprachgebrauch auch besonders reichhaltig vertreten; was allerdings nicht bedeutet, dass sich nicht eine große Menge an Desiderata benennen ließen (wie etwa Lehr- und Schulbücher). Die Geschichte der Religionen im deutschsprachigen Raum zeigt sich besonders nachhaltig im Wortschatz, im Bereich der Bedeutungen, der Wortbildung, der Entlehnung und zum Teil auch im ad-hoc-Wortgebrauch. Seit dem Althochdeutschen mit seinen religiösen Lehnbildungen im Zuge der Christianisierung gab es einerseits eine Tradition des stabilen Gebrauchs von lexikalischen Einheiten über sehr lange Zeiträume hinweg (Kontinuität), andererseits aber auch Phasen der Erweiterung und der Veränderung im Wortschatz, die nicht selten mit bestimmten Entwicklungen verbunden waren. Zu nennen wären hier exemplarisch die Entstehung einer deutschsprachigen scholastischen Terminologie, den Wortgebrauch der Mystiker im Spätmittelalter, den strategisch überregionalen Wortgebrauch in Luthers Bibelübersetzung, die Anpassung des Wortgebrauchs im Zuge von aktualisierenden Textrevisionen (Besch 1984; 2008), den Wortgebrauch pietistischer Strömungen im 17. und 18. Jahrhundert (Langen 1957; 1964; 1968), die Entstehung wissenschaftlicher Terminologien in den Theologien und der Religionswissenschaft, sodann auch der zeitliche strukturierte Ausbau von Wortschatzsektoren, die sich auf die Kenntnis, die Beschäftigung und/oder die Etablierung nicht-christlicher Religionen (z. B. Judentum, Islam, Buddhismus) im deutschsprachigen Raum beziehen. Soweit ich sehe, liegen zu einzelnen Aspekten dieser Entwicklung zahlreiche Spezialstudien vor, aber keine Gesamtdarstellung, die verschiedene Aspekte der Wortgebrauchsentwicklung sowohl im historischen Längsschnitt als auch in zeitlich gestaffelten Querschnitten umfassen müsste. Zu den zentralen Entwicklungsaspekten gehören u. a. die Dynamik des Wortbestandes, die Rolle der Wortbildung und der fremdsprachigen Einflüsse, die Entwicklung fachsprachlicher Einheiten, semantische Aspekte, die thematische Strukturierung des Wortschatzes und ihre Dynamik sowie der Zusammenhang von Wortschatzentwicklung und religionsgeschichtlicher Entwicklung, die häufig genug von allgemeinen Sprachwandelerscheinungen isoliert sind. Die religionsbezogene Sprachgeschichte ist darüber hinaus auch eine Geschichte von Diskursen zu unterschiedlichen historischen Themen und Streitfragen im Bereich der Religion und vieler Themengebiete, für die sich Religionsvertreterinnen und Religionsvertreter im weitesten Sinne zuständig fühlten. Sie umfasst zum einen Fachdiskurse unter Theologen (z. B. der Streit um die Gnadenlehre im 16. Jahrhundert), zum anderen öffentliche Diskurse mit erweiterten Akteurskonstellationen

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(z. B. die Kontroverse um Abtreibung im 20. Jahrhundert, an der neben den Kirchen zahlreiche andere Gruppierungen beteiligt waren; Böke 1995). Die Frage nach den Beteiligungsrechten weiblicher Diskursteilnehmer, z. B. Theologinnen, ist selbst Gegenstand der historischen Entwicklung und auch Gegenstand historischer Auseinandersetzungen über Fragen der beruflichen und öffentlichen Partizipation von Frauen in unterschiedlichen Gebieten der Religionen. Den Aspekt der religionsgeschichtlichen Diskurse und Kontroversen behandle ich im Abschnitt 5 genauer. Als eine Fortsetzung und Vertiefung textlinguistischer Zugriffe lässt sich auch die Frage nach Formen und Funktionen der Text/Bild-Koordination auf religiöse und religionsbezogene Kommunikationsangebote in historischer Perspektive beziehen (vgl. Klug in diesem Band). In diesen Bereich fallen etwa Formen der Illumination bzw. der Illustration von mittelalterlichen Handschriften, alten Drucken und auch neuerem Schrifttum bis in die Gegenwart, seien dies Abbildungen in Heiligenlegenden, Pilgerberichten, Lehr- und Schulbüchern sowie Frömmigkeitstexten aller Art, der Gebrauch von polemisch verwendeten Abbildungen im Rahmen der frühneuzeitlichen Flugschriften bis hin zu komplexen multimodalen Arrangements in modernen Medienangeboten. Quer zu den linguistischen Beschreibungsebenen liegen Fragen der diasystematischen Variation und ihrer Entwicklung in der Geschichte der deutschen Sprache. Auch diese komplexen Entwicklungen können hier nur angedeutet werden. Bestimmte Teile des religionsbezogenen Sprachgebrauchs im Deutschen können als fachsprachlich bzw. fachlich geprägt gelten, sie reichen vom Sprachgebrauch der mittelalterlichen Übersetzer scholastischer Texte über die Kontroverstheologen der Frühen Neuzeit bis zum neuzeitlichen Sprachgebrauch der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Theologien, den Religionswissenschaften und in den auf Religionsvermittlung bezogenen Fachwissenschaften und Didaktiken in Studiengängen wie „Katholische Theologie“, „Evangelische Theologie“, „Islamische Religion“ usw. Aber auch regionale Variation ist ein wichtiger Parameter: Diese Art der Variation betrifft zum Beispiel regionale Bezeichnungen im religiösen Sprachgebrauch, die schon erwähnte Vermeidung dialektaler Prägung des Sprachgebrauchs im Rahmen überregionaler Verbreitungsstrategien von religiösen Texten oder die nur regionale Verbreitung religiöser Praktiken und die damit verbundenen sprachlichen Erscheinungen. In dieses Feld gehört auch die These einer sprachgeschichtlichen Konfessionalisierung des Deutschen in der Frühen Neuzeit. Die Grundannahme dieser These ist, dass in der Frühen Neuzeit (vom 16.-18. Jh.) sich die deutschsprachigen Varietäten in den katholischen und den evangelischen Territorien auseinanderentwickelt und je eigene Sprachformen hervorgebracht haben (vgl. zu diesem Themenfeld u. a. Wiesinger 2006; Macha 2014). Die Entstehung einer überregionalen deutschen Schriftsprache ist ein weiteres Thema, für das insbesondere Luthers Bibelübersetzung, sodann aber auch die Erbauungsliteratur in Anspruch genommen wurde. Aus der Rückschau kann man

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sagen, dass der religiöse Sprachgebrauch in Texten des 16. und 17. Jahrhunderts sicherlich ein wichtiger Faktor des Sprachausgleichs war, dass aber neben der Lutherischen Bibelübersetzung zahlreiche weitere Faktoren mit im Kalkül sind. Werner Besch hat darüber hinaus mehrfach darauf hingewiesen, dass es nicht so sehr die Person Luthers war, der ein solcher Einfluss zugeschrieben werden sollte, sondern dass es vielmehr der Status der Bibel als ein autoritativer Text im Glaubensleben war, der die entsprechende Resonanz mit bewirkte (vgl. u. a. Besch 1987; 1999). Man kann von den linguistischen Beschreibungs- und Analyseparametern ausgehend nach weiteren Zusammenhängen zwischen Sprache und Religion in der Geschichte des Deutschen fragen, zum Beispiel nach formelhaften syntaktischen Mustern in bestimmten religiösen Zusammenhängen, nach Formen der Intonation in bestimmten Phasen religiösen Sprachgebrauchs, nach archaischen Ausdrucksweisen, die sich in der Tradition des Kirchenliedes bewahrt haben, nach den sprachlichen Eigenheiten religiöser Zentralfiguren und ihrer Thematisierung (z. B. Luthers abfällige Bemerkungen über die Sprache Zwinglis) usw. Die Parameter erweisen sich so auch als Mittel zur Entwicklung neuer Forschungsaspekte, die auf ihre Fruchtbarkeit hin befragt werden können.

5 Religiöse Kontroversen in der Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Deutschen Kontroversen sind tief in die Geschichte der Religionen und ihrer wechselseitigen Verhältnisse eingegraben. Sie hängen in vielen Fällen mit dem Wahrheits- und Einzigkeitsanspruch zusammen, der von einzelnen Religionen bzw. ihren Vertretern behauptet wird. Im europäischen Mittelalter ist eine reiche überwiegend lateinische Literatur überliefert, in der es um die Wahrheit und die Ansprüche der konkurrierenden Religionen geht (z. B. Thomas von Aquin, Peter Abailard, Abner von Burgos, Lewis/Niewöhner 1992; zur christlichen Adversus-Judaeos-Literatur vgl. Schreckenberg 1988). Die Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Religionen ist im deutschsprachigen Raum ein Thema, das in verschiedenen Facetten und Gewichtungen von den Anfängen im Mittelalter bis in die Diskurse der Gegenwart (z. B. Kalwa 2013) reicht. Aber auch innerreligiöse Differenzen mündeten nicht selten in Kontroversen, z. B. als Reaktion auf neue Spielarten bzw. Abspaltungen einer Religion. Als Beispiele könnte man die Auseinandersetzungen um die Wiedertäufer (z. B. Bullinger 1561), die Auseinandersetzung der sog. Schwärmer mit Luther (z. B. Enders 1893) oder die Pietismus-Kontroversen als Reaktion einer neuen Art von Frömmigkeit, die das Selbstverständnis der Orthodoxie infrage stellte (Francke, ed. Peschke 1981; Gierl 1997; Fritz 2001), anführen.

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Neben literarischen Kontroversen hatten religionspolitische Auseinandersetzungen aber häufig auch rechtliche Aspekte und Konsequenzen, die von einer Beanstandung durch Aufsichtsbehörden (z. B. Stäbler 1992) bis hin zu Berufsverboten und Vertreibung aus einem Gebiet reichten (vgl. Lasch 2005). Auch diese rechtlichen Konsequenzen sind sprachlich und kommunikativ verfasst, z. B. als allgemeines Vertreibungsedikt in der Frühen Neuzeit oder als individueller Entzug der Lehrbefugnis im Fall von Hans Küng im 20. Jahrhundert, der wiederum Formen der Rechtfertigung und der autobiographischen Aufarbeitung im Gefolge hatte (Küng 2002). Auch das Verbot an Lessing, den Streitschriftenwechsel im „Fragmentenstreit“ weiterzuführen, gehört in diesen Bereich. Wie man weiß, hat Lessing die Kontroverse dann im literarischen Feld (Nathan der Weise) weitergeführt. In der christlichen Tradition hat sich ein eigenes Lehrfach im Rahmen der (evangelischen und katholischen) Theologie herausgebildet, die Polemik bzw. die Kontroverstheologie, deren Gegenstand die Auseinandersetzung mit anderen Religionen bzw. Bekenntnissen war und ist. Umfängliche Lehrwerke sind dazu auch in deutscher Sprache entstanden (z. B. von Hase 1890; vgl. auch Werner 1861–67). Die bislang gemachten Ausführungen können nur dazu dienen, einige Aspekte der Vielfalt von kontroversen Konstellationen mit religiösen oder religionspolitischen Bezügen zu eröffnen, sie können keine umfängliche Systematisierung bieten, sie sollen aber die Frage nach der Rolle von Sprachgebrauch und Kommunikation im Rahmen von Kontroversen auch in historischer Perspektive vorbereiten. Aus einer sprach- und kommunikationsgeschichtlichen Perspektive stellt sich die Frage nach dem Repertoire und den Formen der Kontroversenführung in religiösen bzw. religionspolitischen Zusammenhängen, auch in der historischen Dynamik. Hierfür lassen sich folgende Leitfragen formulieren: – Welche (Arten von) religiösen bzw. religionspolitischen Streitfragen waren in unterschiedlichen Zeiträumen Gegenstand von Kontroversen in der deutschsprachigen Kommunikationsgeschichte? – Wie lassen sich einzelne religiöse bzw. religionspolitische Kontroversen mit ihren unterschiedlichen Beiträgen und ihren vielfältigen Bezügen zwischen Beiträgen und Beitragsteilen systematisch rekonstruieren und bibliographisch und textstrukturell dokumentieren? – Wie lassen sich die Querverbindungen und Formen der Vernetzung zwischen einzelnen Kontroversen modellieren und empirisch untersuchen? – Wie lassen sich Formen der religiösen bzw. religionspolitischen Kontroversenführung mit Hilfe von Parametern der pragmatischen Organisation in ihrer historischen Dynamik beschreiben und typisieren (z. B. Aspekte der Handlungsstruktur, Formen der Themenorganisation, Gebrauch sprachlicher Mittel, Kommunikationsmaximen und Strategien der Kontroversenführung)? – Lassen sich in der Vielfalt der historischen Erscheinungen ggf. ‚Modelle‘ bzw. ‚Spielarten‘ der Kontroversenführung ausmachen, auch in ihrer historischen Dynamik?

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Als ein Beispiel, wie sich unterschiedliche Aspekte der pragmatischen Organisation von religiösen Auseinandersetzungen in deutscher Sprache rekonstruieren lassen, kann das Kontroversenmodell der Frühen Neuzeit dienen, das auf dem geordneten Austausch von aufeinander bezogenen Streitschriften beruht. Das StreitschriftenModell der Kontroverse hat die religiösen und religionspolitischen Auseinandersetzungen der Frühen Neuzeit vom 16. Jahrhundert an geprägt, bevor es dann vor allem seit dem 18. Jahrhundert durch andere Modelle (z. B. Kontroversen in Zeitschriften, die teilweise anderen Prinzipien folgten) zwar nicht verdrängt, aber doch in den Hintergrund gerückt wurde. Zu den wesentlichen Prinzipien der Organisation einer Kontroverse mit Streitschriften gehört ein Eröffnung/Reaktion(en)-Muster, die Zerlegung eines Streitgegenstandes in thematische Punkte, die weitere Behandlung der strittigen Gegenstände in einem Punkt-für-Punkt-Verfahren der Bearbeitung, eine eigene Buchführung über den Stand der Auseinandersetzung relativ zu den verhandelten Streitpunkten sowie ein reichhaltiges Repertoire von argumentativen und anderen Strategien der Kontroversenführung. Auch die mehr oder weniger polemisch geprägten sprachlichen Mittel in der Auseinandersetzung tragen zu unterschiedlichen Spielarten der Kontroversenführung bei. Diese Aspekte der Organisation von Kontroversen lassen sich im Rahmen der historisch-pragmatischen Methodik sehr gut rekonstruieren und sowohl für die Beschreibung von Kontroversenmodellen als auch für exemplarische Analysen einzelner Kontroversen nutzbar machen (z. B. Gloning 1999; Fritz 2010). In vergleichbarer Weise lassen sich ganz unterschiedliche historische Ausprägungen von Kontroversen mit den Mitteln der historischen Pragmatik und ihren jeweiligen medien-, text-, gesprächs- und bildlinguistischen Vertiefungen und Erweiterungen analysieren, seien dies Streitschriftenkontroversen aus dem 16. Jahrhundert, religionsbezogene Rezensionen und ggf. Rezensionskontroversen aus dem 18. und 19. Jahrhundert (vgl. z. B. die Rezeption von Schleiermachers Schrift Über die Religion (1799) in zeitgenössischen Rezensionen, die in der historischen Einleitung zur Ausgabe von 2001 genannt sind), theologische oder religionswissenschaftliche Fachkontroversen des 19. und 20. Jahrhunderts bis hin zu einer konfrontativen Maischberger-Talkshow zu Themen mit religiösen Bezügen mitsamt ihren Ausläufern in der Presseberichterstattung, in der Blogosphäre und in den sozialen Medien. Zum Textkosmos religiöser bzw. religionspolitischer Kontroversen in der Geschichte des Deutschen gehören auch Übersetzungen. So wurden etwa in der Frühen Neuzeit zahlreiche Kontroversenbeiträge in lateinischer Sprache geschrieben, die dann ins Deutsche übersetzt wurden, z. B. eine Stellungnahme des Kardinals Robert Bellarmin zur Konkordienformel, die von Christoph Huber, einem Ingolstädter Jesuiten, ins Deutsche gebracht wurde (Bellarmin 1586). Unabhängig von vollständigen Übersetzungen ist der Argumentationshaushalt der lateinischen Überlieferung auch in deutschsprachigen Kontroversen der Frühen Neuzeit verfügbar. Aber auch die Übersetzung der Grundtexte anderer Religionen ist teilweise eingebunden in kontroverse Konstellationen, so enthält zum Beispiel Salomon Schweiggers frühe

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Koran-Übersetzung ins Deutsche (Alcoranus Mahometicus 1616) zahlreiche in den Text eingestreute kritische und polemische Bemerkungen. Übersetzungen können auch selbst wieder zum Gegenstand von Kontroversen werden, Luthers Sendbrief vom Dolmetschen (ed. Bischoff 1965) ist ein berühmtes Beispiel, aber auch aktuelle mediale Thematisierungen von Übersetzungen aus dem Koran, in denen es um brisante Tagesfragen und politische Themen geht, gehören in diesen Umkreis. Die Frage nach den für religiöse bzw. religionspolitische Auseinandersetzungen genutzten Texttypen und Kommunikationsformen und ihrer Vernetzung ist auch in historischer Perspektive zentral. So kann man etwa am Beispiel frühneuzeitlicher Religionsgespräche zeigen, dass Religionsgespräche als prominent besetzte Diskussionsveranstaltungen weitreichende Vorbereitungskommunikationen über Grundlagen und ‚Spielregeln‘ erforderten, dass sie in vielen Fällen auch eine gedruckte und veröffentlichte Ergebnisdokumentation zur Folge hatten, dass sie im Verlauf Formen der Protokollierung und der Ergebnisabstimmung zwischen den Parteien aufwiesen. Hervorragend dokumentiert ist im Hinblick auf solche kommunikationsgeschichtlichen Zusammenhänge die Badener Disputation von 1526 (Schindler/ Schneider-Lastin 2015). In der Vielfalt kontroverser Verläufe sind manche Gegenstände schlecht dokumentierbar und damit auch nicht gut zu untersuchen. Hierzu gehören vor allem kontroverse Gespräche in historischen Zusammenhängen oder auch in modernen Situationen, in denen Dokumentationstechnologien entweder nicht verfügbar waren oder einfach nicht angewendet wurden, man denke etwa an Missionierungsgespräche auf der Straße oder an der Haustür. Auch wenn solche Verlaufsformen nicht im Detail dokumentierbar sind, müssen sie doch in der kommunikationsgeschichtlichen Beschreibung des Repertoires von kontroversen Verlaufsformen vertreten bleiben, sei es auf der Grundlage von sekundären Quellenerwähnungen oder von persönlichen Erinnerungen aus der Rückschau. Auch hier wäre es geboten, die Sichtweise jeweils verschiedener Standpunkte und Gesprächserfahrungen zu ermitteln, z. B. in Form einer Befragung von missionarisch besonders aktiven Glaubensgemeinschaften (u. a. Zeugen Jehovas) und von Gesprächspartnern, die anderen Bekenntnissen zugewandt sind oder agnostisch oder atheistisch denken. Zum komplexen Text- und Kommunikationskosmos der religiösen bzw. religionspolitischen Kontroversen im deutschen Sprachraum gehören im weiteren Sinne auch die vielfältigen Erscheinungsformen der Religionskritik. Man kann hier zunächst nach wichtigen Personen, nach Kernthemen und nach zentralen Diskursverläufen fragen. Im Anschluss stellen sich dann wiederum die oben genannten historisch-pragmatischen Fragen mit ihren medien-, text-, gesprächs- und bildlinguistischen Vertiefungen und ihren Erweiterungen im Bereich der multimodalen Darstellungsformen, die eng mit medialen Entwicklungen gekoppelt sind. Ein Streit wie der um die ‚Legitimität‘ der religionsbezogenen Muhammad-Karikaturen in Dänemark hat gezeigt, dass solche Auseinandersetzungen sehr eng mit den Selbst- und Fremdbildern von Religionen, damit verbundenen bzw. zugeschriebenen Lebens-

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formen und auch Kontrastierungen wie Ost/West oder Religion/Säkularismus zusammenhängen (vgl. auch Asad u. a. 2013). Die Diskussionen in deutschsprachigen Medien waren in solchen Fällen eng mit der internationalen Debatte verbunden. In anderen Fällen wurde deutlich, dass Formen der Religionskritik und Reaktionen darauf nicht nur sprachlich-kommunikative Anteile aufweisen können, sondern auch in gewaltsame Verlaufsformen übergehen können, die dann wiederum Gegenstand von kontroversen Kommentierungen sein können. In vergleichbarer Weise können auch Formen der Nutzung religiöser Motive in weltlichen Zusammenhängen Gegenstand der Auseinandersetzung werden (vgl. auch Fix in diesem Band). Neuere Beispiele sind etwa die Nutzung solcher Motive in der Werbung (z. B. Benetton), in der Musik (z. B. Madonna am Kreuz im Rahmen der Confessions-Tour) oder auch in der Pornographie (z. B. das Motiv der geilen Nonne oder des lüsternen Priesters, auch mit einer langen literarischen und ikonographischen Tradition). Unabhängig von den darauf bezogenen kritischen Kommentierungen und kontroversen Auseinandersetzungen gehören auch die Beschreibung, Dokumentation und Systematisierung der primären Nutzungsweisen religiöser Motive in ‚weltlichen‘ Kontexten oder in Bereichen einer postmodernen Esoterik und Spiritualität (vgl. auch Hero in diesem Band) mit zu den Aufgabenbereichen einer Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Deutschen. Die in diesem Abschnitt exemplarisch genannten Themen, Gegenstände, Forschungsarbeiten und methodischen Hinweise sollen verdeutlichen, dass Formen der kontroversen Auseinandersetzung um Streitfragen, die sich im weitesten Sinne auf Religion bzw. Religionen beziehen lassen, in der Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Deutschen einen bedeutenden Anteil haben, der weit oben auf der Vertiefungsagenda zukünftiger Forschungen im Bereich „Sprache und Religion“ stehen sollte.

6 Eigene und andere Religionen – Diskurse zwischen Faszination und Bedrohung Die Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Deutschen ist auch geprägt von der Wahrnehmung und Thematisierung jeweils ‚eigener‘ und ‚anderer‘ bzw. ‚fremder‘ Religionen. Fremde Religionen und Religionsgemeinschaften wurden dabei zum Teil als eine Bedrohung aufgefasst und dargestellt, in anderen Konstellationen waren „andere“ Religionen Gegenstände besonderer Faszination, deren Darstellung auch mit weiterführenden Zielen verbunden sein konnte, z. B. einer Kritik an der eigenen Religion, mit Entwürfen der Lebensreform und alternativer Lebensweisen, aber auch mit politischen Zielsetzungen, z. B. im Rahmen der Befreiungstheologie. In der Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Deutschen waren unterschiedliche Religionen Gegenstand der Thematisierung, der Faszination oder auch

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Ausgangspunkte für Bedrohungsszenarien. Wie im Abschnitt über die Kontroversen schon erwähnt, ist z. B. die Thematisierung des Verhältnisses von christlicher, jüdischer und muslimischer Religion ein Gegenstand, der sich in sehr unterschiedlichen Ausprägungen durch die Jahrhunderte der deutschen Sprach- und Kommunikationsgeschichte zieht. Dabei gibt es zahlreiche historische Konstellationen, in denen Autoren aus dem christlichen Lager andere Religionen als kritikwürdig dargestellt haben. Demgegenüber gibt es aber auch Darstellungen, in denen Praktiken oder Vertreter ‚anderer‘ Religionen aus christlicher Sicht als positiv, vorbildlich usw. dargestellt werden, sei es z. B. im Rahmen eines aufklärerischen Programms bei Lessing oder im Rahmen religionskritischer Zielsetzungen bei Luther, der den Religionseifer und den Ernst der Türken kontrastiert mit der religiösen Verlotterung seiner Zeitgenossen im christlichen Bereich. Auch fernöstliche Religionen waren in unterschiedlichen Phasen der deutschen Sprach- und Kommunikationsgeschichte Gegenstände der Faszination (zum Buddhismus vgl. u. a. Zotz 2000). Schopenhauers Auseinandersetzung mit der buddhistischen Religion in seinem Werk Die Welt als Wille und Vorstellung kann man als Beispiel nennen, Thomas Mann bezieht sich darauf in seinem Roman Die Buddenbrooks (1901). Der Zen-Buddhismus ist Gegenstand einer eigenen Faszinationsgeschichte im Deutschen, die sich textuell u. a. in einer Reihe von Büchern aus dem Diederichs-Verlag zeigt (z. B. Eugen Herrigels Zen in der Kunst des Bogenschießens, 1951), aber auch in Übersetzungen wie Robert Pirsigs Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten (1976), in Übersetzungen der Werke Daisetz Teitaro Suzukis (z. B. 1939; 1941) oder in Übersetzungen von Werken von Jack Kerouac, einem Autor der sog. Beat Generation, in dessen Werken der ZenBuddhismus eine zentrale Rolle spielt. Zu den Traditionen der Thematisierung ‚fremder‘ Religionen gehören aber auch fachliche Darstellungen in deutscher Sprache wie z. B. Wilhelm Gunderts Japanische Religionsgeschichte (1935). Viele fachliche Berichte zu älteren Entdeckungsreisen beinhalten auch umfangreiche deskriptive Passagen über fremde Religionen, ihre Praktiken und ihre Rolle für die jeweiligen Lebensformen. Engelbert Kaempfers Werk ließe sich hierfür exemplarisch nennen (z. B. 1777–1779/1982). Fachliche Darstellungen wie z. B. Mircea Eliades Schamanismus und archaische Ekstasetechnik (1957) konnten aber über den engeren fachlichen Bereich hinaus auch Faszinationsdynamiken in erweiterten Leserkreisen vor allem in Kreisen der sinnsuchenden Jugend entwickeln. Fragen der ‚eigenen‘ Religion und ‚anderer‘ Religionen wurden in historischen Zeiträumen in unterschiedlichen kommunikativen und medialen Umgebungen und verschiedenen Arten von Texten, Gesprächen oder multimodalen Angeboten thematisiert. Die oben bereits erwähnten Kontroversen-Beiträge, z. B. Streitschriften, sind eine über viele Jahrhunderte hinweg belegbare Form der Auseinandersetzung mit fremden Religionen. Sie setzen einen Streitanlass und einen Streitgegenstand voraus, in vielen Fällen auch bestimmte Beteiligungsrollen. Eine weitere große Gruppe von Texten, in denen fremde Religionen in der Geschichte des Deutschen dargestellt

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wurden, waren Reiseberichte, geographische und sog. ‚chorographische‘ Werke. Zu den thematischen und textuellen Schemata der Beschreibung fremder Kulturen gehörte es in der Regel auch, die religiöse Verfassung zu beschreiben, sei es in einer ‚ethnographischen‘, sei es in einer religionskritischen Perspektive. Mit der Etablierung wissenschaftlicher Teildisziplinen (in der Religionswissenschaft, der Ethnographie, der Länderkunde) entstehen eigene Lehr- und Handbücher mit religionsbezogenen Inhalten. Aber auch in fachlichen und populären Zeitschriften finden sich viele Beispiele für die Darstellung ‚fremder‘ Religionen. In den bekannten Merian-Heften der Nachkriegszeit finden sich immer wieder Beiträge zur religiösen Verfassung fremder Länder und Kulturen, sie haben dann in der Regel einen vergleichbaren Status wie Berichte, mit denen über Aspekte der Ernährung, der Folklore usw. berichtet wird. Eigene und fremde Religionen sowie ihr Verhältnis sind vielfach auch Gegenstand literarischer Gestaltung gewesen. Im Hinblick auf die Art der Thematisierung stellt sich zunächst die Frage, welche Arten von sprachlichen Aktivitäten dabei genutzt wurden. Schon bei den Formen der Bezugnahme auf Glaubensgemeinschaften, Religionen, Personen usw. kann man in unterschiedlicher Weise Wertschätzung, Toleranz oder Herabsetzung signalisieren. Wenn z. B. Salomon Schweigger in seiner Koran-Übersetzung von 1616 schon auf dem Titelblatt den Ausdruck jhr falscher Prophet Machomet verwendet, dann ist damit eine Perspektivierung schon vorgegeben. Zu den zentralen Handlungsformen gehören vor allem auch komplexe Beschreibungen, mit denen unterschiedliche thematische Teilaspekte von Religionen charakterisiert werden können. Dieser Typ ist besonders wichtig für Reisebeschreibungen und die geographische Literatur. Eine fachlich spezialisierte Ausprägung sind wissenschaftliche Darstellungen von fremden religiösen oder religiös geprägten Denkweisen, Gepflogenheiten und Verfassungen. Aber auch argumentativ-polemische Handlungen spielen und spielten in unterschiedlichen Zeiträumen eine wichtige Rolle, so etwa, wenn Fragen der Religion im Rahmen von Diskursthemen wie etwa Einwanderung eingebettet sind. Zur Faszinationsgeschichte in der Begegnung mit fremden Religionen haben nicht unwesentlich literarische Werke und die literarische Stilisierung bestimmter Figuren beigetragen (siehe dazu unten). Mit der Frage nach den Handlungsformen hängen Fragen des Gebrauchs spezifischer sprachlicher Mittel eng zusammen. Besonders wichtig sind Formen des Wortgebrauchs, z. B. bei der Bezeichnung von Personen und Gegenständen fremder Religionen, bei Aspekten ihrer Bewertung und Perspektivierung (vgl. exemplarisch Dharampal-Frick 1994, 308–312), bei der Wiedergabe von Denkfiguren oder spezifischen Gegenständen, die ein religiöses System prägen. In wissenschaftlichen Kontexten haben sich hier systematisch aufgebaute Terminologien entwickelt. Formen der Thematisierung ‚fremder‘ Religionen weisen eine eigene sprachund kommunikationsgeschichtliche Dynamik auf, die eng an geschichtliche Entwicklungen gekoppelt ist. Man kann Aspekte dieser Dynamik systematisieren, indem man z. B. die Thematisierungsgeschichte einzelner Religionen in den Blick

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nimmt, indem man bestimmte Teilthemen und ihre Dynamik (z. B. Vorwürfe des Ritualmords, des Hostienfrevels gegen Juden) beschreibt, indem man einzelne kommunikative oder sprachliche Verfahren in historischer Perspektive analysiert (vgl. z. B. Lobenstein-Reichmann 2013 zu Formen der Ausgrenzung). Auch die Untersuchung und Dokumentation spezifischer Wortschatzmittel ist ein wichtiger Aspekt. Literarische Formen der Thematisierung eigener und fremder bzw. anderer Religionen sind ebenfalls eine wichtige Komponente auch der Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Deutschen. Dabei ‚zählen‘ auch die aus anderen Sprachen übersetzten Texte im kommunikativen Haushalt des Deutschen mit. Werke von Hermann Hesse (1952), besonders Siddharta, sind Beispiele für Faszinationsgeschichten aus jüngerer Zeit, die schon genannten Werke von Jack Kerouac sind Beispiele für Übersetzungen aus dem Amerikanischen. Andere (übersetzte) Werke sind Beispiele für literarische Gestaltungen im Bereich der kritischen Auseinandersetzung, z. B. Salman Rushdies ‚Satanische Verse‘. Daneben finden sich in vielen Werken (und ihren Verfilmungen) religiöse Themen auch als Nebenstränge, sei es bei der Gestaltung von Figuren, sei es als essayistischer Textblock, sei es als Handlungsstrang. Umberto Ecos Der Name der Rose ließe sich hier exemplarisch nennen oder die populären Romane von Dan Brown wie z. B. Illuminati und Sakrileg. Im Hinblick auf literarische Gestaltungsweisen kann man darüber hinaus fragen, wie sie zusammenhängen mit den in einer Zeit verfügbaren Gebrauchstexten, man kann verstärkt nach der Rolle kommunikativer Aktivitäten und sprachlicher Mittel fragen (etwa bei der Erzeugung religiöser Elemente von Fantasywelten z. B. im als Game of Thrones verfilmten Lied von Feuer und Eis George R. R. Martins), ein weiteres Desiderat wäre eine systematische Darstellung religionsbezogener ‚Faszinationsgeschichten‘ im historischen Längsschnitt und mit Blick auf die sprachlichkommunikative Verfasstheit dieser Texte. Und man kann fragen, was zu einer bestimmten Zeit üblich war, was demgegenüber ungewöhnlich, neu oder faszinierend war.

7 Religionen und Medien in der Sprachgeschichte des Deutschen Der religiöse und religionsbezogene Sprachgebrauch ist in der Geschichte des Deutschen in unterschiedlich intensiver Weise durch die Nutzung von Medien und medialen Formaten sowie die Verankerung in medialen Umgebungen geprägt. In einem ersten Schritt werde ich zunächst die Zusammenhänge zwischen Religion und medialen Bereichen (mündlich, schriftlich, technisch vermittelte Medien) umreißen, in einem zweiten Schritt soll dann der Zusammenhang zwischen Mediennutzung und unterschiedlichen Kommunikationsbereichen behandelt werden.

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In der jüngeren Gegenwart gehören zu den medial mündlichen Formen traditionellerweise Gespräche und Reden (u. a. Predigten, verlesene Ansprachen, Grußworte u. dgl.; vgl. auch Kurcharska-Dreiß in diesem Band), der Gottesdienst beruht neben seinen kommunikativen Anteilen (vgl. auch Greule/Kiraga in diesem Band) darüber hinaus auch auf eigenen Inszenierungs- und Raumkomponenten, die an eine ‚Aufführung‘ in einem sakralen Raum gebunden ist (vgl. Hausendorf/Schmitt 2010). Eine kleine Gruppe von Sprechakten bzw. Sprechaktsequenzen (z. B. Taufen, Ehe schließen, Konfirmieren, Ordinieren) dient dazu, neue religiöse Tatbestände und Zustände zu erzeugen. Es sind hierzu, wie in der Sprechakttheorie entfaltet, bestimmte Voraussetzungen und Gelingensbedingungen nötig. Die Mündlichkeit ist eine mediale Umgebung, die in der Sprachgeschichte des Deutschen von den Anfängen bis zur Gegenwart mit den vielfältigen Handlungsbereichen und Themen im Umkreis von Religion und Kirche sehr eng verbunden ist. Mediengeschichtlich stellen die deutschsprachigen Handschriften des Mittelalters einen Umbruch dar. Im Marburger und Paderborner Handschriftenzensus sowie in den literaturgeschichtlichen Übersichten im DLL-MA (Achnitz 2011) wird die Fülle religiöser Handschriften sinnfällig, die vom frühen bis zum späten Mittelalter das kirchliche, religiöse und literarische Leben sowie auch den Alltag maßgeblich geprägt haben. Handschriftliche religionsbezogene Texte wurden und werden aber auch nach der Etablierung gedruckter Texte seit dem 15. Jahrhundert weiterhin breit genutzt: Briefe spirituell-religiösen Inhalts, Tagebücher, Predigtentwürfe, Teufelspakte sind nur einige Beispiele für handschriftliche Texte mit religiösem Bezug. Das folgende Textbeispiel stammt von einem Tübinger Studenten, der Ende des 16. Jahrhunderts dem Teufel auf einem Zettel, den er in seiner Studentenbude hinterlegte, einen Pakt anbieten wollte. Der Text folgt im Aufbau einem traditionellen Schema für Urkunden mit Intitulatio (Ich …), Verkündigungsformel (thue kunt …), Darlegung des Rechtsgeschäfts (das ich …) usw. Man kann annehmen, dass der Student vom literarischen Faust-Stoff Kenntnis hatte:

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Abb. 1: Angebot eines Teufelspakts (Schäfer 1981, I, 100ff.). Übertragung: Jch David Leipzig von Erffurdt aus Thuringen, schreibe vnd thue dir kunt Awerhan in der Hellen, das ich mit dir will einen Pact machen vnd dein sein will, wen du mir itzundt, wen ich wieder heim kome 3. goltgulden, zu dem brief legen wirst, vnd darnach mit mir das wirst eingehen, wz ich begere. Bin einer Antwort gewertigk --.

Im Bereich der gedruckten Angebote sind es seit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert zunächst Einblattdrucke, Flugschriften und Bücher religiöstheologischen Inhalts, in denen deutschsprachige Texte verbreitet werden (z. B. Bibelübersetzungen, Lehrbücher, Katechismen, religiöse und religionsgeschichtliche Sachbücher, Erbauungsliteratur, Predigtlehrbücher, Sammlungen von Musterpredigten, Streitschriften). Seit dem 18. Jahrhundert erschienen dann auch Zeitschriften in deutscher Sprache mit religiösen, theologischen bzw. kirchlichen Inhalten (gelehrte Fachzeitschriften, Mitteilungsblätter von Gemeinden). Später entstanden Broschüren, die der religiösen Werbung dienten. Das Spektrum der Nutzungsweisen von Druckwerken für religiöse, kirchliche bzw. theologische Zwecke in der Gegenwart ist extrem breit. Die Evolution dieses Textrepertoires ist immerhin in Ansätzen und Ausschnitten beschrieben. Auch in der Geschichte des Hörfunks und des Fernsehens haben sich eigene religionsbezogene Formate und Nutzungsweisen entfaltet, sie reichen von Ansprachen („Das Wort zum Sonntag“) und Gottesdienstübertragungen über die Thematisierung religiöser und religionspolitischer Fragen in Talkshows bis hin zur Nutzung von religiösen Figuren in der Personenkonstellation von Fernsehkrimis (z. B. Ottfried Fischer als Pater Braun und ‚sein‘ Bischof Hemmelrath, die Haushälterin, der

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Mesner, Monsignore Mühlich). In der Geschichte des Films und des Kinos sind eigene Filmdienste entstanden, die das Angebot aus einer konfessionellen Perspektive bzw. vor einem konfessionellen Hintergrund beurteilen. Mit der Verfügbarkeit von digitalen Medien entwickelten sich zahlreiche religionsbezogene Nutzungen. Hierzu gehören u. a. Webseiten zu religiösen Themen oder konfessionellen Organisationen, die Nutzung von sozialen Medien wie Twitter oder Facebook, nicht zuletzt auch die Verfügbarkeit von wissenschaftlichen Textangeboten im Rahmen der digitalen akademischen Literaturversorgung. So sind heute viele Texte zur älteren Religionsgeschichte digital verfügbar. Aber auch die massenmediale Übertragung und Verbreitung von Gottesdiensten, Ansprachen, Interviews, zentralen rituellen Handlungen („Urbi et Orbi“) usw. gehören in diesen Funktionskreis neuerer medialer Entwicklungen. Formen des religionsbezogenen Bildgebrauchs sind sehr eng an mediengeschichtliche und technische Entwicklungen gebunden. Mittelalterliche Bilderhandschriften mit religiösen Bezügen sind z. B. an eigene Produktionsweisen in spezialisierten Werkstätten wie etwa der von Diebold Lauber im 15. Jahrhundert gebunden. Es sind hierbei eigene Darstellungs- und Bebilderungsformen entstanden, zum Beispiel die Tradition der Biblia pauperum, eine comic-artige Kurz-Aufbereitung der biblischen Heilsgeschichte im Modus der Text/Bild-Koordination. Im Bereich der frühen Druckwerke sind es vor allem bildgestützte Flugblätter, die in großer Zahl auch zu religiösen Themen veröffentlicht wurden (vgl. dazu u. a. Klug 2012 sowie die Arbeiten von Johannes Schwitalla und die von Wolfgang Harms herausgegebenen kommentierten Editionen von Flugschriften des 16. und 17. Jahrhunderts). In vergleichbarer Weise kann man jeden historischen Zeitschnitt daraufhin befragen, wie die jeweils verfügbaren Medien die Nutzung und Verbreitung von religionsbezogenen Bildern und Text/Bild-Kombinationen ermöglicht haben oder nicht und wie darüber hinaus die tatsächliche Nutzung der technisch verfügbaren Möglichkeiten war. In einer weiteren Perspektive kann man fragen, wie die Verfügbarkeit und die Entwicklung medialer Möglichkeiten in unterschiedlichen religionsbezogenen Kommunikationsbereichen tatsächlich genutzt wurde. Eine Geschichte der Mediennutzung und der medial vermittelten Darstellungsformen im Bereich der Theologie und der Religionswissenschaft in der deutschen Sprachgeschichte müsste unter anderem zeigen, wie z. B. Traktate, Lehrbücher, Handbücher, wissenschaftliche Zeitschriften und Angebote in digitalen Medien zu unterschiedlichen Zeiten für die Wissensvermittlung und für die wissenschaftliche Fachkommunikation genutzt werden konnten. Oben wurde schon darauf hingewiesen, dass die Medien religiöser und religionspolitischer Kontroversen zum Teil eigene Darstellungsformen aufweisen, z. B. Flugschriften, Streitschriften, Dokumentationen zu Religionsgesprächen, kritische Zeitschriftenbeiträge, Sachbücher mit Bezug zu Kontroversen u. a. Aber auch die Gestaltung religiöser Themen in der ‚schönen Literatur‘ (Hammer 2013; Weidner 2016) ist auf Medien angewiesen. Eine spätmittelalterliche Handschrift

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eines religiösen Texts, die für einen adligen Auftraggeber hergestellt wurde, hatte z. B. einen sehr viel kleineren Wirkungskreis als ein ‚Bestseller‘ mit religiösen Bezügen aus dem 20. oder dem 21. Jahrhundert, auch im Hinblick auf die mediale Resonanz. Die in diesem Abschnitt exemplarisch genannten Themen, Gegenstände, Forschungsarbeiten und methodischen Hinweise zur Rolle von Medien im Bereich „Sprache und Religion“ sollen verdeutlichen, dass mediale Entwicklungen in der Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Deutschen sehr eng zusammenhängen mit historisch etablierten und veränderlichen Darstellungsformen und kommunikativen Nutzungsweisen von Texten, Bildern und multimodalen Angeboten für religiöse und religionsbezogene Zwecke. Und auch hier gilt die Diagnose, dass weitere Vertiefungs- und Überblicksstudien zu dieser Perspektive nötig sind.

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| Teil II: Sprache in den Weltreligionen und religiösen Strömungen der Spätmoderne

Heidrun Deborah Kämper

3. Sprache in der jüdischen Religion Abstract: Der Beitrag vermittelt den Gegenstand ‚Sprache und Judentum‘ im Zeichen religiöser Kommunikativität und Judentum als kommunikativ-performatives religiöses Glaubenssystem. Die Spezifizierung des allgemein-religiösen Phänomens der Kommunikativität in Bezug auf die jüdische Religion besteht demzufolge darin, das generell für Religionen geltende Phänomen qualitativ hinsichtlich seiner Ausprägungen als Proprium religiöser jüdischer Praxis darzustellen. Diese Ausprägungen werden kulturanalytisch beschrieben mit den Kategorien ‚kulturelles Gedächtnis‘, ‚rituelle Kommunikation‘ und ‚kulturelles Zeichensystem‘. Ihnen zugeordnet sind die jeweils entsprechenden zentralen religiösen Performanzen der jüdischen Tradition. 1 2 3 4 5 6 7

Vorbemerkung Einführung: Kommunikativität Kulturelles Gedächtnis und religiöse Kommunikation: Erinnerungs- und Erzählgebot Religiöse Praxis als rituelle Kommunikation Judentum als kulturelles Zeichensystem Fazit Literatur

1 Vorbemerkung Sprachbezogenheit ist eine grundlegende Eigenschaft der jüdischen Religion, die in zahlreichen Aspekten Gegenstand der religiösen Schriften ist: als menschlichgöttliche Fähigkeit (Der Mensch kann wohl bei sich überlegen, aber das rechte Wort gibt ihm der Herr ein; Spr 16,1), als kommunikative Instanz des Gott-Mensch-Dialogs (sie rufen zum Ewigen und Er antwortet ihnen; Ps 99; Nahe ist der Ewige allen seinen Rufern, allen denen, die Ihn anrufen in Treue; Ps 145), als explizit-performative Macht des kosmologischen Mythos: Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. (Gen 1,3ff), als Aufruf, das Gotteslob zu singen (Dient dem Ewigen in Freude, kommt vor ihn mit Jubelgesang; Ps 100,2) u. a. m. Dennoch kann nicht festgestellt werden, dass die Theolinguistik, also die „Wissenschaft, die sich mit den Sprachformen befasst, in denen die Menschen die […] Beziehung zum Theos ausgedrückt haben und ausdrücken“ (Greule/KucharskaDreiß 2011, 12), sich bisher in einem gesamtkonzeptionellen Sinn der Sprache in der jüdischen Religion zugewendet hat (vgl. zum Arbeitsschwerpunkt der Theolinguistik Gloning, Greule/Kiraga und Kucharska-Dreiß, zum Konzept einer Religionslinguistik hingegen vor allem die Beiträge von Liebert, aber auch Lasch in diesem Band).

DOI 10.1515/9783110296297-004

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Einzelstudien zu speziellen Aspekten liegen indes vor und werden auch in der nachfolgenden Darstellung verwendet. Aus dem Bezug zur Sprache, der in der jüdischen Religion hohe Evidenz hat, lässt sich entsprechend der wissenschaftliche Gegenstand ‚Sprache und Judentum‘ im Zeichen religiöser Kommunikativität herstellen. Unter der Voraussetzung, dass die Sprache des Judentums, wie jede religiöse Sprache, „als eine funktionale Varietät aufzufassen ist“ (Lasch/Liebert 2015, 478), wird vor diesem Hintergrund zum einen nach der Sprache im jüdischen Glaubenssystem, zum andern nach den sprachlichen Aspekten der religiösen jüdischen Praxis gefragt. Darzustellen ist m. a. W. Sprache in der jüdischen Religion und Sprache der jüdischen Religion. Mit dieser freilich eher heuristisch nützlichen Zweiteilung wird ein zweifaches Verständnis von Religion vorausgesetzt, als ein System von Glaubensinhalten einerseits, von Glaubenspraktiken andererseits. Insofern ‚jüdische‘ Praktiken Gegenstand der Darstellung sind, ist darauf hinzuweisen, dass diese Praktiken je nach der Glaubensrichtung (orthodox, traditionell, liberal, reformerisch) hinsichtlich ihrer Ausgestaltung variieren (können). Was im Folgenden beschrieben wird, sind diejenigen Ausführungen, von denen angenommen werden kann, dass sie die am weitesten verbreiteten sind.

2 Einführung: Kommunikativität Der Zusammenhang zwischen Judentum (als Religion) und Sprache erschließt sich, wenn Judentum als kommunikativ-performatives religiöses Glaubenssystem verstanden und beschrieben wird. Die Sprache der und in der jüdischen Religion darstellen bedeutet daher, Judentum als ein sowohl in Bezug auf die Glaubensinhalte als auch hinsichtlich der religiösen Praxis in hohem Maß kommunikativinteraktives Glaubenssystem zu beschreiben. Kommunikation und Interaktion machen als Glaubensinhalt sowohl wie als religiös-rituelle Praxis den Kern des Judentums aus. Damit ist nicht behauptet, dass Kommunikativität ein ausschließlich die jüdische Religion kennzeichnendes Phänomen ist. Im Gegenteil: „jede Art des Ausdrucks [...] religiöse[r] Grunderlebnisse ist antwortendes Handeln“ des Menschen (Mensching 1948/1983, 10; vgl. auch Lasch/Liebert 2015, 480). So finden sich besonders innerhalb der drei abrahamitischen Religionen zahlreiche Parallelen (vgl. Grözinger und Selmani im Anschluss in diesem Band). Insofern ist mit der nachfolgenden Beschreibung sprachlicher Phänomene im Judentum nicht bestritten, dass diese Phänomene jüdischer Provenienz ebenso im Christentum und im Islam ihren Platz haben. Allerdings hat das Judentum, als die älteste der drei Religionen, die besondere Position der Geberreligion, dementsprechend sind die Phänomene in Relation zu den Nehmerreligionen originäre jüdische Phänomene.

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Die Spezifizierung des allgemein-religiösen Phänomens der Kommunikativität in Bezug auf die jüdische Religion besteht demzufolge darin, das generell für Religionen geltende Phänomen qualitativ hinsichtlich seiner Ausprägungen als Proprium religiöser jüdischer Praxis darzustellen. Diese Ausprägungen sind kulturanalytisch beschreibbar mit den Kategorien ‚kulturelles Gedächtnis‘ (Abschn. 3), ‚rituelle Kommunikation‘ (Abschn. 4) und ‚kulturelles Zeichensystem‘ (Abschn. 5). Ihnen zugeordnet sind die jeweils entsprechenden zentralen religiösen Performanzen der jüdischen Tradition: Der Beitrag beschreibt religiös-memoriale Aktualisierungen des jüdischen Erinnerungs- und Erzählgebots, Performanzen ritueller Kommunikation in gebetlichen Kommunikationskonstellationen (vgl. Lasch und Stridde in diesem Band), schließlich Beispiele religiöser Semiotik zur Sichtbarmachung des Judentums als kulturelles Zeichensystem. An dieser Stelle ist ein Hinweis auf die in diesem Kontext erwartbare Berücksichtigung der Kabbala vonnöten. Die im Mittelalter und der Renaissance insbesondere in Südfrankreich und Nordspanien hoch- und weiterentwickelte Kabbala ist zum einen als „Lehre des Geheimen“ (im Unterschied zu „Geheimlehre“) ein Rezeptions- bzw. „Interpretationsphänomen“ (Kilcher 1998, 31), eine Deutung also der Thora (fünf Bücher Moses) bzw. des Tanach (fünf Bücher Moses, Propheten und Schriften) mit spezifischen hermeneutischen Instrumenten. Sie ist mithin aus der Sicht der Religion ein auf die ursprünglichen religiösen Texte sich beziehendes Zeitund Sekundärphänomen. Zum andern muss von unterschiedlichen kabbalistischen Ansätzen und Sprachtheorien gesprochen werden, etwa der theosophischen und der ekstatischen Kabbala, deren Vertreter unterschiedliche Deutungen verfolgen: Auf der einen Seite ist, nach dem Muster der theosophischen Kabbala, alles Seiende als eine Symbolik der zehn göttlichen Namen, Emanationen und Präsenzformen, der Sefiroth [die zehn göttlichen Erscheinungsformen], entschlüsselbar. Sprache ist hier als eine Typologie von zehn symbolischen Formen verstanden, die in allen Phänomenen göttlicher Offenbarung […] wiederkehren. […] Auf der anderen Seite ist, nach dem Paradigma der ekstatischen Kabbala, die Sprache bzw. ihre Grammatik der 22 hebräischen Buchstaben und der Gottesnamen das metaphysische Muster aller Dinge. Das offenbar gewordene Göttliche ist entsprechend als eine Grammatik der Buchstaben und Gottesnamen verstehbar. (Kilcher 1998, 33)

Entsprechend zeigen aus der Sicht der theosophischen Kabbala die Buchstaben die linguistische Ordnung der Dinge an, aus Sicht der ekstatischen Kabbala sind sie Elemente einer linguistischen Kombinatorik (vgl. Kilcher 1998, 63–65). Vor diesem Hintergrund ist nicht von der Kabbala zu sprechen und es wird in diesem Beitrag auf eine geschlossene Darstellung kabbalistischer Sprachansätze als ein Aspekt von ‚Sprache in der jüdischen Religion‘ verzichtet (dargestellt in Kilcher 1998, 31–94). Allerdings wird bei der Beschreibung bestimmter Phänomene auf eine kabbalistische Perspektive verwiesen.

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3 Kulturelles Gedächtnis und religiöse Kommunikation: Erinnerungs- und Erzählgebot ‚Kulturelles Gedächtnis‘ ist die erste Kategorie, um den Zusammenhang zwischen Sprache und Judentum darzustellen. Die Kategorie sei für die Zwecke der folgenden Darstellung wie folgt spezifiziert: ‚Kulturelles Gedächtnis‘ bezeichnet Wissensinstanzen, auf die sich eine Gesellschaft, in diesem Fall die religiöse jüdische Gemeinschaft, zum Zweck der religiösen ritualisierten Erinnerung mit dem Ziel der Identitätsherstellung und des Erhalts ihrer Gemeinschaft bezieht. Existenzgrundlage der religiösen jüdischen Gemeinschaft ist ein Wissen, das in ihrem „spezifischen Interaktionsrahmen [...] Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung“ (Assmann 1988, 9) im Zuge religiösen Handelns weitergegeben wird. Damit ist der Begriffsumfang des Terminus ‚kulturelles Gedächtnis‘ erfasst. Zum Bestand des kulturellen Gedächtnisses zählen jede[r] Gesellschaft und jeder Epoche eigentümliche […] Wiedergebrauchs-Texte […], -Bilder [...] und -Riten [...], in deren ‚Pflege‘ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt (Assmann 1988, 15).

Der kommunikative Akt der religiösen Erinnerung und Erzählung ist ein (täglich, wöchentlich, jährlich) wiederkehrender, also ritueller Beitrag zur Schaffung bzw. Erneuerung kollektiver religiöser Identität. Unter der Perspektive der Performanz ist diese religiöse Praxis, die Wissensbestände des kollektiven Gedächtnisses aktiviert, als situativ memoriale, ritualisierte Aktualisierung (der Vergegenwärtigung) zu bezeichnen, die im zeremoniellen Akt des Erinnerns ausgeführt wird und die gesellschaftliche Funktion der Identitätsschaffung hat (vgl. Kämper 2015, 172–175). Erinnern und das Erinnerte erzählen ist ein religiöses jüdisches Gebot. Dieses Erinnerungs- und Erzählgebot des religiösen Judentums verdichtet sich in der Leitformel „Von Generation zu Generation“ (hebr. le dor va dor), die in hoher Frequenz in den religiösen Schriften vorkommt: Es soll von Generation zu Generation ein immer währendes Brandopfer am Eingang des Offenbarungszeltes vor dem Herrn sein (Ex 29,42); mit dem Blut des Sühneopfers soll man einmal im Jahr auf ihm die Sühne vollziehen von Generation zu Generation (Ex 30,10); Ihr sollt meine Sabbate halten; denn das ist ein Zeichen zwischen mir und euch von Generation zu Generation, damit man erkennt, dass ich, der Herr, es bin, der euch heiligt (Ex 31,13).

Diese Beispiele zeigen, dass die Manifestationen der Wissensbestände des jüdischen kulturellen Gedächtnisses sich in der religiösen Praxis des Rituals ausdrücken. Im Zeichen der Kommunikativität, in dem die Sprache des Judentums beschreibbar ist,

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lässt sich an Tambiah anschließend Ritual als „ein kulturell konstruiertes System symbolischer Kommunikation“ definieren: Es besteht aus strukturierten und geordneten Sequenzen von Worten und Handlungen, die oft multi-medial ausgedrückt werden und deren Inhalt und Zusammenstellung mehr oder weniger charakterisiert sind durch: Formalität (Konventionalität), Stereotypie (Rigidität), Verdichtung (Verschmelzung) und Redundanz (Wiederholung). (Tambiah 1979, 227f.)

Dass die sprachliche Aktualisierung ein konstitutives Kennzeichen von Ritualisierungen ist, ist in diversen Ritentheorien Grundlage einer sprachhandlungs- bzw. performationsbezogenen Beschreibung rituellen Handelns: „Dort, wo die Bedeutung, die Kommunikation, oder die Performance wichtiger wird als der funktionale und praktische Zweck, beginnt die Ritualisierung.“ (Grimes 1995, 118) Der Ritus ist aus dieser Perspektive ein aus der Kommunikation entstandenes, durch Kommunikation geschaffenes Phänomen. Die meisten religiösen rituell praktizierten jüdischen Feste haben einen Geschichtsbezug. An Schawuot erinnert man an den Empfang der zehn Gebote am Berg Sinai und trägt dazu die Thorarolle sieben Mal im Synagogenraum herum. Das Purim-Fest erinnert an die Geschichte Esthers, in der erzählt wird, dass Esther ihr Volk vor der von Haman geplanten Vernichtung bewahrt hat. Jedes Mal, wenn der Name Hamans im Verlauf der Geschichte, die am Purim-Fest in der Synagoge vorgelesen wird, ausgesprochen wird, macht die Erinnerungsgemeinschaft Lärm (mit Klopfen, Trampeln, Rasseln). An Sukkot (Laubhüttenfest) erinnert man an die dürftigen Hütten, die die Israeliten bei ihrem vierzig Jahre dauernden Zug durch die Wüste bewohnten und baut solche Hütten nach, um während des Festes wenigstens einmal am Tag darin zu essen. Pessach ist, als Kernelement des jüdischen Gründungsmythos, das am tiefsten im kollektiven Gedächtnis verankerte jüdische Fest. Man erinnert an die Sklaverei und den Auszug der Israeliten aus Ägypten (Ex 12,1–20, 29ff., 43–49). Die Leitidee des Pessachfestes ist formuliert im Text der Pessach-Haggada, in der diese Geschichte erzählt wird und in der das Erinnerungs- und Kommunikationsgebot explizit ausgedrückt ist: Hätte der Heilige, gelobt sei ER, unsere Väter nicht aus Ägypten gerettet, sieh, wir und unsere Kinder und die Kinder unserer Kinder wären noch immer in Pharaos Fron zu Ägypten. Und wären wir auch alle weise, alle voller Vernunft, alle voller Erfahrung, alle Kenner der Lehre, so bliebe es dennoch unsere Pflicht, vom Auszug aus Ägypten zu erzählen, und wer viel davon erzählt, der ist zu loben. (Q1)

Zu den Pessachriten zählt insbesondere die Lesung dieser Pessach-Haggada am so genannten Sederabend, mit dem das sich über acht Tage erstreckende Fest beginnt. Das in der Erinnerungsformel le dor va dor enthaltene Erinnerungsgebot wird insbesondere in der kommunikativen Aufgabe manifest, die das jüngste Kind beim Sederabend hat und die in Fragen besteht (u. a.: „Warum essen wir heute Mazza? Wa-

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rum essen wir heute Bitterkraut? Warum tunken wir es in Salzwasser?“). Danach beginnt, gleichsam als Antwort auf diese Fragen, das abschnittweise und von verschiedenen Sprechern und Sprecherinnen der um den Tisch versammelten Erinnerungsgemeinschaft ausgeführte Vorlesen der Erzählung, das im weiteren Verlauf des Abends von einem festlichen Mahl unterbrochen wird. Mit solch ritueller Ausführung der Erinnerung werden die sie praktizierenden Juden zu einem Kollektiv, indem sie sich ihrer gemeinsamen Geschichte vergewissern (vgl. Straub 1998). Diese hat den Status einer nicht erfahrenen Vergangenheit, liegt also „jenseits der Erfahrungsschwelle“ (Sandl 2005, 109f.). Insofern dieses Wissen rituell prozessiert wird, verändern diese Tradierungen nicht mit jedem Erzählakt ihren Gegenstand (vgl. Gudehus 2010, 314), sondern sind im Gegenteil als diesen Gegenstand petrifizierende, weil rituelle, Überlieferungsakte zu bezeichnen. Damit ist „der Gegenstand der [jüdischen] Religion dem Gesetz der Veränderung entzogen“ mit dem Effekt, dass die „religiösen Erinnerungen“ des Judentums „in einem Isolierungszustand“ bleiben und „sich um so mehr von den übrigen sozialen Erinnerungen [scheiden], als die Epoche ihrer Bildung weiter zurückliegt“ (Halbwachs 1925/1985, 259). Der Gedächtnisgegenstand ist einem von Repetition, Formalisierung, Stereotypisierung gekennzeichneten Ritualisierungsprozess unterworfen, an dessen Ende Stase und festgefügte Liturgie steht. Dass diese Petrifizierung kein Glaubenshindernis ist, ist Folge einer permanenten und rituell praktizierten Relevantsetzung der Glaubensinhalte. Zwar bezeichnet die Kategorie der Relevanz gerade im Gegenteil einen die erinnerten Inhalte variierenden Anpassungseffekt (vgl. Sebald/Weynand 2011, 186). Unter der Voraussetzung aber, dass die erinnerten Inhalte im religiösen Judentum eben nicht einer ‚Aktualisierung‘ oder Anpassung an eine jeweilige Gegenwart unterworfen sind und sein sollen, lässt sich mit der Kategorie der Relevanz Judentum als eine Religion verstehen, in der die Instanzen bzw. Inhalte ihres kulturellen Gedächtnisses und deren rituelle Aktualisierung, also das Erinnerungswissen und dessen sprachlicher Ausdruck, stabil und unverändert relevant sind. Da die erinnerten Inhalte, die „ihren Ursprung in der Kommunikation über die Bedeutung der Vergangenheit“ haben, nicht nur „in der Lebenswelt der Individuen verankert“ sind, sondern auch einen wesentlichen Anteil an der Ausbildung der kollektiven Identität haben, nehmen sie am „Gemeinschaftsleben“ (Kansteiner 2004, 127) des religiösen jüdischen Kollektivs teil, mit dem Effekt, dass es keine Erinnerungsvarianten gibt. Zwar können wir von einer Extension der erinnerten Instanzen sprechen. Dazu zählt z. B. ein Gedenken, das erst seit 1945 praktiziert wird und die traumatisch besetzten Orte des Holocaust betreffen: Man führt im Zuge des traditionellen Totengebets „El Male Rachamim“ die Namen von Konzentrations- und Vernichtungslagern auf („[…] Auschwitz, Maidanek, Gurs, Treblinka […]“). Die Performanz aber der einzelnen Erinnerungsinstanzen bleibt rituell stabil. Die Begründung für diese dauernde Relevanz der Gedächtnisinhalte liegt in der beschriebenen religiösen Osmose von Geschichte und Spiritualität. Die jüdische

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Geschichte und die jüdische Spiritualität sind in der religiös-kommunikativen Praxis untrennbar miteinander verbunden, eines fließt in das andere. Die Thora, also die fünf Bücher Moses, ist zugleich etwas Göttliches und etwas Menschliches: aus menschlichem Erleben bildete sie sich im Gegenüber von Mensch und Gott heraus. Aus der jüdischen Geschichte wird Gott offenbar. (Trepp 1976, 11)

Die Glaubensinhalte bilden schicksalhafte Ereignisse aus der Geschichte des Judentums, deren Wiedergebrauchswert in der Schaffung oder Stabilisierung von Religiosität besteht.

4 Religiöse Praxis als rituelle Kommunikation Sowohl die Gott zugeschriebenen als auch die menschlichen Handlungen sind in den religiösen Schriften des Judentums zu großen Teilen Sprachhandlungen: Die Selbstvorstellung Gottes an Mose: ‚Ich bin, der ich bin‘ [Ex 3,14], das Sprechen Gottes mit seinem Volk, meist durch Mittler wie Mose oder Propheten, und das antwortende Sprechen und Versprechen des Volkes bzw. seiner Vertreter mit und zu Gott geschieht als vergewissernde Vollzugsweise des Glaubens der Israeliten. (Gerber 2009, 14)

Insofern rückt die linguistische Beschreibung die Handlungsdimension der Inhalte und der Praxis dieser Sprache in den Fokus (vgl. die aspektualisierende Skizze kommunikativer Elemente in Religionen des vorderorientalisch-europäischen Raums von Ehlich 1997/2007; zu Handlungsdimensionen im religiösen Ausdruck vgl. Klug in diesem Band). Mit dieser Perspektive lässt sich methodisch eine interdisziplinäre Verbindung zu einem theologischen Ansatz herstellen, der „die Logik, Semantik und Pragmatik der Rede von Gott“ beschreibt (Arens 2009, 53): Eine sprachhandlungstheoretisch informierte kommunikative Theologie macht sich dafür stark, die Kommunikabilität der Gottesrede mit Blick auf deren gegenwärtige Subjekte und deren Intentionen und im Blick auf die Verständigung der religiösen Subjekte untereinander mit, über und vor Gott zu bedenken. (Arens 2009, 54)

Mit der Kommunikativität als Proprium der Glaubensinhalte einher geht dieselbe Eigenschaft in Bezug auf die religiöse Praxis: Als die „historische Aufgabe des Judentums“ wird die öffentliche Verkündung der „Heiligkeit Gottes“ (Donin 2002, 207) benannt. Insofern ist Kommunikation im religiösen Grundverständnis des Judentums im Sinn einer performativ rituell gebundenen Praxis angelegt. Die ausgeprägte Kommunikativität des Judentums, die sich bereits in dem beschriebenen Erinnerungs- und Erzählgebot zeigt und die sich in der narrativen Form insbesondere am Beispiel des Pessach-Ritus nachvollziehen lässt, manifestiert sich

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in gebetlichen Kontexten in drei zu unterscheidenden Kommunikationskonstellationen. Den beiden kommunikativen Dimensionen des Gebets, der vertikalen und der horizontalen Kommunikation, der „Kommunikation der Gläubigen mit Gott“ und der „Kommunikation der Gläubigen mit sich selbst“ (Ingwer 2009, 2262), ist – zumindest im Sinn eines Glaubensinhalts – die dritte Dimension der Kommunikation Gottes mit den Gläubigen hinzuzufügen. Kiraga (2013) nennt sie „katabatische“ Kommunikation (im Gegensatz zur „anabatischen“ Richtung Mensch-Gott). Aus religiöser Sicht wird sie (im Spannungsfeld zwischen Verkündigung und Verehrung) in der Thora verortet: „Im Gebet spricht der Mensch zu Gott. Bei der Thoravorlesung spricht Gott zu den Menschen.“ (Donin 2002, 223)

4.1 Mensch-Gott: GEBET Eine theologische Definition der Textsorte ‚Gebet‘ lautet: Das Gebet stellt eine grundlegende Form religiöser Rede dar, mittels derer sich der Betende bzw. die Betenden in der Regel verbal an ein der eigenen Verfügung entzogenes göttliches Gegenüber richten, um mit diesem in Kontakt zu treten und zu kommunizieren. (Arens 2009, 48)

Zusammen mit dem Bekenntnis (s. u.) ist das Gebet „die zentrale[…] kommunikative[…] Form[…]“ zum Ausdruck von Verehrung (vgl. Lasch/Liebert 2015, 483 und auch Lasch in diesem Band). Die Anweisung, dass das Kaddisch (s. u.) nur gebetet werden darf, wenn mindestens zehn jüdische Männer (im liberal-reformerischen Kontext: Männer und/oder Frauen) beisammen sind, bewirkt Gemeinschaft als kommunikative Standardsituation jüdischen Betens, die ein rituelles Gebot religiöser jüdischer Praxis ist. Selbst wenn man „am Besuch der Synagoge verhindert [ist], soll man wenigstens das Gebet zur selben Zeit sprechen, wenn es auch in der Gemeinschaft gesprochen wird.“ (Donin 2002, 18) Das an die Stelle des Opferns getretene Gebet, also die sprachliche Kommunikation mit Gott, ist das Zentrum jeder, also auch der jüdischen Religion, und ist als „vergewissernde Vollzugsweise des Glaubens“ (Gerber 2009, 14) sozusagen die kommunikativste Textsorte. Dieses Sprechen, dieses „Jasagen zu Gott“ (Trepp 1976, 171) hat Martin Buber als „Ich und Du“ (Buber 1923) im Sinn eines elementaren dialogischen Prinzips überhaupt, und damit auch als Prinzip des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott beschrieben. Als spezifisch für die Textsorte ‚jüdisches Gebet‘ wird seine identifikatorische Kraft bezeichnet. Indem es in der Sprache der Bibel „die grundsätzlichen Werte des jüdischen Volkes aus[drückt] und [...] die zentralen Glaubensartikel der jüdischen Religion [bestätigt]“ (Donin 2002, 10) spiegelt es „die jüdische Seele“ wider und verbindet so „Juden in der ganzen Welt“ (ebd.). Diese Sprache der Bibel ist die hebräische, deren Gebrauch den Status eines semiotischen Codes hat (Posner 2003, 41). Wie viele religiöse Vorschriften hat auch das Gebot, den jüdischen Ritus in der he-

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bräischen Sprache zu vollziehen, ein Gemeinschaft stiftendes Motiv. Die Sprache der Offenbarung zu lernen ist nicht nur eine religiöse Pflicht, sondern hat auch ein soziales Moment als die Kommunikation ortsunabhängig ermöglichende Instanz. Hebräisch ist also nicht nur die lingua sacra, sondern auch die lingua franca des Judentums – und damit wird ihr eine existenzielle, die jüdische Gemeinschaft bewahrende Funktion zugewiesen: Ein einheitlich in Hebräisch gehaltener Gottesdienst beschützt und bewahrt die Einigkeit des jüdischen Volkes in aller Welt. Nicht nur stellt er die Verbindung von jedem Juden zum Heiligen Land her, sondern er ermöglicht es auch jedem Juden, in jeder Synagoge sozusagen zu Hause zu sein, sogar in Ländern, in denen seine Glaubensgenossen andere Sprachen sprechen und es sonst für ihn unmöglich wäre, sich zu verständigen. (Donin 2002, 21)

Sie hat diese Funktion, weil sie die Sprache der Heiligen Schrift(en), des Pentateuch, der Propheten, die heilige Sprache (Laschon ha’Kodesch) und damit ein göttlicher Ort ist (vgl. auch Spolsky 2008; vgl. zum selben Stellenwert des Arabischen Selmani in diesem Band). Diese Divinität der hebräischen Sprache drückt sich auch aus in der Überzeugung der ekstatischen Kabbala, dass Gott die Welt durch die Buchstaben des hebräischen Alphabets geschaffen hat als die Buchstaben derjenigen Sprache, die vollkommen ist und die siebzig babylonischen Sprachen in sich vereint (vgl. Klicher 1998, 58–62). Ebenso ist zu verweisen auf die kabbalistische Vorstellung von einer Identität der Tora mit dem Namen Gottes (vgl. Scholem 1977, 55–64; 221). Ein herausragendes Element der gebetlichen jüdischen Praxis ist die rituelle Wiederholung mit dem Effekt der Verdichtung. Diese extreme Form der Wiederholung ist als performative Verdichtung bzw. Intensivierung zu beschreiben, die darin besteht, dass explizit performative Verben in hoher Varianz und Frequenz in den Gebeten verwendet, z. T. durch häufige Wiederholung perpetuiert werden: Gelobt sei, der da sprach, und es ward das All, gelobt sei er, gelobt, der den Anfang schuf, gelobt, der da spricht und erfüllt, gelobt, der verhängt und ausführt, gelobt, der sich der Erde erbarmt, der sich der Geschöpfe erbarmt, gelobt, der guten Lohn bezahlt denen, die ihn fürchten, gelobt sei, der ewig lebt und in Ewigkeit besteht, gelobt sei, der erlöst und rettet, gelobt sei sein Name. Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt. Gott, barmherziger Vater, der gerühmt wird durch den Mund seines Volkes, gepriesen und verherrlicht durch die Zunge seiner Frommen und seiner Knechte; mit den Gesängen Davids, deines Knechtes, wollen wir dich loben, Ewiger, unser Gott, mit Lobgesängen und Liedern wollen wir dich erheben und rühmen und preisen und deinen Namen verkünden und dir huldigen, unser König, unser Gott, Einziger, Ewiglebender, König, gerühmt und gepriesen ist sein grosser Name für und für. Gelobt seist du, Ewiger, König, gepriesen durch Lobgesänge. (zit. nach Donin 2002, 165; Hervorhebung durch mich, H. D. K.)

Die Textsorte ‚Gebet‘ kommt in vier Grundformen vor: Bittgebet (mit der Sprechaktbezeichnung BITTE), „Gebete der Suche nach innerem Halt“ (VERGEWISSERUNG), Gebete, „in denen man sich zu seinen Fehlern bewusst bekennt“ (Donin 2002, 8) (BE-

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KENNTNIS)

und, als wohl höchst frequente Textsorte, das Dankgebet. Der gebetliche Sprechakt des DANKENs ist ein zentraler kommunikativer Akt religiöser jüdischer Praxis: „Sich zu bedanken wird im Judentum als grosse Tugend angesehen. In allen unseren täglichen Gebeten danken wir Gott für seine Güte, die er uns zukommen lässt.“ (Donin 2002, 236) Man dankt Gott am Morgen, Mittag und Abend, man dankt beim Genuss jeglicher Nahrungsmittel, speziell beim ersten Verzehr z. B. erster Früchte im Jahr, man dankt beim Einzug in ein neues Haus, man dankt Gott dafür, seine Regeln und Gesetze befolgen zu dürfen, etc. Insbesondere dieser gebetliche Handlungstyp DANKEN macht insofern deutlich, dass Beten immer eine ethische Dimension hat, dass im jüdischen Denken Gebet und Ethik enggeführt sind: Die Verbindung von Gebet und Ethik findet sich in den Vorschriften, im Inhalt und in der den Gebeten zugrundeliegenden Theologie. Ethik ist die Art, wie wir Menschen miteinander verkehren und wie wir uns in dieser Welt aufführen. Durch das Gebet wird die Beziehung zu Gott und zur Welt, die ausserhalb unserer Erfahrung liegt, hergestellt. (Donin 2002, 321)

Als besondere Funktion, die in dem besonderen Gottesdienst des Jom Kippur ihren Platz hat, sei die gebetliche DEKLARATION genannt. Den Abend des Jom Kippur, also das sog. Kol Nidre, beginnt man mit einer Erklärung: Alle Gelübde, Entsagungen, Bannungen, Entziehungen, Kasteiungen und Gelöbnisse unter jedem Namen, auch alle Schwüre, so wir gelobt, geschworen, gebannt und entsagt haben, haben werden – von diesem Versöhnungstage bis zum Versöhnungstage, der zu unserem Wohle herankommen möge – bereuen wir hiermit allesamt (zit. nach de Vries 1981, 98f.).

Dieser Sprechakt entspricht der Funktion des Jom Kippur als Buß- und Versöhnungstag: Er dient der Einsicht und Buße, die die DEKLARATION der Sünden, also das SÜNDENBEKENNTNIS, zur Voraussetzung haben. Ein wesentliches kommunikatives Element der Textsorte ‚Gebet‘ ist das bestätigende, bekräftigende Amen (aus hebr. amen ‚es geschehe‘, ‚wahrlich‘) am Ende jeden Gebets. Seine als verpflichtend vorgeschriebene Artikulation dient der BESTÄTIGUNG, dem Ausdruck von ZUSTIMMUNG. Kulturgeschichtlich verweist sein Ursprung in die Zeit, bevor es gedruckte Gebetbücher gab. Weil man die Gebettexte nicht auswendig sagen konnte, ersetzt das von allen gesprochene Amen am Ende des durch den Vorbeter stellvertretend für die Gemeinde vorgetragenen Gebettexts den eigenen bzw. einzelnen Vortrag (vgl. Donin 2002, 216). Das Aussprechen dieser Bestätigungs- und Affirmationsvokabel ist an Regeln gebunden, die den Grice’schen Konversationsmaximen ähnlich sind. Wie das Grice’sche Modell mit der Maxime der Quantität, der Qualität, der Relevanz und des Stils/der Modalität „kooperative Interaktion“ (Grice 1975/1979, 252) regelt, ist auch das mit der Performanz von Amen verbundene Regelsystem als eine rituelle Form kooperativer Interaktion zu bezeichnen. Sieben Leitideen sind erkennbar. Das Regelsystem formuliert die Maxime der

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Non-Responsivität („Man antwortet Amen nicht auf einen selbst gesprochenen Segensspruch“), Interaktion („Bei einer Aufforderung, mit Amen zu antworten, wird ein ‚Veimru Amen‘ – sprecht Amen – ausgerufen“), Kontinuität („Amen wird nicht geantwortet, wenn man selbst ein Gebet spricht, das nicht unterbrochen werden darf“; „Man hat abzuwarten, bis der Segensspruch beendet ist und nicht voreilig mit Amen einzufallen“), Beteiligten („Man soll antworten auf einen von einem Kind gesprochenen Segensspruch; dies aus pädagogischen Gründen“; „Amen wird auch auf einen von einem Nichtjuden gesprochenen Segensspruch geantwortet“), Relevanz („Amen soll nicht auf einen unnützen Segensspruch geantwortet werden“; „Amen kann nicht geantwortet werden, wenn man nicht den Segensspruch gehört hat oder nicht weiß, warum dieser gesagt wurde. So eine Antwort wird das ‚verwaiste‘ Amen genannt, weil es keine Eltern hat. Aber wer die Gemeinde das Amen ausrufen hört und weiß, worauf es geantwortet wird, darf sich anschließen“), Performanz („Amen soll nicht lauter gesprochen werden als der Segensspruch. Es ist auf genaue Aussprache zu achten, man soll es nicht übereilt sprechen“), Direktheit („Zeitgenössische Rabbiner haben entschieden, dass man nicht mit Amen antwortet auf einen Segensspruch, der von Radio oder Fernsehen oder von Schallplatten übertragen wird“) (Donin 2002, 218f.).

Insofern also die Rezitierung des Gebettextes und das Aussprechen von Amen ein interaktiver gebetlicher Akt sind, haben diese Regeln den Status kooperativer Interaktionsmaximen.

4.2 Gott-Mensch: GEBOT – VERBOT Zum „biblischen Gottesverständnis gehört wesentlich, daß Gott redet.“ (Krötke 2005, 1700) Wort Jahwes (Gottes Wort) ist eine häufig in den heiligen Schriften des Judentums vorkommende Formel (vgl. dazu ebd. 1698–1699 mit entsprechenden Belegstellenangaben), die als Glaubensinstanz nicht den Status einer Metapher hat (vgl. zur Metaphorik u. a. Grözinger und Liebert in diesem Band, „Unsagbares“). Vielmehr betrifft im jüdischen Glauben die Kommunikationsrichtung Gott-Mensch im konkreten Sinn „Gottes eigenes Wort, mit dem er sich in eigener Initiative äußert und zu Menschen in Beziehung tritt.“ (ebd.) Er tut dies gebietend und verbietend, womit deutlich wird, dass die „überzeugende Kraft des Wortes Gottes (Jahwes) [...] das Movens und die Dynamik des Umgangs mit seinem Bundesvolk und die Ermöglichung des Gehorsams seines Rechts-Volkes“ (Gerber 2009, 15) ist. Die Kommunikationsrichtung Gott-Mensch ist insbesondere Darstellungsgegenstand in den Narrationen, in denen Gott mit den Israeliten kommuniziert. Dies ge-

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schieht mittels der Instanz Moses, dessen kommunikative Funktion die eines Sendboten ist, der in beide Richtungen als Vermittler kommuniziert: Mose stieg zu Gott hinauf. Da rief ihm der Herr vom Berg her zu: Das sollst du dem Haus Jakob sagen und den Israeliten verkünden: […] Das sind die Worte, die du den Israeliten mitteilen sollst. Mose ging und rief die Ältesten des Volkes zusammen. Er legte ihnen alles vor, was der Herr ihm aufgetragen hatte. Das ganze Volk antwortete einstimmig und erklärte: Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun. Mose überbrachte dem Herrn die Antwort des Volkes. (Ex 19,3– 8)

Das Volk selbst kommuniziert, aus eigenem Willen, nicht direkt mit Gott: Das ganze Volk erlebte, wie es donnerte und blitzte, wie Hörner erklangen und der Berg rauchte. Da bekam das Volk Angst, es zitterte und hielt sich in der Ferne. Sie sagten zu Mose: Rede du mit uns, dann wollen wir hören. Gott soll nicht mit uns reden, sonst sterben wir. (Ex 20,18f.)

Der redende, mit den Menschen kommunizierende Gott, also die transzendente Instanz, deren „Wort und Wissen […] durch menschliches Wort und Handeln zur Anschauung gebracht wird“ (Lasch/Liebert 2015, 482), ist zudem derjenige Gott, der sich zum einen selbstreferentiell definiert: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. [...] ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott (Ex 20, 1–19). Zum andern aber und vor allem besteht die kommunikative Funktion des redenden Gottes insbesondere darin, adressierte Handlungsanweisungen zu geben: Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt. Du sollst nicht morden. Du sollst nicht die Ehe brechen. Du sollst nicht stehlen. (Ex 20,12–15) Die diese Kommunikationsrichtung benennenden und die hierarchischasymmetrische Konstellation Gott-Mensch ausdrückenden Sprachhandlungen GEBOT bzw. VERBOT entsprechen dem jüdischen „Glauben, daß die primäre religiöse Pflicht weniger darin bestehe, Jahwe zu verehren, als vielmehr ihm zu gehorchen“ (Parsons 1975, 154). Damit wurde das Gesetz, das traditionell auf dem mosaischen Dekalog fußte, […] zunehmend zur Verfassung des Volkes. Die Tatsache, daß dieses das Gesetz allgemein akzeptierte, sowie seine dadurch bedingte besondere Beziehung zu dessen göttlichem Urheber konstituierten seine Identität als ethnische Gemeinschaft. (Parsons 1975, 154)

4.3 Mensch-Mensch: AUFFORDERUNG Als dritte Redekonstellation ist die Mensch-Mensch-Kommunikation als sprachlichkommunikative Dimension der jüdischen Religion zu beschreiben. Die Kommunikationsform lässt sich ableiten aus ANRUFEN, ANSPRACHEN, die explizit und direkt an die jüdische Gemeinschaft gerichtet sind. Umfangreich und differenziert ist das Inventar solcher Sprachhandlungsbezeichnungen, mit denen die Gläubigen untereinan-

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der, insbesondere auffordernd, auf ihre Sprechakte referieren und sie funktional qualifizieren, mit der Referenz auf Gott in der dritten Person. Allein für Ps 96 sind nachweisbar: lobt Seinen Namen, verkündet Seine Hilfe, erzählt Seine Herrlichkeit, gepriesen [sei der Ewige], sagt unter den Völkern: Der Ewige regiert. Am Beispiel der beiden wichtigsten Gebete des Judentums, des Kaddisch und des Schma Israel, sei exemplarisch die gebetliche Spezifik dieser Kommunikationskonstellation nachvollzogen. Im Kaddisch preisen Juden in großer Intensität Gott in der dritten Person, funktional in der Form der VERKÜNDIGUNG: „Im Kadisch-Gebet wird durch die Feststellung, dass Gott erhaben und heilig ist, die Heiligung des Namens öffentlich verkündigt.“ (Donin 2002, 208) Kommunikativ-adressierend verbindet sich diese Verkündigung mit den AUFFORDERUNGEN sein großer Name sei gepriesen und sprechet Amen: SPRECHER: Erhoben und geheiligt werde sein grosser Name in der Welt, die er nach seinem Willen erschaffen, und sein Reich erstehe […] sprechet: Amen! GEMEINDE: Amen. Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten! SPRECHER: Gepriesen sei und gerühmt und verherrlicht und erhoben und erhöht [...] der Name des Heiligen, gelobt sei Er [...] sprechet: Amen! [GEMEINDE: Amen!] (zit. nach Donin 2002, 209)

Dieses Gebet, das, weil es (u. a.) am offenen Grab gebetet wird, als Totengebet gilt, ist, wie viele jüdische Gebete, zwar „eine Lobeshymne an Gott in Erwartung des göttlichen Königreiches auf Erden.“ (Donin 2002, 207) Das ausgeprägt responsive kommunikative Potenzial dieses Gebets aber, das aus SPRECHAUFFORDERUNGEN und dem Befolgen dieser Aufforderungen besteht, lässt es eher zu einem MenschMensch-Dialog geraten: Der Kadisch bezweckt nicht nur das Ausrufen der Heiligkeit Gottes, sondern auch das Hervorrufen der Antwort durch die Zuhörer, die auch laut gesagt wird. [...] Der Antwortsatz ‚Jehe Schme Raba – Sein grosser Name sei gepriesen‘ wird öfter erwähnt. So ist das ‚Jehe Schme Raba‘ das Kernstück des Kadisch. (Donin 2002, 208)

Im Schma Israel, dem zentralen jüdischen Glaubenstext, bekennen sich Juden zum Monotheismus: Schma Israel, Adonai elohenu, Adonai echat! – ‚Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig‘. Es ist als das jüdische Glaubensbekenntnis „ein Schwur auf das Bündnis mit dem einzigen Gott und eine Bejahung des Judentums.“ (Donin 2002, 139). Die theologische Bestimmung der Textsorte ‚Glaubensbekenntnis‘ lautet: Im Glaubensbekenntnis kommt eine gemeinsame Überzeugung zur Sprache, die im Akt des Bekennens verbalisiert und verbindlich zum Ausdruck gebracht wird. Im gemeinsamen Bekenntnis konstituiert sich eine Glaubensgemeinschaft als Bekenntnisgemeinschaft. (Arens 2009, 50)

Die Kommunikationsrichtung des im Schma Israel ausgedrückten Bekenntnisses adressiert nicht den Bekenntnisgegenstand, sondern es handelt sich auch hier um

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einen an die eigene Gruppe gerichteten Sprechakt. Insofern ist auf der Ausdrucksebene und explizit das Handlungspotenzial nicht das des BEKENNTNISSES, sondern das der MITTEILUNG, die den kommunikativen Wert einer AUFFORDERUNG hat. Diese die Mensch-Mensch-Konstellation kennzeichnende Sprachhandlung der AUFFORDERUNG entspricht dem an die Israeliten gerichteten biblischen Gebot der VERKÜNDIGUNG, die gebetlich nicht zuletzt in der direktiven Form vollzogen wird.

5 Judentum als kulturelles Zeichensystem Ein semiotischer Zugang zu dem Gegenstand dieses Beitrags, der im Folgenden angedeutet wird, setzt ein Verständnis von Religion als kulturellem Zeichensystem voraus (vgl. Theißen 2000, 19). Es schließt an die kultursemiotische Einordnung, die Clifford Geertz vornimmt, an, der Religion definiert als (1) ein Symbolsystem, das darauf zielt, (2) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, daß (5) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen. (Geertz 1966, 48)

Als Symbol fasst Geertz „alle Gegenstände, Handlungen, Ereignisse, Eigenschaften oder Beziehungen, die Ausdrucksmittel einer Vorstellung sind, wobei diese Vorstellung die ‚Bedeutung‘ des Symbols ist“ (Geertz 1966, 49). Ein Symbol repräsentiert insofern „transzendente Wahrheiten“ (ebd. 59, vgl. zum Transzendenzbegriff Lasch in diesem Band). Mit Seinsordnung lässt sich das religiöse Regelsystem beschreiben, das als Glaubensinhalt die Handlungs- und Denkorientierung sowie das Wertesystem der Gläubigen vorgibt, deren Religiosität auf dieser Grundlage also real und konkret wird. Geertz unterscheidet vier Perspektiven kultureller Systeme, „mit deren Hilfe die Menschen die Welt deuten“: die Common sense-, die wissenschaftliche, die ästhetisch-künstlerische und die religiöse Perspektive (Geertz 1966, 75), die er je zueinander in Beziehung setzt bzw. voneinander abgrenzt (vgl. im Hinblick auf eine Religionslinguistik Liebert in diesem Band, „Religionslinguistik“). Religion als kulturelles System sei dadurch gekennzeichnet, dass es ihm im Unterschied zur Common sense-Perspektive um „umfassendere[…] Realitäten“ geht als die des Alltags und „um ihre Anerkennung, um den Glauben an sie.“ Es stellt die Realitäten des Alltagslebens im Unterschied zum wissenschaftlichen System „auf der Grundlage von Wahrheiten [in Frage], die nach ihrem Dafürhalten umfassender und nichthypothetischer Natur sind.“ (Geertz 1966, 77) Im Gegensatz zur Kunst und Ästhetik schließlich vertieft das religiöse System „das Interesse am Faktischen [...] und [versucht] eine Aura vollkommener Wirklichkeit zu schaffen“ (ebd.).

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Auf dieser Folie einer funktions- und handlungsorientierten Kultursemiotik ist zum Zweck der Operationalisierung Religion als ein multimodales Ausdruckssystem beschreibbar, dessen einzelne Ausdruckselemente auf den Beschreibungsebenen einer Kultursemiotik darstellbar sind (vgl. den Überblick über Aspekte von Religion als kultursemiotisches System bei Tramsen 2003). Die religiöse Semiotik des Judentums besteht aus einem Komplex einzelner Zeichensysteme. Zu denen zählt z. B. – das Bilderverbot (zum Bilderverbot im Christentum vgl. Klug in diesem Band), – die religiöse Kleiderordnung (die Vorschrift, die Kippa zumindest in der Synagoge und auf dem Friedhof zu tragen; der Gebetsschal und dessen rituelles gebetlich begleitetes Anlegen; das Gebot, sich am Schabbat festtäglich zu kleiden; das Gebot, sich an den hohen Feiertagen weiß zu kleiden und keine Kleidungsstücke tierischer Herkunft, etwa Lederschuhe, zu tragen), – die Raumsemiotik der Synagogenarchitektur (der nach Jerusalem gerichtete Thoraschrein, das über dem Schrein angebrachte Ewige Licht, die in der Mitte befindliche Bima, die vertikale und/oder horizontale Unterteilung in den für Männer und Frauen vorgesehenen Bereich etc.), – die Hochzeits-, Beschneidungs-, Bar bzw. Bat Mizwa-, die Todes- und SterbeSemiotik, – die materialisierte Symbolik bestimmter Gegenstände (wie dem aus Zweigen von vier Pflanzen bestehenden Lulaf, der zu Sukkot mit der Etrog, einer Zitrusfrucht, dem Palmwedel, dem Myrtenzweig und dem Zweig von der Bachweide die Einheit Israels symbolisiert) oder Speisen (die semiotische Ordnung des Sedertisches, die bestimmt, dass der Tisch mit symbolisierenden Lebensmitteln versehen ist, die auf Aspekte der Knechtschaft in Ägypten referieren: u. a. bitteres Kraut für die bitteren Jahre; Salzwasser, in das man das Kraut eintunkt, für die Tränen, die vergossen wurden; ein Fruchtmus in der Farbe von Lehm, den die Israeliten in Ägypten zu Ziegeln verarbeiten mussten; ungesäuertes Brot in Erinnerung daran, dass der Aufbruch aus Ägypten in Eile erfolgte, so dass keine Zeit war, das Brot säuern zu lassen, usw.; vgl. Trepp 1976, 215–217). Dieses soziale und religiöse Regelwerk der Israeliten, repräsentiert auf allen Ebenen religiöser Semiotik, ist kodifiziert insbesondere im 3. Buch Moses, Levitikus bzw. Wajikra (hebr., nach den ersten Worten des Textes, übers. ‚und er rief‘). Dieser zentrale Referenztext enthält die Opfergesetze, die Vorschriften des Priester- und Gottesdienstes, der Hygiene und religiösen Reinheit, des Jom Kippur, die Speisegesetze (Kaschrut) (vgl. Katsman 2013, der jüdische Semiotik exemplarisch in Bezug auf das Anlegen der Gebetsriemen, das Küssen der Mesusa, die Gestik, die die Thoralesung begleitet, u. a. m. beschreibt). Zu den, den Zusammenhang zwischen Sprache und Judentum herstellenden kultursemiotischen Instanzen zählen außerdem die Semiotik des Mediums, auditive

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Semiotik, religiöse Kinetik, die Tabuisierung des Namens Gottes und die sprachliche Performativität. Semiotik des Mediums: Beispiel zur Dokumentation medialer Semiotik sind die zwei Tafeln der zehn Gebote, die sich zweifach ausdrückt – in dem Medium der Schriftlichkeit und im Medium seiner Materialität. Die mehrstufige Geschichte erzählt, wie die zunächst mündlich kommunizierte Botschaft Gottes Moses dann in schriftlicher Fixierung übereignet wird: Nachdem der Herr zu Mose auf dem Berg Sinai alles gesagt hatte, übergab er ihm die beiden Tafeln der Bundesurkunde, steinerne Tafeln, auf die der Finger Gottes geschrieben hatte. (Ex 31,18); Weiter sprach der Herr zu Mose: Hau dir zwei steinerne Tafeln zurecht wie die ersten! Ich werde darauf die Worte schreiben, die auf den ersten Tafeln standen, die du zerschmettert hast. (Ex 34, 1); Da hieb Mose zwei Tafeln aus Stein zurecht wie die ersten. Am Morgen stand Mose zeitig auf und ging auf den Sinai hinauf, wie es ihm der Herr aufgetragen hatte. Die beiden steinernen Tafeln nahm er mit. (Ex 34, 4)

Für die Materialisierung des die Kernsubstanz der jüdischen Ethik enthaltenden Dekalogs auf Stein ist zwar ein zeitgemäßes Medium gewählt. Schreiben auf Tafeln aus Ton oder Stein ist die übliche Praxis im vorderasiatischen Raum zu dieser Zeit (vgl. Ludwig 2008). Die Tatsache aber, dass dieser Text überhaupt schriftlich fixiert wurde, was nur wichtigen Inhalten administrativer oder religiöser Natur widerfuhr, macht ihn zu einem Text der Gedächtniskultur. Erhöht wird dieser Status dadurch, dass die Performance des Beschriftens – in der religiösen Vorstellung in hebräischer Sprache – als göttlicher performativer Akt (steinerne Tafeln, auf die der Finger Gottes geschrieben hatte bzw. Ich werde darauf die Worte schreiben, die auf den ersten Tafeln standen) mitgeteilt wird. In der Kategorie Assmanns erhält der so fixierte Text Inschriftcharakter (Assmann 1991, 143f.) und damit einen Status, der seiner religiösen Funktion entspricht: Als Zentrum des jüdischen Glaubens wird dieser für die Ewigkeit gültigen Deontik („Du sollst (nicht)“) eine dauernde memorative Funktion zugeschrieben. Das Medium Stein und das Medium des göttlichen Fingers sind die Instanzen, die zusammen mit dem Inhalt der Botschaft den beabsichtigten Ewigkeitswert erzeugen (vgl. zum „außerweltlich innerweltlichen“ Heiligen Lasch in diesem Band). Festzuhalten ist: Der Dekalog war immer schon Schrift, auch in der mündlichen Erzählung über ihn. Seit der Niederschrift der mündlichen Thora haben wir es mit einem Phänomen gleichsam doppelter Schriftlichkeit zu tun, nämlich mit der schriftlichen Erzählung eines Verschriftlichungsakts und damit mit einer medialen Entsprechung des inhaltlichen Status dieser deontischen Grundprinzipien. Auditive Semiotik: Indem die betende Gemeinde Tonhöhe, Lautstärke und den Ausführungsmodus (Sprechen, Singen) wechselt, macht sie Schallereignisse zu zeichenhaften sprachlichen Lautäußerungen. Jüdisch beten ist „in keinem Fall meditieren“ (Donin 2002, 22), sondern die Worte müssen bzw. sollen mehr oder weniger laut ausgesprochen werden. Das laute bzw. leise Aussprechen ist ein Ausdrucks-

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element religiöser jüdischer Gebetspraxis. Laut, mit erhobener Stimme darf und soll etwa das Glaubensbekenntnis Schma israel! gesprochen werden, im Sinn einer Bekräftigung, leiser dagegen z. B. das Iskor, das Gebet zum Gedenken an verstorbene Familienmitglieder. Ausnahme dieses Intonationsgebots ist das Beten des Stillen Gebets, hebr. Amida (auch Achtzehner-Gebet), das nach 1 Sam 1,13 (Chana redete zu ihrem Herzen, nur ihre Lippen bewegten sich, aber ihre Stimme war nicht zu hören) still verrichtet wird. Die schweigende Verrichtung dieses Gebets entspricht dem religiösen Schweigen als „Höhepunkt menschlicher Begegnung mit dem Göttlichen“. Man „schaut in der schweigenden Anbetung die Majestät und schlechthinnige Überlegenheit Gottes“ (Pilgram-Frühauf 2009, 302f.). Neben der Intonation des gesprochenen Wortes ist die Semiotik des gesungenen Worts zu nennen: Der Talmud hält den „Gesang für den Weg, Gott in Freude und Glückseligkeit zu dienen“. Dieser „Sinneszustand ist entscheidend für das Abhalten eines Gottesdienstes“ (Donin 2002, 25) und entspricht dem Aufruf von Ps 100: Dient dem Ewigen in Freude, kommt vor ihn mit Jubelgesang. Dementsprechend werden im Verlauf des jüdischen Gottesdienstes zahlreiche Psalmen nicht gesprochen, sondern gesungen. Religiöse Kinetik: Zur Semiotik des jüdischen Betens zählt die religiöse Kinetik in Form von Körpersprache (Stehen, z. T. mit geschlossenen Füßen, bestimmte mehr oder weniger rhythmische Bewegungen) bzw. die rituelle sprachhandlungsbegleitende Gestik (z. B. beim Anzünden der Schabbatkerzen). In solchen religiösen Praktiken „the cultural knowledge opens up for the retaining/advancing cultural work, thus uniting their symbolic and pragmatic functions“ (Katsman 2013, 320). Wir können voraussetzen: despite geographical and historical differences between various Jewish communities, they share the same conception of gesture and of its function in ritual and in everyday cultural (religious or quasi-religious) communication. (Katsman 2013, 328)

Das Stehen – als Zeichen der Ehrerbietung – ist beim Beten die „normale Körperhaltung“ (Donin 2002, 42), insbesondere angesichts des Heiligsten, der Thora, das bedeutet: immer, wenn der Thoraschrein geöffnet ist, und beim Beten des Kaddisch. Ausdrücklich mit geschlossenen Füßen stehend wird das Achtzehner- oder Stille Gebet verrichtet. Man folgt hier der Beschreibung in Ez 1,7: Und ihre Beine waren wie gerade Füße. Ein komplexer Akt von einzelnen Körperbewegungen wird zu Schabbatbeginn zelebriert, wenn die Gemeinde sich bei der letzten Strophe des Schabbat-Liedes „Lecha Dudi“ erhebt, sich zur Synagogentür umdreht und mit einer Verbeugung den Schabbat willkommen heißt. Zu den komplexen Bewegungen zählen auch angedeutete Schritte rückwärts und vorwärts, ebenfalls z. B. beim Schmone Esre, vor dessen Beginn man drei Schritte zurück geht, um sich die Möglichkeit zu schaffen,

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drei Schritte vorwärts zu gehen und damit symbolisch an Gott heranzutreten. Vorbild ist hier die biblisch überlieferte Vorbereitung zum Gebet: Und Abraham trat heran (Gen. 18,23) oder Da trat Elijahu heran (1. Kön. 18,36). Als zeichenhaft ist schließlich auch die rhythmische Vorwärts- und Rückwärtsbeugung des Oberkörpers zu beschreiben. Sie „ist die weitverbreitetste [!] und typischste Bewegung, die mit dem jüdischen Gebet verbunden ist.“ (Donin 2002, 44) Dagegen ist die Ausführung dieser Bewegung von sehr ausdrucksvoll bis kaum wahrnehmbar ausgesprochen individuell. Als das Gebet unterstützende visualisierende Gestik sei exemplarisch die beim Kerzengebet ausgeführte benannt. Es handelt sich in der Kategorie von Ekman/Friesen (1969, 49) um emblematisches nonverbales Verhalten: „gestures with standardized form and conventionalized meaning“. Die standardisierte, von der Frau ausgeführte komplexe Gestik beim Kerzenanzünden besteht aus dem das Sprechen des Kerzengebets begleitenden Ausbreiten der Handflächen über den beiden Flammen, dem an das Ende des Gebets anschließenden Bedecken des Gesichts mit den Handflächen und der abschließenden Hinwendung zu der die Akteurin umstehenden Familie mit geöffneten, segnenden Händen. Tabuisierung: Kennzeichnend für die jüdische Mensch-Gott-Kommunikation ist die seit dem Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels nach der Rückkehr aus der Babylonischen Gefangenschaft (539 v. d. Z.) geltende Tabuisierung des Namens Gottes. Die Heiligkeit des Namens Gottes verbietet es, ihn auszusprechen (Ex 20,7). Jedes Artikulieren wäre (wie jede Berührung der Thora mit der bloßen Hand; vgl. dazu Katsman 2013, 322f.) ein Missbrauch und eine Einschränkung. Der Glaube an seine Größe und Allmacht verbietet es, ihn mit Sprache zu erfassen (vgl. zur absoluten Transzendenz Gottes aus religionsphilosophischer Perspektive Schmidt-Lenkel 2003). Der Name Gottes lautet in schriftlicher Form im die Vokale nicht darstellenden Tetragramm JHWH, das als Form des Verbs sein erklärt wird: G-ttes Name [JHWH] ist eine Reihenfolge von vier Buchstaben, die alle Formen des Verbes aller Verben, nämlich das Verb sein zum Ausdruck bringen: ist, war, wird sein, könnte sein, sollte sein – all diese sind in jenen vier Buchstaben des Namens G-ttes enthalten. (Q2)

So benennt sich Gott selbstreferentiell als Ich bin, der ich bin bzw. Ich werde sein, der ich sein werde (Gen 12,50) oder auch als Ich bin der Ich-bin-da (Ex 3,14). Auch auf die kabbalistische Deutung ist zu verweisen. JHWH ist kabbalistisch der Name, auf den der gesamte Text der Thora zurückführbar ist, indem die Tora […] als Textur von Namen gelesen [wird], die sich nach einer organischen Metapher wie ‚Äste um einen Stamm‘ um das Tetragrammaton gruppieren. […] Doch ist nicht nur die Tora als Bauplan der Welt, sondern überhaupt jede Form der Offenbarung, also auch die Welt und ebenso die Sprache aus dem einen Gottesnamen gewoben. Das Tetragramm ist die universale

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metaphysische Formel der Dinge und der Sprache. (Kilcher 1998, 74; vgl. außerdem Scholem 1977, 55–64)

Dieses Sprachtabu, also „ein durch religiöse oder abergläubische Vorstellungen verursachtes Verbot [...], Begriffe aus einer gewissen Sphäre mit den gewöhnlichen Worten zu benennen“ (Havers 1946, 19), ist ein ausdrucksbezogenes Sprachtabu (vgl. ausführlich dazu Liebert in diesem Band, „Unsagbares“). Tabuisierter Gegenstand ist nicht das Bezeichnete, sondern der Name als das Bezeichnende, als dessen nichttabuisierte Namensmetaphorik Adonai ‚Herr‘, Melech ha Olam / Malkenu ‚König der Welt‘ / ‚unser König‘, Ha’Kadosh Baruch Hu ‚der Heilige, er sei gepriesen‘, Elohim ‚Götter‘ verwendet werden. Sehr häufig wird mit Shem (hameforash) ‚(der explizite) Name‘ (Dein Name ist einzig; Wir wollen deinen Namen auf Erden heiligen; Seraphim, die deinen Namen in Heiligkeit heiligen; deinen Namen verkünden; gepriesen ist sein großer Name) und vor allem mit Aba / Avinu ‚Vater‘ / ‚unser Vater‘ Bezug genommen: The statement, that ‚God is a Father‘ defines a human alternative to the deity’s quality of being the creator of all things, the Holy-Father of the sensitive world, in such a way as the biologicalFather is the generating cause of the Son. Beside this direct connotation, the symbol of the father is psychoanalytical [!] filled with a more complex symbolism of that who sets up law, gives names and represents power, who is absent and present at the same time (Stanciulescu 1996, o. S. [15]).

Mit den Kategorien Ullmans, der „taboo of fear“, „delicacy“ und „propriety“ unterscheidet (1962, 205–208), ist das Verbot, den Namen Gottes auszusprechen, als eine Mischform zu klassifizieren: Angst i. S. v. übermäßiger Ehrfurcht vor Gottes Allmacht ist ebenso ein Vermeidungsmotiv wie die Feinfühligkeit, die in diesem Fall Gottes Heiligkeit nicht durch menschliche Profanität entweihen will. Diese Scheu vor einer „Profanation des Gottesnamens ist so alt wie die Religion“ (Havers 1946, 105) und wurzelt „im Machtglauben und in dem damit eng verbundenen Glauben an die Welt der Geister und Dämonen“ (ebd. 24). Darüber hinaus belegen derlei Sprachtabus den archaischen Glauben an eine ontisch vergegenwärtigende Kraft der Sprache, an eine innige Verbundenheit von Zeichen und Bezeichnetem und sind echte Bezeugungen eines urtümlichen religiösen Denkens. (Kaempfert 1983, 3)

Sprachliche Performativität: Der sich im kosmologischen Mythos der Schöpfungsgeschichte Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht usw. (Gen 1,3ff.) ausdrückende Glaube an die wirkende, schöpferische Kraft des göttlichen Wortes entspricht zum einen der Vorstellung einer Identität zwischen Wort und Sache. Die „Schöpfung durch das Wort wird hier ganz ernst genommen“ (Stemberger 2003, 115). Insofern in der jüdischen Bibel „Sprechen und Handeln eine intrinsische Verbindung“ (Arens 2009, 41) eingehen, geschieht sprachhandlungstheoretisch ausge-

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drückt die Schöpfung explizit-performativ, d. h. durch das Sprechen, im Sprechen. Dieser Vorstellung eingeschrieben ist die Überzeugung von der Schöpfungskraft der hebräischen Sprache „als der idealen Sprache des Anfangs“ (Stemberger 2003, 114). Diese Vorstellung nimmt die kabbalistische Sprachtheorie auf: „Die zehn Schöpfungsworte und vermittelt über diese der Schöpfungsbericht sind der Prototyp eines jeden magischen Sprechens“ (Kilcher 1998, 81), das im Kontext der Schöpfungsgeschichte bedeutet: Der Buchstabe B hat schöpferische Kraft, denn Am Anfang, also die ersten Worte der Thora, lauten auf Hebräisch Bereschit, so dass das B (hebr. Beth) der erste Buchstabe der Thora ist und damit als der Buchstabe gedeutet wird, „mit dem die Welt erschaffen werden sollte“ (ebd.). Zum andern hat diese Geschichte der Genesis eine implizite kommunikative Dimension. Obwohl in der Schöpfungsgeschichte auf der Ausdrucksseite ein Kommunikationspartner fehlt und sie die Form einer Erzählung hat, ist sie, in der Analyse Jolles‘, dialogisch. Er erkennt in der „Art, wie die Perioden hingesetzt sind [...] etwas wie ein Zwiegespräch“. Es sei die Frage nach der Entstehung etwa von Licht und Dunkel, Tag und Nacht. „Wer fragt? Der Mensch. Der Mensch will die Welt verstehen, die Welt als Ganzes und in ihren Erscheinungen“. In formaler, will sagen in Hinsicht auf die Textsorte, beschreibt Jolles dieses Frage-Antwort-Muster als „Mythe“ (Jolles 1930/1982, 97).

6 Fazit Der Beitrag hat Kommunikation als Grundprinzip der jüdischen Religion und ihrer Praxis dargestellt. Mit diesem Prinzip wurde die jüdische Religion als Wissenssystem beschrieben, deren Erinnerungs- und Erzählgebot im Zuge der memorialen Aktualisierung von Instanzen des kulturellen Gedächtnisses dieses Wissen vermittelt. Religiöse jüdische Praxis wurde insbesondere am Beispiel prinzipieller gebetlicher Kommunikationskonstellationen im Sinn ritueller Kommunikation vergegenwärtigt. Schließlich wurde am Beispiel auditiver Semiotik, religiöser Kinetik, Tabuisierungen und sprachlicher Performativität Judentum als kulturelles Zeichensystem beschrieben. Als spezifische und grundsätzliche Kennzeichen können also gewertet werden: Die jüdische Religion und die jüdischen religiösen Praktiken sind in höchstem Maß sprach- und kommunikationsbezogen. Sprachbezogenheit drückt sich insbesondere im kosmologischen Kontext in dem Glauben an die sprachliche Wirkmacht aus. Kommunikationsbezogenheit ist exemplifizierbar an dem die jüdische Religion kennzeichnenden Erinnerungs- und Erzählgebot sowie an spezifischen kommunikativen Konstellationen in Thora und Liturgie.

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7 Literatur 7.1 Internetquellen Q1: Materialien zur Religionswissenschaft. Online verfügbar unter: http://www.payer.de/judentum/jud509.htm. Stand: 16.2.2017. Q2: Freeman, Tzvi. Was ist G-tt? Online verfügbar unter: http://www.de.chabad.org/library/article_cdo/aid/1690346/jewish/G-tt.htm. Stand: 16.2.2017.

7.2 Forschung Arens, Edmund (2009): Religiöse Sprache und Rede von Gott. Sprechhandlungstheoretische und kommunikationstheologische Überlegungen. In: Gerber/Hoberg, 41–59. Assmann, Jan (1988): Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders./Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M., 9–19. Assmann, Jan (1991): Gebrauch und Gedächtnis. Die zwei Kulturen des pharaonischen Ägypten. In: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.): Kultur als Lebenswelt und Monument. Frankfurt a. M., 135–152. Belliger, Andréa/David J. Krieger (Hg.) (2008): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. 4. Aufl. Wiesbaden. Buber, Martin (1923): Ich und Du. In: Ders. (1979): Das dialogische Prinzip. 4. Aufl. Heidelberg, 5– 136. Donin, Chajim Halevy (2002): Jüdisches Gebet heute. Zürich. De Vries, Simon Philip de (1981): Jüdische Riten und Symbole. Reinbek b. H. Ehlich, Konrad (1997): Religion als kommunikative Praxis. In: Ders. (2007): Sprache und sprachliches Handeln. Band 3: Diskurs – Narration –Text – Schrift. Berlin/New York, 282–298. Ekman, Paul/Wallace V. Friesen (1969): The Repertoire of Nonverbal Behavior: Categories, Origins, Usage, and Coding. In: Semiotica 1, 49–98. Geertz, Clifford (1966): Religion als kulturelles System. In: Ders. (1987): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M., 44–95. Gerber, Uwe (2009): „Religion und Sprache“ in theologischer Reflexion. In: Gerber/Hoberg, 13–24. Gerber, Uwe/Rudolf Hoberg (Hg.) (2009): Sprache und Religion. Darmstadt. Greule, Albrecht/Elzbieta Kucharska-Dreiß (2011): Theolinguistik: Gegenstand – Terminologie – Methoden. In: Dies. (Hg.): Theolinguistik: Bestandsaufnahme – Tendenzen – Impulse. Insingen (Theolinguistica, 4), 11–18. Grice, H. Paul (1975): Logik und Konversation. In: Georg Meggle (Hg.) (1979): Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Frankfurt a. M., 243–265. Grimes, Ronald (1995): Typen ritueller Erfahrung. In: Belliger/Krieger, 117–133. Gudehus, Christian (2010): Tradierungsforschung. In: Christian Gudehus/Ariane Eichenberg/Harald Welzer (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar, 312–318. Güttgemans, Erhardt (1983): Theologie als sprachbezogene Wissenschaft. In: Manfred Kaempfert (Hg.): Probleme der religiösen Sprache. Darmstadt, 211–256. Halbwachs, Maurice (1925/1985): Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt a. M. Havers, Wilhelm (1946): Neuere Literatur zum Sprachtabu. Wien.

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Albrecht Grözinger

4. Reden von und über Gott in den christlichen Religionsgemeinschaften Abstract: Das Reden von und über Gott ist in der biblischen Sprache durchgängig metaphorisch, wenn sie Gott und die menschliche Gottesbeziehung thematisiert. Dabei findet sich in der Bibel ein hohes Problembewusstsein darüber, wie prekär eine Versprachlichung religiöser Erfahrung sein kann. Anhand von markanten Textbeispielen soll rekonstruktiv dargestellt werden, dass eine eingehende Auseinandersetzung mit dieser Problematik in der Analyse Ergebnisse ans Licht bringen kann, die exemplarisch für die Rolle der Sprache in den christlichen Religionsgemeinschaften stehen können. Dabei kommt hier den Gleichnissen Jesu eine besondere Bedeutung zu. Sie können als dramatisch gestaltete Metaphern verstanden werden. Der Bedeutung metaphorischer Sprache für die Religion entspricht, dass sich die Theologie intensiv mit einer theologischen Metaphorik beschäftigt. Dies geschieht heute weitgehend in einem ständigen Dialog mit nichttheologischen Metapherntheorien. Dabei werden außertheologische Erkenntnisse nicht einfach in die Theologie importiert, sondern sie werden in eigenständige Theorien religiöser Metaphorik überführt. Ohne eine ständige kritische Reflexion auf die in einer Religion lebenden und sie tragenden Metaphern werden Religionen in einem religiös und weltanschaulich pluralen Umfeld nicht bestehen können. 1 2 3 4 5

Vorbemerkung Rede von Gott in der biblischen Überlieferung Theologische Reflexion metaphorischer Rede Aktuelle Herausforderungen Literatur

1 Vorbemerkung Über Gott kann auf zweierlei Weise gesprochen werden. Zum einen auf direkte Weise in religiösen Vollzügen: Dort, wo Gott im Gebet angerufen wird (vgl. Kämper, Greule/Kiraga, Selmani, Lasch in diesem Band), wo über ihn meditiert wird, wo er als Inhalt der Verkündigung zum Gegenstand der Sprache wird (vgl. Ebert und Kucharska-Dreiß in diesem Band), etc. Theologisch kann dies als eine „Namenrede Gottes“ bezeichnet werden (Bohren 1986, 89–94). Zum anderen kann in wissenschaftlichem Kontext von Theologie, Religionswissenschaft, Literaturwissenschaft etc., Gott gleichsam metareflexiv zur Sprache kommen (vgl. exemplarisch Jacobs in diesem Band). Hier handelt es sich weniger um ein existentielles Reden von Gott als vielmehr um distanziertes Reden über Gott.

DOI 10.1515/9783110296297-005

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Beide Arten und Weisen über Gott zu sprechen sind sowohl notwendig als auch legitim (Bernhardt/Link-Wieczorek 1999; Ritschl 2008). Nicht immer sind die beiden Redeweisen deutlich voneinander unterschieden. Der Blick auf die Theologiegeschichte zeigt, dass besonders theologische Schriften, die innovatorisch gewirkt haben, diese Unterscheidung der beiden Redeweisen programmatisch unterlaufen, wie etwa Schleiermachers Reden über Religion (Schleiermacher 1799) oder Karl Barths Römerbriefkommentar (Barth 1922). Der vorliegende Artikel widmet sich zunächst der direkten, existentiellen Redeweise von Gott zu, um dann in einem zweiten Schritt die metareflexive Rede über Gott darzustellen. Dabei geht es um die Grundtatsache, dass Noumenalität in Form sprachlicher Indirektheit darstellbar ist, die nicht in die Form sprachlicher Direktheit transformierbar ist (vgl. Liebert in diesem Band, „Unsagbares“).

2 Rede von Gott in der biblischen Überlieferung 2.1 Der Name Gottes als theologisches Problem Es kennzeichnet die Rede von Gott in der Bibel, dass bereits die Art und Weise, wie und ob überhaupt über Gott gesprochen werden kann, Gegenstand sowohl der religiösen Erfahrung wie des theologischen Nachdenkens ist. Zunächst einmal kann festgestellt werden: „Der eigentliche Gottesname des AT, um den herum alle anderen nur begleitend mitschwingen, ist Jahwe.“ (Köhler 1953, 22). Dabei ist die Anzahl der mitschwingenden Gottesnamen nicht unbeträchtlich (vgl. dazu Hartenstein 2008). In Ex 6,3 treffen wir auf den Gottesnamen El Schaddaj. In Gen 16,13 wird Gott als El Roi angesprochen, während in Ps 89 von Gott als JHWH und als Elohe Zebaoth die Rede ist. Ferner können demselben Gott die Namen Mäläk (König), Adon (Herr) oder Eljon (Höchster) anhaften. Die Frage der Namen Gottes ist im Alten Testament untergründig verbunden mit dem generellen Verbot, Gott darzustellen. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um ein Verbot bildlicher Darstellung, sondern dieses Verbot wurde auch auf eine sprachliche Fixierung und Identifizierung des Gottesnamens übertragen (vgl. Klug in diesem Band). Dass in der jüdischen Frömmigkeit bis auf den heutigen Tag der Name Gottes JHWH nicht ausgesprochen wird bzw. umschrieben wird, ist nicht allein Ausdruck religiöser Ehrfurcht vor der Heiligkeit Gottes (Noumenalität), sondern zugleich auch Ausdruck der Einsicht, dass sich Gott nicht sprachlich fixieren lässt. Es kennzeichnet die Luzidität der biblischen Sprache und der sie tragenden Theologie, dass sie in Ex 3 das Problem des Gottesnamens narrativ als grammatisches Wortspiel darstellen kann. Die Bibelstelle erzählt von der Berufung des Mose, die mit einer Gottesepiphanie verbunden ist: Gott erscheint dem Mose in einem

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Brennenden Dornbusch, der gleichwohl nicht verbrennt. Im Verlauf der Epiphanie fragt Mose die Gottheit nach ihrem Namen und bekommt die Antwort: Ehjeh ascher Ehjeh. Die grammatische Bedeutung dieser Worte schwingt zwischen zwei möglichen Übersetzungen: „Ich werde sein, der ich sein werde“ oder einfach „Ich bin da“ (vgl. dazu Kämper und Liebert in diesem Band, „Unsagbares“). Auf jeden Fall signalisiert der Name Gottes bereits als Name, dass Gott nicht auf einen einzigen Namen und eine einzige Identität festzulegen ist. Die menschliche Sprache vermag die Identität der Gottheit letztendlich nicht zu fassen – und gleichwohl kommt gerade diese Aussage in und als menschliche Wortkunst daher, die als sprachliche Indirektheit charakterisiert werden kann (vgl. dazu Selmani in diesem Band). Jedes Nachdenken über Versprachlichung von religiöser Erfahrung und von Gottesbegegnung wird sich dem Niveau dieser biblischen Sicht zu stellen haben (vgl. dazu Lasch in diesem Band).

2.2 Gottesrede in Metaphern Die Einsicht, dass Gott nicht in Sprache aufgeht, dass seine Identität dort letztlich nicht zu fassen ist, und dass es gleichwohl der Versprachlichung gerade dieser Einsicht bedarf, bestimmt die Art und Weise der Gottesrede im Alten Testament durchgängig. Ein bevorzugtes Mittel dazu ist die sprachliche Metapher. Kann schon generell gelten, dass religiöse Erfahrung sich immer metaphorisch ausspricht, so gilt dies für das Alte und das Neue Testament in besonderer Weise. Im Gegenüber zum Koran fällt auf, dass in der Bibel dort, wo sie von Gott spricht, ein extensiver Gebrauch von Metaphern anzutreffen ist. Die Bibel scheut sich nicht, in bunten und drastischen Sprachbildern von Gott zu sprechen. Dies ist aber nur vor dem Hintergrund möglich, dass die Bibel vom Wissen durchzogen ist, dass Gott mittels der Sprache letztendlich nicht zu fixieren ist. Gerade auch die Bibel als Schrift der Offenbarung ist – im Gegensatz zum Koran und dem islamischen Verständnis von Schriftoffenbarung (vgl. Selmani in diesem Band) – ein durch und durch menschliches Buch (vgl. Kämper und Lasch in diesem Band). Sie ist nicht geschichtslose, in seiner Sprachgestalt unumstößliche Offenbarung, sondern sie ist als Buch der Offenbarung selber einer Geschichte unterworfen und nur durch geschichtlichhermeneutische Deutung zugänglich. Die Metaphorik der biblischen Gottesrede kommt in den Psalmen des Alten Testaments besonders deutlich zum Tragen. Dies soll am Beispiel von Ps 23 nähert erläutert werden (zitiert nach der Luther-Übersetzung 2017): 1 Ein Psalm Davids. Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. 2 Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.

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3 Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. 4 Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. 5 Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. 6 Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.

Zunächst zeichnet sich der Psalm durch eine hohe Metapherndichte aus, die beinahe schon der Metapherndichte in einem Gedicht nahe kommt. Auf der einen Seite wird in massiven Bildern von Gott geredet, wobei das Metaphernfeld HIRTE ausgeschöpft wird. Zugleich findet an keiner Stelle eine naive Identifikation der Gottheit mit einem menschlichen Hirten statt. Der Text beschreibt nicht einfach die Tätigkeit eines Hirten, sondern ist durchgängig als Gottesrede konzipiert und für die Rezipienten auch als Gottesrede erkennbar. Zugleich gewährt die durchgängige Metaphorik der Gottesrede den Rezipienten, sich mit ihren Erfahrungen in den Psalm gleichsam einzuleben – die Psalmen können exemplarisch wie kaum eine andere Textsorte für den unmittelbaren Zusammenhang von Verkündigung, Verehrung und Vergegenwärtigung stehen. Als offene Metaphorik wird sie für individuelle Erfahrungen transparent. Der Ps 23 kann exemplarisch stehen für die „große Vermittlungs- und Erschließungskraft der Bilder, die der begrifflichen Rede in dieser Hinsicht überlegen ist“ (Lauster 2003, 281).

2.3 Die Gleichnisse Jesu als metaphorische Dramen Den Gleichnissen Jesu kommt hinsichtlich einer religiösen Metaphorologie eine besondere Bedeutung zu. Zum einen stellen sie ein Charakteristikum der Verkündigung des historischen Jesus von Nazareth dar. Zum anderen sind die Gleichnisse Jesu in ihrer literarischen Form im Kontext der antiken Literaturformen Unikate. Blickt man auf die Auslegungsgeschichte der Gleichnisse Jesu, so fällt auf, dass deren durchgängig metaphorischer Charakter erst spät erkannt und hermeneutisch reflektiert wurde. So interpretiert der Begründer der modernen Gleichnisforschung Adolf Jülicher (1857–1938) die Gleichnisse Jesu konsequent im Kontext des aristotelischen Verständnisses und Begriffs von Gleichnis (Jülicher 1886). Ein Gleichnis vergleicht zwei Sachverhalte, um einen der beiden, nämlich den unklaren Sachverhalt zu verdeutlichen. Dabei müssen sich die beiden Sachverhalte in irgendeiner Weise ähnlich sein. Gleichnisse leben von einer Bild- und einer Sachhälfte. Wer ein Gleichnis verstehen will, muss dessen tertium comparationis erkennen, um den eigentlich gemeinten Sachverhalt zu ergründen. Das Gleichnis hat damit ein logisches Gefälle hin von der Bild- zur Sachhälfte. Seine eigentliche Aussage findet es in der Sachhälfte. Damit sind die Gleichnisse im Grunde nicht metaphorisch grundiert,

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sondern eher logisch-rhetorisch. Gleichnisse haben für Jülicher einen ausgeprägt didaktischen Charakter. Sie reden in indirekter Sprache (gleichnishaft) von einem Sachverhalt, der in direkter Sprache nur schwer zu begreifen ist. Die Gleichnisforschung hat sich in ihrem weiteren Verlauf zunächst in diesen von Jülicher gelegten Spuren bewegt. Erst seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts geht diese Forschung von einem durchgängig metaphorischen Charakter der Gleichnisse Jesu aus (Weder 1984; Harnisch 1985). Weder begründet seinen Neuansatz mit einer expliziten Kritik am Gleichnisverständnis Jülichers: Indem Jülicher die Gleichnisse Jesu definiert als konkrete, durch das didaktische Interesse Jesu notwendig gemachte Vermittlungen abstrakter Wahrheiten, macht er die Gleichnisse zu Vehikeln für allgemeine Wahrheiten über Gott und die Welt. (Weder 1984, 17)

Damit jedoch sind die Gleichnisse sowohl formal wie in ihrer inhaltlichen Ausrichtung unterbestimmt. Gleichnisse sind durch und durch metaphorisch strukturiert, sie verweisen nicht allein auf eine andere Wirklichkeit, sie konstituieren im metaphorischen Sprachraum eine andere Wirklichkeit: Im Blick auf die Gleichnisse Jesu folgt daraus, dass die von Jülicher eingeführte (am Unterschied von Metapher und Vergleichung orientierte) Unterscheidung von Bild- und Sachhälfte aufzugeben ist. Denn wenn die Metapher nicht nur die bildliche Einkleidung einer an sich in eigentlicher Rede auszusagenden Sache ist, sondern selbst eigentliche Rede ist, dann ist auch das vom Wesen der Metapher her verstandene Gleichnis nicht nur Bild für eine auch ohne dieses aussagbare Sache. Das Gleichnis sagt eben nicht nur Altes neu bzw. Wahres bildlich, sondern die in ihm zur Sprache kommende Wahrheit kann nicht anders als bildlich gesagt werden. Der in den Gleichnissen zur Sprache kommende Inhalt darf also nicht von der Form, in welcher er ausgesagt wird, getrennt werden. (Weder 1984, 64)

In den Gleichnissen Jesu verschmelzen also Form und Inhalt zu einem einheitlich metaphorisch bestimmten Sprachraum. Erscheint bei Weder das Gleichnis noch als ein in sich ruhender Sprachraum erweitert Harnisch dessen Theorie hin zu einer von der Dramaturgie her zu entschlüsselnden Sprachform. Leitend ist dabei die Beobachtung, dass viele Gleichnisse Jesu uns nicht ein Bild, sondern eine Handlung vor Augen stellen, wie etwa die Gleichnisse von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20, 1–16) oder vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32). Die Rezeption der Gleichnisse Jesu, die von Harnisch mit dem Begriff der Parabel charakterisiert werden, stellt nicht einfach ein neues Bild vor Augen, sondern eröffnet eine Dynamik, die Neues aufscheinen lässt: Der sich im Medium der Parabel als Erzählung entfaltende metaphorische Prozess wird durch eine Spannung ausgelöst, die durch das Gegenüber zweier Geschichten und der durch sie erschlossenen Einsichten gekennzeichnet ist. Auch für die Parabel ist also eine Doppelung maßgebend, aber dies Phänomen hat mit der allegorischen Korrespondenz von Vorder- und Hintergrund nichts zu tun. Während sich nämlich die Beziehung der beiden Geschichten in der Allegorie einer vollkommenen Entsprechung ausdrückt, nimmt sie bei der Parabel die Form ei-

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ner problematischen Verschränkung an. Was sich allegorisch auf der Ebene der Vertikalen im System einer transparenten Schichtung manifestiert, erscheint parabolisch auf der Ebene der Horizontalen in der Kontingenz einer dramatischen Begegnung. Im ersten Fall vertritt die eine Geschichte die andere. Dies wird durch eine Kette von Substitutionen gewährleistet. Im zweiten fügt sich eine neue Geschichte der alten hinzu, und zwar so, dass sich das Ereignis des Zusammentreffens in einer eklatanten Störung des Alten durch das Neue bekundet. (Harnisch 1985, 154f.)

Dabei verwickelt die metaphorische Dramatik die Hörerinnen und Hörer der Gleichnisse ihrerseits in eine Bewegung. Der Hörprozess soll in den Rezipienten selbst eine bestimmte Wirkung erzielen, die theologisch als das Entstehen von Glauben beschrieben werden kann: Der Hörer, dem Jesu Erzählung als eine ihn treffende Anrede widerfährt, soll sich im Akt der Rezeption zu einem Glauben ermutigen lassen, der das sprachlich Eröffnete als eine ihm extra se ipsum zukommende, verdankte und damit auf Gott verweisende Möglichkeit wahrnimmt, zu einem Glauben also, der die Sphäre des Möglichen mit der Gottesherrschaft identifiziert. Dies besagt: Das Wort der Parabel vollendet sich im Hörer, sofern ihm dort ein Glaube korrespondiert, der entdeckt, dass durch die im Medium einer narrativen Fiktion nahegebrachte Möglichkeit Gott auf sich aufmerksam macht. (Harnisch 1985, 167)

Die neuere Gleichnisforschung versteht also unter den Gleichnissen Jesu einen metaphorisch grundierten und dramaturgisch gestalteten Sprachraum, der eine bestimmte Art und Weise der Rezeption vorgibt, ohne dazu zu zwingen. Die Gleichnisse Jesu wirken strukturanalog zu dem, was Umberto Eco als die Struktur und Wirkung des offenen Kunstwerks bestimmt hat: Das Kunstwerk in Bewegung, so kann man zusammenfassend sagen, bietet die Möglichkeit für eine Vielzahl persönlicher Eingriffe, ist aber keine amorphe Aufforderung zu einem beliebigen Eingreifen: es ist die weder zwingende noch eindeutige Aufforderung zu einem am Werk selbst orientierten Eingreifen, die Einladung, sich frei in eine Welt einzufügen, die gleichwohl immer noch die vom Künstler gewollte ist. Der Künstler, so könnte man sagen, bietet dem Interpretierenden ein zu vollendendes Werk an: er weiß nicht genau, auf welche Weise das Werk zu Ende geführt werden kann, aber er weiß, dass das zu Ende geführte Werk immer noch sein Werk, nicht ein anderes sein wird, und dass am Ende des interpretativen Dialogs eine Form sich konkretisiert haben wird, die seine Form ist, auch wenn sie von einem anderen in einer Weise organisiert worden ist, die er nicht völlig vorhersehen konnte: denn die Möglichkeiten, die er dargeboten hatte, waren schon rational organisiert, orientiert und mit organischen Entwicklungsdrängen begabt. (Eco 1977, 54f.)

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3 Theologische Reflexion metaphorischer Rede Angesichts der Tatsache, dass der Metapher als Sprachform in der biblischen Überlieferung eine herausragende Bedeutung zukommt, kann es nicht verwundern, dass innerhalb der Theologie das Nachdenken über den Status der Metapher in der Sprache einen breiten Raum einnimmt (Gilich 2011). Die Metapher ist nicht nur Gegenstand der historischen Exegese, sondern auch der Systematischen und Praktischen Theologie.

3.1 Metapher und reformatorisches Predigtverständnis Obwohl Martin Luther den Begriff der Metapher selten gebraucht, kommt in seinem Denken der metaphorischen Dimension der Sprache eine große Bedeutung zu. Bekanntlich stellt Luther der römisch-katholischen Auffassung, dass der Mensch durch die sakramentale Vermittlung gegenüber Gott gerechtfertigt werde, die These von der Rechtfertigung aus dem Glauben allein entgegen. Der Glaube aber kommt – so Luther in Anschluss an eine Aussage des Paulus im Römerbrief (Röm 10,17) – „aus dem Hören“ des Wortes Gottes. Bevorzugtes Medium dieser Hör-Vermittlung des Glaubens ist für Luther die Predigt. Von daher kommt der Reflexion auf die Sprachgestalt der Predigt höchste theologische Priorität zu. Und so finden wir bei Luther in den verschiedensten Kontexten zahlreiche Bemerkungen zur Sprache der Predigt (Beutel 1991; Wolff 2005; zur Predigt als Kommunikationsgeschehen siehe Kucharska-Dreiß in diesem Band). Luthers Verständnis der Predigt ist in hohem Masse an den Hörerinnen und Hörern der Predigt orientiert. Avant la lettre entwickelt Luther seine Überlegungen zur Predigt rezeptionsästhetisch (Gehring 1997). Predigt ist für Luther nicht einfach Wort Gottes, das vom Prediger autoritativ von der Kanzel gesprochen wird. Von der Predigt als Wort Gottes kann allenfalls in der Hinsicht gesprochen werden, dass die Predigt in den Hörerinnen und Hörern Lebensgewissheit (Luther spricht von Glaube) weckt und stärkt. Deshalb muss die Predigt sprachlich so gestaltet sein, dass sie rezipiert werden kann. Für Luther geschieht das in erster Linie durch Sprach-Bilder. Seine eigenen Predigten zeichnen sich durch eine hohe Metapherndichte aus. Sprachbilder verwickeln die Rezipienten mit ihrer individuellen Existenz in das in der Predigt Gesagte hinein. Metaphern setzen in den Rezipienten eine Dynamik frei, die geeignet ist, die von der Predigt zu erwartende Stärkung der Glaubens- und Lebensgewissheit zu ermöglichen.

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3.2 Theologische Rezeption philosophischer Metapherntheorien Moderne Theologie entwickelt spätestens seit der Aufklärung ihre Grundlinien und Perspektiven in enger Auseinandersetzung mit der jeweils zeitgenössischen Philosophie. Deshalb kann es auch nicht verwunden, dass im Zusammenhang des theologischen Nachdenkens über die Metapher philosophische Metapherntheorien eine bedeutsame Rolle spielen. Dabei kommt vor allem den Überlegungen von Hans Blumenberg und Paul Ricoeur eine besondere Bedeutung zu. Hans Blumenberg (1920–1996) entwickelt seine Metaphorologie vor dem Hintergrund einer kritischen Auseinandersetzung mit Descartes. Descartes hat in seinem Discours de la Méthode aus dem Jahre 1637 drei Kriterien für eine wissenschaftlich fundierte Sprache benannt: Zum ersten ist für sie die Klarheit und Bestimmtheit der Begriffe kennzeichnend; zweitens könne und müsse alles eindeutig definiert werden und schließlich – als Folge dieser ersten beiden Forderungen – müsse die übertragene (also metaphorische) Redeweise so weit wie möglich vermieden werden. Metaphorische Redeweise verweise, so Descartes, in der Regel auf gedankliche Unklarheit. Dieser wirkungsmächtigen Sicht Descartes stellt Blumenberg die These von der Unhintergehbarkeit der Metapher entgegen. Begrifflich-logische Sprache sei der metaphorischen Sprache entsprungen und müsse gerade als begrifflich-logische Sprache immer wieder zur Metapher zurückkehren. Die Metapher ist für Blumenberg der schöpferische Grund der logisch-begrifflichen Sprache. Deshalb sind Metaphern für Blumenberg grundsätzlich unhintergehbar. Das metaphorisch Gesagte kann nicht ohne inhaltlichen Verlust in begriffliche Sprache übertragen werden: Der Aufweis absoluter Metaphern müsste uns wohl überhaupt veranlassen, das Verhältnis von Phantasie und Logos neu zu durchdenken, und zwar in dem Sinne, den Bereich der Phantasie nicht nur als Substrat für Transformationen ins Begriffliche zu nehmen – wobei sozusagen Element für Element aufgearbeitet und umgewandelt werden könnte bis zum Aufbruch des Bildervorrats –, sondern als katalysatorische Sphäre, an der sich zwar ständig die Begriffswelt bereichert, aber ohne diesen fundierenden Bestand dabei umzuwandeln und aufzuzehren. (Blumenberg 2013, 14f.)

Ein wesentlicher Teil der philosophischen Arbeit Blumenbergs besteht deshalb darin, das zu rekonstruieren, was er absolute Metaphern nennt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass diese absoluten Metaphern geschichtslos sind. Im Gegenteil, gerade die absoluten Metaphern leben in einer Vielzahl von geschichtlich wandelbaren Einzelmetaphern, die aber immer wieder zu der Grundmetapher zurückkehren: Dass diese Metaphern absolut genannt werden, bedeutet nur, dass sie sich gegenüber dem terminologischen Anspruch als resistent erweisen, nicht in Begrifflichkeit aufgelöst werden können, nicht aber, dass nicht eine Metapher durch ein andere ersetzt bzw. vertreten oder durch eine genauere korrigiert werden kann. Auch absolute Metaphern haben daher Geschichte. Sie haben Geschichte in einem radikaleren Sinn als Begriffe, denn der historische Wandel

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einer Metapher bringt die Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen selbst zum Vorschein, innerhalb deren Begriffe ihre Modifikationen erfahren. Durch dieses Implikationsverhältnis bestimmt sich das Verhältnis der Metaphorologie zur Begriffsgeschichte (im engeren terminologischen Sinne) als ein solches der Dienstbarkeit: die Metaphorologie sucht an die Substruktur des Denkens heranzukommen, an den Untergrund, die Nährlösung der systematischen Kristallisationen, aber sie will auch fassbar machen, mit welchem ‚Mut‘ sich der Geist in seinen Bildern selbst voraus ist und wie sich im Mut zur Vermutung seine Geschichte entwirft. (Blumenberg 2013, 16f.)

Die philosophischen Überlegungen Blumenbergs waren und sind für das theologische Nachdenken über die Bedeutung und Wirkung von Metaphern ungemein anregend. In der von Blumenberg vorgegebenen Perspektive kann die Theologie Gott als Grundmetapher verstehen und sie zugleich in ihrem geschichtlichen Wandel beschreiben und analysieren. Theologie wäre dann im Grunde eine Metaphernkunde der Grundmetapher Gott. Konnte der Theologe Eberhard Jüngel (geb. 1934) im Jahre 1974 noch fordern, dass „[d]ie Ausarbeitung einer theologischen Metaphorologie […] sowohl für die Dogmatik als auch für die Praktische Theologie ein dringendes Desiderat“ ist (Jüngel 1974, 157), so liegen zwischenzeitlich – nicht zuletzt durch die Rezeption der Metapherntheorie Blumenbergs – eine Fülle theologischer Grundentwürfe vor, die sich als Metaphorologie verstehen oder sich zumindest so interpretieren lassen (vgl. dazu 3.3). Nicht weniger anregend als die Philosophie Blumenbergs waren und sind für die Theologie die metapherntheoretischen Überlegungen von Paul Ricoeur (1913– 2005). Wie Blumenberg sich an Descartes abarbeitet, so ist dies bei Ricoeur hinsichtlich Aristoteles der Fall, ohne dass Ricoeur dessen Verdienste um eine Metapherntheorie schmälerte. Für Aristoteles handelt es sich bei der Metapher um die Übertragung eines Nomens auf das andere. Die „Metapher ist etwas, das dem Nomen widerfährt“ (Ricoeur 1986, 21). Dabei gerät allerdings aus dem Blick, dass der metaphorische Prozess nicht nur einzelne Worte wie das Nomen betrifft, sondern einen gesamten Textzusammenhang in seiner Sinnstruktur bestimmt. Weg vom Nomen hin zum Text – mit diesen Worten lässt sich der Neuansatz Ricoeurs gegenüber der Metapherntheorie des Aristoteles bezeichnen. Ricoeur beschreibt diese Funktion der Metapher bezogen auf das Sinnganze eines Textes in negativer wie in positiver Hinsicht. Die negative Funktion der metaphorischen Umstrukturierung besteht darin, dass ein in der Sprache bestehender Sinn aufgelöst wird. Wenn Achill bei Homer als „Löwe“ bezeichnet wird, wird der exklusiv biologische Sinn des Wortes destruiert. Zugleich jedoch verschwindet der Sinngehalt des Wortes durch die Destruktion seiner ursprünglichen Bedeutung nicht einfach, sondern es entsteht ein neuer Sinn. „Achill, der Löwe“ zeigt uns nun Achill als einen Löwen, als ‚kämpfenden Helden‘. Darin besteht die positive Funktion der metaphorischen Verwandlung der Sprache. In der Umstrukturierung der ursprünglichen Sinngehalte entsteht neuer Sinn, der hier nicht nur Achill, sondern auch den Löwen erfasst: Nicht nur Achill ist wie der Löwe, sondern zugleich dieser

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wie Achill. Das heißt, die Metapher ist nicht nur sprachschöpferisch, sie ist auch sinnschöpferisch, sie vermag es, nicht nur Wissen in Sprache neu zu fassen, sondern auch Wissen durch Sprache zu konstituieren. Der richtige Gebrauch von Metaphern ist deshalb auch eine Denkleistung, woran schon Aristoteles mit seinem Diktum erinnert hat, es sei keine leichte Aufgabe, treffende Metaphern zu finden, was auf die enge Verbindung zwischen Sprache auf der einen und Wissen auf der anderen Seite deutet. Aus diesem Zusammenhang zieht Ricoeur weitreichende Konsequenzen. Die Metapher ist für ihn nicht nur eine sprachwissenschaftliche, sondern auch eine philosophische Herausforderung: Wenn die Metapher auf einer Heuristik des Denkens beruht, kann man dann nicht annehmen, dass das [sc. metaphorische] Verfahren, das eine bestimmte logische Ordnung, eine bestimmte Begriffshierarchie und eine bestimmte Klassifizierung durcheinanderbringt und verschiebt, das gleiche ist wie dasjenige, auf dem jede Klassifizierung beruht? Gewiss kennen wir keine andere Funktionsweise der Sprache als diejenige, in der bereits eine Ordnung konstituiert ist; die Metapher erzeugt eine neue Ordnung nur, indem sie Abweichungen der vorgegebenen Ordnung bewirkt; können wir nicht trotzdem von der Vorstellung ausgehen, dass die Ordnung selbst auf die gleiche Weise entsteht, wie sie sich verändert? Ist nicht, nach Gadamers Ausdruck, am Ursprung des logischen Denkens, an der Wurzel jeder Klassifizierung eine ‚Metaphorik‘ am Werk? (Ricoeur 1986, 28f.)

Ricoeur selbst lässt keinen Zweifel daran, dass er diese Fragen entschieden bejaht. Und sein instruktives Werk über die „lebendige Metapher“ möchte nichts anderes sein als der konkrete Nachweis, dass der Ursprung jedes neuen Gedankens in der Entdeckung einer treffenden Metapher begründet ist. Denken geht nicht bruchlos in metaphorischer Rede auf, ist aber andererseits ohne Verwurzelung in der metaphorischen Dimension nicht möglich. Die These von der sinnstiftenden bzw. sinnqualifizierenden Funktion der Metapher hat die Theologie nachhaltig angeregt. Metaphorische Rede konstituiert verschiedene Sinnzusammenhänge, so auch einen religiösen Sinnzusammenhang. Aufgabe der Theologie ist es deshalb, die spezifischen Prozesse bei der metaphorischen Konstituierung von religiösem Sinn in den Blick zu bekommen und zu beschreiben. Dies gilt sowohl für die Analyse vorliegender religiöser Texte wie auch für die Produktion und Rezeption religiöser Texte wie z. B. das Schreiben und Hören einer Predigt. Die Metapherntheorie Ricoeurs ist sowohl in werkästhetischer als auch in produktionsästhetischer und rezeptionsästhetischer Hinsicht theologisch bedeutsam.

3.3 Theologische Metaphorologie Die philosophische, linguistische und literaturwissenschaftliche Diskussion um die Bedeutung und Funktionsweise metaphorischen Redens wurde in der Theologie der

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Gegenwart nicht nur einfach rezipiert, sondern hat zu eigenständigen Entwürfen einer theologischen Metaphorologie geführt. Dies soll im Folgenden an zwei Beispielen gezeigt werden. Eberhard Jüngel knüpft an die Erkenntnisse Ricoeurs und Blumenbergs an, rückt diese jedoch entschieden in einen theologischen Horizont. Dabei partizipiert die christliche Rede über den biblischen Gott am allgemeinen Vermögen religiöser Rede: Religiöse Rede spricht der Wirklichkeit notwendigerweise mehr zu, als das jeweils Wirkliche aufzuweisen hat und als Wirklichkeit überhaupt aufzuweisen vermag. Die Sprache des christlichen Glaubens teilt – bei aller Entgegensetzung – diese Eigenart religiöser Rede, die nur dann wahre religiöse Sprache ist, wenn sie, ohne am Wirklichen vorbeizureden, über es hinausgeht. Über das Wirkliche hinausgehend geht sie auf Wirklichkeit ein. Euch ist heute der Heiland geboren oder Dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen sind solche Urteile des Glaubens, die dem Wirklichen ein Mehr an Sein zusprechen und gerade damit der Wirklichkeit gerecht zu werden beanspruchen. (Jüngel 1974, 103)

Alle Wirklichkeit hat für Jüngel einen Überschuss, der in der Sprache artikuliert werden kann. Allerdings ist die konkrete Gestalt dieses Überschusses zwischen den Religionen umstritten. Diese Umstrittenheit begründet erst die Vielfalt der Religionen (auch vor dem Hintergrund verschiedener Transzendierungsprozesse, vgl. Lasch in diesem Band). Zugleich ist damit die christliche Theologie herausgefordert, die Besonderheit ihrer Rede über die Wirklichkeit verständlich darzustellen und zu formulieren, wobei der christliche Glaube durch eine ‚Differenz‘ konstituiert wird: „Die Wahrheit dessen, was der Glaube zu sagen hat, erweist sich also nicht zuletzt daran, dass die Sprache des Glaubens nicht einfach mit der Wirklichkeit übereinstimmt.“ (Jüngel 1974, 104) Diese Differenz gewinnt in der Metapher sprachliche Gestalt und kommt dort zugleich als deren Wahrheit zum Vorschein. Wer von einem Wirklichen etwas aussagt, was dieses wirklich nicht ist, lügt gleichwohl nicht, wenn er metaphorisch redet. Achill ist ein Löwe und Jesus ist Gottes Sohn – beide Sätze haben bei aller Unvergleichbarkeit doch eine hermeneutische Gemeinsamkeit. Sie widersprechen – jeder auf seine Weise – der Wirklichkeit und sind doch – jeder auf seine Weise – wahr. (Jüngel 1974, 105)

Von daher kommt Jüngel zu der hermeneutisch weitreichenden These, dass die Sprache des Glaubens durch und durch metaphorisch bestimmt ist. Da es aber im christlichen Glauben nicht um allgemeine Wahrheiten geht, sondern um eine bestimmte Geschichte, nämlich um die Geschichte Gottes mit Israel und die Geschichte Jesu Christi, geht es auch um bestimmte Metaphern. Die Sprache des christlichen Glaubens partizipiert an der allgemeinen metaphorischen Struktur der Sprache, gestaltet innerhalb dieser Struktur die Sprache jedoch auf eine besondere und unverwechselbare Weise. Es geht um die Unterscheidung Gottes und der Welt und zugleich darum, diesen von der Welt unterschiedenen Gott als einen zur Welt kom-

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menden Gott (Inkarnation!) sprachlich konkret werden zu lassen. Karl Barth hat diesen Sachverhalt in einem Vortrag aus dem Jahre 1922 über „Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie“ als theologische Grundaporie in geradezu klassisch gewordenen Sätzen formuliert: Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben. (Barth 1929, 158)

Im Licht der sprachlichen Leistung der Metapher erscheint diese von Barth formulierte theologische Grundaporie in einem neuen, weniger aporetischen Licht. Denn die Metapher ist Ausdruck menschlicher Sprache und hat die menschliche Welt und ihre Vorstellungen zur Voraussetzung. Zugleich jedoch markiert die Metapher immer einen Überschuss gegenüber der Wirklichkeit, weil sie Wirklichkeit in ein neues Licht rückt. Damit kann die Sprachform der Metapher Unterschiedenheit und Bezogenheit in einem ausdrücken. Sie wird damit zur theologischen Sprachform par excellence. Jüngel entwickelt seine Metapherntheorie konsequent als eine Theorie im Zusammenhang der christlichen Dogmatik, wenn auch andere Religionen und säkulare Weltsichten immer wieder in den Blick geraten. Sehr viel stärker jedoch – und damit ist er repräsentativ für die gegenwärtige christliche Theologie im deutschen Sprachraum – entfaltet Philipp Stoellger (geb. 1967) seine Überlegungen zur Metapher im Kontext des gegenwärtigen religiösen und weltanschaulichen Pluralismus. Metapherntheorie wird von ihm deshalb im Dialog von Philosophie, Theologie, Religionswissenschaft und Religionsphänomenologie entfaltet. Dabei möchte Stoellger die Bedeutung der Metapher nicht nur für die existentielle Rede von Gott, sondern auch für reflexive Rede über Gott herausstellen: Die Theologie von der Metapher freizuhalten, wäre ein Gebot der Präzision, der Beschneidung, das weder nötig noch wünschenswert ist und demzufolge die Theologie mehr verlöre, als ihr recht sei. Sie käme in eine ‚Krisis‘, würde sie vergessen, woran sie arbeitet, nicht nur in Begriffen, sondern ursprünglich an Phänomenen und deren nicht selten unbegrifflicher Darstellung, wie die Grundmetaphern des Glaubens zeigen. (Stoellger 2000, V)

Geschult an der Phänomenologie muss jede Wissenschaft erkennen, dass die Phänomene selbst oft nicht in eine Eindeutigkeit und deren begrifflicher Fixierung überführt werden können, ohne dabei als Phänomene auf weniger reduziert zu werden, als sie sind. Deshalb bedarf auch die Wissenschaft der „Rettung der Unbestimmtheit als Interpretationsspielraum“ (Stoellger 2000, 363). Gerade wenn Wissenschaft genau sein will, bedarf sie dieses Spielraumes. An Jüngel kritisiert Stoellger, dass er – gegen dessen eigene Intention – in seinem Metaphernverständnis zu jener Überhellung kommt, die die notwendige Unbestimmtheit der Phänomene unterläuft. Jüngels Metametaphorik sei nur in einem

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vorab zu akzeptierenden theologischen Binnenraum überzeugend. Gerade eine theologische Metaphorologie muss heute den Rahmen weiter spannen, als dies bei Jüngel der Fall ist: Statt in den Begriff oder in die Metametaphorik (und dabei hinter den Reihen der eigenen Themen zu stehen) kann sich die Theologie auf den lebenswelthermeneutischen Weg machen, um die metaphorischen Umwege der Theologie zu verstehen und fortzuschreiben, – indes ohne manche Wege zu schnell als Verfallsformen anzusehen. Dabei ermöglicht die metaphorologische Hermeneutik der Horizonte, genau nachzufragen, was denn die bestimmenden und was die vergessenen Hintergrundintentionen waren und welche es derzeit sein könnten, die die Theologie nach Worten suchen lassen. Mit der Annäherung an die Gegenwart wird dann aber auch die Fraglichkeit fraglich werden, da für uns mitnichten alles nur fraglich ist. So wird sich im Verlauf der Rückfrage und der Darstellung der Geschichten, die einem im Rücken liegen, herausbilden, was anfangs vielleicht noch undeutlich aber schon mitbestimmend war: Was es denn gewesen, geblieben oder geworden sein mag, worauf man selber aus ist. (Stoellger 2000, 497)

4 Aktuelle Herausforderungen Stoellgers Plädoyer für eine phänomenologisch orientierte theologische Metaphorologie hat den gegenwärtigen religiösen und weltanschaulichen Hintergrund zur Voraussetzung. Vor diesem Hintergrund lassen sich einige Herausforderungen erkennen, vor denen eine Metaphorologie gegenwärtig steht, die die religiösen Erfahrungen und ihre möglichen Versprachlichungen ernst nehmen will.

4.1 Gegen eine Fundamentalisierung religiöser Rede Religionen sind gegenwärtig in allen Teilen der Erde fundamentalistischen Strömungen ausgesetzt. Dies ist eine Reaktion auf die kulturelle Globalisierung und Pluralisierung, die alle Lebensbereiche umfasst. Fundamentalismus ist damit alles andere als eine rückwärtsgewandte Bewegung. Der Fundamentalismus in all seinen Variationen ist die Kehrseite des Pluralismus und insofern als modernes Phänomen anzusprechen (Riesebrodt 1990). Der Fundamentalismus verspricht Entlastung von den Stressphänomenen einer intensivierten Globalisierung und Pluralisierung. Allerdings ist der Preis für dieses Versprechen groß: es ist der Verlust individueller und kollektiver Freiheiten. Fundamentalismen sind im Bereich der Religion immer auch mit einem bestimmten Verständnis der jeweiligen Heiligen Schrift(en) verbunden. Der christliche Fundamentalismus leugnet den metaphorischen Charakter biblischer Gottesrede. So werden zum Beispiel die biblischen Schöpfungsberichte wortwörtlich genommen. Damit entsteht jedoch eine Konkurrenz zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen

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über die Entstehung des Universums. Und so werden auch der Evolutionstheorie Darwins, die als unchristlich und unbiblisch verstanden wird, alternative, kreationistische Theorien entgegengesetzt wie zum Beispiel die Theorie des intelligent design. Ähnliches ist auch bei der Bewertung der neutestamentlichen Berichte von der Auferstehung Jesu Christi oder den biblischen Wundererzählungen zu beobachten. Die theologische Reflexion auf die Bedingungen und Funktionsweise religiöser Sprache muss solchen Versuchen widerstehen. Im Grunde werden mit einem wortwörtlichen Verständnis der Offenbarungsschriften diese gleichsam ent-religionisiert. Sie werden gelesen wie naturwissenschaftliche Texte oder Gebrauchstexte der Alltagswelt. Dies kann nur dort geschehen, wo die durchgehende metaphorische Grundierung religiöser Sprache geleugnet oder ausgeblendet wird. Eine theologische Metaphorologie kann Religion vor einer solchen fundamentalistischen Sicht bewahren, indem sie den religiösen Gehalt der Sprache gerade an ihrer metaphorischen Grundierung aufweist und zugleich den geschichtlichen Wandel religiöser Metaphern nachzeichnet.

4.2 Interreligiöse Metaphorologie Theologische Metapherntheorien wurden bisher weitgehend im kulturellen Binnenraum einer Religion, insbesondre des Christentums, entwickelt. Die Metapherntheorie Eberhard Jüngels ist dafür ein eindrückliches Beispiel (vgl. 3.3). So unbestritten die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit solcher Theorien ist, bedürfen sie heute einer Ergänzung durch die Reflexion auf die Metapher im interkulturellen und interreligiösen Kontext. Solche Versuche sind gegenwärtig erst in Ansätzen erkennbar (Schröder 2003). Eine erst zu gewinnende interreligiöse Metaphorologie hätte in erster Linie drei Perspektiven zu verfolgen: (1) Sie hätte die Chancen aber auch die Grenzen kulturell bedingter Metaphern im religiösen Kontext zu reflektieren. Kritisch müssten dann z. B. die unverkennbar durch maskuline Metaphern geprägten biblischen Bildwelten und insbesondre die christliche Trinitätslehre in den Blick kommen (Zimmermann 2001). (2) Sie müsste das Charakteristikum einer bestimmten Religion anhand der dort vorkommenden Metaphern entfalten. (3) Schließlich müsste sie nach den Metaphern fragen, die besonders geeignet sind, Übergänge zwischen Kulturen und Religionen zu ermöglichen. Eine so verstandene interreligiöse Metaphorologie wäre ein wichtiger Beitrag zur interkulturellen und interreligiösen Kommunikationsfähigkeit der Menschen.

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4.3 Andauernde Arbeit an der religiösen Metapher Jürgen Habermas hat in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahre 2001 eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Religion und Gesellschaft, die er als „postsäkulare Gesellschaft“ begreift, unternommen. Dies ist umso bedeutsamer, als Religion in der Philosophie von Habermas in den vorangehenden Jahrzehnten nur eine marginale Rolle gespielt hat. Habermas beschreibt die ihm vorschwebende „postsäkulare Gesellschaft“ als eine Kommunikationsgemeinschaft gegenseitiger Öffnungen wie Zumutungen: Für den religiös unmusikalischen Bürger bedeutet das die keineswegs triviale Aufforderung, das Verhältnis von Glauben und Wissen aus der Perspektive des Weltwissens selbstkritisch zu bestimmen. Die Erwartung einer fortdauernden Nicht-Übereinstimmung von Glauben und Wissen verdient nämlich nur dann das Prädikat ‚vernünftig‘, wenn religiösen Überzeugungen auch aus der Sicht des säkularen Wissens ein epistemischer Status zugesprochen wird, der nicht schlechthin irrational ist. In der politischen Öffentlichkeit genießen deshalb naturalistische Weltbilder, die sich einer spekulativen Verarbeitung wissenschaftlicher Informationen verdanken und für das ethische Selbstverständnis der Bürger relevant sind, keineswegs prima facie Vorrang vor konkurrierenden weltanschaulichen oder religiösen Auffassungen (Habermas 2005, 118).

Habermas begründet dies nicht mit einer formalen Toleranz, sondern einem elementar inhaltlichen Interesse an religiösen Inhalten: Es wäre unvernünftig a priori den Gedanken von der Hand zu weisen, dass die Weltreligionen – als das einzig übrig gebliebene Element aus den fremd gewordenen Kulturen der Alten Reiche – innerhalb des differenzierten Gehäuses der Moderne einen Platz behalten, weil ihr kognitiver Inhalt noch nicht abgegolten ist. Jedenfalls ist nicht auszuschließen, dass sie semantische Potentiale mit sich führen, die eine inspirierende Kraft für die ganze Gesellschaft entfalten, sobald sie ihre profanen Wahrheitsgehalte preisgeben (Habermas 2005, 149).

Andererseits müssen religiös gesonnene Menschen eine epistemische Einstellung zu fremden Religionen und Weltanschauungen finden, die ihnen innerhalb des bisher von der eigenen Religion eingenommenen Diskursuniversums begegnen. Das gelingt in dem Maße, wie sie ihre religiösen Auffassungen selbstreflexiv zu den Aussagen konkurrierender Heilslehren in ein Verhältnis setzen, das den eigenen exklusiven Wahrheitsanspruch nicht gefährdet. (Habermas 2005, 145).

Habermas stellt damit eine hohe kommunikative Forderung an die Religionen selbst. Sie müssen den ihnen selbst einwohnenden Eigensinn so kommunikativ darzustellen vermögen, dass Menschen diesen Eigensinn verstehen können, ohne an ihm selbst teilzuhaben. Dies setzt vor allem auch eine entwickelte Sprachkompetenz voraus. Wenn Habermas davon spricht, dass Religionen unabgegoltene semantische Potentiale mit sich führen, dann mag dies ein Nachhall auf die These Blumenbergs

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sein, der von der Unhintergehbarkeit absoluter Metaphern ausgeht (vgl. 3.2). Allerdings muss dieses semantische Potential durch die Religionen selbst am Leben gehalten werden (vgl. oben 4.1). Auch Metaphern können sterben, semantische Potentiale können schwinden. Das semantische Potential von Religionen speist sich nicht zuletzt aus lebenden Metaphern. Metaphern aber müssen am Leben erhalten werden. Diese Arbeit an der Metapher bleibt die beständige Aufgabe vitaler Religionen – und zwar in einer doppelten Hinsicht: Religionen müssen sich selbst und anderen Auskunft darüber geben, welche Metaphern für sie tragend sind, wie sie entstanden sind und welchem geschichtlichen Wandel sie unterliegen. Dies ist eine eher rekonstruktiv-historische Aufgabe. Noch mehr aber leben Religionen dadurch, dass sie neue aussagkräftige Metaphern entwickeln für ihre jeweilige kulturelle Lebenswelten, in denen sie sich ansiedeln und deren Veränderungen sie in ihr semantisches Potential aufnehmen müssen. Nur so werden sich Religionen vor Fundamentalismus und historischer Verkrustung, und das heißt immer auch vor Relevanzverlust, schützen können.

5 Literatur 5.1 Textausgaben Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung – Lutherbibel revidiert 2017. Online verfügbar unter: https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lutherbibel-2017/bibeltext/. Stand: 18.02.2017.

5.2 Forschung Barth, Karl (1922): Der Römerbrief. Zürich. Barth, Karl (1929): Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge. München. Bernhardt, Reinhold/Ulrike Link-Wieczorek (Hg.) (1999): Metapher und Wirklichkeit. Die Logik der Bildhaftigkeit im Reden von Gott, Mensch und Natur. Göttingen. Beutel, Albrecht (1991): In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis. Tübingen. Blumenberg, Hans (2013): Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M. Bohren, Rudolf (1986): Predigtlehre. 5. Aufl. München. Dalferth, Ingolf U./Philipp Stoellger (Hg.) (2008): Gott nennen. Gottes Namen und Gott als Name. Tübingen. Eco, Umberto (1977): Das offene Kunstwerk. Frankfurt a. M. Gilich, Benedikt (2011): Die Verkörperung der Theologie. Gottesrede als Metaphorologie. Stuttgart. Gehring, Hans-Ulrich (1997): Schriftprinzip und Rezeptionsästhetik. Rezeption in Martin Luthers Predigt und bei Hans-Robert Jauß. Neukirchen-Vluyn. Habermas, Jürgen (2005): Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M.

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Harnisch, Wolfgang (1985): Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung. Göttingen. Hartenstein, Friedrich (2008): Die Geschichte JHWHs im Spiegel seiner Namen. In: Dalferth/Stoellger, 73–95. Jülicher, Adolf (1886): Die Gleichnisreden Jesu. Freiburg i. Br. Jüngel, Eberhard (1974): Metaphorische Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Relevanz der Metapher als Beitrag zur Hermeneutik einer narrativen Theologie. In: Ders. (1980): Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen. München, 103–157. Köhler, Ludwig (1953): Theologie des Alten Testaments. 3. Aufl. Tübingen. Lauster, Jörg (2003): Biblische Bildersprache, christologische Metaphern und ihr historischer Erfahrungsgrund. In: Jörg Frey/Jan Rohls/Ruben Zimmermann (Hg.): Metaphorik und Christologie. Berlin/New York, 281–298. Ricoeur, Paul (1986): Die lebendige Metapher. München. Riesebrodt, Martin (1990): Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung. Amerikanische Protestanten (1910–1928) und iranische Schiiten (1961–79) im Vergleich. Tübingen. Ritschl, Dietrich (2008): Bildersprache und Argumente. Theologische Aufsätze. Neukirchen-Vluyn. Schleiermacher, Friedrich (1799): Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Berlin. Nachdruck Stuttgart 1980. Schroeder, Ulrike (2003): Brasilianische und deutsche Wirklichkeiten. Eine vergleichende Fallstudie zu kommunikativ erzeugten Sinnwelten. Wiesbaden. Stoellger, Philipp (2000): Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont. Tübingen. Weder, Hans (1984): Die Gleichnisse Jesu als Metaphern. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen. 3. Aufl. Göttingen. Wolff, Jens (2005): Metapher und Kreuz. Studien zu Luthers Christusbild. Tübingen. Zimmermann, Ruben (2001): Geschlechtermetaphorik und Gottesverhältnis. Traditionsgeschichte und Theologie eines Bildfelds in Urchristentum und antiker Umwelt. Tübingen.

Lirim Selmani

5. Sprache und Offenbarung. Zur Rolle des Arabischen im Islam Abstract: Der Beitrag thematisiert die Bedeutung der Sprache im Allgemeinen und die des Arabischen im Besonderen für die Religion des Islams. In keiner anderen Buchreligion ist die Offenbarungssprache mit der Offenbarung so eng verbunden wie im Islam. Die Sprache des Korans ist nicht nur Medium, sondern auch konstitutiver Teil der Offenbarung. Die islamische Tradition deklariert die Sprache des Korans zum Beweis seines göttlichen Ursprungs. Hieraus erwächst die theologische Lehre der Unnachahmlichkeit des Korans. Die arabische Sprache wird von muslimischen Gelehrten zu einer vollkommenen Sprache erklärt, die eine herausragende Stellung im kollektiven Bewusstsein der Muslime einnimmt. 1 2 3 4

Sprache im Islam Arabisch im Alltag der Muslime Ausblick: Arabisch als vollkommene Sprache Literatur

1 Sprache im Islam Wol eine Zauberkraft muß seyn in dem, woran Bezaubert eine Welt so hängt wie am Koran. (Friedrich Rückert, 1838, zit. n. Bobzin 2001, VII)

1.1 Hinführung Religiöse Sprache ist das Medium von Verkündigungen göttlicher Botschaften vor dem Hintergrund einer Bindung (,re-ligio‘). Sie ist die Kommunikationsform, mittels derer sich der Verkünder an seine Umwelt richtet, ohne die er nicht verkünden könnte. Der Verkündigungsprozess ist ein Prozess des Wissenstransfers. Transferiert wird ein transzendentes, nicht allgemein zugängliches, verfügbares Wissen (vgl. zum Zusammenhang von Verkündigung und Transzendenz Lasch in diesem Band): Der Verkünder nimmt für sich in Anspruch, der Übermittler von Inhalten übernatürlichen Ursprungs zu sein. Diesen Transfer realisiert Sprache. Der Wissenstransfer ist eine essentielle Funktion der Sprache. Im Moment der Konstitution einer Religion (und darüber hinaus) kommt Sprache eine tragende Rolle zu. Religion ohne Sprache ist nicht denkbar. Mit dem Islam liegt ein besonderer Fall vor: In keiner anderen Religion ist die Offenbarung mit ihrer sprachlichen Form so eng verbunden wie im Islam. Sprache

DOI 10.1515/9783110296297-006

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ist nicht nur das Medium, durch das der Verkünder verkündet, sondern sie ist auch ein erheblicher Teil der Offenbarung. Sie ist Authentizitätsbeweis der göttlichen Botschaft. Der Inhalt der Botschaft ist gebunden an seine sprachliche Form. Über die Form wird die Bedeutung der Offenbarung erschlossen. Propheten können – neben der Verkündigung göttlicher Visionen, deren Wahrheit sich in der Wirklichkeit bestätigen kann – auch Wunder bewirken, die ihre Prophetie beglaubigen. Das Wunder des Propheten Muhammad ist der Koran. So reiht sich der Prophet in die Reihe vorangegangener Boten Gottes ein. Nicht nur der Inhalt des Korans stellt ein Wunder dar, sondern auch seine sprachliche Form. Dieses Wunder gewinnt an Konturen, wenn man bedenkt, dass der Prophet der muslimischen Tradition zufolge ein Analphabet ist. Ein des Lesens und Schreibens Unkundiger könne nicht ein solches sprachliches Meisterwerk hervorbringen – so die einhellige Meinung der muslimischen Apologeten (Abschnitt 1.3.1). Der Koran fordert an mehreren Stellen die sprachgewandten heidnischen Araber dazu auf, etwas dem Koran Ebenbürtiges vorzubringen, wenn sie nicht Gott als Quelle dieser Verkündigung anerkennen wollen. Der Verkünder begegnet seinen Gegnern auf sprachlicher Augenhöhe. Aus diesem Grund wird er für einen Dichter – von denen es damals viele gab und die vor einem Publikum mündlich ihre Gedichte vortrugen – gehalten, was der Koran aber vehement zurückweist. Der Prophet ist kein Dichter, die Verkündigung keine Dichtung, keine Fiktion. Muhammad ist der Gesandte Gottes, der Koran Gottes Wort an die Menschheit (Abschnitt 1.3.3). Da die heidnischen Meister der Rhetorik den vom Koran geforderten sprachlichen Wettstreit nicht antreten (weil sie den Koran nicht übertreffen können), gelten sie als widerlegt. Der Verkünder schlägt sie mit ihren ureigenen Waffen: mit Sprache. Die muslimische Tradition berichtet von zahlreichen Bekehrungen der Zeitgenossen Muhammads, die von der sprachlichen Schönheit des Korans überwältigt werden und auf der Stelle zum Islam konvertieren, darunter auch berühmte Dichter. Solche Beispiele machen deutlich, welche Sogwirkung von der damaligen Rezitation des Korans ausgehen muss – ein Faszinosum. Die Ästhetik, die Form, durch die Gott sich entäußert, erzwingt die Konversion. Hieraus erwächst später die theologische Lehre der Unnachahmlichkeit des Korans, womit auch das Prinzip seiner Unübersetzbarkeit einhergeht. Die Unnachahmlichkeit ist Untersuchungsgegenstand eines selbständigen Zweigs der Koranwissenschaft. Die muslimischen Theologen kommen zu dem Ergebnis, der Koran stelle ein unerreichtes sprachliches Meisterwerk dar. Diese Schlussfolgerung lässt allein Gott als Urheber zu (Abschnitt 1.3.1). Der Koran referiert wie selbstverständlich auf seine Verkündigungssprache, bleibt aber genau in dieser Hinsicht Ausnahmeerscheinung. In mehreren Suren kommt zum Ausdruck, dass er in arabischer Sprache offenbart ist. Das Arabische wird mit Attributen wie klar oder deutlich qualifiziert. Offenbarung und Sprache sind hier unauflösbar miteinander verbunden (Abschnitt 1.3.4). Führt man sich die von der muslimischen Tradition kultivierte Lehre der Unnachahmlichkeit und das Insistieren des Korans auf seiner Verkündigungssprache

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vor Augen, wird deutlich, welchen hohen Stellenwert die Sprache der Offenbarung, das Arabische, im alltäglichen Leben der Muslime einnimmt. Das tägliche Gebet wird in arabischer Sprache abgehalten. Versuche, die jeweilige Muttersprache der Gläubigen als Gebetssprache zu etablieren, scheiterten. Das rigorose Festhalten am Arabischen als Gebetssprache liegt in der Befürchtung begründet, die Verkündigung zu deformieren, denn Form und Inhalt der Offenbarung sind unzertrennlich. Im Gebet wird die Offenbarungssituation vergegenwärtigt, und das kann nur in der Sprache des Verkünders erfolgen. So hat sich das Arabische als Sprache der liturgischen Praxis durchgesetzt. Von Seiten der nichtarabischen Muslime wurden dagegen kaum Einwände formuliert. Arabischkenntnisse sind für sie Teil ihrer muslimischen Identität (Abschnitt 2.2). Das Arabische findet aber auch in anderen Bereichen des Alltags Eingang. Arabische wie nichtarabische Muslime bedienen sich des koranischen Vokabulars. Am deutlichsten ist das an der Bezeichnung für Gott zu sehen: Alle Muslime nennen Gott Allah (der Gott). Obwohl theologisch gegen eine einzelsprachliche Bezeichnung nichts einzuwenden ist, gilt sie unter (arabischen wie nichtarabischen) Muslimen als verpönt (Abschnitt 2.3). Das Arabische ist die Sprache des Korans und damit des Gebets und durchdringt den Alltag der Muslime. Für einige Theologen ist es die Ursprache. Andere wiederum glauben, dass im Paradies Arabisch gesprochen wird. Muslimische Apologeten attestieren dem Arabischen immer wieder eine besondere Eignung als Offenbarungssprache, indem sie Vorzüge des Arabischen auflisten. Nicht wenige sehen im Arabischen die vollkommene Sprache realisiert (Abschnitt 3.2). Dies hat eine bis in die Gegenwart hineinreichende folgenschwere Konsequenz: die Konservierung des klassischen Hocharabisch. Diese Formkonstanz verschärft den Dualismus zwischen Hoch- und Umgangssprache (Abschnitt 3.3). Wird in diesem Artikel auf den Koran zugegriffen, werden überwiegend die Übersetzungen von Bobzin, Henning, Paret und Zirker herangezogen, weil sie in der Islamwissenschaft als philologisch zuverlässig gelten. Die Übersetzung von Rückert wird vor allem dann zitiert, wenn die Poetizität des Korans nachempfunden werden soll. Zu beachten ist weiter, dass die Verszählung der Übersetzungen nicht immer dem arabischen Original folgt.

1.2 Islam als Institution Berger/Luckmann (2001) fassen den Begriff der Institution weiter als die soziologische Forschung. Essentiell für Institutionalisierung sind „Habitualisierung“ und „Typisierung“: Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution. (Berger/Luckmann 2001, 58)

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Darüber hinaus haben Institutionen eine Kontrollfunktion inne, sie kontrollieren das menschliche Verhalten (vgl. Berger/Luckmann 2001, 58). Da solche Prozesse auch bei der Konstitution von Religionen zu beobachten sind, stellen Religionen Institutionen dar. Der Islam ist eine soziale, politische und wirtschaftliche (in historischen Zeiten auch eine militärische) Institution, die sich durch die Tradierung einer prophetischen Offenbarung und Tradition konsolidiert und Ordnung, eine gesellschaftliche Wirklichkeit, stiftet. Gründungsurkunde und „fundamentalste Quelle“ (Arkoun 1999, 90) des Islams ist der Koran (,das Vorzutragende, die Lesung, die Rezitation‘), der Muslimen als Rede Gottes (kalam allah) gilt. Der Koran wird – so die muslimische Tradition – im Laufe von 23 Jahren (zwischen 610 und 632) Muhammad sukzessive offenbart (wahy). Es ist der Engel Gabriel (dschibril), der als Teil der transzendenten Sphäre die himmlische Botschaft (risala) dem Propheten als Teil der menschlichen Welt mitteilt. Gabriel richtet sich mit diesen Worten an Muhammad (dies stellt den ersten Kontakt Muhammads mit der transzendenten Welt dar, die seine Verkündigung autorisiert): Lis im Namen deines Herrn der schuf, Den Menschen schuf aus zähem Blut. Lis, dein Herr ists der dich erkohr, Der unterwies mit dem Schreiberohr; Den Menschen unterwies er In dem was er nicht weiß zuvor. (Koran 96:1–5, übers. von Rückert)

Der Prophet ist die charismatische Mittlerfigur (vgl. Steen in diesem Band), der die Kommunikation zwischen diesen Welten erst ermöglicht. Der Prophet hat eine nicht-institutionalisierte Rolle (vgl. Lasch/Liebert 2015, 479, 482). Die wichtigste Handlung, die von Propheten ausgeht, ist die Verkündigung (vgl. Ebert in diesem Band), die ein kommunikatives Muster darstellt, das transzendentes, göttliches Wissen durch menschliche Sprache und menschliches Handeln für das Umfeld veranschaulicht (vgl. Lasch/Liebert 2015, 482). Die mekkanische Obrigkeit fürchtet seine revolutionäre Verkündigung – Muhammad predigt einen Eingottglauben in einer polytheistischen Welt – und zwingt ihn und seine Anhänger zur Auswanderung (hidschra) nach Medina (622) – der Beginn der islamischen Zeitrechnung. In Medina wird ein islamischer Staat gegründet und die Position der „muslimischen Nation“ (umma) konsolidiert. Gegen 630 wird Mekka kampflos eingenommen (zu Muhammad im Detail Bobzin 2011; Paret 2008; Ibn Ishaq 2011; at-Tabari 1988). Den Kern der koranischen Botschaft bildet die Einheit und Einzigkeit (tauhid) Gottes – der Islam ist wie (das Judentum und Christentum auch) eine monotheistische Religion. In der 112. Sure, dem „Manifest des Monotheismus“ (Halm 2011, 62), wird das Wesen Gottes geschildert (nach Rückert): Sprich: Gott ist Einer; Ein ewig reiner, Hat nicht gezeugt und ihn gezeugt hat keiner, Und nicht ihm gleich ist einer.

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Der Imperativ sprich (qul), ein im Koran häufig eingesetztes Sprachmittel, soll deutlich machen, dass es sich nicht um das Wort Muhammads handelt. Die Rede geht nicht vom ihm aus, er ist Empfänger und spricht das Wort Gottes nur nach, er ist also nur Sprachrohr. In den deutschen Übersetzungen wird zwischen den Formen sprich und sag gewechselt, weil vermutlich hier Synonymie angenommen wird. Hier müsste man konsequent den arabischen Imperativ qul mit sag übersetzen. Denn in dem unterschiedlichen Valenzverhalten der deutschen Verben sagen und sprechen wird ein Bedeutungsunterschied manifest. Mit sprechen kann auf den Sprechvorgang Bezug genommen werden, wobei dann kein Objekt verlangt wird. Anders verhält sich das Verb sagen, das eine Fixierung des Objekts erzwingt. Sag fokussiert das, was gesagt werden, was folgen soll. Mit dem Imperativ wird Muhammad, der Adressat der Sprechhandlung, unmittelbar gelenkt. Die unmittelbare Lenkung impliziert die Anwesenheit des Adressaten, der zu einer Handlung initiiert wird. Für das Muslimsein ist der Glaube an die Existenz und die Einzigkeit Gottes konstitutiv. Polytheismus (shirk) stellt die größte Sünde dar, wie man dem Koran entnehmen kann: Siehe, Allah vergibt nicht, daß man Ihm Götter beigesellt; doch verzeiht Er, was außer diesem ist, wem Er will. Und wer Allah Götter beigesellt, der hat eine gewaltige Sünde ersonnen. (Koran 4:48, übers. von Henning)

Des Weiteren macht den Islam (neben dem Glauben an Gott) der Glaube an die Gesandtschaft (nubuwa) Muhammads, an den Koran, an die vorangegangenen Offenbarungen und Propheten, an die Engel und den Jüngsten Tag (das Leben nach dem Tod) aus. Diese „institutionellen Vorschriften“ (Berger/Luckmann 2001, 67) gehen aus dem Koran hervor und sind als göttliche Anweisungen zu sehen: O ihr, die ihr glaubt, glaubet an Allah und Seinen Gesandten und an das Buch, das er auf Seinen Gesandten herabgesandt hat, und die Schrift, die Er zuvor herabkommen ließ. Wer nicht glaubt an Allah und Seine Engel und die Schriften und Seine Gesandten und an den Jüngsten Tag, der ist weit abgeirrt. (Koran 4:136, übers. von Henning)

Dieser Vers verdeutlicht zudem, dass der Koran die ihm vorausgegangenen Offenbarungen (AT, NT) als göttlichen Ursprungs charakterisiert; sie entspringen also derselben Quelle wie der Koran. Der Islam ist danach keine neue Religion, „sondern er ist genau dieselbe Botschaft, die von allen Propheten seit der Erschaffung der Welt gepredigt wurde“ (Abu Zaid 2008, 129): Siehe, Wir haben dir [Muhammad, L. S.] Offenbarung gegeben, wie Wir Noah Offenbarung gaben und den Propheten nach ihm, und Offenbarung gaben wir Abraham und Ismael und Isaak und Jakob, und den Stämmen (Israels) und Jesus und Hiob und Jonas und Aaron und Salomo; und wir gaben David den Psalter. (Koran 4:163, übers. von Henning)

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Der Islam versteht sich als eine Bestätigung und Vervollständigung der vorangegangenen monotheistischen Religionen (vgl. dazu auch Lasch in diesem Band). Muhammad kommt hierbei eine zentrale Rolle zu. Er schließt die Reihe der Propheten Gottes ab, er ist das „Siegel der Propheten“ (khatam an-nabiyyin) (vgl. dazu Rubin 2014). Dass Muhammad der letzte aller von Gott entsandten Propheten ist, ist ein zentrales islamologisches Prädikat. Im Koran heißt es: Muhammad ist nicht der Vater von (irgend)einem eurer Männer (auch wenn dieser sein Nennsohn ist). Er ist vielmehr der Gesandte Gottes und das Siegel der Propheten (d. h. der Beglaubiger der früheren Propheten, oder der letzte der Prophten). Gott weiß über alles Bescheid. (Koran 33:40, übers. von Paret)

Das Verbalsubstantiv Islam bedeutet ,Hingabe an Gott‘, Muslim ist dann ,der sich Gott Hingebende‘. Wer sich Gott hingibt und Gutes tut, den erwartet Lohn bei Gott: Gewiss doch! Wer sein Gesicht Gott zuwendet und dabei das Gute tut, der bekommt seinen Lohn bei seinem Herrn. Sie [die Muslime, L. S.] befällt nicht Furcht und sie sind nicht traurig. (Koran 2:112, übers. von Zirker)

Der Koran wird ursprünglich mündlich vorgetragen (vor allem in der liturgischen Praxis der Gemeinde) und memoriert – dafür spricht die sprachliche Struktur des Korans. Kurze Zeit nach dem Tod des Propheten, unter Initiative des 3. Kalifen Uthman (644–656), wird der Koran schriftlich fixiert, wie von der muslimischen Tradition berichtet wird (vgl. ausführlicher Neuwirth 2010a, 235ff., Bell 1977, 40ff.). Neben dem Koran gibt es eine zweite Quelle der islamischen Religion: die Sunna, die prophetische Tradition, die durch die Aussprüche und die Taten des Propheten (hadithe) überliefert ist (vgl. ausführlicher Halm 2011, 40ff., Arkoun 1999, 90ff.). Der Koran empfiehlt den Muslimen, dem Beispiel des Propheten zu folgen – das kann auch als Motivation der Hadithsammlung gesehen werden: Ihr habt an Gottes Gesandtem ein schönes Vorbild – wer immer Gott und den Jüngsten Tag erwartet und Gottes viel gedenkt. (Koran 33:21, übers. von Zirker)

Die getreue Nachahmung des Propheten gilt im Islam als besonders verdienstvoll. Die Worte und Taten des Propheten werden von seinen Gefährten und nachfolgenden Anhängern befolgt, getreulich gesammelt und überliefert, wodurch im Laufe der Zeit für jede Äußerung eine Kette von Zeugen (isnad) entstand, welche die Echtheit der berichteten Reden (matn) garantierte. Daher wurde dann nach dem Tod des Propheten leidenschaftlich nach solchen hadithen gesucht, um sie zu sammeln und, wie es mit dem Koran geschehen war, schriftlich niederzulegen. (Arkoun 1999, 90)

Der bekannteste Sammler ist al-Bukhari (810–870). Auch von der Sunna gehen „institutionelle Vorschriften“ aus. Im weiteren Sinne ist die Sunna die Interpretation des Korans (ausführlicher Leaman 2008b). Das, was nicht deutlich aus dem Koran

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hervorgeht, wird mit der Sunna aufgelöst, z. B. wird im Koran nicht gesagt, wie das den Muslimen auferlegte Gebet genau zu verrichten ist. Al-Bukhari überliefert, dass der Prophet sagt: „Betet, wie ihr mich beten gesehen habt“ (vgl. Ramadan 2001, 36, ausführlicher zum Gebet al-Bukhari 2013, 94ff.). Auch die so genannten „fünf Säulen des Islams“ (arkan ad-din) werden nicht explizit als solche im Koran genannt, obgleich sie im Koran Erwähnung finden (vgl. im Detail Halm 2011, 62ff.). So berichtet al-Bukhari: Ibn Umar berichtet, der Gesandte Gottes (S [das S steht für ,Friede und Segen seien auf ihm‘; diesen Segensspruch (Eulogie) sprechen Muslime bei der Erwähnung des Propheten, L. S.]) habe gesagt: Der Islam basiert auf fünf grundlegenden Pflichten: Dem Glaubensbekenntnis – „Es gibt keinen Gott außer Gott, und Muhammad ist der Gesandte Gottes“ –, dem Gebet, der gesetzlichen Abgabe [Armensteuer, L. S.], der Wallfahrt [Pilgerfahrt nach Mekka, L. S.] sowie dem Fasten im Ramadan [Fastenmonat, L. S.]. (al-Bukhari 2013, 33)

Der Islam kennt keine kirchenähnlichen, weltumspannenden Strukturen. Die Institution Moschee ist keine Organisation, die das Leben der Muslime zentralistisch regelt, sondern Ort der Verehrung, des kollektiven Gebets. Auch gibt es kein Priesteramt (wie etwa im Christentum), es gibt also keinen Akt der Vermittlung im Islam. Der Muslim „tritt im Gebet, auf der Pilgerreise (hadsch) nach Mekka [...] in eine direkte Beziehung zu Gott“ (Arkoun 1999, 130). Der Imam (gemeint ist der Vorbeter), fungiert nicht als Vermittler zwischen Gott und Mensch. Er hebt sich vom Rest der Gläubigen lediglich dadurch ab, dass er in der Gebetsnische (mihrab) weilt, was die Einheit der Betenden symbolisieren soll (vgl. Arkoun 1999, 130). Im Islam gibt es also keine institutionalisierte Mittlerrolle (vgl. Lasch/Liebert 2015, 479) zwischen transzendenter und menschlicher Welt (jeder Gläubige kann das Gebet leiten). Der Imam besitzt keine transzendente Autorität. Zudem fehlen im (sunnitischen) Islam eine Hierarchie und ein religiöses Oberhaupt (wie der Papst). Der Kalif ist kein religiöses Oberhaupt, sondern „Befehlshaber der Gläubigen“ (amir al-muminin) und das Kalifat demzufolge eine politische Institution. Die religiöse Autoriät wird von einer Körperschaft von Gelehrten (ulama) ausgeübt. Dieser Berufsstand erwächst seit dem 8. Jahrhundert aus dem Privatgelehrtentum (vgl. Halm 2011, 79). Die Gelehrten, die Absolventen einer religiösen Lehranstalt (madrasa), eines stabilen Auslegungssystems, sind, haben das Deutungsmonopol. Sie bestimmen, was erlaubt und was verboten, was islamisch und was unislamisch ist, sie legen „die institutionellen Vorschriften“ fest. Sie haben eher eine institutionalisierte Mittlerrolle, sie können auf die Gläubigen normativ einwirken. Die Verwalter religiösen Wissens stellen das prophetische Ereignis – aufgrund ihres Amtscharismas – auf Dauer, indem Offenbarungswissen weitergegeben, kommuniziert und in stabilisierenden Riten vergegenwärtigt wird (vgl. Lasch/Liebert 2015, 482). Diese Körperschaft ist keine zentralistische Institution,

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sondern bleibt auf die einzelnen Staaten beschränkt. So haben etwa Ägypten und Saudi-Arabien unterschiedliche Ulama, die sich auch widersprechen können. Der Staat kontrolliert diesen Berufsstand (heute strenger als in früherer Zeit). Die Gelehrten sollen den Staat vor Übergriffen schützen. Muslime können sich auch an die Gelehrten wenden, wenn Fragen auftauchen, die nicht mithilfe des Korans oder der Sunna beantwortet werden können (z. B. Organtransplantation, Schönheitsoperationen). Diese (z. B. die Gelehrten der Azhar-Universität in Kairo) erlassen dann ein „Gutachten“ (fatwa), das dem Muslim Orientierung bieten soll (im schiitischen Islam ist das den ranghöchsten Geistlichen (Ayatollah ,Zeichen Gottes‘) vorbehalten (ausführlicher dazu Amirpur 2015)).

1.3 Forschungsstand: zur Sprache des Korans 1.3.1 „Außergefechtsetzende“ Rhetorik Im kollektiven Bewusstsein der Muslime stellt der Koran das Wort Gottes dar – nur wer sich im Zustand der kultischen Reinheit befindet, darf sich ihm nähern (Koran 56:77–79). Diese Überzeugung könnte man mit den Metaphern „Inlibration“ (Neuwirth 2010a, 163) bzw. „Inverbation“ (Berque 1996, 118) ausdrücken. Der Koran gilt sprachlich als unübertrefflich. Sein sprachlicher Wundercharakter wird von der islamischen Tradition als stärkster Authentizitätsbeweis seines göttlichen Ursprungs gesehen (vgl. Neuwirth 1983, 166). Der „schriftunkundige Prophet“ (alnabiyya al-ummiyya) könne nicht der Urheber des Korans sein. Die sprachliche Vorzüglichkeit des Korans lasse einzig Gott als Urheber zu. Die komplexe sprachliche Struktur des Korans führt früh zu intensiven literaturund sprachwissenschaftlichen Analysen. Es werden Musterbeispiele der altarabischen Dichtung zusammengestellt, um diese mit dem Koran zu vergleichen. Eine Poetik wird entwickelt und Merkmale werden erläutert, anhand derer man einen Vers als mustergültig und wirksam bestimmen kann (vgl. Kermani 2003, 249f.). Die inhaltliche Präzisierung dieses Wundercharakters und die Durchsetzung der theologischen Lehre, dass er auf der sprachlichen Form basiere (daneben glauben andere Theologen, dass der Inhalt ein Wunder darstelle) erfolgt im 10. Jahrhundert (vgl. Grotzfeld 1969, 58). Der für diese Lehre geprägte terminus technicus ist idschaz alquran. Mit dem Ausdruck idschaz ist eine Qualität des Korans gemeint, die Menschen unfähig macht, sie außer Stande setzt, etwas ihm Gleichwertiges hervorzubringen (vgl. Andrae 1918, 94). Der Koran macht jeden Versuch zunichte, „sich mit ihm zu messen, oder ihn gar zu überbieten“ (Neuwirth 1983, 171). Neuwirth (2010a, 732ff.) spricht von einem „rhetorischen Aussergefechtsetzen“ der Herausforderer. In erster Linie fußt die idschaz-Lehre auf der Rezeptionsgeschichte, auf der ästhetischen Wirkung des Korans auf die Hörer (vgl. Abschnitt 2.2). Auf diesen wesentlichen Faktor macht auch Neuwirth (1983, 170) aufmerksam:

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Es ist also eine zentrale Erfahrung der Muslime von innerem Leben und innerem Glanz, eine ganz reale Erfahrung von metaphysischer Schönheit der Offenbarungsschrift, die schließlich, im 9. Jh., zur Formulierung des Dogmas von der Unnachahmlichkeit und Einzigartigkeit des Korans führte – nicht etwa nur theologische Spekulation oder gar gelehrte Sophisterei. Es ging um die Rationalisierung einer fundamentalen Erfahrung der ganzen Religionsgemeinschaft [...].

Die Tradition berichtet von zahlreichen Fällen, in denen Menschen vom Koran ergriffen und in Erstaunen versetzt werden. Von ihm geht eine Schockwirkung aus: Der größte unter den Dichtern Arabiens war Labid ibn Rabia. Die Blätter mit seinen Gedichten hingen, als Zeichen seines Triumphes, an den Türen der Kaaba. Keiner seiner Dichterkollegen wagte es, die Herausforderung anzunehmen und seine Verse neben die Labids zu hängen. Eines Tages jedoch näherten sich einige Anhänger Mohammeds, der unter den heidnischen Arabern jener Zeit als obskurer Zaubermann und geistesgestörter Poet verschrien war. Sie befestigten ein Stück aus der zweiten Sure des Koran am Tor und forderten Labid auf, es vorzutragen. Der Dichterkönig lachte ob dieser Anmaßung auf. Mehr aus Zeitvertreib oder vielleicht auch aus Spott ließ er sich darauf ein, die Verse zu rezitieren. Überwältigt von ihrer Schönheit bekannte er sich an Ort und Stelle zum Islam. (Kermani 2003, 15)

Die Ästhetik des Korans überwältigt den Großmeister des klassischen Hocharabisch. Dies kann nur in der Konversion münden. Viele der erbittertsten Gegner Muhammads können sich, wie Labid ibn Rabia, der Anziehungskraft des Korans nicht erwehren und werden Muslime, z. B. Umar, der spätere Kalif (vgl. Ibn Ishaq 2011, 155ff.). Der Koran berichtet, dass die Rezitation Muhammads sogar Geistwesen (Dschinn) zur Bekehrung bewegt, da sie einen „wunderbaren Koran“ (kuranan adschaban) hören: Sprich: Geoffenbart ward mir, daß eine Schar der Dschinn lauschte und sprach: Siehe, wir haben einen wunderbaren Koran gehört, der zum rechten Weg leitet; und wir glauben an ihn und stellen nimmer unserem Herrn jemand zur Seite. (Koran 72:1–2, übers. von Henning)

Die Araber versuchen, die Wirkung, die der Koran auf sie hat, mit anderen, ihnen bekannten Texten begreiflich zu machen (vgl. Abu Zaid 2008, 41). Die koranische Rhetorik übertrifft die der altarabischen Dichtkunst. Als Begründung für die Lehre der sprachlichen Einzigartigkeit werden auch die so genannten „Herausforderungsverse“ (tahaddi) herangezogen. Muslimische Exegeten nehmen an, dass der Koran die heidnischen Araber zum sprachlichen Wettstreit herausfordere, da diese Gott nicht als Quelle der Offenbarung anerkennen wollen. Diese Verse machen – folgt man der muslimischen Tradition und legt sie tatsächlich als Herausforderung zum sprachlichen Wettstreit aus – implizit deutlich, dass es unter den Hörern Sprachgewandte gibt, wie ja auch aus der vorislamischen Dichtung hervorgeht. Eine Herausforderung anderer, die nicht über eine vergleichbare sprachliche Kompetenz verfügen, ist unwahrscheinlich. Die Komplexität der altarabischen Dichtung zeugt von einem „hochentwickelten Sprachbewußtsein“

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(Bauer 2011, 229). Dem Koran ist eine mehrstufige Herausforderung zu entnehmen. Zunächst sollen die Leugner zehn dem Koran gleichwertige Suren vorbringen: Oder sie sprechen: Er hat ihn ersonnen. Sprich: So bringt zehn gleiche Suren her, (von euch) erdichtet, und rufet an, wen ihr vermögt, außer Allah, so ihr wahrhaft seid. (Koran 11:13, übers. von Henning)

Später wird von ihnen verlangt, nur eine dem Koran ebenbürtige Sure hervorzubringen: Und so ihr in Zweifel seid über das, was Wir auf unseren Diener herniedersandten, so bringt eine gleiche Sure hervor und rufet eure Götzen zu Zeugen, so ihr wahrhaft seid. (Koran 2:23, übers. von Henning)

Über die Reaktion der Adressaten wird im Koran nicht explizit berichtet. Die Resignation, das Scheitern der Herausgeforderten kann aber leicht erschlossen werden. In der Sure Die Nachtreise heißt es: Sprich: Wenn Mensch und Dschinn sich darin träfen, etwas beizubringen, was dieser Lesung [d. h. diesem Koran, L. S.] gleichkommt, sie könnten nichts beibringen, was ihr gleichkommt, auch wenn sie einander dabei Helfer wären. (Koran 17:88, übers. von Bobzin)

An dieser Stelle wird die Überlegenheit des Korans über alle möglichen Widersacher, das „völlige Scheitern der Araber“ (Abu Zaid 2008, 41) „triumphal konstatiert“ (Neuwirth 2010a, 738). Der Koran weist die Leugner in die Schranken. Mit dieser Emphase wird die Einzigartigkeit des Korans unterstrichen: Niemand könne jemals imstande sein, etwas ihm Gleichwertiges zu schaffen, auch dann nicht, wenn den Menschen übernatürliche Wesen zur Hilfe kämen. Der Anspruch auf Unerreichbarkeit konnte klarer „nicht formuliert werden“ (Neuwirth 1983, 172). Die Sprache des Korans wird in der exegetischen Literatur als Bestätigungswunder aufgefasst, Muhammad in die Reihe der vorangegangenen, Wunder bewirkenden Propheten eingereiht. Neuwirth (1983, 173) spricht hierbei von einer „schematischen Prophetologie“, die die islamische Tradition für alle von ihr gewürdigten Propheten (Adam, Moses, Jesus, Muhammad) konzipiert: Jedem Propheten wurde ein Zeichen gegeben, das die Wahrheit seiner Botschaft beweist: Gott sandte Mose zu einer Zeit, in der Pharao an die Allmacht der Zauberei glaubte, sein Zeichen war daher die Verwandlung des Stabes in eine Schlange. Er sandte Jesus in einer Epoche, in der die Heilkunst in höchstem Ansehen stand, Jesus mußte deshalb die Kunst der Ärzte übertreffen – mit der Auferweckung von Toten. Muhammads Zeit konnte man mit so augenfälligen Wundern nicht mehr beeindrucken, er trat vor eine Hörerschaft, bei denen Redekunst den höchsten Rang behauptete, sein Zeichen war deshalb ein sprachliches: das rhetorische Wunder des Koran. (al-Dschahiz, zit. n. Neuwirth 2010a, 723)

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Der Koran hinterlässt einen tiefgreifenden Eindruck bei den zeitgenössischen, mit Poesie wohlvertrauten Mekkanern, seine Sprache „hatte […] die Vorstellungskraft der Araber eingenommen“ (Abu Zaid 2008, 41). Dass der Koran sich schnell durchsetzt, hängt also auch mit seiner Sprache, mit dem virtuosen, meisterhaften Umgang mit der arabischen Sprache zusammen: Und es wäre widersinnig, wollte man leugnen, daß dieser Text, der zwanzig Jahre lang in periodisch unterbrochenen und ungeordneten Bruchstücken herabkam und zwanzig Jahre darauf gesammelt wurde, sich so hätte durchsetzen können, wie er es getan hat, ohne seine – sagen wir – wirklich einzigartigen Eigenschaften. (Berque 1996, 135)

Die heidnischen Mekkaner müssen seine sprachliche Schönheit anerkennen, wollen sie ihre eigene Kultur, die eine Kultur der Eloquenz ist, nicht verraten. Der Koran wird in einer Welt offenbart, in der sprachliche Kunstwerke besondere Wertschätzung erfahren, denn bereits die vorislamische arabische Kultur ist eine Kultur der Sprache [...] Spätestens ab etwa 500 n. Chr. hatte die Poesie in Arabien das Niveau einer hochartifiziellen Kunstdichtung erreicht, die an Komplexität und künstlerischer Raffinesse die Poesie der antiken Kulturen übertraf. Die Poesie war für die arabischen Stämme das wichtigste Medium, ihre Interessen zu kommunizieren. (Bauer 2011, 229)

Der mittelalterliche Universalgelehrte al-Dschahiz (776–869) meint, dass sich den Sprachgewandten der idschaz am schnellsten und deutlichsten erschließe (vgl. Kermani 2003, 276). Die Bewunderung des Korans wurde oben am Beispiel des altarabischen Dichters Labid veranschaulicht. Hier ein weiteres Beispiel – der Zeitgenosse Muhammads Walid ibn Mughira sagt (zit. n. Berque 1996, 130): Unter euch ist keiner, der in der Dichtung gelehrter ist als ich [...] ob Menschen oder Dämonen. Doch zu dem, was du da sprichst, finde ich nichts Vergleichbares! Was Muhammad rezitiert, hat Anmut, Leuchtkraft, Glanz. Es trägt oben Früchte; es wird unten begossen. Es steigt in die Höhe wie eine Palme; es zermalmt alles, was darunter ist.

Kermani (2003, 241) hält es für unwahrscheinlich, dass die Herausforderungsverse ein Indiz für den sprachlichen Wundercharakter seien. Dass die Muslime sie aber so begreifen, ist bemerkenswerter als wenn die Lehre klar im Koran formuliert gewesen wäre und sich die Entstehung des Dogmas von der stilistischen Wunderbarkeit als Vollzug einer koranischen Anweisung erklären ließe (Kermani 2003, 241).

Zu den ersten idschaz-Theoretikern, die die sprachliche Form des Korans in den Vordergrund stellen, gehören z. B. ar-Rummani (gest. 994), al-Baqillani (gest. 1013), Abd al-Dschabbar (gest. 1025) und al-Dschurdschani (gest. 1078). Diskutiert wird, was die Sprache des Korans ausmacht und worin sich diese von anderen Meisterwerken unterscheidet (dies erinnert stark an Roman Jakobsons Überlegungen, die

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etwa in Linguistik und Poetik (1960/1979) entfaltet werden). Was die muslimischen Theologen vorbringen, muss man als einen „ästhetischen Gottesbeweis“ (Kermani 2003, 241) begreifen. Laut ar-Rummani (Werk: an-nukat fi idschaz al-quran) übersteige die stilistische Einzigartigkeit alle anderen Formen der Rede, wonach im Stil also die Einzigartigkeit zu sehen ist. Im Koran seien die rhetorischen Figuren Metapher, Hyperbel, Vergleich in ihren besten Beispielen repräsentiert (vgl. Grotzfeld 1969, 65). Die Metapher habe die Funktion der Verdeutlichung, nicht die Funktion, das Verbalisierte zu schmücken (wie in der herkömmlichen Dichtung). Die so erzielte Klarheit korrespondiert mit dem koranischen Anspruch, ein verdeutlichender Diskurs (bayan) zu sein (vgl. Neuwirth 1983, 177). Bayan ist „die klare Darlegung, die Fähigkeit, sich auf verständliche Weise auszudrücken, die Ausdruckskraft, die höchste Qualität einer Sprache“ (Berque 1996, 122). Als eine weitere koranische Besonderheit arbeitet arRummani die Abwandlung desselben Themas heraus. Im Koran gibt es – anders als in der Dichtung – zwischen den neugestalteten Motiven nicht bloß einen formalen, sondern auch einen logischen Zusammenhang; die einzelnen Motive haben unterschiedliche Funktionen (vgl. Neuwirth 1983, 178). Zudem beobachtet ar-Rummani eine weitere Eigenheit der koranischen Rede: In einer natürlichen Redezäsur weist der Koran eine Schlussassonanz auf. Diese wirkt nicht auf den syntaktischen oder semantischen Redeverlauf ein, worin ein großer Vorteil gegenüber der altarabischen Reimprosa zu sehen ist, weil dort das Reimwort den syntaktischen und semantischen Verlauf der Rede beeinflusst, wodurch der Rede Grenzen gesetzt werden, einer freien Entfaltung entgegengesteuert wird (vgl. Neuwirth 1983, 178f.). Al-Baqillani (Werk: idschaz al-quran) sieht im Koran ein eigenes literarisches Genre realisiert, er ist weder Dichtung noch Prosa. In dieser neuartigen Form bestehe die Einzigartigkeit des Korans, so dass „keines der literaturwissenschaftlichen Kriterien des Menschen [sich dazu] eigne […], ihn zu beurteilen“ (vgl. Abu Zaid 2008, 46). Konkret äußert sich das Wunder nicht etwa in den rhetorischen Figuren (wie von ar-Rummani angenommen), denn diese finden sich auch in der Poesie und können erlernt werden; die Unnachahmlichkeit manifestiere sich vielmehr in der Verskomposition (nazm) (vgl. Neuwirth 1983, 180). Der koranische Langvers ist in kleinere, syntaktisch selbständige Einheiten (Kola, kalimat) gegliedert. Vor allem die kalimat, die mit ihren vorangehenenden kalimat nicht koordiniert sind, sind von Interesse. Hier hat al-Baqillani die Schlussklauseln (Abschnitt 1.3.2) der koranischen Verse im Blick, die zudem inhaltlich von den vorausgehenden Versteilen unabhängig sind – ein für die koranische Sprache signifikantes Mittel (vgl. Neuwirth 1983, 182). Al-Baqillani unterscheidet ferner zwei Verstypen voneinander: Es gibt Verse, die aus ein bis zwei kalimat bestehen, und Verse, die sich aus drei oder mehr kalimat zusammensetzen (vgl. Neuwirth 1983, 182). Die koranischen Langverse haben keine quantitativen und strukturellen Entsprechungen in anderen Gattungen, sie folgen keinem literarischen Vorbild (vgl. Neuwirth 1983, 182). Mittels dieser Langverse wird die Selbständigkeit der koranischen Sprache herausgestellt. Al-Baqillani

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stellt den Koran über die in vorislamischer Zeit gefeierten „Sieben Qasiden“ (muallaqat) (vgl. Walther 2004, 46f.), die – aufgrund ihrer Vorzüglichkeit – an der Kaaba angebracht sind und von den Arabern bewundert werden. Für al-Baqillani gewinnt das Wunder an Konturen, wenn man bedenkt, dass Muhammad ein Analphabet ist: Es „ist die Natur des göttlichen Sprechers selbst […], die es unmöglich macht, irgendeine Form der Ähnlichkeit oder Vergleichbarkeit zwischen dem Koran und allen anderen Texten anzunehmen“ (Abu Zaid 2008, 46). Für al-Baqillani ist das Wunder demzufolge in der literarischen Form, im poetischen Operieren, im „poetischen Verfahren“ (Jakobson 1960/1979, 93) des Korans zu sehen. Abd al-Dschabbar (Werk: al-mughni) wendet sich der Sprache im engeren Sinne zu. Er geht in erster Linie linguistisch vor. Die fasaha (,die Eloquenz‘) manifestiere sich weder in dem Inhalt noch im Stil allein. Al-Dschabbar sieht die Einzigartigkeit vielmehr in der sprachlichen Struktur, genauer in der Syntax und in der Position und grammatischen Funktion der Wörter (vgl. Abu Zaid 2008, 48). Der Begriff der „Komposition“ (nazm) wird umgedeutet, nazm ist laut Abd al-Dschabbar die syntaktische Komposition, in der sich der Wundercharakter äußert. Nazm ist die Zusammenstellung, die „Syntaktisierung“ (damm) der Lexeme. Es ist die „syntaktische Perfektion“ (Abu Zaid 2008, 48), die die Herausforderer außer Gefecht setze. Bei der Zusammenfügung muss jedes Wort eine bestimmte Eigenschaft haben. Diese kann durch einen Prozess der Prägung (muwadaa) entstanden sein, der bei der Zusammenfügung zum Tragen kommt; sie kann aus der grammatikalischen Funktion (irab) des Wortes herrühren, die sie beeinflusst; und sie kann der Stellung (mauqi) des Wortes entspringen. Über diese drei Möglichkeiten hinaus gibt es keine vierte. (Abd al-Dschabbar, zit. n. Abu Zaid 2008, 48)

Die Komposition ist das Zusammenspiel von Bedeutung, Position und Funktion der Lexeme. Die Position und die Funktion determinieren die Bedeutung. Diese Komposition ist im Koran musterhaft verwirklicht. Ihren Höhepunkt erreicht die Unnachahmlichkeitslehre mit al-Dschurdschani (Werk: dalail al-idschaz), dem wohl bedeutendsten Literatur- und Sprachwissenschaftler seiner Zeit. Al-Dschurdschani entwickelt in seinem voluminösen Werk die nazm-Theorie seiner Vorgänger (insbesondere die Abd al-Dschabbars) weiter und demonstriert an mehreren hundert Versen des Korans (stets die Dichtungs als Vergleichsfolie heranziehend), worin der idschaz bestehe. Er weist die Ansicht, dass der Inhalt (bspw. die Aussagen über das „unsichtbare Jenseits“) die Unnachahmlichkeit ausmache, entschieden zurück, denn dieses Wissen beschränke sich nur auf einige Stellen. Der idschaz liege vielmehr in jedem einzelnen Vers, bezieht sich also primär auf die sprachliche Form des Korans (vgl. Abu Zaid 2008, 49). Die Beschäftigung mit der Dichtung erhebt er zur religiösen Pflicht, weil das poetische bzw. literaturwissenschaftliche (damit auch das linguistische) Wissen die Durchdringung des Korans, die Erklärung des „göttlichen Lichts“ ermögliche (vgl. Abu Zaid 2008, 50f.). Die intensive Analyse des nazm führt al-Dschurdschani zur Einsicht in die syntaktischen Regularitäten (qawanin an-nahw) des Arabischen. Der nazm des Korans und

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der menschlicher Werke werde von denselben syntaktischen Gesetzen regiert, der Unterschied in der Ausdrucksweise bzw. in der „Klarlegung“ (bayan) ist darin zu sehen, im welchem Ausmaß an Vollkommenheit sie angewandt würden (vgl. Abu Zaid 2008, 52). Der idschaz manifestiere sich nicht in den einzelnen Lexemen, nicht in der Ästhetik der Gedanken, nicht in den Redefiguren, nicht in den ungewöhnlichen Wörtern, nicht in der Versstruktur oder allgemein in der Makellosigkeit der Sprache, sondern vielmehr im nazm, in der Komposition (vgl. Kermani 2003, 255f.). Es sei die Kombinatorik bzw. Integration sprachlicher Ausdrücke, die Syntax, die den Koran unnachahmlich mache. In der perfekten Kombinatorik werde erst aus den Lexemen alles ‚herausgeholt‘, die Bedeutung vollumfänglich wiedergegeben, die Funktion optimal entfaltet. Man könnte hierbei von einer ästhetischen Grammatik sprechen: Wir sagen, daß der qualitative Überschuß (mazaya) ihnen (sc. den Mitmenschen Muhammads) im nazm des Koran erschien, daß es die Eigenheiten waren, die sie in der Verknüpfung der sprachlichen Ausdrücke (alfaz) vorfanden, die sie unfähig zu jeder Reaktion, jedem Widerstand gemacht haben; wir sagen, daß es die Wort- und Sinnfiguren (badai) in den einzelnen Bestandteilen der Verse waren, die sie mit Schauder erfüllten, und daß jeder Ausdruck an seinen Platz und im Einklang mit den anderen war, und die Verwendung einer jeden Redensart und die Stellung jedes Prädikats und die Gestalt jeder Drohung, Ermahnung, Benachrichtigung, Erinnerung, Ermutigung und Warnung, und daß alles eine Begründung und einen Beweis, ein Attribut und eine Erläuterung hatte. Das alles hat sie verwirrt und gefesselt. Sie überprüften Sure für Sure, Abschnitt für Abschnitt und Vers für Vers, und sie fanden kein Wort, das nicht an seinem richtigen Ort gewesen wäre, keinen Ausdruck, der besser an einer anderen Stelle gestanden hätte oder durch einen anderen, ähnlichen oder besseren hätte ersetzt werden können, einen, der angemessener oder geeigneter gewesen wäre. (al-Dschurdschani, zit. n. Kermani 2003, 256)

Die Komposition bzw. die Kombinatorik erörtert al-Dschurdschani an zahlreichen Belegen aus dem Koran und der Dichtung. Der idschaz basiere beispielsweise in Sure 11:44 (wa-qila ya ardu blai maaki (…) /„Und es ward gesprochen: O Erde verschlinge dein Wasser (…)“, übers. von Kermani) exklusiv auf der Kombinatorik der Ausdrücke, auf der besonderen Art, wie sich der erste Ausdruck mit dem zweiten, der zweite mit dem dritten, der dritte mit dem vierten zu einer vollendeten, mustergültigen und unauflösbaren Einheit integrierte (vgl. Kermani 2003, 260). Ein einzelner Ausdruck allein (z. B. die lenkende Anredeform ya) habe nichts Unnachahmliches an sich, erst in der Verknüpfung mit dem Substantiv ard (,Erde‘), die laut alDschurdschani brillanter als das semantisch scheinbar synonyme ayyuhal-ard ist, und durch die Kombinatorik der anderen Ausdrücke entstünde die Wunderhaftigkeit (vgl. Kermani 2003, 260). Ein anderes Beispiel (übers. von Kermani): wa dschaalu li-llahi shurakaa l-dschinna (Koran 6:100) ‚Und sie machten zu Gottes Teilhabern die Dschinn‘.

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Die Positionierung der einzelnen Ausdrücke ist bewusst so realisiert, wie sie realisiert ist. Erst durch die Nachstellung von shurakaa (,Teilhaber‘), das auch vorangestellt werden könnte, erhält das Gesagte seine Vollständigkeit (vgl. Kermani 2003, 261). Die Voranstellung (wa dschaalu l-dschinna shurakaa li-l-lahi / ‚Und sie machten die Dschinn zu Teilhabern Gottes‘) führe zu einer Bedeutungsveränderung; dann könnte man nämlich das Frevelhafte der Handlung darin sehen, dass die Ungläubigen gerade die Dschinn zu Partnern gemacht haben (vgl. Kermani 2003, 261). Dies aber ist nicht intendiert. Die Ungläubigen werden angeklagt, dass sie Gott überhaupt Partner zur Seite stellen. Dies werde erzielt, indem das Substantiv shuraka als erster Mitspieler, als erstes Objekt zum Verb dschaala (,machen‘) platziert ist, während allah (,Gott‘) dort erscheint, wo eher das zweite Objekt (al-dschinn) zu erwarten wäre. Dadurch aber, dass der zweite Mitspieler des Verbs postponiert wird, bekommt er eine erklärende Qualität, er ist nicht das Essentielle des Verbalisierten (vgl. Kermani 2003, 262; ausführlicher 253ff.). Die sprachliche Schönheit des Korans wird auch von der westlichen Orientalistik (Rückert, Berque, Wild, Neuwirth, Bobzin) erkannt und gewürdigt. So schreibt der französische Orientalist Jacques Berque in seiner sehr lesenswerten Abhandlung Der Koran neu gelesen: Man muß [...] nicht unbedingt Muslim sein, um die einzigartige Schönheit, den Reichtum und die universale Bedeutung des Korantextes zu empfinden. (Berque 1996, 143)

In der Unnachahmlichkeit des göttlichen Wortes klingt latent auch seine eigentliche Unsagbarkeit an (vgl. Liebert in diesem Band, „Unsagbares“). Religionen haben anfangs die Nicht-Kommunikation zur Voraussetzung, das „Verstummen“ (Ehlich 2007, 286). Das Verstummen vor dem „Numinosen“ ist eine Folge der Berührung mit dem Transzendenten (vgl. Lasch in diesem Band). Religion bearbeitet dieses Verstummen in einer spezifischen Weise. Am Anfang jeder religiösen Kommunikation steht eine solche Bearbeitung in der göttlichen Zusage des „Fürchte Dich nicht!“. Dieser Anruf [...] ist eine zentrale Umwandlungsform des Verstummens und der damit einhergehenden kommunikativen Verstörung in einer Begegnung mit etwas Inkommensurablem, das, als von außen kommend, in jede mögliche Kommunikation einbricht. (Ehlich 2007, 286)

Das Berufungserlebnis Muhammads, sein erster Kontakt mit der transzendenten Sphäre, ist ebenfalls durch eine solche Stagnation ausgezeichnet, wie die islamische Tradition berichtet. Der Koran spielt auf die Überwältigung Muhammads an, die mit Zittern bzw. Verstummen einhergeht, nachdem ihm der Erzengel Gabriel erscheint: „O du (im Mantel) Verhüllter“ (73:1) und „O du (mit deinem Mantel) Bedeckter“ (74:1) (übers. von Henning). Bemerkenswerterweise thematisiert der Koran selbst die Unsagbarkeit des Gotteswortes – in überwältigenden Naturbildern (vgl. Abschnitt 3.4):

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Wenn auf Erden aus Bäumen Schreibrohre würden und wenn für das Meer, wenn es erschöpft ist, sieben Meere Nachschub brächten, so wären Gottes Worte unerschöpflich. Siehe, Gott ist mächtig, weise. (Koran 31:27, übers. von Bobzin)

Lasch/Liebert (2015, 485) machen darauf aufmerksam, dass das Sprechen über das Unaussprechliche eine basale Paradoxie religiöser Kommunikation konstituiert, denn das Unaussprechliche zeichnet sich ja dadurch aus, dass es eben nicht versprachlicht werden kann. Im Fall der Versprachlichung, der Exothese, ist das Unaussprechliche dann nicht mehr unaussprechlich. Die unnachahmliche, unerreichbare Sprache des Korans neutralisiert diese Paradoxie. Das eigentlich Unsagbare wird mit dem Koran sagbar gemacht.

1.3.2 Der Koran und die altarabische Dichtung Die Bewunderung des Korans fußt auch auf der „rhetorischen Innovation“ (Neuwirth 2010a, 753). Die heidnischen Araber werden mit „Techniken“ konfrontiert, die sie aus der altarabischen Dichtung (ausführlicher Jacobi 1987; Walther 2003, 38ff.) nicht kennen, obwohl diese als weit fortgeschritten gilt. In der koranischen Sprache wird die Sprache der altarabischen Dichter „veredelt“ (Berque 1996, 142). Auch wenn die Sprache des Korans nicht grundsätzlich von der Sprache der vorislamischen Dichtung differiert, gibt es erhebliche formale Unterschiede zu ihr (vgl. Bobzin 2014, 96ff.). Vergleich und Gleichnis spielen im Koran stilistisch eine bedeutende Rolle, die Metonymie, die in der vorislamischen Poesie (neben dem „Ersatzwort“, vgl. Bauer 2011, 254) häufig zum Einsatz kommt, hingegen nicht. Interessant ist, dass der Koran das Gleichnis explizit als solches benennt, was dafür spricht, dass Gleichnisse planvoll eingesetzt werden. Das Gleichnis ist eine indirekte Kommunikationsform, der transzendenten Sphäre haftet etwas Unbeschreibliches, Unsagbares an (vgl. Lasch/Liebert 2015, 485f.): Hätten Wir diesen Koran auf einen Berg herabgesandt, du hättest ihn sich erniedrigen und aus Furcht vor Allah sich spalten sehen. Diese Gleichnisse stellen Wir für die Menschen auf, auf daß sie nachdenklich werden. (Koran 59:21, übers. von Henning) Allah ist das Licht der Himmel und der Erde. Sein Licht ist gleich einer Nische, in der sich eine Lampe befindet; die Lampe ist in einem Glas, und das Glas gleich einem flimmernden Stern. Es wird angezündet von einem gesegneten Baum, einem Ölbaum, weder vom Osten noch vom Westen, dessen Öl fast leuchtete, auch wenn es kein Feuer berührte – Licht über Licht. Allah leitet zu Seinem Licht, wen Er will, und Allah macht Gleichnisse für die Menschen, und Allah kennt alle Dinge. (Koran 24:35, übers. von Henning)

Das wichtigste Merkmal des koranischen Verses ist der Reim. Im Unterschied zur altarabischen Dichtung sind die Verse des Korans aber nicht metrisch strukturiert. Der Koran ist in „Reimprosa“ realisiert. Die Unterschiede zum Reim in der Dichtung

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sind nicht als Nachlässigkeiten „im Vergleich zu den strengeren Konventionen der Dichtung zu verstehen, sondern hier handelt es sich um eine von der Dichtung deutlich unterschiedene neue Redeweise“ (Bobzin 2014, 97). Das Durchbrechen sprachlicher Erwartungshaltungen und Konventionen, die die Grundlage dessen bilden, was man die Ressourcen des Wissens über den Einsatz sprachlicher Mittel nennen könnte, lässt erst eine außergewöhnliche ästhetische Wirkung entstehen (vgl. Kermani 2003, 262) – der Koran durchbricht als einzelne Erscheinung die lange Reihe der Tradition (vgl. auch das Kozept der „longue duree“). Die rhetorische Innovation manifestiert sich am nachdrücklichsten in der „Schlussklausel“, die semantisch nicht in den Hauptstrang des zuvor Verbalisierten integriert ist und anstelle des Reimverses tritt. Sie verweist metatextuell auf die transzendente Welt: Wenn nun die weitgehend stereotyp gebaute Schlußklausel an die Stelle des reimenden Versausklangs getreten ist, so kommt das nicht nur einem stilistisch und mnemotechnisch relevanten Formwandel gleich, sondern auch einem Wandel der mit den Korantexten intendierten Funktionen. Mit der neuen Form einer mit eingestreuten Gotteserinnerungen, Wertungen oder Handlungsanweisungen durchsetzten Prosa-Rede ist ein wirkmächtiges stilistisches Medium sakraler Kodierung der Rede und zugleich ein theologisch einzigartig flexibles Mittel der Rückbindung innerweltlicher Zusammenhänge an den transzendenten Gott geschaffen. Die Versschlußklauseln sind ja nicht einfach Schlußmarkierer einer komplexen semantischsyntaktischen Sprecheinheit, sie sind in ihrer Mehrzahl zugleich und vor allem paränetische Aussagen über das im Hauptstrang Dargelegte, also metatextuelle Erinnerungen an die Quelle der Rede, an Gott selbst, oder zumindest an seine Weisungen und Wertsetzungen. (Neuwirth 2010a, 367f.)

Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Die, in deren Hause er [Josef] war, begehrte ihn für sich, sie verschloß die Türen und rief: Herbei mit dir. Er sprach: Gott behüte, er ist mein Herr, der mir meine Bleibe schön gemacht hat. Frevler gedeihen nicht. (Koran 12:23, übers. von Neuwirth 2010a, 368)

Mit der versschließenden Klausel Frevler gedeihen nicht, die semantisch von dem zuvor Gesagten abgekoppelt ist und einen Bruch in der Kontinuität des Gesagten markiert, wird eine transzendente Bezugnahme eingeführt. Sie „wendet die Rede Josefs aus dem innerweltlichen Zusammenhang – ein Betrug seines Herrn wäre ein Akt der Undankbarkeit – zum Transzendenten“ (Neuwirth 2010a, 368, vgl. Neuwirth 2010a, 753ff. und 758ff.).

1.3.3 Exkurs: Poetizität und Unübersetzbarkeit des Korans Führt man sich die Lehre der rhetorischen Vollkommenheit vor Augen, leuchtet ein, weshalb der Koran Muslimen als unübersetzbar gilt. Hinzu kommt noch der arabische Sprachcharakter des Korans: Der Koran insistiert darauf, ein „arabischer Koran“ zu sein, ein nicht-arabischer Koran ist der koranischen Vorstellungswelt fremd

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(Abschnitt 1.3.4). Die Unübersetzbarkeitsdebatte ist auch vor dem Hintergrund einer theologischen Debatte über das Wesen des Korans zu sehen, in der sich die Ansicht der Unerschaffenheit des Korans durchsetzt. Die Lehren von der Unerschaffenheit, Unnachahmlichkeit und Unübersetzbarkeit entwickeln sich parallel: Unerschaffenes ist in einer anderen Form nicht rekonstruierbar, Unnachahmliches in eine andere Sprache nicht projizierbar (vgl. Özsoy 2010, 111f.). Von einem Übersetzungsverbot kann man dennoch nicht sprechen. Die poetische Form der Offenbarung ist sinntragend und -stiftend, nicht bloß äußeres Gewand. Nicht nur was verkündigt wird, ist von zentraler Wichtigkeit, sondern auch, wie es verkündigt wird. Der Sinn wird von seiner lautlichen Gestaltung mitdeterminiert, wie Jakobson in Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie (1961/1979) ausführt. Sprachmittel haben nicht nur eine kommunikativ-praktische Funktion, in der die Absicht des Sprechers auf das Bezeichnete ausgerichtet ist, sondern diese kann auch durch die „poetische Funktion“ überlagert werden, in der das Zeichen selbst fokussiert wird, die auf die Ästhetik des sprachlichen Ausdrucks abzielt. Die poetische ist stets eine ästhetische Funktion: Die Einstellung auf die BOTSCHAFT als solche, die Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen, stellt die POETISCHE Funktion der Sprache dar. (Jakobson 1960/1979, 92)

Wie wichtig die sprachliche Form des Korans ist, zeigt ein Vergleich zweier unterschiedlicher Übersetzungen der 112. Sure, in der vom Wesen Gottes die Rede ist: Sprich: Gott ist Einer, Ein ewig reiner, Hat nicht gezeugt und ihn gezeugt hat keiner, Und nicht ihm gleich ist einer. (übers. von Rückert) Sag: Er ist Gott, ein Einziger, Gott, durch und durch (er selbst)(?) (w. der Kompakte) (oder: der Nothelfer (?), w. der, an den man sich (mit seinen Nöten und Sorgen) wendet, genauer: den man angeht?) Er hat weder gezeugt, noch ist er gezeugt worden. Und keiner ist ihm ebenbürtig. (übers. von Paret)

Kermani (2003, 151) meint dazu: Für den Koran gilt, was Jakobson für die Poesie festgestellt hat: Er ist „unübersetzbar“; möglich ist allenfalls eine ,,schöpferische Übertragung“. Eine Sure wie die al-Iẖlāṣ [Sure 112, L. S.] läßt sich nicht in gewöhnlicher Rede wiedergeben, ohne daß man ihre Struktur zerstört. Dadurch aber wird nicht nur die Eleganz der Verse, der ästhetische Reiz vernichtet, wie man ohne weiteres zugeben wird, sondern auch die Botschaft oder, wie Lotman es nennt, die ,,Idee“ verändert.

Die Übersetzungsproblematik kann man auch an Sprachmitteln demonstrieren, die dem Arabischen inhärent sind. So kennt das Arabische – mit Jakobson (1961/1979, 237) gesprochen – bestimmte „grammatische Figuren“, die aber dem Deutschen als Zielsprache der Übertragung fremd sind. So etwa die und-Iteration (arab. wa), die typisch für die koranische Sprache ist, im Deutschen aber eine Redundanz, eine

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Gleichförmigkeit erzeugt (vgl. Selmani 2012, 243ff.). In vielen deutschen Übersetzungen wird der häufige und-Gebrauch, der charakteristisch für einen mündlichen Stil ist, umgangen, auch bei Rückert, dessen Übersetzung poetisch nah am arabischen Original ist: idha asch-schamsi kuwirat / Wann die Sonne sich wird ballen, / wa-idha an-nudschumu nkadarat / Die Sterne zu Boden fallen, / wa-idha al-dschibalu suyirat / Und die Gebirge wallen, / wa-idha al-ischaru ut-tilat / Der Meere fluten schwallen (...). (Koran 81:1–4)

Der häufige und-Gebrauch hängt mit dem Nominalsatz zusammen, der dem Deutschen auch fremd ist. Nominalsätze enthalten kein Kopulaverb (sein, werden, bleiben), die Prädikation wird nicht durch ein verbales Element mitgetragen, sondern exklusiv von nicht-verbalen Einheiten, vorzugsweise von nominalen (Substantive, Adjektive). Prädikative Strukturen werden im Arabischen direkt auf das Substantiv bezogen, ohne Unterstützung des Kopulaverbs. Der Adressat muss weniger Ausdrücke verarbeiten – etwas, was seinen Verarbeitungsprozess beschleunigt. Die Übersetzung von Karimi (2009), die eine poetische Übertragung ist, verzichtet an vielen Stellen auf Kopulasätze und übersetzt den arabischen Nominalsatz mit einem deutschen ,Nominalsatz‘, um es dem Leser zu ermöglichen, die syntaktische Struktur des Arabischen nachzuempfinden: Das Lob Gott, dem Herrn der Welten (...) (Koran 1:1), Dies die Schrift, darin kein Zweifel (...) (Koran 2:2), Dies die Zeichen der Schrift (...) (Koran 12:1)

Eine andere „grammatische Figur“ des Arabischen ist das nachgestellte attributive Adjektiv, das im Deutschen nur in älteren Sprachstufen produktiv war. Die Reihenfolge ist im Arabischen zentripetal, im Deutschen zentrifugal. Das postponierte Adjektiv operiert retrospektiv auf das links stehende Kopfsubstantiv, die Verarbeitung erfolgt in einer „Nachschau“. Vorangestellte Adjektive dagegen operieren prospektiv auf den Bezugsausdruck, die Voranstellung ermöglicht es dem Adressaten, in einer „Vorschau“ etwas Abstraktes vor seiner Perzeption zu konkretisieren. Die Einengung des mit dem Nomen Gemeinten wird also unterschiedlich im Wissen prozessiert. In Karimis Übersetzung wird die Nachstellung des Adjektivs konsequent beibehalten: Dies die Zeichen der Schrift, der offenkundigen. (Koran 12:1), Wahrlich, das ist die Wahrheit, die sichere. So preise den Namen deines Herrn, des gewaltigen! (Koran 56:95–96), Sag: Was meint ihr, wenn versiegt euer Wasser, wer bringt euch dann Wasser, hervorquellendes? (Koran 67:30)

Diese „grammatischen Eigenarten“ bzw. diese „individuellen Ausdrücke“ (Jakobson 1961/1979, 251) der arabischen Sprache ließen sich beliebig fortführen. Kermani (2003, 154) bezeichnet eine Übertragung des Korans, die seine sprachliche Schönheit nicht berücksichtigt, als eine Entstellung. Er hat dabei die Übersetzung von

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Paret im Blick, die in der Orientalistik als philologisch zuverlässigste gilt, die aber „von der Ästhetik des Korans rein gar nichts vermittelt“ (Wild 1997, 106). Im deutschsprachigen Raum bewahrt insbesondere die Übersetzung von Rückert (2001) die Poetizität des Korans, die eine „geniale Anverwandlung“ des arabischen Originals ist: „Wer einen Schatten der Schönheit des Korans erhaschen will, greife also als deutscher Leser zu Rückert“ (Wild 1997, 106). Die Übertragung von Rückert ist bisher unerreicht. Hier ein Beispiel (Sure 81: ,Die Ballung‘): Wann die Sonne sich wird ballen, Die Sterne zu Boden fallen, Und die Gebirge wallen, Der Meere Fluten schwallen; Wann Zuchtkamele sind unverwahrt, Und die wilden Tiere geschaart, Und die Seelen wieder gepaart; Man das lebendige begrabene wird fragen, Um welche Schuld es sei erschlagen; Und die Bücher sind aufgeschlagen; Wann der Himmel wird abgedach’t, Und die Hölle wird angefacht, Und der Garten herangebracht; Wird eine Seele wissen was sie dargebracht. Soll ich schwören bei den Planeten, Den wandelnden, den unsteten? Und bei der Nacht der öden? Und der athmenden Morgenröthe? Das Wort ists eines Boten werth, Eines Boten stark, der steht beim Herrn des Throns geehrt, Eines Gebieters treu bewährt. Nicht euer Landsmanm irrt noch thört. Er sah ihn in der Höh verklärt, Und will mit dem nicht geizen was er sah und hört’. Das Wort nicht ist es dessen der sich hat empört. Wo rennt ihr hin verstört? Es ist nur eine Mahnung an die Welten, Dem wer von euch will lassen die Wahrheit gelten, Ihr aber wollet nicht, wenn nicht will Gott, der Herr der Welten.

Anders als Paret versucht Bobzin in seiner neuen Koranübersetzung (ausführlicher zu Koranübersetzungen Bobzin 2006) der Sprache des Korans gerecht zu werden, „eine gehobene, stark literalisierte Sprachebene zu finden“, zu einer „‚würdigen‘ Sprache gehört vor allem die äußere Sprachform“ (Bobzin 2013, 134f.). Trotz seiner sprachlichen Schönheit und obwohl seine Form eine poetische ist und er ästhetisch rezipiert wird, versteht sich der Koran nicht als Dichtung: Wir haben ihn (Mohammed) nicht das Dichten gelehrt und es kommt ihm nicht zu. Das ist nur erinnernde Mahnung und ein deutlicher Koran. (Koran 36:69, übers. von Zirker)

Der Koran bezeichnet sich selbst als „schönste Kunde“ (ahsan al-hadith). Von ihm geht eine kathartische Wirkung aus. Die Hörer sollen zur Einkehr, zur Einsicht bewegt werden: Allah hat die schönste Geschichte hinabgesandt, ein Buch in Einklang mit sich, eine Wiederholung. Vor ihm schrumpft die Haut derer zusammen, die ihren Herrn fürchten. Alsdann glättet sich ihre Haut und ihr Herz bei dem Gedenken Allahs. Das ist Allahs Leitung, mit welcher Er leitet, wen Er will, und wen Allah irreführt, der hat keinen, der ihn leitet. (Koran 39:23, übers. von Henning)

Koran und Poesie überschneiden sich in der Form (Sprache als Medium), nicht in der Funktion (im weiteren Sinne). Die im Koran verbalisierte Intention des Senders ist die „einer wirklichen, auf eine außertextuelle Instanz verweisenden Mittteilung“, der Koran ist nicht autonom (wie für die Poesie häufig reklamiert); die Inhalte des

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Korans sollen nicht als ästhetisch, sondern in erster Linie als wahr identifiziert werden (vgl. Kermani 2003, 166). Insofern verbietet es sich, von einer „poetischen Prophetie“ (Neuwirth 2011, 15ff.) zu sprechen. Wichtig ist festzuhalten, dass der Koran Dichtung nicht verwirft. Diese Verse sind vor einem bestimmten Hintergrund zu lesen. Wenn der Koran betont, keine Dichtung zu sein, obgleich die Aussage eine generelle Gültigkeit hat, so ist das im Kontext der Kultur zu sehen, in die er gestellt ist. Das Wort richtet sich an die Araber, die dem Propheten unterstellen, dass er ein Dichter, dem ein Kontakt zur übermenschlichen Welt nachgesagt wird, der Koran bloß Dichtung sei. Das wird u. a. dann deutlich, wenn man ihn für einen Wahrsager und Besessenen hält (Koran 52:29). Ohne einen solchen Hintergrund ist diese explizite Zurückweisung schwer denkbar. Dass der Koran Dichtung nicht abqualifiziert, zeigt sich zudem daran, dass sie auch in nachislamischer Zeit prosperiert, z. B. während der umayyadischen Ära (660–750). Noch in der heutigen Zeit nimmt Dichtung in der arabischen Welt eine zentrale Rolle ein, sie ist identitätsstiftend und damit ein Teil ihrer Selbstwahrnehmung. Der Koran hat also die arabische poetische Tradition nicht tangiert. Die Annahme, dass der Koran nicht übersetzbar ist, fußt nicht nur auf seiner ästhetischen Form. Bauer (2011, 140ff.) begründet die Unübersetzbarkeit vielmehr mit der Ambiguität des heiligen Textes. Eine Übersetzung stellt eine Reduktion dar, der übersetzte Offenbarungstext ist disambiguierend. Der Ambiguitätsverlust schränkt das Bedeutungspotenzial ein: Wenn nun die Ambiguität des Textes als dessen wesenhafter Bestandteil betrachtet wird, bleibt in der Übersetzung in der Tat nur ein Text übrig, der um wichtige Dimensionen reduziert wird. (Bauer 2011, 140)

Eine Übersetzung ist damit stets eine Vereindeutigung des Mehrdeutigen und damit eine Exegese, die dem Deutungspielraum entgegenarbeitet und enge Grenzen zieht. Übersetzungen sind also Ausdeutungen. In diesem Kontext ist die von Muslimen oft vorgetragene Übersetzungsscheu zu verstehen. Übersetzungen sind in zweierlei Hinsicht Deformationen des Originals: formal-ästhetisch und inhaltlich. Dies sind die Gründe, warum der Koran von Muslimen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht in eine andere Sprache übersetzt wurde – „ein einmaliges Faktum“ in der Religionsgeschichte (vgl. Bobzin 2013, 129). Özsoy (2010, 117ff.) macht mit Blick auf die Übersetzungsproblematik auf einen Aspekt aufmerksam, der in der Diskussion kaum Beachtung findet. Der Übersetzung muss vorausgehen, wie man sich hinsichtlich der Form des Korans positioniert, was ein hermeneutisches Problem darstellt: Es ist der Frage nachzugehen, ob der Koran ein Text oder ein Diskurs ist (Abschnitt 2.2). Konstitutive Merkmale des Textes (Abgeschlossenheit, Anordnung der Suren, die einer inneren Logik folgen, keine Widerholungen usw.) lassen sich am Koran nicht festmachen. Also ist der Koran kein Text (vgl. Özsoy 2010, 119). Der Koran ist als mündlicher Text zu verstehen. Diese

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Einsicht muss in den Übersetzungsvorgang einfließen. Anders als beim Text gibt der Diskurs, der eine Ansammlung von Sprechakten ist, seinen außertextuellen Kontext nicht wieder: Wenn wir uns dies bewusst machen und diesen außertextuellen Kontexten zu erschließen suchen, agieren wir nicht mehr als Übersetzer, sondern als Dolmetscher. Der Übersetzer handelt mit Texten, die ihm vorliegen, der Dolmetscher aber mit Sprechakten, die er zu rekonstruieren und nachzufühlen versucht. (Özsoy 2010, 120).

Die bisherigen Übersetzungen transformieren den Diskurs in einen Text und berauben ihn seines ursprünglichen Charakters. Für den Diskurs ist die Kopräsenz des Hörers, der nicht bloß Empfänger ist, sondern ein mitdenkendes und mithandelndes Wesen, konstitutiv, die im Text aufgelöst wird. So sind Missverständnisse vorprogrammiert. Um diesen entgegenzuarbeiten, sollte man „schauen, was der Koran im damaligen geschichtlichen Kontext gesagt hat und wie sich dieses im Arabischen Gesagte in eine andere Sprach- und Kulturwelt übertragen lässt“ (Özsoy 2010, 120). Die Rekonstruktion des offenbarungsgeschichtlichen Umfeldes ist der erste Schritt zum Dolmetschen.

1.3.4 Die Arabizität des Korans Der Koran etabliert einen selbstreferentiellen Diskurs (vgl. dazu Wild 2006), er „ist sich selbst ein zentraler Gegenstand seiner Aussagen“ (Wild 1997, 99). Er ist „probably the most self-reflexive and self-referential foundational text of any world religion“ (Wild 2006a, 3). Diese Selbstreflexivität zeigt, „that it seems to be a text in dialogue with itself“ (Wild 2006a, 5). Der heilige Text qualifiziert sich selbst mit Attributen wie Leitung (Koran 2:2), Weisheit (Koran 10:1) oder Wohlgeordnetheit: Ein Buch, dessen Verse wohlgefügt sind, dann ausgelegt von Seiten eines Weisen, Kundigen […]. (Koran 11:1, übers. von Bobzin)

Der Koran ist Text und Metatext zugleich (vgl. Wild 1997, 101): Der Koran erzählt in wesentlichen Partien seine eigene Offenbarung, er schwört bei sich selbst, findet immer neue Selbstbezeichnungen, teil mit, zu welcher Zeit er offenbart wird, kurz: Er kreist immer wieder um sich selbst. (Wild 1997, 100)

Metasprachliche Verfahren sind im Koran häufig zu beobachten. So werden viele Suren mit Fragen eingeleitet, auf die im Laufe des Diskurses geantwortet wird: Wonach befragen sie einander? Nach einer gewaltigen Kunde, über die sie uneins sind. (Koran 78:1–3, übers. von Henning)

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Die Unvermeidliche (Stunde), was ist die Umvermeidliche? Und was lehrt dich wissen, was die Unvermeidliche ist? (Koran 69:1–3)

Auch der gezielte Einsatz von Gleichnissen, die explizit als solche benannt werden, weist auf das metasprachliche Operieren hin (Abschnitt 1.3.2). Jakobson (1960/1979, 92, 94) nimmt in seinem Funktionsschema des Sprechereignisses eine „metasprachliche Funktion“ an, die eine erläuternde ist. Eines seiner gewichtigen Themen ist seine eigene Kanonizität; der Koran „treibt selbst Exegese“ (Wild 1997, 101). In Sure 3 heißt es: Er ist es, der auf dich das Buch herabgesandt hat. Einige seiner Verse sind klar zu deuten – sie sind der Kern des Buches, andere sind mehrfach deutbar. Doch die, in deren Herzen Verirrung ist, die folgen dem, was darin mehrfach deutbar ist, um Zweifel zu erwecken und um es auszudeuten. Doch nur Gott kennt dessen Deutung […]. (Koran 3:7, übers. von Bobzin)

Dieser Koranvers, der die Exegeten von jeher besonders anregt, spielt auf den Auslegungsstreit unter den ersten Hörern zur Zeit des Propheten an; der Koran fungiert hier als schlichtende Instanz (vgl. Wild 1997, 101). Bemerkenswert ist, dass der Koran sich selbst eine partielle Mehrdeutigkeit bescheinigt. In ihm sind eindeutige (mukhamat) und mehrdeutige (mutashabihat, in deutschen Übersetzung oft auch mit dem weniger treffenden Adjektiv dunkel wiedergegeben) Verse. Da nur Gott, die Quelle des Korans, die wahre Auslegung dieser undurchdringlichen Verse kennt, bleibt die menschliche Exegese nur Versuch. Die Mehrdeutigkeit, die Ambiguität ist eine Gott gewollte. Bauer (2011) attestiert in seiner vielbeachteten Monographie dem Islam eine Kultur der Ambiguität, die im Laufe des Moderniesierungsprozesses der islamischen Kulturen destruiert wird. Die ursprüngliche Ambiguität mündet in Ambiguitätsintoleranz, die als ein dem Islam früherer Zeiten zuwiderlaufendes Phänomen herausgearbeitet wird. Einen besonderen Fall der Selbstreferenz stellt die metasprachliche Insistenz auf seiner Arabizität dar (vgl. Wild 2006b, Kassis 2006). Der Koran betont mehrfach, ein Buch „in klarer arabischer Sprache“ (bi-lisanin arabiyyin mubin) zu sein (26:195). Dies sind die Verse (w. Zeichen) der deutlichen Schrift. Wir haben sie (d. h. die Schrift) als einen arabischen Koran hinabgesandt. Vielleicht würdet ihr verständig sein. (Koran 12:1–2, übers. von Paret)

Arabisch ist für den Koran und die Muslime „more important than Hebrew was for the self-view of the Bible and the Jews – or Greek for the New Testament and Christians“ (Wild 2006b, 136). Asad (2013, 717, Fn. 86) ist der Meinung, dass sich die Araber zunächst weigern, die Gesandtschaft Muhammads anzuerkennen, weil sie nicht glauben, dass Gott einen aus ihrem Volk mit einer solchen Aufgabe betraut haben könnte. Die mehrmalige Insistenz auf seinem arabischen Sprachcharakter macht deutlich, dass die Kon-

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trahenten an ihn nicht glauben, obwohl die göttliche Botschaft klar (mubin) in ihrer Muttersprache, in der Sprache, die sie so hoch schätzen, versprachlicht ist. Wenn Wir gewollt hätten, daß diese (göttliche Schrift) ein Diskurs in einer nichtarabischen Sprache sei, sie (die sie nun verwerfen) hätten sicherlich gesagt: Warum sind diese Botschaften nicht klar auseinandergesetzt worden. Wie – (eine Botschaft in) einer nichtarabischen Sprache und (ihr Überbringer) ein Araber? (Koran 41:44, übers. von Asad)

Laut Wild (2006b, 140) attestiert das Arabische dem Koran aufgrund seines mantischen Charakters göttliche Autorität: Muhammed’s recitation used the rhymed language of pre-Islamic poets and seers. This language was marked as mantic, i. e., it was used when what a person spoke was in reality not his or her word, but emanated from a demonic, divine, or otherwise supernatural other. Muhammad claimed and some of his listeners believed that this recitation was of angelic or divine provenance.

Dass das Arabische die Sprache der Offenbarung ist, bedeutet nicht, dass sie ausschließlich Araber anspricht. Boten Gottes verkünden stets in ihrer Muttersprache: Wir sandten keinen Gesandten außer in der Sprache seines Volkes, damit er ihnen Klarheit schaffe. (Koran 14:4, übers. von Zirker).

Da Muhammad Araber ist, muss die Offenbarung in arabischer Sprache verbalisiert werden, damit die ersten Adressaten sie verstehen können (vgl. auch Abu Zaid 2008, 129). Das Arabische ist demnach nicht die Sprache Gottes (damit auch keine „heilige Sprache“, vgl. Bauer 2011, 231), sondern die Sprache, mittels derer Gott zu den Arabern spricht (vgl. Zirker 2012, 53). Bauer (2011, 139) zieht zur Erklärung des (Schein)Paradoxons, dass einerseits der Koran auf Arabisch herabgesandt und andererseits an die ganze Menschheit addresiert ist, die klassische Koranexegese azZamakhsharis (gest. 1144) heran: Hätte Gott seine Botschaft nicht nur in einer Sprache offenbart, hätte er sie zwangsläufig in sämtlichen anderen Sprachen offenbaren müssen (weil ja eine „repräsentative Auswahl“ nicht in Frage gekommen wäre). Dies hätte aber zu einem Übermaß an Verschiedenheit geführt. Die Offenbarung in nur einer Sprache ist also, um unsere Terminlogie zu verwenden, eine Art göttlicher Ambiguitätszähmung. Wenn die göttliche Botschaft aber nur in einer Sprache offenbart wird, dann naheliegenderweise in der des Propheten selbst, weil seine Volksgenossen ihm am nächsten stehen und ihn am besten verstehen.

Wild (2006b) zeigt, dass die koranische Insistenz auf seiner Arabizität mit der Kontrastierung der anderssprachigen Gestalt der vorangegangenen Offenbarungsschriften einhergeht. So wird seine Eigenständigkeit und Gleichrangigkeit herausgestellt. Der Koran unterscheidet sich von den vorangegangenen Offenbarungen nicht so sehr inhaltlich, „das spezifisch und einmalig Koranische [ist] vielmehr das Medium der Offenbarung, eben das Arabische“ (Wild 1997, 96).

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Die Form der Offenbarung hat einen wesentlichen Anteil an der Konstitution der Botschaftsbedeutung. Die religiösen Inhalte sind mit dem Medium verschmolzen. Sie können nur so ausgedrückt werden, wie sie im Koran ausgedrückt sind, weil die Sprache derart ausgereizt ist, wie sie kein Mensch je ausreizen könnte. Nur mit dieser kreativen Ausreizung lassen sich die Intentionen des Senders begreifbar machen, prägnant verbalisieren. Der Koran qualifiziert sich selbst mit den Attributen Klarheit (mubin) und Deutlichkeit (bayan). Diese Klarheit und Deutlichkeit kann nur dann erzielt werden, wenn die Sprache bis an ihre Grenzen – und darüber hinaus – geführt wird.

2 Arabisch im Alltag der Muslime 2.1 Einleitendes Die im 7. Jh. beginnende islamische Expansion ist zugleich auch eine Expansion der arabischen Sprache. Arabisch wird Amtssprache des islamischen Imperiums (Abschnitt 3.1). So wirkt es im Laufe der Zeit auf die Sprachen der eroberten Völker ein (z. B. Persisch, Berberisch). Persisch und Osmanisch bspw. werden (leicht modifiziert) in arabischer Schrift geschrieben. Die Wiederbelebung und Fortentwicklung der antiken Wissenschaften im Mittelalter durch muslimische Gelehrte verhelfen dem Arabischen zur Wissenschaftssprache, was seine Verbreitung maßgeblich fördert. Den breiten Massen der eroberten Völker wird der Koran nicht in ihren Muttersprachen nahegebracht. Die Missionierung erfolgt in der Sprache der Offenbarung, deren Authentizitätsbeweis sie ja ist. Von Anfang an sind die Muslime mit dem Arabischen konfrontiert (vgl. auch Bauer 2011, 226). Dadurch kommt es zu einer Institutionalisierung der arabischen Sprache, die durch die Institutionen gesichert und tradiert wird. Dieser ständige Kontakt mit dem Arabischen reicht bis in die Gegenwart hinein, denn der Koran nimmt im Alltag der Muslime eine herausragende Rolle ein. Am deutlichsten manifestiert sich das im Gebet (salat), das Muslime in arabischer Sprache verrichten. Die Übernahme der koranischen Vorstellungswelt führt außerdem dazu, dass koranische Termini zum festen Repertoire der Alltagskommunikation in der muslimischen Welt werden.

2.2 Arabisch als Gebetssprache Mit der Unnachahmlichkeit der Verkündigung geht ihre Unübersetzbarkeit einher. Der muslimischen Überlieferung zufolge soll der Prophetengefährte Salman der Perser die erste Sure des Korans ins Persische übertragen haben, um seinen Landsleuten den Zugang zu Gottes Wort zu erleichtern (vgl. Özsoy 2010, 111). Es wird aber

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unterstrichen, dass Original und Übersetzung nicht äquivalent sein können, weil die ästhetische Dimension verloren gehe. Von einem „Übersetzungsverbot“ kann dennoch nicht gesprochen werden: „Es war niemals Anliegen der islamischen Gelehrten, dem Volk das Heilige Buch vorzuenthalten oder die Menschen gar ‚verdummen‘ zu wollen“ (Bauer 2011, 142). Die Haltung gegenüber dem Arabischen des Korans begünstigt sicher, dass nicht in der Muttersprache gebetet wird, da man Gefahr liefe, die Botschaft zu deformieren. Dem klassischen Koranexegeten ar-Razi (gest. 1209) zufolge komme es sich keinesfalls gleich, „ob man den Koran nur den Inhalten nach kenne und im Gebet rezitiere oder ob man eben jene Ausdrücke [gemeint ist das arabische Original, L. S.] verwende“ (zit. n. Kermani 2003, 152) (eine ähnlich Diskussion wurde auch in Bezug auf das Lateinische als Messsprache lange geführt). Im Islam ist das Gebet ein institutionalisiertes Ritual, dessen Praktizierung in der Gemeinschaft (vor allem in der Moschee) bevorzugt wird (ausführlicher zum Gebet Leaman 2008a). Im Gebet kommt es zu einem Kontakt zwischen der transzendenten und menschlichen Welt. Das Gebet, in dem Suren des Korans (keine Hadithe) rezitiert werden, stellt für den Muslim eine religiöse Pflicht (fard) dar. Nicht wenige muslimische Theologen sind der Ansicht, dass für das Muslimsein die Verrichtung des Gebets konstitutiv ist. Es ist eine zentrale kommunikative Form der Verehrung und macht die Institutionalität der Religion greifbar (vgl. Lasch/Liebert 2015, 483). Im Koran gibt es keine einzige Stelle, in der die Gläubigen dazu aufgefordert werden, das ihnen auferlegte Gebet (z. B. Koran 2:43) in arabischer Sprache abzuhalten. Auch in den Aussprüchen des Propheten findet sich kein expliziter Hinweis darauf. Der wirkmächtige Theologe Abu Hanifa (gest. 767) etwa hat sich für die Verrichtung des Gebets in der Muttersprache ausgesprochen (vgl. Özsoy 2010, 113). Die von Muslimen angefertigten Koranübersetzungen spielen in der liturgischen Praxis keine Rolle. Für den bedeutenden mittelalterlichen Theologen asch-Schafi (gest. 820) ist ein in der Muttersprache verrichtetes Gebet nicht gültig: Jeder Muslim muß sich bemühen, soviel Arabisch zu lernen, wie er kann, so daß er zumindest in der Lage ist zu bezeugen, daß es keinen Gott gibt außer Gott und Mohammed Sein Diener und Gesandter ist, und er das Buch Gottes rezitieren und den takbir, tasbih, tashahud [das sind Elemente des Gebets, L. S.] und ähnliches aussprechen kann, wie es ihm als Pflicht auferlegt worden ist. (zit. n. Kermani 2003, 160)

Wie schwierig es sein kann, wenn man am Arabischen als lingua sacra rüttelt, zeigt der Fall der Türkei: Nach der Gründung der türkischen Republik im Jahre 1923 unternimmt der Staat Anstrengungen, den Islam zu „entsakralisieren“ und zu „nationalisieren“ (vgl. Özdoğan 2007, 196ff., Özsoy 2010, 114f.). Das Türkische soll in religiöse Riten Einzug erhalten. Das stößt auf erbitterten Widerstand der Gläubigen (vgl. Özdoğan 2007, 212). Nachdem die „Türkisierung“ des Gebets scheitert, wird 1933 beschlossen, dass der Gebetsruf in Türkisch zu erfolgen habe

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und jeder mit einer Haftstrafe belegt werden könne, der sich nicht daran halte – auch das kann langfristig nicht durchgesetzt werden: Im Jahre 1950 hebt die Regierung dieses Gesetz auf (vgl. Özdoğan 2007, 218). Warum bestehen Muslime aber darauf, auf Arabisch zu beten? Verehrungsakte könnten auch in der Muttersprache vollzogen werden. Der Hauptgrund ist wiederum in der sprachlichen Unnachahmlichkeit des Korans zu sehen. Die Unnachahmlichkeit inkludiert – wie in Abschnitt 1.3.1 gezeigt wurde –, dass die Sprache nicht nur Form bzw. Medium der Offenbarung ist, sondern auch die Bedeutung der Botschaft mit konstituiert. Anhand der Sprache wird die göttliche Qualität der Mitteilung verdeutlicht. Die Unnachahmlichkeit hat zwangsläufig die Konstitution einer lingua sacra zur Folge, die im Gebet zum Ausdruck kommt. Mit lingua sacra ist nicht gemeint, dass das Arabische eine „heilige Sprache“ ist (in der koranischen Vorstellungswelt kommt nur Gott Heiligkeit zu), sondern vielmehr, dass im Gebet, das ja eine heilige Handlung ist, der Sprache des Korans eine besondere Rolle zukommt. Es sind die „Worte“ Gottes, die einen heiligen Status haben, das Arabische ist das Medium, durch das sie fließen, und damit nicht heilig. Hamidullah (1988), der das Arabische als „Muttersprache der Muslime“ bezeichnet, nennt mehrere Gründe, warum Arabisch als Sprache des Gottesdienstes verwendet werden sollte. Neben der Tatsache, dass Arabisch die Verkündigungssprache ist, ist der Öffentlichkeitscharakter des Gebets von Bedeutung, das vorzugsweise in der Gemeinschaft (dschamat) ausgeführt wird (vgl. Abschnitt 1.2). Eine einheitliche Sprache fördere den Gemeinschaftsgeist der Muslime. Betete jeder Muslim in seiner Muttersprache, so käme es in mehrsprachigen Gesellschaften zu Spannungen, denn „man darf auch nicht den psychologischen Standpunkt des Menschen übersehen, der manchmal kleinliche Vorurteile des Fremdenhasses hegt“ (Hamidullah 1988, 360). Dies führe dazu, dass die Anderssprachigen sich ausgegrenzt fühlten. Die (einheitliche) arabische Gebetssprache wirke diesen Tendenzen entgegen, denn in „einer Weltreligion aber müssen gewisse grundlegende Dinge allen Gläubigen gemeinsam sein“ (Hamidullah 1988, 360). In der einheitlichen Gebetssprache kommt der Aspekt der Institutionalität zum Vorschein. Ein in der jeweiligen Muttersprache der Gläubigen verrichtetes Gebet führt danach zu einer Deinstitutionalisierung. Man könnte meinen, dass nichtarabische Muslime den Koran nicht verstünden und damit nicht wüssten, was sie überhaupt im Gebet rezitierten (vgl. z. B. Jastrow 2005, 789). Die nichtarabischen Muslime aber als völlig Ahnungslose zu bezeichnen, ist irreführend. Praktizierende Muslime verfügen über religiöses Wissen. Sie suchen regelmäßig Moscheen auf, in denen koranische Inhalte in der Muttersprache vermittelt werden (z. B. in der Freitagspredigt). Zudem können Übersetzungen konsultiert werden. Das Auswendiglernen koranischer Passagen stellt ebenfalls kein großes Hindernis dar. Es gibt reichlich kurze Suren, die in wenigen Stunden auswendig gelernt werden können, weil der Koran in Reimen abgefasst ist:

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wa-l-adiyati dabhan / Die schnaubenden, die jagenden, / wa-l-muriyati qadhan / Mit Hufschlag Funken schlagenden, / wa-l-mughirati subhan / Den Morgenangriff wagenden, / fa-atharna bihi naqan / Die Staub aufwühlen mit dem Tritte, / fa-wasatna bi-hi dschaman / Und dringen in des Heeres Mitte! (Koran 100:1–5, übers. von Rückert)

Zudem ist die Bedeutung der Kurzsuren vielen bekannt. Folglich kann nicht behauptet werden, dass es nur ein mechanisches Aufsagen, ein bloßes Reproduzieren von Unverstandenem sei. Ein weiterer Grund, dass auf Arabisch gebetet wird, könnte in der Rezeptionserfahrung, in der realen Wirkung des Korans auf die Muslime liegen. Die Rezeptionserfahrung wird durch die sprachliche Unerreichbarkeit hervorgerufen. Im Islam hat sich aufgrund dessen eine Kultur der Koranrezitation und des Koranhörens (vgl. Abu Zaid 2008, 137) herausgebildet – etwas, was bei anderen heiligen Texten nicht zu beobachten ist. Der Koran hat eine mündliche und eine akkustische Dimension (vgl. Abu Zaid 2008, 142). Das kunstvolle Rezitieren des Korans (Orthoepie, tadschwid) hat (wie das Auswendiglernen auch) eine lange Tradition (vgl. Kahteran 2008). Die Rezitation ist von einzigartiger und ausgewogener Komplexität; der Koran hat eine eigene Musikalität – gemeint ist eine übernatürliche –, weswegen eine Rezitation zu komponierten Melodien abzulehnen ist (vgl. Kermani 2003, 196). Hier wird klar, dass der Koran seine volle Wirkung nur dann entfalten kann, wenn die Form, das Wie der Offenbarung, Berücksichtigung findet. Form und Funktion interagieren, zwischen ihnen gibt es eine dialektische Wechselwirkung (vgl. Abschnitt 1.2). Der Koran wird gesungen – das ist im Koran so angelegt. Aus diesem Grund übersetzt Rückert den koranischen Aufruf rattili lkurana tartilan (73:4) richtigerweise mit ,,sing den Koran ab sangweise“. Der Koran empfiehlt, ihn im Gebet nicht zu laut und nicht zu leise zu rezitieren, was seinen anzupassenden Rezitationscharakter unterstreicht. So heißt es im Koran: Sprich: Rufet Ihn Allah an oder rufet Ihn an ar-Rahman [Der Erbarmer] – wie ihr Ihn auch anrufen mögt, Sein sind die schönsten Namen. Und bete nicht zu laut und auch nicht zu leise, sondern halte den Weg dazwischen inne. (Koran 17:110, übers. von Henning)

Viele (gebildete) Muslime können den Koran auf Arabisch lesen (oder haben doch Passagen auswendig gelernt, die jederzeit abrufbar sind). Das Koranlesen bringt Segen. Heute finden in der islamischen Welt regelmäßig Weltmeisterschaften in Koranrezitation statt, an denen auch nicht arabischsprachige Muslime teilnehmen. Kermani hat in seiner eingehenden Studie (2003) eindrucksvoll gezeigt, welche ungeheure, faszinierende Wirkung die Sprache des Korans, sein Klang auf die Hörer hat. Diese Wirkung kann nur dann entfaltet werden, wenn die Hörer den Koran in seiner ursprünglichen Form rezipieren. So glauben Koranrezitatoren, man könne nur durch den Klang der Rezitation denen, die des Arabischen nicht mächtig sind, die Bedeutung der Offenbarung kommunizieren (vgl. Kermani 2003, 188). Durch

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aufmerksames Hören des Korans können die Gläubigen der Barmherzigkeit Gottes teilhaftig werden, worauf der Koran selbst anspielt: Und wenn der Koran vorgetragen wird, dann hört zu und haltet (solange) Ruhe! Vielleicht werdet ihr Erbarmen finden. (Koran 7:204, übers. von Paret)

Das Hören ist hier nicht als ein passives Aufnehmen zu verstehen, „es stellt vielmehr den inneren, intimen und von Herzen gefühlten Akt des Verstehens dar“ (Abu Zaid 2008, 137). Die von der Koransprache ausgehende Ergriffenheit wurde schon am Beispiel des altarabischen Dichters Labid kurz skizziert (vgl. Abschnitt 1.3.1). Einen solchen Einfluss hat der Koran heute noch. Die einer Koranrezitation Beiwohnenden brechen in Tränen aus, stoßen Schreie aus, fallen in Ekstase (was den Geistlichen missfällt, weil die Menschen stärker von der Melodie als von den Inhalten des Korans angezogen werden) (vgl. Kermani 2003, 194). Es kommt zu einem „ästhetischen Erleben des Korans“: Wieviele Augen haben sich mit Tränen und wieviele Herzen mit Ehrfurcht gefüllt, da der Koran über diese Herzen geströmt ist […] wie erzeugt der Koran diese Magie, die den Geist verwirrt und das Herz schüttelt. Durch seine Ausdrücke? Seine Sinninhalte? Durch beides? […] Der Nerv, der alles berührt, […] ist die offenkundige und verborgene Musik in den Versen des Koran. (Nelson, zit. n. Kermani 2003, 196)

Die Reaktion der ersten Hörer ist das Weinen. Die „plötzliche Erkenntnis der Wahrheit“ (Wild 1997, 94) führt zur Fassungslosigkeit, denn den Menschen offenbart sich ein richtender Gott. Über das Weinen der ersten Hörer berichtet auch der Koran: Und wenn sie hören, was hinabgesandt ward zum Gesandten, siehst du ihre Augen von Tränen überfließen infolge der Wahrheit, die sie darin erkennen, indem sie sprechen: Unser Herr, wir glauben; so schreib uns ein unter jene, die es bezeugen. (Koran 5:83, übers. von Henning)

Wie bezaubert, aber auch fassungslos auf den Wohlklang des Korans reagiert werden kann, zeigen insbesondere die islamischen Mystiker, die Sufis, die der Sprache (und insbesondere dem Arabischen) eine magische Kraft zuschreiben. Die mystische Literatur berichtet von vielen Fällen, in denen die Hörer in Ohnmacht fallen oder gar sterben (vgl. Wiesmüller 2002). Im Gebet, dem „Kommunikationskanal“ (Abu Zaid 2008, 140) zwischen Mensch und Gott, wird die Mündlichkeit, die Diskursivität (mit dem hier verwendeten Diskursbegriff ist „Gespräch“ bzw. „Vortrag“ gemeint) des Korans am stärksten manifest (vgl. Abu Zaid 2008, 142, 162ff., Kermani 2003, 175ff., Kellermann 1995). Ursprünglich wurde der Koran von dem Propheten und seinen Gefährten mündlich vorgetragen und tradiert. Die Vertextung erfolgte später. Sie dient lediglich der Bewahrung des Textes, wodurch sich das traditionelle Auswendiglernen als Grundlage der primären Kommunikationsform erklären lässt. Hier wird deutlich,

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dass im arabischen Kulturraum eine orale Tradition vorherrscht, nicht eine scribale (wie im abendländischen Kulturkreis). Die muslimische Tradition registriert diese beiden Dimensionen des Korans mit unterschiedlichen Termini. Eine Unterscheidung legt der Koran selbst nahe (vgl. Wild 1997, 100). Mit Koran wird die ursprüngliche Existenzform, seine Diskursivität, bezeichnet; die Materialisierung, die schriftliche Fixierung (die „Grammatisierung der Religion“ (Ehlich 2007, 293)) dagegen wird mushaf genannt (vgl. Neuwirth 2010b, Bobzin 2014, 106ff., Arkoun 1999, 73ff., Abu Zaid 2008, 165ff.). Texte stellen pragmatisch „zerdehnte Sprechsituationen“ (Ehlich 1984) dar. Im Gebet wird der „Textraum“ verlassen und durch einen „Sprechzeitraum“ ersetzt, die Zerdehung wird dadurch aufgehoben. Das dem Verkünder Verkündete ist nicht mehr in einem Fernbereich, sondern befindet sich nah an der „Origo“ (Bühler 1943/1999). Laut Abu Zaid (2008, 142f.) entsteht im Gebet eine „Semi-[Offenbarungs]-Situation“. Das Gebet als stabilisierende rituelle Handlung dient der Vergegenwärtigung und macht diesen Ort der Eigengesetzlichkeit auch zu [einem Ort] der Eigenzeitlichkeit: Rituale sind zeitlich unmittelbar, gestalten aber die Gegenwart durch die Vergegenwärtigung des Vergangenen (Lasch/Liebert 2015, 483f.).

Vergegenwärtigt wird die Offenbarungssituation, die göttliche Entäußerung. Die Vergegenwärtigung kann nur mittels der arabischen Sprache realisiert werden. Denn Arabisch ist das Medium, der Kanal der himmlischen Offenbarung. Die Praxen Verkündigung und Verehrung sind in Riten eingebettet: Die im Ritual zum Einsatz kommende Sprache wird so für spezifische Zwecke funktionalisiert (vgl. Lasch/Liebert 2015, 484).

2.3 Koranisches Vokabular im Alltag Der Islam ist nicht nur eine Religion, sondern auch eine Lebensform, was sich auch sprachlich im Gebrauch religiöser Ausdrucksformen manifestiert. Es ist die mündliche und akkustische Dimension des Korans, die das „koranische Gepräge“ der Sprachen der islamisierten Völker begünstigt (vgl. Abu Zaid 2008, 149). Aufgrund der rituellen Rezitation des Korans dringt die Sprache des Korans in den Alltag ein. Auch heute bedienen sich alle Muslime eines koranischen Vokabulars, das in den unterschiedlichsten Alltagssituationen zum Einsatz kommt. Exemplarisch wird nur auf einige Ausdrücke bzw. Idiome eingegangen, die eine hohe Vorkommensfrequenz haben. Solche Formeln gehören zum Grundbestand muslimischer Ausdrucksweisen. Der Gebrauch solcher Formeln kommt (häufig) Verehrungsakten nahe. Alle Muslime nennen Gott Allah (wörtl. der Gott). Allah verhält sich grammatisch wie ein Eigenname. Das Substantiv (illah) ist mit dem Artikel (al)

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verschmolzen, zu einem Ausdruck grammatikalisiert (al-lah). Allah lässt sich gramgrammatisch nicht pluralisieren. Hierin schlägt sich die im Koran so oft herausgestellte Einheit Gottes nieder (Abschnitt 1.2). Unter Muslimen gilt die einzelsprachliche Bezeichnung als verpönt, obwohl aus theologischer Sicht nichts dagegen spricht. Heute ist der Gottesname mit unterschiedlichen Bedeutungen in vielen Sprechhandlungen des Alltags präsent. Er kann z. B. Bewunderung für eine schöne Stimme, ein außergewöhnliches Ereignis oder auch (mit spezifischer Intonation) Missfallen und (bei mehrfacher Wiederholung) Spott zum Ausdruck bringen. In diesen Gebrauchsweisen hat er keine religiöse Bedeutung, sondern hier liegt eine Umfunktionalisierung, eine Zweckverschiebung vor: Der Ausdruck Allah wird als „Abtönungspartikel“ reanalysiert. Abtönungspartikeln sind typisch für die mündliche Sprache und drücken Einstellungsstrukturen des Sprechers zum Gesagten aus (z. B. wohl, halt, eben im Deutschen) (ausführlicher zu Allah Saritoprak 2008). Der islamische Friedensgruß (as-salamu alaikum / ,Der Friede sei mit euch‘) ist weit verbreitet und nicht nur unter muslimischen Arabern gebräuchlich. Laut Koran werden die ins Paradies Eintretenden mit diesem Gruß empfangen: Edens Gärten, in die sie eintreten sollen nebst den Rechtschaffenen von ihren Vätern, ihren Frauen und ihrer Nachkommenschaft; und die Engel sollen eintreten zu ihnen von allen Toren (und sprechen): Frieden sei auf euch, darum daß ihr standhaft bliebet. Und schön ist der Lohn der Wohnung […]. (Koran 13:23–24, übers. von Henning)

Der Friedensgruß wird nahezu bei jeder Begegnung ausgesprochen. Der Gegengruß lautet (wa) alaikum as-salam (,Mit euch sei der Friede‘). Es gilt als eine grobe Unhöflichkeit, wenn der Friedensgruß nicht erwidert wird. Die basmala-Formel ,Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers‘ (bi-smi llahi r-rahmani r-rahim) kommt in unterschiedlichen alltäglichen Situation zum Einsatz. Mit ihr soll Segen erbeten werden. Jede Sure des Korans (mit Ausnahme der 9.) beginnt mit der basmala. In einem Hadith des Propheten heißt es, dass „jede Aussage und jede nennenswerte Handlung unvollständig ist, wenn ihnen nicht die Nennung des Gottesnamens vorangeht“ (vgl. Abu Zaid 2008, 151). So sprechen Muslime diese religöse Formel, wenn sie einen Raum betreten, ein Buch aufschlagen oder den Motor eines Autos anlassen, und vor allem vor dem Essen. Viele muslimische Autoren – und nicht nur die klassischen – beginnen ihre Texte mit der basmala (vgl. detaillierter Wild 2008). Bei al-hamdu li-llah (,Der Dank/das Lob gebührt Gott‘) handelt es sich um einen Nominalsatz. Al-hamdu li-llah antworten Muslime, wenn sie nach ihrem Wohlbefinden gefragt werden, unabhängig davon, ob es ihnen gut oder schlecht geht. Dieses Idiom hat die Illokution des Dankens. Die Dankbarkeit gegenüber Gott ist im Islam eine zentrale Haltung. Alles, was den Menschen widerfährt, kommt von Gott. Der fromme Muslim erträgt jeden Zustand und hadert nicht mit Gott. Das bedeutet ja Islam (,die völlige Hingabe an Gott‘). Die erste Sure des Korans, die

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Fatiha (,Die Öffnende‘), beginnt mit der Lobpreisung Gottes: „Lob sei Allah, dem Herrn der Welten […].“ Sprechen Muslime über Zukünftiges oder einen Vorsatz, fügen sie dem Gesagten stets insha allah (,So Gott will‘) hinzu. Im Koran heißt es: Und sprich von keiner Sache: Siehe, ich will das morgen tun, Es sei denn (du setzest hinzu): So Allah will. Und gedenke deines Herrn, wenn du es vergessen hast, und sprich: Vielleicht leitet mich mein Herr, daß ich diesem (Ereignis) mit Richtigkeit nahekomme. (Koran 18:23–24, übers. von Henning)

Mit dem Optativ insha allah wird die Illokution des Wunsches realisiert. Damit das Gewünschte eintrifft, wird die Erlaubnis Gottes erbeten. Sprecher können mittels insha allah zudem zum Ausdruck bringen, dass sie die Wahrscheinlichkeit des Zutreffens eines Ereignisses als gering einschätzen, wobei dann eine „Modalpartikel“ vorliegt. Bei dem Anblick von etwas Schönem (z. B. bei Kleinkindern) wird die Formel ma sha allah (,Was Gott will‘) eingesetzt. Dieser Gebrauch geht auf ein koranisches Gleichnis zurück, in dem von einem prächtigen Garten die Rede ist: Und warum, als du deinen Garten betratest, sprachst du nicht: Was Gott will! (Koran 18:39, übers. von Henning)

Gott wird als Urheber dieser Schönheit gepriesen, um den „bösen Blick“ (im Volksislam) abzuwehren. Mit diesem Exklamativ wird die Illokution eines Anrufs verbalisiert. Der Einfluss des Arabischen äußert sich darüber hinaus in Eigennamen. Muslime tragen Namen, die aus der klassischen Zeit stammen. Sehr beliebt sind unter Sunniten der Name des Propheten und die Namen seiner Gefährten (sahaba). Charakteristisch für arabisch-islamische Eigennamen ist, dass sie auch als Gattungsnamen gebraucht werden können, wodurch die Bedeutung transparent bleibt: Muhammad (,der Gelobte‘), Ali (,der Hohe‘) usw. Mit dem Gebrauch als Eigenname, der einen Grammatikalisierungsprozess darstellt, wird die ursprüngliche Bedeutung abstrahiert. Besonders beliebt sind Namen, die sich aus abd (,Diener‘) und einem der „schönsten Namen“ Gottes (asma al-husna) zusammensetzen, z. B. Abdalaziz (,Diener des Liebenswürdigen‘), Abdarrahman (,Diener des Erbarmers‘) oder Abdallah (,Diener Gottes‘).

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3 Ausblick: Arabisch als vollkommene Sprache 3.1 Rückblick: akribische Philologie und Kodifizierung Die im Mittelalter in Gang gesetzte enorme philologische Arbeit erhält ihre Impulse auch von der frühen Koranwissenschaft (vgl. Sezgin 1984; Neuwirth 1990). Wörterbücher (z. B. das kitab al-ain ,Das Buch des Glotisverschlusslauts‘ von alKhalil (718–791), der der Begründer der arabischen Sprachwissenschaft ist), Abhandlungen über Rhetorik (z. B. die asrar al-balagha ,Die Geheimnisse der Wortkunst‘ von al-Dschurdschani) und vor allem Grammatiken (insbesondere die Nationalgrammatik al-kitab ,das Buch‘ Sibawayhis (760–793)) werden verfasst (vgl. Chejne 1969, 38ff., Versteegh 2014, 74ff.). Zwischen 750 und 1500 wirken über viertausend Grammatiker (vgl. Versteegh 2014, 107; zur arabischen grammatischen Tradition Versteegh 1997; Flügel 1862). Laut Bauer (2011, 231f., 2007, Sp. 113f.) treibe nicht der Glaube die frühen Sprachwissenschaftler an, sondern das Interesse an der arabischen Sprache selbst und an dem profanen Erbe der vorislamischen Poesie. Schließlich diene nicht nur der Koran als empirische Basis der lexikographischen und grammatischen Arbeit, sondern in erster Linie die Sprache der Beduinen (vgl. Bauer 2011, 230, Versteegh 1997, 104). Die „kulturelle Energie“ ging also nicht nur vom Islam aus. Die arabischislamische Kultur hat einen weltlichen Ausgangsunkt (vgl. Bauer 2011, 224). Eine Kenntnis der vorislamischen Kultur ist obligat, will man den Islam verstehen. Aber diejenigen, die den Koran auslegen wollten, standen letztlich vor ganz ähnlichen Problemen wie die, welche die altarabische Poesie erklären wollten, und so entwickelte sich parallel zur Erklärung des altarabischen Beduinenwortschatzes die Erklärung des Korantextes und des Hadith. Beides geschah zunächst unabhängig voneinander, auch wenn die profane und die religiöse Überlieferung hin und wieder von denselben Personen (die eben Experten in Sachen schwieriger Texte waren) erschlossen wurden. (Bauer 2011, 232)

Auch wenn die Lexikographen und Grammatiker die Sprache der altarabischen Dichtung im Blick haben, ist eine Beseelung durch den Koran nicht von der Hand zu weisen – Exegese und Grammatik gehen Hand in Hand. Dass die systematische philologische Arbeit nach der Offenbarung des Korans beginnt, ist kein Zufall. Eine solche intensive Auseinandersetzung mit Sprache (sei sie religiös motiviert oder nicht) ist für diese Zeit überaus bemerkenswert und verdient Anerkennung. Die Sprachpflege führte zu einer „Blüte der Sprachwissenschaft, wie sie in der vormodernen Welt hinsichtlich Umfang und Qualität einzig ist“ (Bauer 1996, 1484). Dass die Sprachwissenschaft in keiner anderen Kulturgemeinschaft eine vergleichbar herausragende Stellung hatte, zeigt diese Anekdote:

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Zwei Prinzen […] stritten sich um die Ehre, die Schuhe des gelehrtesten Grammatikers ihres Reiches anlegen zu dürfen; worauf ihr Vater, der Kalif, bemerkt haben soll, es sei der Ruhm seines Landes, daß man große Grammatiker sogar höher als Könige ehre. (Whorf 2008, 8)

Die im Dienste der arabischen Offenbarungssprache stehende Arbeit der Lexikographen (lughawiyyun) und Grammatiker (nahwiyyun) mündet in der Kodifizierung (vgl. Versteegh 2014, 65ff.), die das Arabische von einem tribalen Dialekt (der Dialekt der Quraisch) zu einer Weltsprache erhebt (vgl. Chejne 1969, 38). Als empirische Basis der Kodifizierung dient die Vertextung des Korans und der altarabischen Dichtung, deren Sprache es zu bewahren gilt (vgl. Chejne 1969, 40, Marzari 2009, 45). Die Kodifizierung hat ihre Berechtigung darin, dass das Arabische anfangs einem Einfluss der Sprachen der eroberten Völker (z. B. Persisch) ausgesetzt ist. Durch Sprachkontakt hervorgerufenen Wandlungserscheinungen des Arabischen soll durch Normierung entgegengearbeitet werden. Es sind vor allem die grammatischen Fehler, die im Gebrauch bei islamisierten Nichtarabern beobachtet werden, die die grammatische Arbeit in Gang setzen (vgl. Versteegh 1997, 153f., Bauer 1996, 1484). Ibn AlAnbari (gest. 1181) berichtet: According to one account Ziyad ibn Abihi sent for Abu l-Aswad and said to him: ‘O Abu lAswad, these foreigners have multiplied and corrupted the tongues of the Arabs. Couldn’t you compose something to correct their languages and give God’s Book in proper declension?’ Abu l-Aswad refused and did not want to comply with his request. Then, Ziyad sent for somebody and said to him: ‘Go and sit down in the road near to Abu l-Aswad, and when he passes by you recite something from the Qur’an, but make sure to make some mistake’. The man did this when Abu l-Aswad passed by he recited ‘God keeps clear from unbelievers and from His Prophet’ [with genitive, instead of ‘Good keeps clear from the unbelievers and so does His Prophet’, with nominative]. Abu l-Aswad was shocked. He returned immeadiately to Ziyad and said to him: ‘I’d like to comply with what you asked me to do and I think it would be best to start with the declension of the Qur’an’. (Ibn al-Anbari, zit. n. Versteegh 1997, 3)

Bauer (2011, 227) sieht einen Zusammenhang zwischen der Kodifizierung und dem Übergang von der griechischen und persischen Verwaltungssprache des entstandenen arabisch-islamischen Weltreiches zum Arabischen (gegen Ende des 7. Jahrhunderts, initiiert von dem omayyadischen Kalifen Abd al-Malik). Ein solcher Wechsel zieht eine „intensive Sprachplanung“ nach sich (vgl. ausführlicher Bauer 2011, 227f.). Da der Schwerpunkt der islamischen Kultur außerhalb Arabiens (Irak, Syrien) verlagert wird und die Träger dieser Kulturen (Perser, Aramäer) mit der arabischen Sprache nicht vertraut sind, kommt es zu einem „Sprachproblem“: Die Entstehung eines arabischen Reiches und schließlich einer arabisch-islamischen Kultur wäre nicht möglich gewesen, wenn man dieses Sprachproblem nicht in den Griff bekommen hätte. Doch genau dies ist den Arabern gelungen. In erstaunlich kurzer Zeit entwickelte sich fast aus dem Nichts eine Sprachwissenschaft, die alles bisher auf diesem Gebiet Dagewesene – sei es in Indien, sei es in der griechisch-römischen Antike – weit hinter sich lies und die zu einer der Grundlagendisziplinen der islamischen Wissenschaften wurde. Tatsächlich ist das erste

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‚richtige‘ arabische Buch (vom Koran natürlich abgesehen) ein grammatisches Werk, nämlich die arabische Grammatik des Sibawayhi [...]. (Bauer 2011, 230)

Den Arabern gelingt es, in kurzer Zeit eine einheitliche, effektive und „ästhetisch durchgeformte“ Verwaltungssprache durchzusetzen, worin das größte Wunder der arabisch-islamischen Eroberungen liege (vgl. Bauer 2011, 229). Die strenge Normierung führt dazu, dass die grammatischen Freiheiten, die im Koran und der Dichtung zu beobachten sind, sich im Laufe der Zeit auflösen. Regionale Besonderheiten in der Dichtung werden zwecks Vereinheitlichung der Hochsprache graduell beseitigt. Das von den frühen Grammatikern reglementierte Arabisch unterscheidet sich kaum von der Sprache der vorislamischen Dichtung. Die Normierung führt aber dazu, dass Nebenformen ausgemerzt werden, z. B. im Bereich der Demonstrativa, die in der Dichtersprache, die einen engen Kontakt zu den dialektalen Varietäten hat, akzeptiert sind (vgl. Bauer 1996, 1484). Aus der Sprache des Korans gerinnt die Grammatik des Arabischen. Ibn alMunayyir (1223–1284) zufolge dürfe der Koran nicht an den Regeln des Arabischen gemessen werden, vielmehr müssten diese nach dem Korantext ausgerichtet werden (vgl. Ullmann 1966, 222). Für den mittelalterlichen sunnitischen Theologen asSuyuti (1445–1505) habe der Grammatiker die Deklinationsregeln bspw. aus dem Koran abzuleiten, als Sprachfehler ist zu bewerten, was der koranischen Sprache zuwiderlaufe (vgl. Haggag 2011, 22). So verwundert es nicht, dass die frühen Theologen auch Grammatiker sind. Die geschaffene grammatische Normierung der arabischen Sprache dient der korrekten Lesung des Korans, Fehlauslegungen soll dadurch entgegengesteuert werden.

3.2 Arabisch als lingua universalis Der sprachliche Wundercharakter des Korans, die Verknüpfung von göttlicher Offenbarung und Arabisch und die Ehrfurcht vor dem Wort Gottes veranlassen einige muslimische Gelehrte (darunter auch viele nichtarabische) dazu, die arabische Sprache zur vollkommenen Sprache und damit zugleich zur Ursprache zu erklären. Im abendländischen Kulturkreis (und darüber hinaus) gibt es seit jeher Überlegungen, eine vollkommene Sprache, eine lingua universalis zu kreieren. Die jüdische Mystik, die Kabbala, sieht im Hebräischen die „Ur-Muttersprache“ der Menschheit (vgl. Eco 1995, 38ff., 44ff. und Kämper in diesem Band). Mit der Ankunft des Messias, die einhergeht mit dem Ende der Zeiten, verschwindet die Sprachenvielfalt, die Sprachenverwirrung, „wenn alle existierenden Sprachen von der Heiligen Sprache reabsorbiert worden sind“ (Eco 1995, 46). Auf Leibniz (1646–1716) geht die Idee einer „characteristica universalis“, einer universellen apriorischen Sprache, die alle Gedanken ausdrücken könnte, zurück (vgl. Eco 1995, 276ff.; Stockhammer 2010; Blanke 1996). Darunter stellte sich Leibniz

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ein Zeichensystem vor, in dem die Relationen „zwischen Zeichen und Begriffen isomorph sein sollen“ (Blanke 1996, 32). Die Zeichen hätten also eine durchsichtige Bedeutung. Eine Suche nach der perfekten Sprache ist dem arabisch-muslimischen Kulturkreis fremd. Im Koran sehen seine Rezipienten die vollkommene Sprache, das, was sich Leibniz unter characteristica universalis vorstellte, verkörpert. Muslime sind der Ansicht, dass die Relation zwischen dem sprachlichen Zeichen und der Bedeutung in der koranischen Sprache „nicht-arbiträr“ ist (vgl. Haeri 2003, 12f.). Seit der babylonischen Urkatastrophe rätselt die Menschheit über die verlorengegangene, träumt sie von der Wiedererlangung der einen und vollkommenen Sprache. [...] Nur die Araber, die Muslime unter ihnen, beteiligten sich nicht an der Suche. Die Möglichkeiten einer vollkommenen Sprache zu erkunden, womöglich selbst eine solche zu kreieren, war in der arabisch-islamischen Geistesgeschichte offensichtlich zu keinem Zeitpunkt ein Thema wissenschaftlicher, sprachphilosophischer oder alchemistischer Forschung. Die Araber träumten nicht mehr, sie hatten gefunden. Im Koran, so waren und sind die meisten unter ihnen überzeugt, ist die Menschheitsutopie von der vollkommenen Sprache verwirklicht. (Kermani 2003, 165)

Gilliot/Larcher (2003, 118) sehen einen Zusammenhang zwischen der Gründung des arabisch-islamischen Weltreiches und der mythischen Konzeption einer lingua universalis. Mittels der Sprache werde die Macht gegenüber den besiegten Völkern (Persern, Byzantinern) zusätzlich legitimiert. Für den mittelalterlichen Grammatiker Ibn al-Farra (gest. 822) ist das Studium des Arabischen religiös fruchtbringender als die Beschäftigung mit der islamischen Jurisprudenz (vgl. Chejne 1969, 12). Ibn Hubayra (1105–1165) geht noch weiter: Im Paradies werden die Sprecher eines korrekteren Arabisch vor solchen präferiert, deren Arabisch nicht an das ihrige heranreicht (vgl. Kermani 2003, 159f.). Der Philologe Ibn Faris (gest. 1005) erhebt Arabisch zur Sprache des Paradieses, zur „lingua adamica“ (Trabant 2006, 17), zur Quelle aller anderen Sprachen, mit dem Arabischen ließe sich alles in vortrefflicher Weise versprachlichen, Gott habe sie als Offenbarungssprache erkoren, weil sie die am schönsten klingende sei (vgl. Kermani 2003, 164, Chejne 1969, 9f.). Ibn Faris lobt insbesondere den lexikalischen Reichtum: Während die meisten Sprachen ein Wort zur Verbalisierung eines Dinges hätten, verfüge das Arabische z. B. über achthundert Wörter für „Schwert“, fünfhundert für „Löwe“, zweihundert für „Schlange“ (vgl. Chejne 1969, 10). Für den Rechtstheologen asch-Schafi ist die arabische Sprache diejenige, die stilistisch am umfassendsten geregelt ist und den umfangreichsten Wortschatz bietet, und kein Mensch außer einem Propheten kann ihre ganze Wissenschaft jemals erfassen (vgl. Kermani 2003, 164).

As-Suyuti glaubt, alle anderen monotheistischen Offenbarungen seien aus der arabischen Ursprache übertragen (vgl. Kermani 2003, 164f.), das Arabische sei die

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„Mutter aller Sprachen“ (Chejne 1969, 10). Der ägyptische Reformtheologe Muhammad Abduh (1849–1905) erklärt das Beherrschen des Arabischen zur religiösen Pflicht: „Unser Ruf zum Koran ist ein Ruf zur arabischen Sprache“ (vgl. Kermani 2003, 162). Der zeitgenössische Autor Maktabi bezeichnet Arabisch als „überhaupt beste Sprache der Welt“, denn es sei Instrument der göttlichen Offenbarung; es biete „bis zum Ende der Zeiten“ alles, „was wir an Begriffen und Ausdrücken brauchen“ und es könnten damit „alle neuen Namen und Inhalte“ ausgedrückt werden (vgl. Stock 1999, 23). Wenn die arabische Sprache die Sprache des Paradieses ist, dann ist sie „in the imagination of the Arabic-speaking people the language of angels“ (Chejne 1969, 13). Engel gelten im Islam als reine Wesen, mit dem Arabischen sprechen sie eine reine Sprache. Es ist wichtig zu betonen, dass Arabisch als lingua sacra auf rituelle Praxen beschränkt ist. Sie ist Ausdruck tiefer Religiosität, die sich im Gebet manifestiert (Abschnitt 2.2). Die lingua sacra erhebt das Arabische nicht zu einer besonderen, allen anderen Sprachen überlegenen „heiligen Sprache“ – nicht zuletzt dadurch, dass ihre Mittlerfunktion im Koran expliziert wird. Weder die Ansicht, dass das Arabische die Sprache des Paradieses sei, noch die, dass Gott das Arabische vor allen anderen Sprachen ausgezeichnet hätte, lassen sich dem Koran entnehmen. Der sprachliche Wundercharakter des Korans legt nicht nahe, dass Arabische per se als vollkommene Sprache zu begreifen. Das Wunder besteht in der vollkommenen Anwendung des Arabischen. Am Beispiel des Korans wird deutlich, wieviel durch göttliche Inspiration aus einer Sprache „herausgeholt“ werden kann. Der Koran charakterisiert Mehrsprachigkeit als Gnadengabe Gottes (vgl. Wild 2006, 137) – an eine Präferenz des Arabischen ist also nicht zu denken: Und zu seinen Zeichen gehören die Erschaffung der Himmel und der Erde, die Verschiedenheit eurer Sprachen und Farben. Darin sind Zeichen für die Wissenden. (Koran 30:22, übers. von Zirker)

Vor Gott sind alle Menschen gleich (Koran 4:1). Diese Gleichheit impliziert auch die Gleichwertigkeit ihrer Sprachen. Außerdem macht der Koran deutlich, dass die Gesandten Gottes in ihrer jeweiligen Muttersprache mit der göttlichen Botschaft betraut werden (Koran 14:4) (vgl. Abschnitt 1.3.4). Die Propheten sprechen also unterschiedliche Sprachen, nicht eine einzige (etwa das den Engeln bisweilen zugeschriebene „Urarabisch“). Da der Koran zwischen den Propheten keinen Unterschied macht (Koran 2:285), kann die Sprache eines Propheten nicht vor den Sprachen der anderen ausgezeichnet, ihr keine besondere Tauglichkeit als Offenbarungssprache attestiert werden. Das Wort Gottes ist nicht ausschließlich an den Koran und die arabische Sprache gebunden, denn das schlösse ja die vorangegangenen Offenbarungen „von eben jenem Recht aus, das Wort Gottes in ihren eigenen ursprünglichen Sprachen auszudrücken“ (Abu Zaid 2003, 123).

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Der jahrhundertlange Kult um das Arabische geht bis auf die vorislamische Zeit zurück (vgl. im Detail Chejne 1969, 59ff.). Mit dem Koran sehen sich die Araber in ihrem „Sprachstolz“ bestätigt: The linguistic pride [...] of the Arabs goes back to pre-Islamic roots, but was reinforced by the Qur’an, which the Muslims regarded as a miracle of verbal superiority and excellence. (Versteegh 1997, 167)

Mit dem Arabischen verbinden sich nicht nur religiöse Assoziationen, sondern auch kulturelle und nationale: The attachment to and the admiration for the language have been strong, amounting to adulation, and have given rise to a linguistic cult with great aesthetic, religious, cultural, and national significance. [...] This language cult was evident in pre-Islamic and early Islamic times and has continued to be alive up to the present. (Chejne 1969, 169)

Die Überzeugung, im Besitz der vollkommenen Sprache zu sein, hat die Konservierung dieser Sprache zur Konsequenz: Sie wird gepflegt, bewahrt und normiert. Sprachkult und Sprachpurismus bedingen hier einander. Sprachliche Erscheinungen, die von dieser Norm abweichen, sind nicht nur inakzeptabel, sondern sie gelten als Angriff auf diese Sprache, deren Stellung sie streitig machen, an deren hohen Status aber nicht zu rütteln ist. Das Arabische sei bis an seine Grenzen ausgereizt. Geht man davon aus, dass das kommunikative Potenzial einer Sprache allerdings – und das ist die Kehrseite der Medaille – völlig ausgeschöpft sei (was nie der Fall ist) und leitet daraus ab, einen Status konservieren zu müssen, nimmt man einer Sprache und ihren Sprechern die Lebendigkeit bzw. die Beweglichkeit, ihre Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit an die sich ändernden kommuikativen Bedürfnisse anzupassen. Wandel jedoch ist für natürliche Sprachen konstitutiv.

3.3 Standard- und Umgangssprache – ein Dualismus Die sprachliche Situation in der arabischen Welt ist nicht einfach. So ist das klassische Hocharabisch als göttliche Offenbarungssprache des Korans und der vorislamischen Dichtung vom modernen Hocharabisch, das sich im vorletzten Jahrhundert im Zuge von Modernisierungsbewegungen als eine Landesgrenzen überschreitende Sprachform des öffentlichen Lebens herausbildet, zu unterscheiden (vgl. Riedner/Kassem 2010, 531). Das klassische Hocharabisch ist hauptsächlich auf religiöse Institutionen (zu denen auch Schulen zählen) beschränkt, wodurch seine Institutionalisiertheit zum Ausdruck kommt. In der Alltagssprache dominieren (zahlreiche) Varietäten, die sehr heterogen sind und stark von der idealisierten und normierten Standardsprache abweichen (z. B. sind die Dialekte durch das Fehlen grammatischer Endungen gekennzeichnet). Umgangssprachliches Arabisch führt im Bewusstsein der Sprachgemeinschaft

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ein niederes, untergeordnetes Dasein. Vielen gilt die Umgangssprache als strukturund grammatiklos (vgl. Riedner/Kassem 2010, 532), von ihr können keine neuen Impulse ausgehen. Sie wird von der arabischsprachigen Linguistik kaum wahrgenommen. Die Dialektliteratur spielt eine untergeordnete Rolle und ist mit ideologischen Vorbehalten belegt (vgl. Bauer 1996, 1485). Angestrebt wird eine Monolingualisierung. Die große Kluft zwischen Standardsprache (al-lugha al-fusha /,die beredte Sprache‘) und Umgangssprache (amiyya /,Sprache des gemeinen Volkes, gewöhnliche Sprache‘) ist an den wertenden Bezeichnungen zu sehen (vgl. Diem 2006, 2ff.): Die arabische Umgangssprache gilt im kollektiven Bewusstsein als „die kraftlose Sprache“ (arab. al-lugha ad-daifa), „die gefallene Sprache“ (arab. al-lugha as-saqita), „die hässliche Sprache“ (arab. al-lugha al-qabiha), „die unarabische Sprache“ (allugha al-muwallada). Die Hochsprache ist eine Prestigesprache, die der Umgangssprache überlegen ist. Sie ist Symbol des kulturellen Erbes und der arabischen Einheit (vgl. ausführlicher Diem 2006, 7ff., Haeri 2003). Die Sprecher verbindet mit der Hochsprache eine „mystische Liebe“ (Hamady 1960, 19). Diesen Dualismus verdeutlicht auch diese fiktive Analogie: In spoken Arabic, the situation is far more complicated. Perhaps the best analogue to the situation in the Arabic-speaking countries would be that of a hypothetical modern France, where all newspapers and books are written in Latin, speeches in parliament are held in Latin, and in churches the only language used by the priests is Latin. On the other hand, people talking in a cafe use French, people at home or among friends use French. In school, the official language of the classroom is Latin, but during the breaks between the classes students use French among themselves, and so do the teachers. (Versteegh 2014, 241)

Die Abwertung der Alltagssprache kann zudem mit dieser Beobachtung verdeutlicht werden: Das Arabische ist reich an Synonymen. Unter synonymen Ausdrücken gilt nur derjenige als gutes Hocharabisch, der keine Entsprechung in der Umgangssprache hat; in der Hochsprache werden nur Ausdrücke eingesetzt, die von einem dialektalen „Beigeschmack“ frei sind (vgl. Bauer 1996, 1488). Diese Beispiele machen klar, dass die Diskrepanz zwischen Standardarabisch und Umgangsarabisch weitaus größer ist als z. B. die zwischen der deutschen Standard- und Umgangssprache, selbst wenn man diese Konzepte nur vage umreißen kann. In der linguistischen Forschung wird in diesem Zusammenhang von „Diglossie“ (vgl. Ferguson 1959) gesprochen, die funktionale Distribution zweier Varietäten einer Sprache. Hinsichtlich des Arabischen ist eher von einer „Triglossie“ auszugehen. Hinzu kommt noch, dass verschiedene Formen der Umgangssprache zu differenzieren sind: das substandardliche Arabisch der Gebildeten, die familiäre Alltagssprache sowie die Sprache der Analphabeten – hierbei handelt es sich dann um eine „Multiglossie“ (vgl. Riedner/Kassem 2010, 532). Die Varietäten überschneiden sich mit der Standardsprache so minimal, dass sie als autonome Systeme mit einer eigenen Grammatik betrachtet werden könnten. Diese Subsysteme mit dem Terminus

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Dialekt zu registrieren wird der Sachlage kaum gerecht. Die arabische Gesellschaft ist also faktisch nicht monolingual, sondern durch eine innere Mehrsprachigkeit gekennzeichnet. Die dialektale Varietät ist die Muttersprache, das klassische und moderne Hocharabisch werden später mehr oder weniger als Fremdsprachen erworben. In einer Fremdsprache lässt sich Wissenstransfer nur schwer realisieren. Den sprachlichen Dualismus, die Diskrepanz zwischen Standard-und Umgangssprache gibt es auch in vorislamischer Zeit (vgl. Bobzin 2014, 94, Versteegh 2014, 47ff.). Ursprünglich ist das Gefälle allerdings nicht so eklatant, wie es gegenwärtig ist, Standard- und Umgangssprache „coexisted peacefully then as they do now“ (Chejne 1969, 163). Auch wenn das durchschlagende Auseinanderdriften der beiden Existenzformen nicht in toto auf die exegetische Tradition, auf die unerreichbare sprachliche Form des Korans zurückzuführen ist, hat doch die dem Arabischen zugeschriebene religiöse Bedeutung die Distanz zwischen Hoch- und Umgangssprache vergrößert (ausführlicher Chejne 1969, 161ff.).

3.4 Implikationen der Vollkommenheitsannahme Der Kult um das Arabische hat Folgen, die bis in die Gegenwart hineinreichen. Die moderne Hochsprache differiert lediglich im Bereich der Stilistik und der Lexik von der klassischen Variante. Sie ist „in ihrer äußeren Form [d. h. in ihrer Morphologie, L. S.] nahezu unverändert geblieben“, „in der Syntax sind die Grundlagen die gleichen geblieben“ (Fischer 2006, 1). Es ist bemerkenswert, wie die rigorose Normierung eine morphologische und syntaktische Konstanz erzwingt und dadurch Sprache einfriert. Die arabische Grammatik has undergone little or no change from the time of the early Arab grammarians, and sees the pressing need for writing a new grammar paterned after a Western model so that students could easily follow it. (Chejne 1969, 148)

Es ist die Endgültigkeit der Offenbarung, die früh die arabischen Grammatiker dazu veranlasst, Sprachwandel als eine Deformation zu begreifen, wie aus vielen überlieferten Textdokumenten hervorgeht. Das Arabische ist „unveränderbar“: No grammarian could fail to notice, however, that ordinary people spoke quite differently from the language analysed in the linguistic treatises, but, rather than concluding that the language itself was changing, the grammarians categorized these changes as linguistic errors and concluded that most people were unable to speak Arabic correctly. By definition the language itself could not change: it had been used by God in His last revelation, and this meant that it was sacrilege to allow for the possibility of any changes. (Versteegh 1997, 104)

Obwohl das klassische Arabisch den Anforderungen der Moderne nicht genüge, entschieden sich die meisten Gelehrten gegen eine radikale Sprachreform, so Stock (1999, 23) und Flores (2003, 43) (auch wenn es vereinzelte Bemühungen in dieser

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Richtung gab und gibt). Religion, aber auch National- und Kulturstolz sowie Traditionsverbundenheit wirken einer Reformierung entgegen. Das klassische Arabisch ist ein „Artefakt“ der ruhmreichen Vergangenheit (für die wissenschaftlicher Fortschritt und Überlegenheit kennzeichnend sind), nach der sich viele Araber sehnen – die Goldene Ära des Islams erscheint nicht nur als eine Zeit des wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritts, sondern auch als „a time when Classical Arabic was at its purest“ (Haeri 2003,18). Außerdem fungiert es hinsichtlich der politischen Trennung der Araber (die im Zuge der Entstehung von Nationalstaaten im 19. und 20. Jahrhundert zustande kam) als ein einendes Band, die angestrebte Monolingualisierung soll das Fortbestehen der „arabischen Umma“ sichern. Eine solche Einstellung verhindert die Aufgabe des klassischen Hocharabisch zugunsten der Umgangssprache oder zumindest die Assimilation der Hochsprache an die Lexik und die Grammatik der jeweiligen Umgangssprache. Weiterhin wird der Übernahme von Fremdwörtern sowie der Ersetzung der mehr als tausendjährigen arabischen Schrift, die ebenfalls einen sakralen Status hat (denn das Wort Gottes ist in dieser Schrift vertextet; die Weiterentwicklung der arabischen Schrift hängt auch mit der Geschichte des Korans zusammen), durch die lateinische entgegengewirkt (vgl. Stock 1999, 23). Die Ersetzung der arabischen Schrift durch eine andere bzw. eine radikale Reformierung bedeutete einen „ungeheuerlichen Bruch“ mit der Tradition (vgl. Bauer 1996, 1490). Laut Bauer (1996, 1490) ist der Glaube, dass eine archaische Sprache Alltagssprache aller Araber werden könnte, eine Illusion. Die Schaffung einer an der Mündlichkeit orientierten Literatursprache erscheint hier wahrscheinlicher. Eine Reform werte zudem die zahlreichen Dialekte auf und verdränge damit das überregionale klassische Arabisch, was eine Gefahr für die nationale Einheit darstellen könnte (zur Rolle des Arabischen hinsichtlich nationaler Identität vgl. detaillierter Suleiman 2003; Stock 1999; zu Reformen vgl. ausführlich Chejne 1969, 145ff.; zur arabischen Schrift vgl. Chejne 1969, 154ff.). Die Erhöhung des Arabischen hat komplexe Ursachen. In ihr vermengen sich unterschiedliche Aspekte. Auch wenn hierbei der Religion eine besondere Stellung zukommen mag, ist eine Reduzierung auf religiöse Motive irreführend. Vor allem die Zeitgeschichte macht deutlich, dass die religiösen von nationalistischen Motiven überlagert werden. An der „Sprachverliebtheit“ (Flores 2003, 44) ist nichts Verwerfliches. Diese Liebe darf aber der Sprache keine Fesseln anlegen, die ihre unabdingbare Entwicklung unterbinden. Die Aufwertung der Varietäten muss nicht zwangsläufig eine Abwertung des klassischen Arabisch bzw. einen Bruch mit der eigenen Literaturtradition zur Folge haben. Es sind die „Worte“ Gottes, die durch eine Endgültigkeit gekennzeichnet sind. Das Medium, durch das sie fließen, ist ein menschliches. Menschliche Sprache ist beschränkt, wie der Koran eindrucksvoll zeigt. Die „Worte“ Gottes sind unsagbar:

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Und wenn alle Bäume auf Erden Federn würden, und wüchse das Meer hernach zu sieben Meeren (von Tinte), Allahs Worte würden nicht erschöpft. Siehe, Allah ist mächtig und weise. (Koran 31:27, übers. von Henning)

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6. Buddhistische Praxis und Sprache Abstract: Mit Blick auf das Verhältnis von buddhistischer Praxis und Sprache wird im vorliegenden Kapitel eine sozialanthropologische Perspektive entfaltet. Einerseits wird Sprache dabei als leiblich verkörperte Praxis verstanden, andererseits wird besonderes Augenmerk auf die fundamentale Differenz von psychischem Verstehen und Kommunikation gelegt. Erst auf diesem Wege eröffnet sich der Blick auf eine Negativsprache, für die ein soteriologisches Ziel thematisierbar wird, das seinslogisch nicht zu fassen ist. Darüber hinaus wird auf weitere Felder buddhistischer Praxis hingewiesen, in denen sprachliche Formen von hoher Bedeutung sind. Es wird deutlich, dass die buddhistische Praxis entgegen ihrer Selbstbeschreibung hochgradig auf Sprache angewiesen und auch die Meditation ohne sprachliche Reflexion nicht denkbar ist. 1 2 3 4 5 6

Eine sozialanthropologische Perspektive auf das Verhältnis von Buddhismus und Sprache In der Sprache leben Buddhistische Soteriologie (insb. die Bedeutung der Negativsprache für das Verständnis religiöser Praxen) Weitere sprachliche Praktiken im Buddhismus Abschließende Bemerkungen Literatur

1 Eine sozialanthropologische Perspektive auf das Verhältnis von Buddhismus und Sprache 1.1 Wie über buddhistische Praxis sprechen? Wenn wir uns dem Verhältnis zwischen buddhistischer Praxis und buddhistischer Sprache nähern wollen, stellen sich zunächst die Fragen, was wir unter ersterer verstehen und unter welcher wissenschaftlichen Perspektive wir das Phänomen der menschlichen Sprache betrachten. Eine linguistische Untersuchung der altindischen Quellen des Buddhismus legt einen anderen Fokus als eine praxistheoretisch und sozialanthropologisch informierte Analyse des buddhistischen Befreiungspfads. Wir verfolgen in diesem Beitrag den letzteren Weg und betrachten die buddhistischen Lehren als eine Form der soteriologischen Kommunikation, die das menschliche Bewusstsein affizieren kann, weil in ihr bestimmte Sprachformen wirken. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich unter dem Label des Buddhismus viele, in ihrer Ausprägung recht unterschiedliche Praxisformen finden lassen. Seien

DOI 10.1515/9783110296297-007

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es die verschiedenen Schulen des tibetischen Buddhismus, die Varianten des Zenoder Chan-Buddhismus, die Lehren des Theravāda-Buddhismus oder die Kulte des Nichirin- und Amitaba-Buddhismus. Wir begegnen einer Fülle unterschiedlicher Traditionen, von denen einige ihren Schwerpunkt pragmatisch auf die Befreiung aus den Agonien des menschlichen Leidens legen. Andere wiederum zeigen insofern einen stark religiösen Charakter, als dass viel mit Wunschprojektionen gearbeitet wird. Selbst innerhalb einer Tradition – man denke hier etwa an den burmesischen Buddhismus, der sich an den Schriften des Pali-Kanons orientiert – finden sich recht unterschiedliche Praxisformen, die angefangen bei Segenssprechung und Ritualhandlungen (etwa bei Hochzeiten und Beerdigungen) über die Rezitation von Texten zum Zweck der Ansammlung von Verdiensten bis hin zu einer kontemplativen Praxis reichen, die allen sprachlichen und religiösen Sinn zu überwinden sucht, da dieser als Quelle menschlichen Leidens betrachtet wird. Wenngleich es durchaus interessant erscheint, die Funktion der Sprache in religiösen Ritualhandlungen zu untersuchen – etwa als eine Kommunikationsvermeidungskommunikation (Luhmann), die weiteres Nachfragen blockiert –, so erweist es sich in unserem Zusammenhang jedoch reizvoller, dem soteriologischen Kern der buddhistischen Lehren nachzugehen, denn Rituale sind nichts spezifisch Buddhistisches, nicht einmal etwas spezifisch Religiöses. Wir können dem Eigenanspruch der buddhistischen Lehren, einen Weg aus dem menschlichen Leiden anbieten zu können, am besten gerecht werden, wenn wir mit Ferry die „Achillesverse“ des Buddhismus so fassen, dass der „Sinn des Lebens“ darin bestehe, „zu einer Weltsicht zu gelangen, in der die Frage nach dem Sinn verschwindet“ (Ferry 1997, 32). Eine solche Perspektive ist zudem konform mit der pragmatischen Haltung, die in einem der Schlüsseltexte des Buddhismus, den vier Edlen Wahrheiten, zum Ausdruck kommt. Die erste der vier Edlen Wahrheiten ist die Edle Wahrheit vom Leiden. Sie stellt das Bindeglied zum Pfad der Befreiung dar, denn mit der individuellen Erfahrung von Leiden entsteht der Wunsch wie auch die Motivation, das Leiden zu überwinden: Was aber, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit vom Leiden? Geburt ist Leiden, Altern ist Leiden, Sterben ist Leiden, Sorge, Klage, Schmerz, Trübsal und Verzweiflung sind Leiden, mit Unlieben vereint sein ist Leiden, von Liebem getrennt sein ist Leiden, kurz gesagt, die fünf Anhaftungsgruppen sind Leiden. (Dīghanikāya 22, zitiert nach Nyanatiloka 1981, 15).

Wenn das Bewusstsein in der reflexiven Handlung der Selbstbeobachtung die Natur und die Ursache seines Leidens erkennt, besteht die Möglichkeit, sich von diesem Leiden zu befreien. Dies wird mit der zweiten und dritten Edlen Wahrheit ausgedrückt:

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Was aber, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von der Leidensentstehung? Es ist eben jenes Wiederdaseinserzeugende, von Lust und Gier begleitete, sich hier und da erfreuende Begehren, nämlich sinnliches Begehren (kāma tanhā), das Daseinsbegehren (bhava tanhā) und das Selbstvernichtungsbegehren (vibhava-tanhā). Dies, Mönche, ist die edle Wahrheit von der Leidensentstehung. Es ist die Wiedergeburt bewirkende, wohlgefällige, mit Leidenschaft verbundene Gier (tanhā), die hier und dort Gefallen findet, nämlich: Die Gier nach Lust, die Gier nach Werden, die Gier nach Vernichtung. [...] Was aber, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von der Leidenserlöschung? Eben jenes Begehrens restlose Abwendung und Erlöschung, Verwerfung, Fahrenlassen, Befreiung davon, Nichthaften daran. [...] (Dīghanikāya 22, zitiert nach Nyanatiloka 1981, 15).

Etwas zu begehren und an etwas anzuhaften, das vergänglich ist und keine wirkliche Substanz besitzt, bewirkt Leiden. Die Befreiung von diesem Leiden findet statt, indem das Anhaften an den illusionären Objekten der Begierde aufgegeben wird, das heißt, indem gelernt wird, diesen Objekten keine Bedeutung mehr zuzuweisen. Die systematische Schulung der Fähigkeit, von dem gewohnheitsmäßigen Anhaften an der (leidbringenden) Objektwelt abzulassen, wird in der vierten Edlen Wahrheit dargelegt. Auf diesem Wege wird die Aufmerksamkeit allmählich vom weltlichen Streben auf das überweltliche Ziel der Erleuchtung – als einer Sphäre, in der die wahrgenommenen Sinnesobjekte, einschließlich der Gedanken, keine Bedeutung mehr haben – ausgerichtet.

1.2 Mit der Sprache über die Sprache hinausgelangen Bedeutung ist für uns Menschen immer sprachlich vermittelt und in diesem Sinne zielt die buddhistische Soteriologie – so die Überlegungen, denen dieser Beitrag nachspürt – vor allem auf Probleme ab, welche mit der menschlichen Sprache entstehen und sich dadurch verfestigen. Die buddhistischen Lehren würden damit also sprachlich vermittelte Reflexionsbeziehungen darstellen, die die Aufhebung all jener Bedeutung intendieren, die sich in unserem gemeinsamen In-der-SpracheSein verfestigt. Eine solche Sprache arbeitet gewissermaßen selbstreferenziell auf ihre eigene Negation – auf die Suspension von Sinn – hin. Gerade hierin wäre die tiefere Bedeutung der vier Edlen Wahrheiten zu verstehen, nämlich zu lernen, mit ihnen die Ursache des menschlichen Leidens darin zu sehen, dem Erlebten einen gefühlten Sinn zuzuschreiben, der mit Erwartungen einhergeht, die letztlich nur enttäuscht werden können. Vor diesem Hintergrund erscheint die Sprache selbst als die Quelle menschlicher Agonie, denn erst sie erzeugt jene Spannung von Subjekt und Objekt, Vergangenheit und Zukunft, Selbst und Nicht-Selbst, als deren Konsequenz sich der Mensch uneins mit sich selbst und mit seinen Verhältnissen empfinden kann. So gesehen fordern die buddhistischen Lehren dazu auf, in der Sprache mit der Sprache über die Sprache hinauszugehen – und wenn dies getan ist, es wiederum zu kommunizieren, um andere Menschen an den auf diesem Wege gewonnenen

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Errungenschaften teilhaben zu lassen. Das Verhältnis von Sprache und buddhistischer Praxis wird damit unweigerlich komplex, denn wir begegnen mit hier einer Zirkularität, die ins Unbestimmte führt, in Bereiche, die nicht positiv-, sondern nur negativsprachlich zu fassen sind. Wenn wir also den soteriologischen Anspruch der buddhistischen Lehren ernst nehmen, haben wir die Lehren also als eine besondere Form der Kommunikation zu betrachten. Hierzu bedarf es einer sozialanthropologischen Perspektive auf Sprache, die einerseits letztere als eine gefühlte und verkörperte Praxis begreift, und die andererseits um die fundamentale Differenz von psychischen und kommunikativen Sinnprozessen weiß. Nur so kann eine Ahnung von der Bedeutung einer Negativsprache gewonnen werden, die von nichts handelt und dennoch – oder vielleicht müsste man sagen: gerade deshalb – eine immense Wirkung entfalten kann. Was hierunter zu verstehen ist und welche Implikationen hiermit einhergehen, ist im nächsten Kapitel eingehend zu erörtern. Auf dieser Basis wird sodann ausführlicher auf die buddhistische Befreiungslehre, insbesondere auf das nur negativsprachlich fassbare Ziel der Befreiung eingegangen. Anschließend wird auf einige weitere, für die buddhistische Praxis bedeutsame Sprachformen einzugehen sein.

2 In der Sprache leben Was heißt es, in der Sprache zu leben? Um sich dieser Frage anzunähern, brauchen wir nur zu schauen, was wir mit Worten bewirken können. Worte können sowohl erheben als auch verletzen. Sie weisen dem Sprecher und dem Hörer eine soziale Position zu und erlegen dem Menschen damit eine „soziale Form“ auf, „die ihm zur zweiten Natur wird“ (Herrmann 2013, 135). Miteinander zu sprechen, bedeutet aus dieser Perspektive also weniger, dass Argumente ausgetauscht werden und dass sich die einzelnen Akteure anschließend autonom überlegen können, was sie tun wollen. Ganz im Gegenteil heißt, in einem sprachlichen Raum zu sein vor allem, die hiermit einhergehenden Verhaltenskoordinationen im Körper zu spüren und den wiederum hiermit einhergehenden Reflexionszumutungen ausgeliefert zu sein. Dies entspricht unserer Alltagserfahrung, entsprechend der man dem Sinn und den Implikationen von Worten, die man hört, zwar widersprechen mag, ihrer Wirkung damit aber dennoch nicht entkommen kann, da die durch sie ausgelösten Verhaltenskoppelungen aufgrund der eigenen Interaktionsgeschichte bereits neurophysiologisch verankert sind. Sobald man hinreichend in die Sprache einsozialisiert worden ist, bekommen selbst vermeintlich sinnlose Worte Kraft, denn die beteiligten Akteure fühlen aufgrund der erlebten Geschichte ihrer Interaktionen auf körperlicher Ebene, dass sie – selbst dann, wenn all dies von außen gesehen nur als ein lächerliches Spiel erscheint – existenziell beteiligt sind: Der Soziologe Pierre Bourdieu (1997) spricht in diesem Zusammenhang von illusio. Sprachliche Bilder

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wirken also nicht, wie man zunächst meinen könnte, als abstrakte Als-ObFiktionen, sondern im Sinne einer konkreten Analogie, welche unsere „reale Identität“ betrifft, so Andreas Weber. Hier hat „ein ‚scharfes‘ Geräusch dieselbe Bedeutung wie ein geschliffenes Messer oder ein ‚tödliches‘ Wort. Beides zerschneidet das Gelingen des Lebensvollzugs.“ (Weber 2003, 120) Aus diesem Grunde können verletzende Worte (etwa eine Beleidigung) auch dann berühren, wenn man ihren Inhalt abstreitet oder zurückweist.

2.1 Die Genese der Sprache Schauen wir, um diesen Zusammenhang besser verstehen zu können, auf den Prozess der Entstehung von Sprache. Sowohl aus phylo- wie auch ontogenetischer Perspektive spricht mittlerweile einiges dafür, dass das sogenannte Spiegelsystem bzw. die Spiegelneuronen für die Sprachentwicklung von zentraler Bedeutung sind. Mittels bildgebender Verfahren ließ sich zeigen, dass allein schon die visuelle Wahrnehmung des Verhaltens eines Akteurs im prämotorischen Kortex eines anderen Akteurs – also jenem Hirnareal, das für die Koordination von Bewegungsabläufen zuständig ist – eine homologe Aktivität auslösen kann. Wie Ludwig Jäger formuliert, integriert das „Spiegelsystem“ allerdings nicht nur die visuellen Eigenschaften der zielgerichteten Handlungsmotorik anderer Subjekte, die in absichtsvoller Weise mit Objekten umgehen, sondern es generiert gewissermaßen Bedeutung, denn die emotionalen Signifikanzen der Bewegung werden mit übernommen. Es verknüpft also im selben neuronalen Schaltkreis die Klassifikation von Objekten je nach der Handform, die nötig ist sie zu ergreifen, und das ‚Fremdverstehen‘ von Hand-Gesten Anderer, die entsprechende Greifbewegungen ausführen. Das Spiegelsystem koordiniert insofern in gewissem Sinne ‚begriffliches‘ (=Objektklassifikation) und ‚hermeneutisches‘ Wissen (=Fremdverstehen). Es stellt früh in der Gattungsgeschichte des Menschen eine Verschaltung her zwischen einer quasi-kognitiven Objektklassifikation und dem Verstehen des Alter Ego und beides auf der Basis der Verarbeitung von Informationen im sozialen Raum geteilter Sichtbarkeit, das heißt im Raum leiblicher, gestengestützter Interaktion.

In Referenz auf George H. Mead ergibt sich dabei die wichtige Pointe, so Jäger, dass es die leiblich-materielle Gebärde im gemeinsamen Wahrnehmensraum von Ego und Alter Ego ist, die den Prozess der Genese des reflexiven Bewusstseins und der Ausbildung einer IchIdentität – und damit den Prozess des Auseinandertretens von Ich, Nicht-Ich und Erkenntniswelt – zentriert. (Jäger 2013, 71)

Aus den zuvor genannten Perspektiven kann unser In-der-Sprache-Sein nicht mehr so verstanden werden, dass Akteure über das Medium Sprache untereinander Informationen austauschen. Das Sprechen ist vielmehr als ein Phänomen zu interpretieren, das auf neuro-sozio-psychischen Resonanzprozessen beruht. Vor diesem Hintergrund erscheint dem Menschen als Symbolwesen die Koppelung von Verhal-

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ten vor allem als eine Koproduktion von Psyche und Gesellschaft, die darauf beruht, dass symbolische Signifikationen körperliche Reaktionen auslösen, also gefühlt, erlebt und damit im wahrsten Sinne des Wortes inkorporiert werden. Um mit Merleau-Ponty zu sprechen: Plötzlich merke ich, wie das Wort in meinen Körper hineinschnappt. [...] Der Leib ist es, der nicht nur Naturgegenständen, sondern auch Kulturgegenständen, wie etwa Worte es sind, ihren Sinn gibt. (Merleau-Ponty 1974, 275)

Selbstredend sind damit auch Selbstkonzepte (hier als Prozessstrukturen verstanden, die durch Kommunikation aktualisiert werden) kulturabhängig. Deutlich wird dies etwa durch die Studien von Shihui Han und George Northoff (2008; 2009), in denen vergleichend untersucht wurde, wie sich Selbstkonzepte von Chinesen und Nordamerikanern in bildgebenden Verfahren als neuronale Repräsentation darstellen lassen. Dabei zeigte sich etwa, dass Chinesen, wenn sie sich selbst thematisieren, immer auch Regionen im Gehirn aktivieren, die beteiligt sind, wenn sie an ihre Mutter denken. Bei Amerikanern ist dies nicht der Fall. Bei ihnen wird die Idee des Selbst nicht mit der Mutter verbunden. Außerdem zeigen sich unterschiedliche Muster neuronaler Repräsentation, je nachdem, ob die Probanden Atheisten, Buddhisten oder Christen sind. Unser Ich-Empfinden hängt aus dieser Perspektive also unmittelbar von der sprachlichen und symbolischen Auszeichnung unserer Mitmenschen ab. Im Einklang mit den Arbeiten des Soziologen Pierre Bourdieu ist unser Selbstwert also vor allem durch die sozialen Signifikationen – das symbolische Kapital, das wir von anderen zugewiesen bekommen – bedingt. In der Sprache zu sein geht nolens volens mit der existenziellen Abhängigkeit von anderen einher. Wir können gar nicht anders, als uns an den anderen zu orientieren. Hieraus erwächst das Problem der mimetischen Rivalität, wie sie aus religionsphilosophischer Perspektive insbesondere von René Girard entwickelt wurde. Die Sprache verwickelt uns in das Streben, – und die Werte unserer Mitmenschen – einschließlich der damit verbundenen Empfindungen wie Gier und Abneigung und den hieraus erwachsenden komplexen kognitiv-emotionalen Lagerungen wie Neid, Eifersucht und Depression. Unweigerlich beginnen die auf diese Weise affizierten Menschen die hieraus erwachsenden Empfindungen und Konstruktionen mit ihren eigenen zu verwechseln – und gegebenenfalls an den daraus erwachsenden Konsequenzen zu leiden.

2.2 Die Suche nach der Befreiung aus dem Leiden Insbesondere Ernst Tugendhat hat mit den Mitteln der analytischen Philosophie aufgezeigt, wie aus dem menschlichen In-der-Sprache-Sein Problemlagen erwachsen, die in das Bedürfnis münden, die eigene Egozentrik zu überwinden. Der Ausgangspunkt der Tugenhat’schen Analyse besteht in dem Befund, dass wir spre-

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chende Tiere sind, die – eingewoben in die propositionale Struktur unserer Sprache – ein Ich aufbauen, das mit dem, was wir als rein biologische Form empfinden, in einem Spannungsverhältnis steht. Man lebt und empfindet demnach nicht einfach nur als Körper, sondern man kann sich gegenüber der eigenen leiblichen Erfahrung als handelndes oder erleidendes Ich verhalten. Zusätzlich zu dem, was man als Körper erlebt und empfindet, lässt sich durch das Denken Weiteres erleben und empfinden. Dabei entsteht gewissermaßen eine Metakognition, die ihrerseits das menschliche Erleben und Handeln informiert und strukturiert. Auf diese Weise kann man sich zu sich selbst verhalten. Im Medium der Sprache lebend kann sich der Mensch damit von einem Teil seiner gelebten Praxis distanzieren. Möglich wird dies durch die Situationsunabhängigkeit der Sprache, die ein Ich formulieren lässt, das reflexiv auf sich selbst verweist. Hierdurch eröffnen sich Freiheitsgrade, welche es dem Mensch gestatten, Wünsche zu formulieren und selbst gesetzte Ziele zu verfolgen. Der leiblich-körperliche Vollzug und das Ich treten hiermit nolens volens in eine Spannungslage. Infolgedessen wandelt sich für den Menschen als Ich-Sager „die rudimentäre Selbstzentrierung, die wohl zum Bewusstsein überhaupt gehört, zu einer Ego-Zentrizität um: man hat nicht nur Gefühle, Wünsche usw., sondern man weiß sie als seine eigenen Wünsche“ (Tugendhat 2006, 28f.). Man ist sich also auch der Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit bewusst. Aus dieser typisch menschlichen Disposition folgt eine Reihe von Konsequenzen. Zunächst ergibt sich die banale, aber folgenschwere Konsequenz, dass die an sich selbst und an andere Personen gestellten Wünsche und Erwartungen möglicherweise nicht erfüllt werden. Die propositionale Struktur eröffnet eine weitreichende Spannungslage, die darauf beruht, dass ein Scheitern dem eigenen Selbst zugerechnet wird und damit identitätswirksam wird. Indem der Mensch „sich sagt ›es liegt an mir‹, konfrontiert er sich mit sich selbst. Und dieselbe Konfrontation mit sich erfolgt im Selbstvorwurf (‚ich hätte mich mehr bemühen können‘)“ (Tugendhat 2006, 57f.). Als weitere Folge der Sprachlichkeit kommen Menschen nicht umhin, ihr eigenes Leben und ihre eigenen Lebensentwürfe mit dem bzw. mit denen anderer Ich-Sager zu vergleichen, um hieraus Wertorientierungen zu gewinnen. Sie reflektieren, dass sie Dinge gut oder besser tun können, woraus eine normative Dimension erwächst, die wiederum auf das eigene Verhalten rückgewendet wird. Die Sprache eröffnet die Alterität der Du-Perspektiven und hiermit einhergehend nolens volens den Erwartungshorizont auch von anderen vergleichend wahrgenommen und bewertet zu werden. Es erscheint folglich bedeutsam, zumindest in bestimmten Aspekten des eigenen Lebens gut zu sein. Da diese Prozesse kein abstraktes Zeichensystem darstellen, sondern als Konfigurationen des eigenen Lebens gefühlt werden, gehen sie mit Bedürfnissen einher, insbesondere mit dem Bedürfnis nach „Bestätigung, liebenswert und schätzenswert zu sein“ sowie nach „dem Gefühl sich wichtig vorzukommen“ (Tugendhat 2006, 44). Hieraus ergeben sich auf psychologischer Ebene einige komplexe kognitivemotionale Lagerungen, die darauf basieren, dass das gelebte Leben nicht mit den

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Bildern, Konzepten und Empfindungsprojektionen übereinstimmt, welche das Selbst als propositionale Entwürfe seiner selbst hervorgebracht hat. Scham, Schuld, Neid, Eifersucht und Reue beruhen allesamt auf Diskrepanzen zwischen dem Selbst und dem leiblichen Vollzug, der über den sprachlichen Entwurf hinausgeht. Darüber hinaus ist zu betonen, dass sich die geschilderten Spannungslagen auch in einer sozialen Dimension entfalten. Denn die Werte, mithilfe derer sich im Vergleich die eigenen Ansprüche bestimmen, werden auch von anderen wahrgenommen, woraus für den Ich-Sager der Umstand resultiert, dass er nicht nur von sich selbst, sondern auch von anderen geschätzt, das heißt als gut oder schlecht beurteilt und entsprechend anerkannt wird. Als weitere wichtige Konsequenz, die mit dem In-der-Sprache-Sein einhergeht, tritt das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit auf. Mit der Sprache können Zukünfte und Vergangenheiten thematisiert und dem Hier und Jetzt der Gegenwart gegenübergestellt werden. Damit wird die Sinnfrage virulent und sie erscheint beunruhigend, da sich im Angesicht der im Leben auftretenden Kontingenzen und der Absurdität des Lebens selbst keine allumfassende Antwort zeigt, die in intellektuell redlicher Weise überzeugen könnte. Die in dieser Weise nachgezeichnete Conditio humana zeigt den Menschen als ein konstitutionell unruhiges Wesen, als einen Menschen, der von seinen Ansprüchen hin und her getrieben ist, der in Hinblick auf unterschiedliche Rollenanforderungen nach seiner Authentizität sucht und der – sofern er zur Ruhe kommt – von einer Sinnfrage aufgewühlt wird, die seine Fähigkeit zum abstrakten Denken, sein Leben und seine biografische Verortung als ganzes reflektieren lässt. Aus der benannten Disposition heraus ergibt sich mit Tugendhat eine Bewegung, die darauf beruht, dass das menschliche Bewusstsein die eigene Egozentrik und die hieraus erwachsenden Formen eines psychisch wie auch sozial destruktiven Egoismus als Ursache seines Leidens anerkennt und nach Auswegen suchen lässt. Hiermit ist für Tugendhat im Keim schon die Bewegung hin zur Spiritualität oder Mystik angelegt, denn: Wer in der Lage ist, innerhalb der zwischenmenschlichen Verhältnisse die Zinke des Zurücktretens zu akzeptieren, weil er einen Bezugspunkt hat, relativ zu dem es möglich ist, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, verhält sich zumindest partiell als Mystiker (so wie ich das Wort verstehe). (Tugendhat 2006, 87f.)

Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass ein Ich-Sager, der ein bestimmtes Reflexionsniveau erreicht hat, nur dann gut leben kann, wenn es ihm gelingt, Fähigkeiten auszubilden, die ihm helfen, seine Egozentrik ein wenig zurückzudrängen. In der mystischen Haltung begegnen wir also einer Sammlung weg von sich selbst. Diese Bewegung ist – und dies ist für die Auseinandersetzung mit buddhistischen Praktiken von erheblicher Bedeutung – ein aktiver Prozess, der gewissermaßen gewollt ist. Tugendhat verdeutlicht diese auf den ersten Blick paradox anmutende Beziehung zu sich selbst mit dem Verweis auf Meister Eckhart:

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Daß man den Willen aufgeben soll, ist natürlich eine missverständliche Ausdrucksweise: gemeint ist immer nur der ‚Eigenwille‘, d. h. das Insistieren darauf, daß die Dinge gerade so sein sollen, wie man es sich wünscht, und davon sich frei zu machen, erfordert gerade ein Wollen: dasjenige höhere Wollen, das ich oben als ‚zweite Reflexion‘ angesprochen habe. Das ist, was Eckhart einen ‚guten Willen‘ nennt, wenn er nämlich ‚ohne jede Ich-Bindung ist‘ [...] (§ 10). Naturgemäß lassen sich hier viele Ausdrücke mißverstehen, auch der der ‚Ich-Bindung‘, denn gewiß läßt sich auch der Schritt zurück des guten Willens nur als ein ‚ich will‘ verstehen. Was Eckhart mit dem Aufgeben der ‚Ich-Bindung‘ anspricht, also subjektbezogen, bezieht er an andere Stelle in objektbezogener Wendung als ‚Bindungslosigkeit‘ hinsichtlich der Dinge, als ein ‚Freisein‘ gegenüber den Dingen (§ 6), ein ‚Nicht Haften‘ (§ 7), und erläutert das auch (§ 23) durch die bekannte Paulus-Stelle vom ‚Haben als hätte man nicht‘ (2 Kor. 6,10). (Tugendhat 2006, 141)

Mit Tugendhat eröffnet sich also eine Möglichkeit, die buddhistische Lehre von der Unpersönlichkeit bzw. vom Nicht-Selbst (Pali: anatta) nicht im Sinne einer ontologischen Aussage zu lesen, welche die Existenz eines subjektiv empfindenden Zentrums des Erlebens negiert. Nicht-Ich und Nicht-Selbst erscheinen vielmehr als eine epistemische Haltung, die im Sinne einer Praxisanweisung eingenommen werden kann. Ihre Quintessenz würde dementsprechend so lauten (man achte auf die Selbstreferenz, deren Paradoxie nur durch Zeit, also durch Praxis, getilgt werden kann): Erst wenn Du von Dir und Deinen egozentrischen Bedürfnissen vollkommen abstrahierst, kannst Du zu einem wahren glücklichen Menschen werden. Als idealtypische Figur kann hier der Mystiker James der Heilige herangezogen werden, der einem absoluten „Gefühl von Freiheit“ folgt, da für ihn „die beschränkenden Grenzen des Ichs aufgehoben sind“ und damit eine „Verlagerung“ seines „Gefühlszentrums zu Empfindungen von Liebe und Harmonie“ möglich wird, da ausschließlich „spirituelle Gefühle das Zentrum seiner persönlichen Energie darstellen“ (James 1901/1997, 283f.). Oder im Anschluss an Girard: Indem die zerstörerischen und gewalttätigen Momente der mimetischen Identifikation erkannt werden, wird als bewusster Akt ein „schöpferische[r] Verzicht“ möglich (Girard 1999, 314). Da auch dieser Akt des Verzichts im Sinne der zuvor aufgespannten praxistheoretischen Perspektive gefühlt wird, verschwindet keineswegs das Empfinden von subjektiver Zentriertheit bzw. subjektiv empfundener Freiheit. Eine solchermaßen verstandene mystische Bewegung behauptet also nicht, dass es kein „autonomes Selbst gibt“. Sie beruht vielmehr auf der Erkenntnis, „dass die Möglichkeiten eines autonomen Selbst in irgendeiner Weise fast immer von der mimetischen Begierde verdeckt sind“ (Girard 1997, 28).

2.3 Sprache, Psyche und Kommunikation Eine ernsthafte soziologische Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Sprache in religiösen bzw. buddhistischen Praktiken kommt nicht umhin, sich genauer mit

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dem Verhältnis von Psyche (hier verstanden als Bewusstsein im Sinne des phänomenalen Erlebens) und Kommunikation zu beschäftigen. Für das Bewusstsein gilt, dass es eine in sich abgeschlossene Erlebnissphäre darstellt, die sich dadurch reproduziert, dass fortwährend Gedanken, Sinneswahrnehmungen und Handlungsintentionen beobachtet werden, um hieran andere Gedanken, Sinneswahrnehmungen und Handlungsintentionen anzuschließen. Das Bewusstsein schaut dabei gleichsam rückwärts gewandt auf den gerade vergangenen Gedanken, um hierauf seinen nächsten Gedankengang folgen zu lassen. Das Bewusstsein des Anderen bleibt absolut unzugänglich und damit absolut fremd. Es ist dem Sein des eigenen Bewusstseins nicht zugänglich. Seine Existenz ist nicht erfahrbar, sondern nur im empathischen Analogieschluss deduzierbar, oder um mit Lévinas (1998) zu sprechen: Der Andere ist „Jenseits des Seins“. Die Kommunikation stellt demgegenüber einen anderen systemischen Zusammenhang dar, wie insbesondere Luhmann (1993) aufgezeigt hat. Sie reproduziert sich dadurch, dass Äußerungen (sei es in schriftlicher, gesprochener oder anderer Form) an Äußerungen anschließen. Da sich prinzipiell nicht kontrollieren lässt, was genau der jeweils Andere versteht – denn die Psyche des Anderen bleibt unzugänglich –, lässt sich Kommunikation nicht als Einheit der Übertragung von Information von einem Bewusstsein zu einem anderen Bewusstsein verstehen. Kommunikation kann und darf deshalb nur differenztheoretisch gefasst werden, nämlich als Möglichkeit (und Wahrscheinlichkeit) divergierender Verstehensperspektiven, die durch das Prozedere von Sinnanschlüssen, die an andere Sinnanschlüsse, von Texten, die an andere Texte anschließen, zur Einheit gebracht werden kann. Mit ihrer Fähigkeit, Sinn zu prozessieren, reitet die Kommunikation zwar auf den Bewusstseinssystemen, im strengen analytischen Sinne ist jedoch festzustellen, dass sie bewusstseinsfrei arbeitet. Sie geht also nicht etwa darin auf, dass sich unterschiedliche Einzelbewusstseine zu einem Superbewusstsein vereinen, sondern sie konstituiert einen Sinnzusammenhang, der nicht auf einem phänomenologisch repräsentierbaren Sinnprozedere beruht, sondern mithilfe eines transpersonalen Differenzgeschehens prozessiert. Allein die Sprache stellt das Bindeglied zwischen diesen beiden Sphären dar. Als individuell erlebbares sinnliches Phänomen (hörbar, sichtbar, fühlbar und leiblich expressiv ausdrückbar) ist sie Teil der eigenen Psyche. Als nicht zugängliche Verstehensleistung eines anderen Ichs, perpetuiert sie sich jenseits des Bewusstseins und erscheint diesem gegenüber als eine Umwelt, die zugleich vertraut (nämlich als typisierende Aneignung und stabilisierte Erwartung) wie überraschend und unvertraut erscheint (etwa in den Erfahrungen des Missverstehens und enttäuschter Erwartungen). Die Unterscheidung von Kommunikation und Psyche ist nicht nur ein rein philosophisch-analytisches Gedankenspiel, sondern unabdingbar, um die Bedeutung der Sprache in Religion verstehen zu können. Denn während die Psyche nur seinslogisch fassbare Inhalte zum Gegenstand nehmen kann – nämlich das, was das

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Bewusstsein als Gegenstand erlebt (und sei es auch nur ein Gedanke oder die Phantasie) –, kann die Kommunikation Nicht-Seiendes in ihr Prozedere einschließen. In ihr können Gegenstände auftreten und einen Informationswert bekommen, die nur negativsprachlich formulierbar sind, die also nicht mit einer positivsprachlichen Repräsentation einhergehen, z. B. die Leere, das Nichts oder Gott. Anders formuliert kann in der Kommunikation etwas instruktiv werden, das durch das Sein nicht erreichbar ist. Nur weil die Kommunikation bewusstseinsfrei operiert, kann mit ihr etwas aus einer anderen Welt in die Sprache eindringen, das dadurch für Bewusstseinsprozesse relevant werden kann. Dies eröffnet die Möglichkeit der Transzendenz, da das absolute Andere, das, was durch Bewusstsein nicht erreichbar ist, in den Bereich des Seins der Phänomene eintritt. Im Sinne der Lévinas’schen Arbeiten beginnt dies bereits mit der Zweite-Person-Perspektive, die konstitutionslogisch genauso fremd und damit potenziell transzendierend ist (sofern man sich von einer noch nicht typisierend angeeigneten, also einer absoluten Anderheit irritieren lässt) wie der jüdisch-christliche Gott oder die buddhistische Lehre, die beide ebenfalls nicht durch das Bewusstsein erreicht werden können. Im gleichen Sinne formuliert Gotthard Günther, der die Konzeption der Negativsprache entwickelt hat: Was jenseits des Abbruchs liegt, ist schlechterdings unzugänglich. Was hiermit gemeint ist, muß jedem sofort deutlich werden, wenn wir auf eine ganz alltägliche Erfahrung hinweisen. Für jedes erlebende Ich ist die innerste Privatheit der Du-Subjektivität ein ebenso unzugänglicher Raum wie die mythologischen Dimensionen, in denen die himmlischen Heerscharen schweben. In beiden Fällen stehen wir am Rande eines Kontexturabbruches, der in keinem Fall größer oder geringer ist als in dem anderen. (Günther 1975, 61f.)

Spätestens hier wird deutlich, dass die soteriologische und/oder religiöse Rede nur deshalb funktionieren kann, weil Kommunikation und Psyche nicht ineinander aufgehen und weil mit der Kommunikation eine Negativsprache möglich wird, in der Nichts eine Wirkung haben kann, in der also das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten ausgehebelt werden kann, etwa indem es Gott zugleich gibt (nämlich als negativsprachlichen Gegenstand) wie auch nicht gibt (nämlich nicht als Bestandteil einer positivsprachlich fassbaren Erfahrung). In diesen Sinne gilt einerseits Wittgensteins Diktum, dass man darüber zu schweigen hat, wovon man nicht sprechen kann. Andererseits aber gilt, dass man genau darüber kommunizieren kann (und muss?). Und gerade Wittgenstein tut dies. Anders formuliert hat das Bewusstsein still zu sein und aufzuhören nach dem Sinn zu fragen, damit Kommunikation statthaben kann, um das Bewusstsein sich selbst überraschen zu lassen, um die Wirkung einer Sprache entfalten zu lassen, die von Nichts redet und gerade deshalb ihre Wirkung entfaltet. An dieser Stelle ist an die vorangehend ausgeführte leibliche Verankerung der Sprache anzuschließen: Worte dringen in den Körper, werden gefühlt. Wenn sich das Bewusstsein durch eine soteriologische Sprache affizieren lässt, geht mit ihr dementsprechend eine empfundene Leiblichkeit einher, die einen Unterschied

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macht, und die gerade deshalb als fleischgewordenes Symbol erscheint, weil sie eine Erfahrung repräsentiert, die zugleich ist und nicht ist, was sie ist. Der empfundene Gott oder die gefühlte buddhistische Lehre ist natürlich nicht Gott oder die Leere, sondern eine leibliche Empfindung. Doch zugleich steht die sprachlich-symbolisch vermittelte Empfindung für das Unaussprechliche, gibt diesem also eine leibliche Repräsentation, wodurch gewissermaßen die Transzendenz – das, was jenseits von Welt ist, bzw. das, was nicht Welt ist – in der Immanenz erscheinen kann (vgl. Lasch in diesem Band).

3 Buddhistische Soteriologie (insb. die Bedeutung der Negativsprache für das Verständnis religiöser Praxen) Kommen wir nun nach diesen einführenden Überlegungen zu der buddhistischen Befreiungslehre, um die Spezifika der hier zum Ausdruck kommenden soteriologischen Rede herauszuarbeiten. Das unstrittige Ziel buddhistischer Praxis ist die Erlangung von nibbāna (Pali, in Sanskrit: nirvāṇa). Schauen wir zunächst, wie nibbāna innerhalb der kanonischen Schriften umschrieben wird: Es gibt, ihr Mönche, einen Bereich, wo weder Festes noch Flüssiges ist, weder Hitze noch Bewegung, weder diese Welt noch jene Welt, weder Sonne noch Mond. Das, ihr Mönche, nenne ich weder ein Kommen noch ein Gehen, noch ein Stillstehen, weder ein Geborenwerden noch ein Sterben. Es ist ohne jede Grundlage, ohne Entwicklung, ohne Stützpunkt: Das eben ist das Ende des Leidens. (Udana VIII, 3, zitiert nach Nyanatiloka 1989, 136)

Nibbāna erscheint hier als das Unbedingte und steht synonym für das Todlose. Es wird als das Element jenseits des Bedingten (nibbāna dhātu) verstanden, als das Ungewordene, Unentstandene und Unvergängliche. Da aber jegliche menschliche Erfahrung vergänglich ist, kann es sich bei nibbāna nicht um ein sinnlich erfahrbares Phänomen handeln. Jeder Versuch, es positivsprachlich zu fassen, ist dementsprechend zum Scheitern verurteilt, denn man müsste sagen, dass es sich hier um eine Sphäre des Nicht-Bewusstseins handelt, bzw. die Zen-Buddhisten würden sagen, dass wir hier auf Nicht-Geist (Izutsu 1986, 21) treffen (vgl. Liebert in diesem Band, „Unsagbares“). Nach der klassischen, zweiwertigen Seinslogik ist nibbāna die Negation von Sein, also als Nichts, und in diesem Sinne verwundert es nicht, dass der Pali-Begriff vielfach als ›Verlöschen‹ übersetzt wurde und in der frühen europäischen Rezeption (man denke hier etwa an Arthur Schopenhauer) eher mit einer depressiven Konnotation einherging. Im Pali-English Dictionary heißt es: »Nibbāna (nt.). – I. Etymology. Although nir+vā ›to blow‹. (cp. BSk. nirvāṇa) is already in use in the Vedic period (see nibbāpeti), we do not find its dis-

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tinctive application till later and more commonly in popular use, where vā is fused with vṛ in this sense, viz. in application to the extinguishing of fire, which is the prevailing Buddhist conception of the term. Only in the older texts do we find references to a simile of the wind and the flame; but by far the most common metaphor and that which governs the whole idea of nibbāna finds expression in the putting out of fire by other means of extinction than by blowing, which latter process rather tends to incite the fire than to extinguish it. The going out of the fire may be due to covering it up, or to depriving it of further fuel, by not feeding it, or by with-drawing the cause of its production. Thus to the Pali etymologist the main reference is to the root vṛ (to cover), and not to vā (to blow). This is still more clearly evident in the case of nibbuta (q. v. for further discussion). In verbal compn. nis+vā (see vāyati) refers only to the (non – ) emittance of an odour, which could never be used for a meaning of ›being exhausted‹; moreover, one has to bear in mind that native commentators themselves never thought of explaining nibbāna by anything like blowing (vāta), but always by nis+vana (see nibbana). For Bdhgh's defn of nibbāna see e. g. Vism 293. – II. The meanings of n. are: 1. the going out of a lamp or fire (popular meaning). – 2. health, the sense of bodily well – being (probably, at first, the passing away of feverishness, restlessness). – 3. The dying out in the heart of the threefold fire of rāga, dosa & moha: lust, ill – will & stupidity (Buddhistic meaning). 4. the sense of spiritual well – being, of security, emancipation, victory and peace, salvation, bliss« (RhysDavids 1992, 362).

Diese Interpretation steht jedoch in starkem Widerspruch zur Auffassung praktisch aller noch bestehenden buddhistischen Schulen, die nibbāna als etwas absolut positives Ansehen (vgl. King 1964, 89f.). Die soteriologische Bedeutung der Rede von nibbāna erschließt sich also nicht aus einer Seinslogik, entsprechend der die Negation von Erfahrung und Bewusstsein mit Nichtbewusstsein und Tod gleichgesetzt wird, sondern nur aus Perspektive einer Negativsprache, in der die Negation über die zweiwertige Logik hinausweist, das Nichts also nicht Nichts ist, sondern auf eine Transzendenz in einen unbekannten Raum verweist. Die negativsprachliche Reflexion verweist hier also auf eine Reflexionsbeziehung, die darin mündet, dass das Nicht-Existierende, das nicht Erscheinende und Vergehende, mit der Befreiung einhergeht. Deutlich wird dies etwa in dem folgenden Vers aus der Dhammapada: Ein Mönch mit ruhigem Geist, der in eine leere Behausung geht und den DHAMMA klar und richtig sieht: Seine Freude ist mehr als menschlich. Wie auch immer wie auch immer er mit dem Entstehen und Vergehen der Anhäufungen in Berührung kommt: er erlangt Verzückung & Freude: das ist, für jene, die es kennen, frei von Tod, das „Todlose“. (Dhammapada 373/374 [Q1])

Schauen wir uns die propositionale Struktur dieses Verses etwas genauer an. Mit diesem Vers wird zunächst eine kausale Beziehung impliziert. Die Verbindung „wie auch immer“ weist darauf hin, dass es eine Bedingung für die Erfüllung der Kausal-

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beziehung gibt. Die „Anhäufungen“ (Pali: khandha), oft auch als Daseinsgruppen übersetzt, stellen die Totalität dessen dar, was Menschsein ausmacht: Die Kombination von Körperlichkeit, Bewusstsein, kognitiven Fähigkeiten, Gefühl und angehäuften Reaktionsmustern. Die Anhäufungen bzw. Daseinsgruppen stehen als grammatikalisches Objekt dem praktizierenden Mönch gegenüber. Hierdurch eröffnet sich sinnlogisch die Möglichkeit der Selbstbetrachtung. Das Subjekt macht sich selbst zum Objekt, wenngleich die syllogistische Identität zwischen Selbst und den Daseinsgruppen weiterhin fortbesteht. Die Daseinsgruppen stellen mengentheoretisch die Menge (das Allgemeine) dar, während der Mönch für ein spezifisches Element steht, das heißt für eine spezifische Kombination von Daseinsgruppen. Das spezifische „Er“ hat somit das unpersönliche Allgemeine zum Objekt. Durch „Entstehen und Vergehen“ wird eine Eigenschaft der Daseinsgruppen benannt. Sie erscheinen als ein fließendes Phänomen, das aufscheint und wieder verschwindet, wie eine Kerzenflamme, die aufleuchtet und wieder verlischt. Die Eigenschaft des Entstehens und Vergehens kann wahrgenommen werden – man kann mit ihr in Berührung kommen und eben diesen veränderlichen Prozess erfahren. Mit dem „Todlosen“ wird schließlich ein Bereich jenseits des Entstehens und Vergehens beschrieben. Dennoch ist das „Todlose“ von jemandem zu erkennen. Das „Todlose“ als das Abstrakteste, das per se unsinnlich ist, zeigt sich als Gegenüber eines Subjekts, das als ein Konkretes sterblich und vergänglich ist und sich als solches erfährt. Hier treffen wir auf ein scheinbares Paradoxon. Wie kann jemand, der sich ausschließlich in einer sinnlichen Welt erfahren kann, etwas erleben, das nicht im sinnlichen Bereich erfahrbar ist? Sinnlogisch löst sich dieses Paradoxon durch den Vollzug einer Handlung auf (s. o.). Die Spannung zwischen dem konkreten, vergänglichen sowie relativen „jemand“ und dem verallgemeinerten Sein des „Todlosen“ wird damit in den ständig zu vollziehenden Prozess des sich selbst Gegenüberstellens überführt. (Nur) eine konkrete Person kann eine Reflexion vollziehen, in der sie in ihrer verallgemeinerten todlosen Form erkennt, um in Folge das Glück der hiermit verbundenen Empfindungen zu genießen. Erst durch diese aktiv vollzogene Reflexionsleistung vermittelt sich das zunächst absolut abstrakte „Todlose“ in einer konkreten Lebenspraxis, die in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit sich selbst, also in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben geleistet werden muss. Negativsprache und Positivsprache sind hier in einer raffinierten Weise verschachtelt. Das „Todlose“ ist kein Bereich des Seins. Im Feld der sinnlichen Phänomene gibt es nichts, das nicht stirbt oder vergeht. Dementsprechend ist das „Todlose“ nicht von dieser Welt, bzw. strenggenommen ist es von keiner Welt. Es tritt gewissermaßen aus dem Nichts in die Reflexion ein, um hier einen entscheidenden, soteriologisch hoch bedeutsamen Unterschied zu machen, nämlich indem die semiotischen Implikationen der vollzogenen Reflexion leiblich gefühlt werden, also das Abstrakte und per se Unsinnliche verkörpert wird, in der sprachlich-leiblichen An-

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eignung lebendig wird. In Folge steht das Nichts also nicht mehr im dichotomen Gegensatz zum Leben. Während die zweiwertige Daseinslogik nur die Binarität von Leben und Tod kennt, tritt über die Negativsprache eine mehrwertige Logik auf, nach der „Entstehen und Vergehen“ als Einheit des Lebens erscheinen, der das „Todlose“ als positivsprachlich ausgeschlossenes Drittes gegenübergestellt ist. Dem, der nicht über die analytische Unterscheidung zwischen Psyche und Kommunikation verfügt, werden die in den buddhistischen Schlüsseltexten zum Ausdruck kommenden Sprachformen paradox oder unsinnig anmuten. Als soteriologische Praxis ergibt die zum Ausdruck kommende Rede jedoch Sinn, denn als sprachlich-reflexiver Vollzug ist das „Todlose“ nicht Nichts, sondern nichts anderes als eben dieser Vollzug. Aus leiblicher Perspektive ist Sprache niemals abstrakt, sondern immer konkret – immer eine empfundene Beziehung, die das Verhältnis eines Menschen zu sich selbst konfiguriert. Die soteriologische Rede des Buddhismus wird also verständlich, sobald wir sie als eine Praxis begreifen, welche die Transzendenz – als das Nichtexistente, von dem nur die Kommunikation reden kann – in den leiblichen Vollzug einführt und diese in einer Weise als Praxis wirksam werden lässt, in der Konkretes und Abstraktes gewissermaßen zusammenfallen, als Vergängliches und Unvergängliches in einer Form erscheinen. In der Vissuddhi Magga heißt es dementsprechend: (1) Sich in Eigenes versenkt habend, sich über Eigenes erheben; [...] (9) Sich mit einem Male über alle Daseinsgruppen erheben; (10) Sich in die Vergänglichkeit versenkt habend, sich über das Vergängliche erheben; (11) Sich in das Elend versenkt habend, sich über das Elende und Unpersönliche erheben; (12) Sich in das Elend versenkt habend, sich über das Elende, Vergängliche und Unpersönliche erheben; (13) Sich in die Unpersönlichkeit versenkt habend, sich über das Unpersönliche, Vergängliche und Elende erheben. (Buddhaghosa 2003, 790).

Hiermit wird deutlich, dass sich die buddhistische Praxis keineswegs auf die stille Meditation bzw. das hiermit einhergehende Erleben von Bewusstseinszuständen reduzieren lässt, sondern vor allem eine Reflexionsbeziehung darstellt. Somit ist die buddhistische Praxis als solche ohne Sprache nicht denkbar. Sie bedarf aber, wie deutlich wurde, einer besonderen Form der Sprache, nämlich einer Negativsprache, über die sich etwas in diese Welt einführen lässt, das jenseits des Seins liegt. Damit die buddhistische Praxis ihre Wirkung entfalten kann bzw. um im doing religion die soteriologische Dimension der buddhistischen Lehren wirksam werden zu lassen, ist eine kontinuierliche Aktualisierung der Reflexionsbeziehung notwendig. Im Sinne der vorangegangenen Ausführungen hat dies zugleich auf Ebene der Kommunikation wie auch auf Ebene des psychischen Erlebens zu geschehen. Versuchen wir nun anhand der buddhistischen Konzeption der Erleuchtung, also der Erlangung von nibbāna, etwas genauer herauszuarbeiten, wie sich diese

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beiden unterschiedlichen Sinnsphären verschränken, um sich miteinander reproduzieren zu können. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Erleuchtung und nibbāna auf psychischer und kommunikativer Ebene etwas Unterschiedliches bedeuten. Wenn wir Kommunikation als ein eigenständiges System begreifen, das weder wahrnimmt noch fühlt (dies kann nur die Psyche), dann können wir mit Blick auf die in den klassischen Texten anzutreffenden Erläuterungen zu nibbāna folgendermaßen formulieren: Erleuchtung kommt nur in der Kommunikation vor, denn nur die Kommunikation kann sinnfrei, das heißt ohne Referenz auf ein sinnliches Erleben operieren. Dementsprechend kann auch nur hier etwas thematisiert werden, das absolut unbestimmt ist, was sich also der Möglichkeit des Erlebens verschließt. Innerhalb der Psyche kann demgegenüber nur Bestimmtes erlebt werden – und sei es der Gedanke an ein Nichts, die Leere oder die Erleuchtung, was mit besonderen, hiermit verbundenen Empfindungen und Stimmungen einhergehen mag. Nibbāna gehört laut Definition in den Schriften dem Bereich des Unbedingten an und dementsprechend entsteht und vergeht es nicht. Im Gegensatz dazu müssen – um es nochmals zu formulieren – alle durch meditative Techniken evozierten Erfahrungen als bedingt angesehen werden (denn sonst könnten sie nicht erlebt werden). Innerhalb des psychischen Systems kann nibbāna also nicht vorkommen, denn ansonsten wäre es durch psychische Kontextfaktoren bedingt. Es wäre in diesem Fall dem Verstehen und Vergehen unterworfen und würde nicht dem Bereich des Absoluten angehören. Wenngleich Psyche und Kommunikation unterschiedlichen Systemsphären angehören, sind sie in Hinblick auf ihr Prozessieren miteinander verschränkt. Die Kommunikation reitet sozusagen auf den Verstehensleistungen der psychischen Systeme. Die psychischen Leistungen referieren ihrerseits auf die Sinnangebote, die die Kommunikation zur Verfügung stellt. Anders formuliert treffen wir hierbei auf eine Koproduktion, innerhalb der die Psyche sozial angelieferten Sinn inkorporiert und interpretiert, das heißt mit Empfindungen, Erinnerungen, Bildern und anderen sinnlichen Verweisen anreichert: In diesem Sinne lässt sich sagen, dass der psychische Prozess auf sozial interpretierten Hirnereignissen beruht. Nur aus diesem Grunde kann Kommunikation jemandem überhaupt sinnvoll erscheinen. Wenn sich Menschen von buddhistischen Lehren affizieren lassen, entsteht damit eine merkwürdige Lagerung, in der die Kommunikation mit dem soteriologischen Ziel nibbāna etwas als bedeutsam markiert, das keinerlei Anschluss im psychischen Erleben finden kann, da zugleich die Möglichkeit einer sinnlichen Repräsentation ausgeschlossen bzw. negiert wird. Mit den Worten Peter Fuchsʼ gesprochen begegnen wir somit einer Art „Un-Sinnigkeit“, die jedoch „selbst zur Information“ wird, da sie als Kommunikation eines Buddhas nicht negierbar ist. Sie profiliert sich allein schon durch den nicht ignorierbaren „Akt der Mitteilung“. Die

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Information ist, wenn man so sagen darf, eine der zweiten Ordnung. Ihr Selektionszusammenhang wird aufgespannt durch die Selektion der Mitteilung. Die Mitteilung ist als Selektion eindeutig. Die Information ist alles andere als klar, und es ist diese (kommunikativ produzierte) Differenz, die sich als informationsträchtig auswirkt. (Fuchs 1997, 63)

Es wird also deutlich, dass es um etwas hochgradig Signifikantes geht, ohne jedoch auch nur ansatzweise spezifizieren zu können, worin der Sinn des angedeuteten Sachverhalts besteht. Auf der psychischen Seite steht die Zumutung eines sinnfreien Sinns, der einerseits das Denken paralysieren und andererseits nach Lösungen oder gar nach der Befreiung suchen lässt. Eine solche Kommunikation ist nicht nur als Kommunikation wirksam (etwa in dem Sinn, dass sich an sie philosophische Kommentare oder literarische und künstlerische Formen anschließen lassen), sondern sie kann in potenter Form die Psyche affizieren. Dies geschieht aus praxistheoretischer Perspektive allein schon deshalb, weil eine Reihe sozialer Mechanismen (z. B. mimetische Prozesse) Menschen an solche Personen binden lassen, die Mitteilungen der oben benannten Form verkünden und damit die Bedeutung des Gesagten zugleich fühlen lassen. Die Frage der Erleuchtung würde damit für die Psyche eine besondere Sinnzumutung darstellen, die – je mehr man sich ihr ausliefert – eine Sinnparalyse induziert, die auch auf psychischer Ebene nach Bearbeitung verlangt (vgl. Liebert in diesem Band, „Unsagbares“). Vor diesem Hintergrund ließe sich vermuten, dass es auch auf psychischer Ebene durchaus ein Korrelat zur Erleuchtung geben könnte. Entgegen der kommunikativen Selbstbeschreibung kann und darf es sich hierbei jedoch weder um eine NichtErfahrung handeln noch um eine Transzendenzerfahrung, welche die diesseitige Welt verlassen lässt (vgl. Lasch in diesem Band). Vielmehr wäre eine besondere Art des Durchdrehens zu vermuten, welche allerdings nicht ein psychiatrisches Krankheitsbild mündet, sondern die Sinnfrage zumindest temporär stoppt. Um das bereits in der Einleitung verwendete Zitat von Ferry aufzugreifen, müsste es im Kontext dieser Erfahrung gelingen, „zu einer Weltsicht zu gelangen, in der die Frage nach dem Sinn verschwindet“ (Ferry 1997, 32). Dieser Zustand wäre aber mit Peter Fuchs alles andere als angenehm und weit entfernt von der Vorstellung himmlischer Ekstase, die man mit der Erlösung von den Zumutungen des sozial angelieferten Sinns verbinden würde. Denn eine solche „Ruptur“ würde unweigerlich mit der Aktivierung „benennbarer Körperzustände“ einhergehen, die erlebt und erinnert werden. Anders ausgedrückt: Das System kippt nicht einfach in ein Nichts. An diese Stelle tritt, wenn es um das Arretieren der Verweisungen geht in jenem Begreifen des Todes, ein ganz besonderes, in einschlägigen Traditionen auch besonders hervorgehobenes Gefühl: Grauen. Das Spezifische des Grauens ist seine Nicht-Spezifik, Grauen ist die Angst ohne ein bezeichenbares Wovor. Genau in dieser Hinsicht ist die Empfindung paßgenau bezogen auf den Abbruch jeder Verweisung: als referenzlose Angst. (Fuchs 2015, 240)

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In diesem Zustand lässt sich nicht ewig verweilen, irgendwann setzt der Sinnprozess wieder ein – und die hiermit verbundene retrospektive Reflexion dieser Erfahrung. Was bleibt, [und hierin sieht Peter Fuchs „die Diaphanie der großen Außenseite der Einseitenform Sinn in Sinn“, W. V.] ist die Erinnerung an das Unausdenkbare, an die Mortura, die dann viele Phänomene stimuliert, die Kunst als das Vorführen des Unbeobachtbaren am Beobachtbaren, und natürlich die Religion (eingeschlossen die Mystik). (Fuchs 2015, 240)

Im Rückblick auf diese Erfahrung erscheint die Welt tatsächlich als eine andere: All das menschliche Streben, einschließlich der spirituellen Suche nach Erleuchtung ist von der Sinnlosigkeit und dem damit einhergehend erfahrenen Grauen gefärbt. Wenn aber das Erleben des „Unausdenkbaren“ nicht weggedrängt, sondern die Erinnerung präsent gehalten wird, kann diese Erfahrung als befreiend erlebt werden. Denn die sozialen Sinn-Zumutungen, die durch andere Menschen und durch die Gesellschaft an einen herantragen werden (gerade auch religiöse und spirituelle Ansprüche), verlieren an Bedeutung. Damit kann eine simplere und weniger anstrengende Form von Autonomie und Authentizität gelebt werden. Auch die Suche nach Erleuchtung erscheint damit bedeutungslos. Eine solche Erfahrung als Erleuchtung oder Befreiung zu kommunizieren, muss jedoch prekär anmuten, da nolens volens auf ein individuelles Erleben rekurriert werden muss. Hiermit schließt sich der Kreis. Wir können die Rede von der Erleuchtung als eine besondere Form der soteriologischen Kommunikation begreifen, welche die Möglichkeit des Verstehens zugleich negiert wie auch affirmiert, und die damit auch in psychischer Sicht hoch relevant ist, denn sie eröffnet die Möglichkeit, sich in einer besonderen Weise dem eigenen Leiden zu stellen, nämlich in einer Form, die – wenn die Verschränkung von Psyche und Kommunikation gelingt – den Sinn des Leidens und damit das Leiden selbst suspendiert. Wie oben erläutert vermitteln die buddhistischen Lehren eine Reflexionsbeziehung, was nur mit und in der Sprache möglich ist. Allerdings – und dies ist entscheidend, um das soteriologische Potenzial der buddhistischen Lehren zu verstehen – funktioniert dies nur über eine Negativsprache, mittels der sich in die diesseitige Welt etwas einführen lässt, was jenseits des Seins liegt. Eine solche Form der soteriologischen Rede findet selbstverständlich nicht nur in buddhistischen Kommunikationszusammenhängen statt, sondern ist auch in anderen religiösen Praxisformen anzutreffen. Auch der christlich-jüdische Gott ist nicht von dieser Welt, auch er lässt sich nicht im Bereich des Seins finden, sondern tritt erst er über die Kommunikation, die bewusstseinsfrei und damit jenseits der Phänomene operiert, in die menschliche Welt ein. Das Besondere der buddhistischen Lehren, was diese gegenüber anderen religiösen Systemen auszeichnet, besteht in der Radikalität, mit welcher die Beziehung zwischen Welthaftigkeit und Weltlosigkeit kompromisslos konzeptualisiert ist.

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Denn ihre soteriologischen Schüsselkonzepte – nibbāna, die Leerheit aller Phänomene, die Lehre von der Unpersönlichkeit – sind auf solch einem hohen Abstraktionsniveau formuliert, dass eine positivsprachliche Deutung kaum mehr daran anschließen kann. Während der jüdische Gott dialogisch als Person gedacht werden kann und während sich der islamische oder christliche Himmel in die Form weltlicher Ekstasen projizieren lässt, scheint in den buddhistischen Konzepten die Negativsprache gleichsam zu sich selbst zu kommen. Das heißt, dass sie nur noch als Nichts verstanden werden kann, das nicht einmal nicht ist und dementsprechend auch nicht mit dem Nicht-Sein aus der zweiwertigen Logik zu verwechseln ist, sondern nur in Form von Paradoxien ausgedrückt werden kann. Freilich zeigen sich in den verschiedenen buddhistischen Traditionen immer wieder Varianten, welche die abstrakte Radikalität dieses soteriologischen Entwurfes abschwächen. Man denke hier etwa an die Nur-Geist-Deutung, die einigen Schulen des Mahayana-Buddhismus als Grundlage dient und die die Idee der Leerheit zu einem universellen Superbewusstsein verdinglicht; oder an das Pantheon der buddhistischen Gottheiten im tibetischen Buddhismus, die dadurch als ein konkretes sinnliches Gegenüber erscheinen und adressiert werden können. Wir treffen hier auf vielfältige Versuche, die kaum auszuhaltende Spannung zwischen einer individuellen sterblichen Psyche und der überweltlichen Reflexion des Todlosen durch entsprechende religiöse Projektionen abzumildern, wenngleich üblicherweise weiterhin mitgeführt wird, dass die eigentliche Befreiung nur dann möglich ist, wenn „die Bedeutung der Leerheit wirklich erkannt“ wird (Gampopa 1996, 245f.), wenn also erkannt wird, dass Projektionen nichts anderes als Projektionen darstellen. Insbesondere im Zen-Buddhismus zeigen sich jedoch – vor allem in den Kōans – nochmals eigenständige, über die indische Ideenwelt hinausgehende Versuche, das Unaussprechliche zum Sprechen zu bringen, indem beispielsweise vom „Geist, der kein Geist ist“, vom „Geist, der als nichtexistierender Geist existiert“ oder vom „Geist, der sich im Zustand des Nichts befindet“ gesprochen wird (Izutsu 1986, 21; zur Funktion einer Sprache, die auf die Suspension von Sinn und Bedeutung zielt auch 59ff.; vgl. Liebert in diesem Band, „Unsagbares“). Wie auch immer, die Essenz der buddhistischen Lehren erschließt sich nur über die Negativsprache, also über eine kommunikative Sphäre, die „anders als Sein geschieht“ (Lévinas 1998), sich durch das Nichts nährend einem Bewusstsein nähert, das all dies nicht verstehen, sondern nur fühlen kann (vgl. Liebert in diesem Band, „Religionslinguistik“). Es stellt sich allerdings abschließend die Frage, ob man die buddhistischen Lehren, wenn man sie in dieser radikalen Form, also jenseits aller Projektion versteht, noch als Religion betrachten kann, oder ob man hier nicht im Sinne der Tugendhatʼschen Unterscheidung von Religion und Mystik den Fokus auf letzteres zu legen hat, denn eine Negativsprache, die zu sich selbst gekommen ist, benötigt keine Projektionen oder andere Illusionen. Sie kann sich damit begnügen, sich von sich selbst überraschen zu lassen.

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Der Weg zur Mystik wird darin bestehen, daß man das Gewicht, das die eigenen Wünsche für einen haben, relativiert oder geradezu leugnet, also eine Transformation des Selbstverständnisses. Der Weg der Religion hingegen besteht darin, daß man die Wünsche läßt, wie sie sind, und statt dessen eine Transformation der Welt mittels einer Wunschprojektion vornimmt: die Macht, die die Menschen umgibt, wird zu diskreten Wesen verdichtet, von deren Wirken man sich vorstellen kann, daß das eigene Glück oder Unglück abhängt, und die als von uns beeinflußbar angesehen werden (Tugendhat 2006, 121f.).

4 Weitere sprachliche Praktiken im Buddhismus Der Fokus dieses Betrags lag darauf, die Implikationen der Negativsprache in den buddhistischen Lehren herauszuarbeiten, um aufzuzeigen, wie eine Religion ohne Gott ihr soteriologisches Potenzial entfalten kann. Der Schwerpunkt liegt damit gewissermaßen in der Essenz davon, worüber man zu schweigen hat, also in der mystischen Seite des Buddhismus. Selbstverständlich gibt es auch andere Bereiche der buddhistischen Praxis, in denen Sprache von Bedeutung ist. In diesem abschließenden Kapitel wird es darum gehen, diese Felder kurz zu thematisieren und die jeweilige Besonderheit der Sprachanwendung aufzuzeigen, ohne jedoch allzu sehr in die Tiefe gehen zu können.

4.1 Rezitationen In buddhistischen Praxiskontexten finden – je nach Schule in unterschiedlichem Ausmaß – Rezitationen der kanonischen Texte statt, denen innerhalb der Lehren eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird. So werden im Zen-Buddhismus vielfach das Herz-Sutra, im tibetischen Buddhismus Anrufungen an den Lama, der die Traditionslinie gegründet hat, und im Theravāda-Buddhismus gerne Schlüsseltexte aus dem Pali-Kanon rezitiert (z. B. die Satipaṭṭhāna Sutta). Üblicherweise werden diese Texte nicht in der Sprache der Schüler gesprochen, sondern in der Sprache, welche mit dem ursprünglichen Lehrer assoziiert wird, also in Pali, in Sanskrit, auf Tibetisch oder auf Japanisch. Da die große Mehrheit der Schüler diese Sprachen nicht beherrscht, besteht ihre Praxis also darin, etwas zu wiederholen, das im Vollzug der Rezitationspraxis in Hinblick auf Semantik und Grammatik nicht verstanden werden kann. Die Bedeutung des Gesprochenen ist natürlich durch Übersetzungen zugänglich und dies mag auch gelegentlich erinnert werden, doch für die Rezitation ergibt sich insbesondere bei längeren Texten die merkwürdige Situation, dass die Laute als sprachliche Äußerungen signifikant und bedeutsam erscheinen und dass die durch die gemeinsame Praxis generierte Stimmung ebenfalls eine Wirkung entfaltet, obwohl die Texte nicht oder nur rudimentär – etwa im Hören ver-

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trauter Schlüsselbegriffe – verstanden werden können. In der Selbstreflexion der buddhistischen Schulen wird der Rekurs auf die alten Sprachen üblicherweise damit begründet, dass der ursprünglichen Sprache eine bestimmte Vibration oder Kraft innewohne, die wichtiger sei als das, was in der Übersetzung gesagt werden könne. Aus einer praxistheoretischen Perspektive betrachtet, treffen wir hier also auf ein Sprechen, das in dem Sinne weiterhin seine sprachliche Funktion erfüllt, als dass durch es gemeinsam vollzogen wird (als geteilte Praxis) und bestimmte Stimmungen vermittelt werden (als gefühlte Praxis), dabei lässt es jedoch zugleich an die Haltung des Nichtverstehens – also an eine bedeutungslose Bedeutung – gewöhnen. Es erscheint damit vor allem als eine soziale Praxis, die zugleich markiert, dass es um etwas geht, was über den Verstand hinausreicht, dass Worte eigentlich gar nicht wichtig bzw. bedeutungslos sind, wenngleich sie dennoch als bedeutsam auftreten, indem sie als soziale Praxis reproduziert und empfunden werden. Insbesondere Daniel Lee (2004) hat am Beispiel einer christlichen Sekte aufgezeigt, wie sich Ritual und „the social meaning and meaninglessness“ in der Religion verzahnen können. Pointiert werden diese Lagerungen in der Rezitation von Mantren, wie sie teilweise im Zen- und insbesondere im tibetischen Buddhismus Verwendung finden. Mantren beruhen in der Regel auf Keimsilben (z. B. om, ah, hum), die keine Bedeutung tragen müssen, sondern allein durch ihren Klang eine gewisse Stimmung erzeugen. Vor allem dann, wenn Mantren kontinuierlich gesprochen oder geistig intoniert werden, können sogenannte Vertiefungen, Zustände von Ruhe in tiefer Konzentration entstehen. Auch hier finden wir eine sprachliche Praxis vor, mit der keine explizite Bedeutung einhergeht, deren Wirkung jedoch empfunden werden kann. Sie wirkt gewissermaßen als Signifikant ohne Signifikat, als bedeutungslose Signifikanz, die vermittelt, dass es im gemeinsamen Vollzug um etwas sehr Wichtiges geht, ohne dabei sagen zu können, worum es eigentlich geht. Um es mit Boyer aus Perspektive einer anthropologisch informierten Ritualforschung zu formulieren: „Das Ritual verändert die sozialen Beziehungen in einer Weise, die den Beteiligten nicht ganz klar ist.“ (Boyer 2004, 302) Der Sinn einer solchen sprachlichen Handlung liegt sozusagen allein in ihrem Vollzug und gerade deshalb kann sie in religiösen Kontexten eine starke Bindekraft entfalten. Zudem kann das auf diesem Wege Erfahrene nicht angezweifelt werden, denn der Zweifel setzt Sinnverstehen voraus, und hierbei gibt es nichts zu verstehen.

4.2 Paradoxien Eine weitere Anwendung von Sprache in buddhistischer Praxis besteht darin, dass Schüler von ihrem Lehrer mit Paradoxien oder einer anderen unsinnigen, logisch nicht auflösbaren Fragestellung konfrontiert werden. Insbesondere im Rinzai-Zen

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ist diese Praxis in Form der Kōan-Übungen weit verbreitet. Der Sinn dieser Übungen liegt darin, den konzeptionellen Geist dadurch zur Ruhe zu bringen, dass man ihn gewissermaßen überfordert, ihn sozusagen so weit in die Verzweiflung führt, bis das Denken aufhört und stattdessen die Erfahrung der unmittelbaren Gegenwart ins Erleben einbricht. Auch hier wird mit den Mitteln der Sprache gegen den sprachlichen Sinn gearbeitet (vgl. Liebert in diesem Band, „Unsagbares“).

4.3 Ermächtigungen, Zufluchtnahme und Gelübde In buddhistischen Schulungskontexten findet sich eine Reihe performativer Sprechakte, die allesamt darauf zielen, qua verbaler Enaktierung das Gesagte als real erscheinen zu lassen, indem man es ausspricht (vgl. Austin 1979). Dieser Akt kann vom Lehrer oder Schüler ausgehen, allein oder vor signifikanten Anderen vollzogen werden. So kann der Schüler durch die Worte des Lehrers die Erlaubnis bekommen, eine bestimmte, vielleicht vorher als „geheim“ markierte Praxis auszuüben (Ermächtigung), oder der Schüler kann formell darum bitten, dass ihm die Linie der Lehrer (Buddha), die buddhistische Gemeinschaft (Sangha) und die buddhistischen Lehren (Dhamma) dabei helfen, Befreiung aus dem Leiden zu finden (Zufluchtnahme). Schließlich kann der Schüler auch das Versprechen geben, für eine gewisse Zeit oder in bestimmtem Umfang eine bestimmte Praxis auszuüben (Gelübde). All diese performativen (Selbst-)Festlegungen sind darauf ausgerichtet, durch den Akt ihrer Aussprache eine Realität zu behaupten, die für den Praktizierenden selbstinstruierend sein soll. Indem die Behauptung in einem autologischen Akt die Behauptung konstituiert, lässt sich der leiblich-körperliche Widerstand gegen das Behauptete durch die gefühlte Affirmation der Behauptung kompensieren. Der vollzogene Sprechakt lässt dementsprechend eine veränderte Wirklichkeit fühlen. Das mit ihm vollzogene Commitment tritt selbst in die buddhistische Praxis mit ein.

4.4 Elaborierte Reflexionsformen und Metaphern Sowohl in den kanonischen Texten wie auch in den Reden zeitgenössischer buddhistischer Lehrer findet sich eine Vielzahl von Geschichten, die entweder von den Missgeschicken, Krisen und dem Unverständnis von Schülern handeln oder über das erfolgs- und segensreiche Leben jener Praktizierenden berichten, welche den Sinn der Lehre richtig verstanden haben. Darüber hinaus beinhalten alle Schulen Stufenmodelle, welche in abstrakter Form einen idealtypischen Entwicklungsweg vorzeichnen. Man denke hier etwa für den Theravāda-Buddhismus an die Stadien des fortschreitenden Erkenntnisblicks in der Visuddhi Magga, an die die vier Stufen der Erleuchtung anschließen (Buddhaghosa 2003, 765), oder an die Ochsenbilder im Zen (Ohtsu 1988, 57) oder den stufenweisen Weg im tibetischen Buddhismus, der

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vier vorbereitende Stufen beinhaltet, die in die zehn Boddhisattva-Stadien münden (Gampopa 1996). Zudem sind die Lehrtexte gespickt von Analogien, in denen geistige Prozesse durch Sprachbilder aus dem alltäglichen Leben beschrieben werden. Aus Perspektive einer kognitions- und neurowissenschaftlich informierten Linguistik (Lakoff/Johnson 1980) stellen sowohl die Geschichten als auch die Entwicklungsmodelle Systeme von Metaphern dar, die Angebote zur Strukturierung des Denkens machen. Die Schüler können mit eigenen Erfahrungen, insbesondere in Krisensituationen, hieran andocken und dadurch eine Reflexionsform hinzugewinnen, die ihr Erleben aus Perspektive der buddhistischen Kosmologie wahrzunehmen erlaubt. Metaphorische Prozesse generieren keine strenge, regelgeleitete Kausalität, sondern funktionieren gerade aufgrund ihrer Unschärfe und Mehrdeutigkeit. Nur weil die Möglichkeit besteht, verschiedenes mit ihnen zu verbinden, ist es der Psyche möglich, Assoziationen zu eigenen, hochgradig individuellen Erfahrungen auszubilden. Sobald jedoch eine solche Verbindung hergestellt ist, wird die Metapher unweigerlich als sinnvoll empfunden und sie beginnt an der Strukturierung der weiteren kognitiven Prozesse mitzuwirken (siehe zur Pragmatik einer indirekten Kommunikation, die auf die Dekonstruktion von Sinn zielt Wang 2003).

5 Abschließende Bemerkungen Es ist ein weitverbreitetes Missverständnis, die buddhistische Soteriologie mit stiller Meditation gleichzusetzen, also mit einem Zustand, in dem die Denk- und Reflexionstätigkeit verschwindet, die Sprache also keine Rolle spielt. Selbst wenn manche Schüler für kurze Zeit die Grenzerfahrung reflexionsloser geistiger Stille erleben mögen, wird auch für sie der Großteil ihrer buddhistischen Praxis darin bestehen, sich über eine bestimmte Form der Reflexion zu sich selbst in Beziehung zu setzen – und dies geht nur mit und in der Sprache. Oder um es mit Tugendhat noch radikaler zu formulieren: Nur weil Menschen in der Sprache gefangen sind und deshalb „eine Egozentrizität“ leben, „die andere Tiere, die nicht ‚ich‘ sagen, nicht haben“, kommt bei ihnen das „Bedürfnis nach Seelenfrieden auf“. Will man also die Motive verstehen, die zur Aufnahme einer buddhistischen Praxis führen, muss man „die besonderen Probleme verstehen, die ‚ich‘-Sager mit ihrer Egozentrik haben“ (Tugendhat 2006, 7f.). Es sind Probleme, die aus dem In-der-Sprache-Sein erwachsen. Da sich einer zur empfundenen Leiblichkeit gewordenen Sprache nicht entkommen lässt, kann das Leiden, das hieraus erwächst nur durch die Mittel der Sprache selbst überwunden werden. Die Leib gewordene Sprache beginnt nun nach Wegen zu suchen, den Sinn, in dem sie gefühlt gefangen ist, zu überwinden, indem bestimmte Reflexionsformen aufgebaut werden. Möglich ist dies nur über Kommunikation. Weil die Kommunikation nichts fühlt und keinen Sinn versteht, wird eine Negativ-

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sprache möglich, die auf ein heilsames Nichts verweist und an welche die Psyche mit ihrer Sehnsucht nach innerem Frieden andocken kann. Erst aus dieser Reflexionsperspektive können sinnlose Rituale und paradoxe Metaphern Sinn ergeben, nämlich als empfundene Befreiung, die belastenden, alten Sinn transzendiert.

6 Literatur 6.1 Internetbelege Q1: Dhammapada 373/374, aus dem Pali übersetzt von Thanissaro Bhikkhu, deutsche Übersetzung von Schenpen Sangmo. Online verfügbar unter: http://www.dhammapada.de/. Stand: 20.02.2017.

6.2 Forschung Austin, John Longshaw (1979): Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart. Bourdieu, Pierre (1997): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M. Boyer, Pascal (2004): Und Mensch schuf Gott. Stuttgart. Buddhaghosa (2003): Visuddhi-Magga des Buddhaghosa: Der Weg zur Reinheit. Übersetzt von Nyanatiloka. Konstanz. Ferry, Luc (1997): Von der Göttlichkeit des Menschen oder Der Sinn des Lebens. Wien. Fuchs, Peter (1997): Vom Zweitlosen: Paradoxe Kommunikation im Zen-Buddhismus. In: Niklas Luhmann/Ders. (Hg.): Reden und Schweigen. Frankfurt a. M., 46–69. Fuchs, Peter (2015): DAS Sinnsystem: Prospekt einer sehr allgemeinen Theorie. Weilerswist. Gampopa, Dschetsün (1996): Der kostbare Schmuck der Befreiung. Berlin. Girard, René (1997): Wenn all das beginnt… Ein Gespräch mit Michel Treguer. Berlin u. a. Girard, René (1999): Figuren des Begehrens: das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. Münster. Günther, Gotthard (1975): Selbstdarstellung im Spiegel Amerikas. In: Ludwig Jakob Pongratz (Hg.): Philosophie in Selbstdarstellungen. Hamburg, Bd. 2, 1–76. Han, Shihui/George Northoff (2008): Culture-sensitive neural substrates of human cognition: A transcultural neuroimaging approach. In: Nature Reviews Neuroscience 8, 646–654. Han, Shihui/George Northoff (2009): Understanding the self: a cultural neuroscience approach. In: Progress in Brain Research 178, 203–212. Herrmann, Steffen K. (2013): Was heißt sprechen? Sozialität, Gewalt und Leiblichkeit bei Pierre Bourdieu. In: Emmanuel Alloa/Miriam Fischer (Hg.): Leib und Sprache. Zur Reflexivität verkörperter Ausdrucksformen. Weilerswist, 135–156. Izutsu, Toshihiko (1986): Philosophie des Zen-Buddhismus. Reinbek bei Hamburg. Jäger, Ludwig (2013): Zur Leiblichkeit der Sprache. Phylogenetische Reminiszenzen in systematischer Absicht. In: Emmanuel Alloa/Miriam Fischer (Hg.): Leib und Sprache. Zur Reflexivität verkörperter Ausdrucksformen. Weilerswist, 56–76. James, William (1901/1997): Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur. Mit einem Vorwort von Peter Sloterdijk. 3. Aufl. Frankfurt a. M./Leipzig. King, Winston L. (1964): In the Hope of Nibbana. LaSalle. Lakoff, George/Mark Johnson (1980): Metaphors We Live By. Chicago.

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Lee, Daniel B. (2005): Ritual and the Social Meaning and Meaninglessness of Religion. In: Soziale Welt 56, 5–16. Online verfügbar unter: https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0038-60732005-1/sozw-soziale-welt-jahrgang-56-2005-heft-1. Stand: 04.04.2017. Lévinas, Emmanuel (1998): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg/München. Luhmann, Niklas (1993): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. Merleau-Ponty, Maurice (1974): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin. Nyanatiloka (1981): Der Weg zur Erlösung. Konstanz. Nyanatiloka (1989): Das Wort des Buddha. Konstanz. Ohtsu, Daizohkutsu R. (1988): Der Ochs und sein Hirte. Zen Geschichte aus dem alten China. Erläutert von Meister Daizohkutsu R. Ohtsu. Pfullingen. Rhys-Davids, Stede (Hg.) (1992): Pāli English Dictionary. Oxford. Tugendhat, Ernst (2006): Egozentrik und Mystik. Eine anthropologische Studie. München. Wang, Youru (2003): Linguistic strategies in Daoist Zhuangzi and Chan Buddhism. The other way of speaking. London/New York. Weber, Andreas (2003): Natur als Bedeutung. Versuch einer semiotischen Theorie des Lebendigen. Würzburg.

Anand Mishra

7. Sprachverkörperung Gottes Abstract: Anfang des 16. Jahrhunderts verfasste Vallabhācārya (1479–1531) — ein bedeutender Philosoph in der religiösen Strömung des Bhakti (‚Tradition der Hingabe‘) — ein ausführliches Werk, um die Bedeutung eines wichtigen Textes dieser Tradition, nämlich des Bhāgavata-Purāṇa (BhP), zu erläutern (Redington 2013). Darin behauptet er, dass der Text des BhP — der womöglich zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert in Südindien geschrieben wurde — eine Sprachverkörperung Gottes sei. Diese Behauptung entspricht seiner Philosophie, dass die Welt real und die Schöpfung Gottes sei — und dass Gott sich selbst in der Weltenform manifestiere. Demnach ist auch das BhP eine spezielle Manifestation Gottes. Die besondere Leistung Vallabhācāryas liegt in der Beweisführung der obigen These. In diesem Artikel werden wir daher der Methodik seiner Beweisführung nachgehen. Dies wird uns aufzeigen, wie man auf eine alternative Art und Weise Texte lesen kann. Anders als die Methoden, die die Philologie und die Vergleichende Sprachwissenschaft entwickelt haben und welche seit dem früheren 19. Jahrhundert auf die altindischen und Sanskrit-Texte angewendet wurden. Die Prozesse und Prinzipien, die Vallabhācārya anwendet, um die Bedeutung des BhP zu bestimmen, sind etablierte Methoden, die altindische Grammatiker seit langer Zeit anwendeten. 1 2 3 4 5

Vallabhācārya und seine Werke Analyse des Bhāgavata-Purāṇa (BhP) Prinzipien der Grammatiker und Analyse des BhP Zusammenfassung Literatur

1 Vallabhācārya und seine Werke Vallabhācārya legte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts den Grundstein für den „Weg der Gnade“ (Puṣṭi-mārga), indem er behauptete, die bedingungslose Gnade Gottes befreie und erlöse jedes Wesen (vgl. Selmani, Liebert, „Unsagbares“, Steen und Ebert in diesem Band). Dementsprechend wird die tägliche Praxis des Dienens und Verehrens Kṛṣṇas — die höchste Gottheit für Vallabhācārya — nicht als Mittel gesehen, Gott zu erreichen; sie ist die natürliche Folge seiner Gnade. Es ist Gott selbst, der sich seinen Verehrern nähert und ihnen die Freude schenkt, ihm dienen zu dürfen (Mishra, K. N. 1980). Die philosophische Grundlage seines Weges der Hingabe (Bhakti) beruht auf der These, die Welt sei real und die Schöpfung Gottes. Darüber hinaus manifestiere Gott sich selbst in der Form der Welt. Somit ist Gott nicht nur die materielle und instru-

DOI 10.1515/9783110296297-008

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mentale Ursache und Wirkung von allem, sondern auch das Ergebnis und Resultat aller Ursachen (Tagare 1998; Narain 2004). Aus jemandes Perspektive gesehen, der absolut davon überzeugt ist, die Gnade Gottes erhalten zu haben — wie etwa die Anhänger dieser Tradition —, besteht keine Notwendigkeit, Beweise für diese These zu suchen, weil sie einfach durch die göttliche Autorität bewiesen ist. Jedoch sollte diese These für Menschen, die einen Beweis verlangen, mittels autoritativer Quellen nachweisbar sein. Solche Menschen, die Mitstreiter Vallabhacāryas, akzeptieren ebenfalls die Autorität bestimmter Textquellen, nämlich (1) die Upanishaden, die auch als späterer Teil der Veden bezeichnet werden und als śruti oder „Gehörtes Wissen“ bekannt sind, (2) der Leitfaden, der das Wissen über Brahman vermittelt — Brahma-sūtra (BS) und (3) die Bhagavadgītā (BhG), auch bekannt als smṛti („Erinnertes Wissen“) (Mishra, K. N. 1971, 26). Dieser Liste fügt Vallabhācārya das BhP als weitere Quelle hinzu. Dieses Werk, welches, wie bereits erwähnt, zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert verfasst wurde, erzählt hauptsächlich die Geschichte von Kṛṣṇas Geburt und seinem Leben. Vallabhācārya, der eine umfangreiche Studie namens Tattvārtha-dīpa-nibandha („Die Lampe der wahren Bedeutung des BhP“) zu diesem Text erstellte, hatte die Aufgabe, ihn als eine autoritative Quelle zu beweisen (Mishra, K. N. 1971). Erstens, argumentierte er, sei das BhP in der Fortsetzung der oben erwähnten traditionellen Texte geschrieben worden und zweitens sei das komplette Werk eine spezielle Manifestation Gottes. In anderen Worten: Das BhP sei nicht nur Wieder- und Weitergabe sowie Fortführung älterer autoritativer Quellen, sondern stelle eine direkte Sprachverkörperung Gottes dar (Mishra, A. 2014). Das Tattvārtha-dīpa-nibandha (TDN) ist das einzige Projekt, welches Vallabhācārya anfing und beenden konnte. Seine anderen umfangreichen Werke — die Subodhinī (Su), ein Kommentar zum BhP, das Aṇubhāṣya, Kommentar zum Brahmasūtra, und sein Prakāśa-Kommentar zum TDN — blieben unvollständig. Sein Subodhinī-Kommentar zum BhP geht über die ersten drei Bücher, dann ist es nur noch vom 10. Buch bis zum 5. Kapitel des 11. Buches vorhanden. Das Aṇubhāṣya geht ebenfalls nur bis zum BS. III.2.33 (Telivala 1926; Shah 1984; Mishra, K. N. 1996). Sein zweiter Sohn Viṭṭhalanātha (1516–1586) vollendete es (Bhatt 1926). Vallabhācāryas Prakāśa-Kommentar über das TDN ist lediglich bis zum TDN. III.4.1 vorhanden. Die Anhänger des Puṣṭi-mārga behaupten, er habe auch einen Kommentar zu dem Mīmāṃsā-sūtra von Jaimini verfasst. Dieses Werk ist aber nicht auffindbar (Bhatt 1949). Außer diesen philosophisch wichtigen Texten hat Vallabhācārya noch eine Sammlung von 16 kleinen Schriften — Ṣoḍaśa-grantha — verfasst (Smith 1998, 2004, 2005, 2011). Sein Werk Patrāvalambanam beinhaltet eine Auflistung von Thesen, die er an den Türen des Haupt-Śiva-Tempels in Varanasi aufgehängt haben soll — ähnlich wie Martin Luther und wahrscheinlich in der gleichen Zeitepoche! Das TDN ist ein durchaus geplantes Werk, das Vallabhācāryas Kern-Philosophie und seine theologischen Thesen beinhaltet. Das gesamte Werk ist in Versform gehalten und in drei Teile unterteilt:

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(i) Das Śāstrārtha-prakaraṇa mit 104 Versen ist eine Zusammenfassung seiner philosophischen Thesen und Aussagen. (ii) Das Sarvanirṇaya-prakaraṇa hat 329 Verse. Hier wägt er seine Thesen im Vergleich zu anderen philosophischen Schulen ab. (iii) Im Bhāgavatārtha-prakaraṇa mit 1922 Versen analysiert er die Bedeutung des BhP auf den vier „Makro-Ebenen“ (s. u.). Wie bereits erwähnt, schrieb Vallabhācārya seinen eigenen Kommentar (Prakāśa) zu dem TDN nieder. Gosvāmi Puruṣottama (1667–1753) verfasste diesbezüglich einen Subkommentar namens Āvaraṇabhaṅga, welcher bis zum III.5.20 reicht. Des Weiteren legte er einen Kommentar (Yojanā-ṭīkā) die restlichen Bücher des TDN betreffend nieder, für die kein von Vallabhācārya verfasster Kommentar existiert. Zu schwierigen Passagen des TDN schrieb Gosvāmi Kalyāṇarāya (geb. 1568) eine knappe Erläuterung, das Tippaṇī. Das TDN mit sämtlichen Kommentaren und Subkommentaren wurde 1942 von Harishankar Onkarji Shastri bei Jethanand Asanmal Trust in Mumbai herausgegeben. Es existiert ein Braj-bhāṣā-Kommentar von Sāṃcorā Gokuldāsa zu dem Śāstrārtha- und Sarvanirṇaya-Prakaraṇa. K. N. Mishra (1971) edierte das Śāstrārthaprakaraṇa des TDN und verfasste zudem eine Hindi-Übersetzung und eine Erläuterung.

2 Analyse des Bhāgavata-Purāṇa (BhP) Um die Bedeutung des BhP festzulegen, analysiert Vallabhācārya es auf sieben Ebenen: Die erste und oberste Ebene ist der gesamte Text als Einheit. Das BhP als eine Einheit hat eine Bedeutung. Die zweite Ebene setzt sich aus 12 Teilen oder Büchern des BhP zusammen. Jeder dieser 12 Teile hat jeweils eine eigene Bedeutung. Im Aufsatz sind diese Bücher (skandha) durch große römischen Ziffern gekennzeichnet, z. B. I, II etc. Die thematisch zusammengehörenden Themen (prakaraṇa) bilden die Einheit der dritten Ebene, hier durch kleine römische Ziffern in runden Klammern markiert, wie bspw. (i), (ii) etc. In der vierten Ebene befinden sich die einzelnen Kapitel (adhyāya) des BhP, die durch arabische Ziffern in eckigen Klammern gekennzeichnet sind, wie [1], [2] etc. Die drei unteren Ebenen entsprechen der Reihenfolge Satz-Wort-Silbe.

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Abb. 1: Illustration der von Vallabhācārya analysierten vier Makro-Ebenen des BhP.

Gemäß Vallabhācārya hat jede Ebene eine bestimmte Bedeutung. Die Kunst, einen Text wie das BhP zu lesen, besteht darin, die Bedeutungen der sieben Ebenen harmonisch in Beziehung zueinander zu setzen (TDN III.1.2). In seinem Werk TDN erarbeitet Vallabhācārya diesen Zusammenhang zwischen den ersten vier MakroEbenen. Die Bedeutung der letzen drei Mikro-Ebenen (Satz-Wort-Silbe) wird in seinem Subodhinī-Kommentar behandelt und zueinander in Beziehung gesetzt (Su I.1.9).

2.1 Das BhP als Darstellung göttlichen Wirkens (līlā) Wie bereits erwähnt ist laut Vallabhācārya das BhP eine Manifestation Gottes, sowohl in seiner Gestaltung als auch im Inhalt (TDNPr III.1.6). Gott zeigt sich in dieser Erscheinungsform durch sein gewaltiges, zehnfaches göttliches „Wirken“ (līlā). Der Beweis stammt aus dem BhP selbst. Das BhP 2.10.1 zählt die zehn Themen auf, die in diesem Text beschrieben werden. Diese sind: atra sargo visargaśca sthānaṃ poṣaṇamūtayaḥ / manvantareśānukathā nirodho muktirāśrayaḥ //

Hier kommen sarga, visarga, sthāna, poṣaṇa, ūti, manvantara, īśānukathā, nirodha, mukti, āśraya vor. Diese Begriffe erklärt Vallabhācārya in folgender Weise: Sarga ist, wenn der körperlose Viṣṇu einen Körper (Puruṣa) oder eine Gestalt annimmt. Aus diesem Körper entstehen andere Wesen, wie z. B. der Schöpfergott Brahmā usw. Diese besondere Entstehung ist Visarga. Der nächste Schritt ist der Erhalt der geschaffenen Wesen in ihrer jeweils begrenzten Gestalt. Dieser Aspekt ist Sthāna. Die Wesen, in dieser Weise geschaffen und erhalten, werden durch die bedingungslose Gnade Gottes „ernährt“. Das wird als Poṣaṇa bezeichnet. Ihre Neigung zu Handlungen ist Ūti. Gerechte Handlungen sind Manvantara. Die Hingabe zum Höchsten, zu Gott Viṣṇu, wird durch das Hören von Gott und seinen Verehrern gefördert. Dies nennt man Īśānukathā. Nirodha ist, wenn ein Verehrer Gottes sich komplett von

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aller Weltlichkeit löst und sich intensiv nur noch Gott zuwendet. Erlösung, Mukti, bedeutet, wenn jemand Gott erreicht und nur noch mit Gott verbunden ist. Āśraya besagt: für die Ewigkeit im Brahman fest etabliert zu sein. (Su 2.10.1)

Das sind die zehn Themen, die im BhP als die zehn Aspekte des göttlichen Spiels oder des göttlichen Wirkens (līlā) dargestellt werden. Diese entfalten sich eines nach dem anderen in dieser Reihenfolge. Die vorangegangenen Stadien verursachen die nächsten Zustände. Diese zehn Aspekte oder das „Wirken“ Kṛṣṇas sind Inhalt und Bedeutung der jeweiligen zehn Teile des BhP, beginnend vom 3. bis zum 12. Buch. Bedeutung und Inhalt des dritten Teils ist Sarga, des vierten Teils Visarga usw. Den übrig gebliebenen ersten beiden Teilen werden folgende Aspekte zugewiesen: Der erste Teil behandelt die Qualitäten und Fähigkeiten, die gute Zuhörer und gute Erzähler des BhP ausmachen. Das ist der Aspekt des Adhikāra. Der zweite Teil bezieht sich auf Mittel und Möglichkeiten über die der Mensch verfügt, um ein motivierter, begeisterter Zuhörer und Erzähler des BhP zu werden (Sādhana). So verbindet Vallabhācārya die Bedeutungen der zweiten Ebene mit der Bedeutung des gesamten Textes: Das BhP ist eine Darstellung des göttlichen Wirkens (līlā) (TDNPr III.1.3–6).

2.2 Visualisierung der Struktur des BhP Vallabhācārya stellt dann eine Visualisierung der Struktur des BhP vor (vgl. auch Klug in diesem Band). Die Idee des Puruṣa (Ur-Mensch, Gott in Gestalt) ist hier von Bedeutung. Die 12 Teile oder Bücher des BhP bilden die 12 Glieder des Puruṣa (vgl. Abb. 2). Diese Darstellung entspricht der Gestalt des Śrīnāthjī, der mit einer Hand den Berg Govardhana emporhebt. Das erste Glied bezeichnet die Qualifikationen der Zuhörer und Erzähler (I. Adhikāra), sowie ihre Mittel, Neigung und Motivation das BhP zu erlangen (II. Sādhana); sie repräsentieren die Füße Gottes. Die Schöpfung (III. Sarga) und die besondere Entstehung (IV. Visarga) sind die zwei Arme Gottes. Das Erhalten des erschaffenen Wesens (V. Sthāna) und ihrer „Ernährung“ (VI. Poṣaṇa) durch bedingungslose Gnade verkörpern die zwei Beine Gottes. Die Neigung der erschaffenen Wesen zur Handlung (VII. Ūti) ist eine Hand Gottes. Die zweite erhobene Hand wird durch das ewige Bestehen im Brahman (XII. Āśraya) repräsentiert. Gerechte Handlungen (VIII. Manvantara) und das Hören von Gott und seinen Verehrern (IX. Īśānukathā), welche die Hingabe zu Gott Viṣṇu fördern, sind die beiden Teile des Brustkorbs. Der Herzregion entspricht die komplette Loslösung aller Weltlichkeit und die Zuwendung allein zu Gott hin (X. Nirodha). Das Erreichen Gottes und das Verbundensein mit ihm (XI. Mukti) verkörpert den Kopf des Puruṣa. (TDNPr III.1.7–9)

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Abb. 2: Darstellung des Śrīnāthjī (eigene Bearbeitung nach Q1). Die römischen Ziffern markieren den jeweiligen Körperteil, der für eines der 12 Bücher (skandha) steht.

2.3 Weitere Zusammenhänge zwischen den Komponenten des BhP Um die Besonderheit der Struktur des BhP darzustellen, analysiert Vallabhācārya die nächsten zwei Ebenen (3 und 4), nämlich die einzelnen Themen (prakaraṇa) und Kapitel (adhyāya) des Textes wie folgt. (I) Die Eigenschaften von Zuhörern und Erzählern des BhP sind (i) niederer (ii) mittlerer und (iii) höherer Art. Neugier [1], Nicht-Vorhandensein von Stolz und Neid [2] und die Motivation, dem BhP zuzuhören [3], sind die Eigenschaften des Zuhörers

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mit niederer Qualifikation. Jemand, der sorgfältig von einem guten Lehrer das BhP gehört hat [1], genug Vernunft hat, das BhP zu erzählen [2], erkennt Hintergründe, die nicht so offensichtlich sind [3] — dies sind die Eigenschaften eines gering begabten Erzählers. Die Gnade Gottes [4], zu ihm zu gehören [5], und die Einheit mit ihm [6] sind die Eigenschaften, die einen nur mittelmäßigen Zuhörer und Erzähler ausmachen. Die höchste Qualität besitzen Zuhörer und Erzähler, die ihre Gedanken ausschließlich auf Gott richten. An den Puruṣa — mit 12 Gliedern [7–18] und letztlich an Puruṣottama — der weder zerstörbar noch unzerstörbar ist [19]. (II) Es gibt drei Quellen der Motivation, um das BhP zu erzählen und hören zu können: (i) Wenn man über die Natur der Realität meditiert, sei es über die große [1] oder feine [2] Materie; (ii) ein Glücksgefühl welches das Verlangen steigert, noch mehr und noch mehr zu hören [3] oder selbst zu erzählen [4]. (iii) Reflektieren und Nachdenken über Ursprung und Existenz der Welt ist die dritte Quelle. Der Ursprung kann die Geburt von vergänglichen Wesen sein [5] oder das Eintreten von ewigen Wesen in Zeit und Raum [6]. Die, die weder geboren werden noch in Zeit und Raum eintreten, sondern in irgendeiner Gestalt manifest erscheinen und dann wiederum nicht-manifest bleiben [7]. Das Nachdenken über Existenz oder Dasein beinhaltet zunächst das Reflektieren über die Beziehung zwischen Seele und Körper [8]. Der nächste Schritt ist das Wegwischen von Zweifeln [9]. Der Wunsch, stets mehr und mehr das BhP zu hören, soll das Endergebnis dieser Meditation sein [10]. (III) Das zehnfache göttliche Wirken fängt mit sarga an, der Schöpfung von Wesen, die einerseits ohne [1–6/26–27] und andererseits mit Eigenschaften [7–9/28] versehen werden. Des Weiteren folgen Schöpfung von Zeit [10–11/25], Lebewesen [12/29–33], sowie die der fundamentalen Entitäten [13–19/20–24]. Jedes erschaffene Wesen wird zwecks (i) Bindung und/oder (ii) Erlösung geschaffen. (IV) Die besondere Schöpfung (visarga) ist durch die Gabe von vier Zwecken des Lebens gekennzeichnet: (i) gemäß dem dharma zu leben, (ii) Wohlstand und Besitz (artha) zu erwerben, (iii) Begierde (kāma) zu erfüllen, und (iv) nach Erlösung (mokṣa) zu streben. (V) Der Erhalt von geschaffenen Wesen in ihren jeweiligen Grenzen (sthāna) kann entweder in (i) ihrer jeweiligen Gestalt geschehen oder im (ii) Raum. Dies kann durch die sechs Eigenschaften von Kṛṣṇa [1–6] oder durch den acht-gliedrigen Yoga [7–14] oder durch Wissen [15] geschehen. Erhalt im Raum kann entweder im Bhūḥ Raum, der aus fünf groben Elemente besteht [16–20], oder im Bhuvaḥ Raum [21–23] oder in Svaḥ Welten [24–26] geschehen, die mit den drei Eigenschaften Licht (sattva), Bewegung (rajas) und Stabilität (tamas) versehen sind. (VI) Die bedingungslose Gnade Gottes (poṣaṇa) ist durch die Aktivitäten von Wesen, die diese Gnade erhalten haben, sichtbar. Gott möchte sie in ihrer jeweils eigenen Art und Weise unterstützen. Sie (i) preisen die Namen Gottes durch Hören [1], Lobpreisen [2] und durch Erinnern [3] (vgl. zu den Begriffen Verehrung und Vergegenwärtigung den zweiten Teil des Bandes). Sie (ii) meditieren [4–17] und (iii) verehren Gott — äußerlich [18] sowie innerlich [19].

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(VII) Die Neigungen (ūti), die durch innerliche karmische Prägungen zu verschiedenen Zuständen der Bindung führen, sind wichtig, um die Ausnahme zur bedingungslosen Gnade Gottes im früheren Buch zu demonstrieren. Ein fünffaches Unwissen ist die Grundlage aller karmischen Abdrücke. Dieses Unwissen bezieht sich auf den Körper, den Atem, die Sinnesorgane, die inneren Sinnesorgane und das eigene Selbst. (VIII) Es gibt drei Arten guter Taten, die karmische Abdrücke auslösen: (i) sich an Gott erinnern, wenn man in einer Notsituation ist; (ii) Gaben, wenn man im Wohlstand lebt; und (iii) der eigenen Rede entsprechend handeln. Schließlich folgt die Erzählung der Fisch-Inkarnation, die diese Botschaft verkündet [24]. (IX) Die Erzählungen von Gott und seinen Anhängern (i) tilgen das Leid und (ii) bringen Glück. Neun Typen von Leid entstehen durch 3x3-Kombinationen der drei Grundeigenschaften (sattva, rajas, tamas). Dementsprechend gibt es auch neun Arten von Verehrern Gottes [1–9]. Es gibt diejenigen, die Weisheit besitzen [10] und andere, die in ihrer Grundnatur über Wissen [11], Handeln [12] oder Hingabe [13] verfügen. Das Erfahren von Glück wird durch die fünf Sinnesorgane [14–18] und fünf Handlungsorgane [19–23] ermöglicht. Schließlich folgt die Beschreibung Gottes, der Glück schenkt [24]. (X) Die Anwesenheit Gottes in der Welt mitsamt seiner Kräfte (nirodha) führt zur Nicht-Anhaftung an die Weltlichkeit und zur Anbindung an Gott. In diesem Buch sind 87 Kapitel, die sich in fünf Teile unterteilen. Erstens (i) offenbart Kṛṣṇa sich durch vier Entfaltungen (vyūha): Vāsudeva [1], Saṃkarṣaṇa [2], Pradyumna [3] und Aniruddha [4]. Danach folgt die Beschreibung wie die Anwesenheit Gottes bei drei Typen von Verehrern von Statten geht: (ii) tāmas — mit Stabilität versehen (iii) rājas — mit Beweglichkeit als Hauptnatur habend und (iv) sāttvika — Klarheit und Reinheit als Hauptmerkmal habend. Ferner sind die Quellen [5–11/33–39], Ziele [12– 18/40–46/61–67], Mittel [19–25/47–53/68–74] und Resultate [26–32/54–60/75–81] für jeden der drei Typen von Anhängern dargestellt. In jeder Kategorie sind jeweils sieben Kapitel. Sie entsprechen den sechs Kräften Gottes und als siebenter Teil Gott selbst. Schließlich folgt (v) die Beschreibung Gottes durch seine sechs Kräfte [82– 87]. (XI) Die Erlösung (mukti) ist als Befreiung der (i) Lebewesen mithilfe von Wissen [1–5], Hingabe [6–29] und (ii) vom „Ich-Gefühl“ (ahaṃtā) [30] sowie „Mein-Gefühl“ (mamatā) [31] beschrieben. (XII) Schließlich werden die erlösten Seelen in die Gestalt Gottes einverleibt (āśraya), nämlich in seiner Gestalt als (i) Kṛṣṇa, (ii) der Welt (iii) der Veden, (iv) als Weg der Hingabe und (v) BhP. Die von mir dargestellte Zusammenfassung zeigt gewisse signifikante Aspekte der Textinterpretation auf. Ein wesentlicher Aspekt ist der Aufbau der gesamten Textstruktur, der eine wichtige Rolle für die Festlegung des Inhaltes spielt, bspw. wie Themen miteinander verknüpft werden und in welchem Kontext sie vorkommen. Dieser Punkt wird nicht nur allein von Vallabhācārya, sondern auch von ande-

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ren früheren Kommentatoren des BhP berücksichtigt. So erwähnt u. a. Śrīdharasvāmin, dessen Bhāvārtha-dīpikā-Kommentar eines der bekanntesten Kommentare ist, dass die zehn Themen den zehn Büchern des BhP entsprechen. Die Besonderheit Vallabhācāryas besteht darin, dass er sich in seinem Werk TDN bemüht, das BhP in ausführlicher und umfangreicher Weise als ein spezielles und spezifisches Werk darzustellen. Drei fundamentale Prozesse können hier identifiziert werden: (I) Zerlegung eines Textes in Komponenten, (II) Assoziierung der Bedeutung, bzw. eines semantischen Inhaltes zu den jeweiligen Komponenten und (III) harmonische Zusammenfügung der Komponenten, damit sich die Bedeutungen im Einklang zueinander befinden. Diese drei fundamentalen Schritte bilden die Grundzüge für eine grammatikalische Analyse der Sprache.

3 Prinzipien der Grammatiker und Analyse des BhP Eines der einflussreichsten grammatikischen Werke der indischen Tradition ist die „Sammlung der Grammatik-Regeln in Acht Kapiteln“ — Aṣṭādhyāyī von Pāṇini (4. vorchristliches Jahrhundert). Dieses Werk beinhaltet knapp 4.000 Regeln (sūtra) und verwendet eine hoch entwickelte Meta-Sprache, um seine Aussagen zu formulieren. Dieses Werk gilt bis heute als eine unübertroffene Analyse der SanskritSprache und als führende wissenschaftliche Leistung Altindiens (Mishra, A. 2010, 85–97). Um die Sprache zu analysieren, unterscheidet Pāṇini zunächst zwischen der Gestalt bzw. dem phonetischen Laut und dem Inhalt bzw. der Bedeutung einer Sprachäußerung. Laut indischen Grammatikern ist die Verbindung zwischen der phonetischen Gestalt, bzw. der Lautkette, und der Bedeutung eines Wortes eine Gegebenheit. Der Grammatiker zerlegt eine Sprachäußerung in Bausteine. Bspw. wird ein SanskritSatz wie bālakaḥ paṭhati (‚ein Knabe rezitiert‘) wie folgt zerlegt: bālakaḥ paṭhati bālaka s(u) paṭh(a) (ś)a(p) l(a)(ṭ)-ti(p)

Jeder Baustein wird mit semantischen oder grammatikalischen Bedeutungen assoziiert. Schließlich werden die Bausteine zusammengefügt, so dass man den ursprünglichen Satz wiederherstellen kann. In diesem Beispiel sind folgende Schritte für die Zusammenführung nötig: Die Lautkette oder der Baustein paṭh(a) sollte gewählt werden, wenn man „rezitieren“ ausdrücken möchte. Der Laut (a) in paṭh(a) ist eine Markierung und zählt nicht zu der phonetischen Form des Bausteines. Genauso sollte man bālaka nehmen, um „Knabe“ auszudrücken.

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bālaka

paṭh(a)

Um die gegenwärtige Zeit auszudrücken, fügt man das Suffix l(a)(ṭ) hinzu. bālaka

paṭh(a) l(a)(ṭ)

Das Suffix der dritten Person Singular ersetzt das Suffix l(a)(ṭ). bālaka

paṭh(a) ti(p)

Im aktiven Satz wird zwischen paṭh(a) und ti(p) ein Infix (ś)a(p) eingefügt. bālaka

paṭh(a) (ś)a(p) ti(p)

Zu Nomina wird nun das Suffix s(u) hinzugefügt, welches mit dem Genus und Numerus des Verbs übereinstimmt. bālaka s(u)

paṭh(a) (ś)a(p) ti(p)

Schließlich wird der s-Laut in s(u) durch r und dann durch ḥ ersetzt, so dass man, nachdem die Markierungen weggelassen werden, den ursprünglichen Satz wiederherstellt. bālakaḥ

paṭhati

Dieses Beispiel zeigt den Grundriss des grammatikalischen Prozesses, der zyklischer Natur ist: Ein Satz wird erst in seine Bausteine zerlegt und dann anhand von Regeln wieder zusammengefügt. Die phonetische Gestalt wird so mit semantischem Inhalt verknüpft. Die Regeln sorgen auch dafür, dass der Satz eine bestimmte Struktur hat (z. B. werden manche Bausteine hinter den anderen oder zwischen zwei Bausteinen platziert). Die Bedeutung des gesamten Satzes ergibt sich kompositionell aus den Bedeutungen der Bausteine. Betrachtet man nun die Herangehensweise der Grammatiker und die Art und Weise, wie Vallabhācārya die Struktur des BhP analysiert, fallen gewisse Parallelen auf. Beide analysieren eine Einheit (ein Text bei Vallabhācārya, bzw. eine linguistische Äußerung bei Grammatikern) in unterschiedliche Konstituenten. Vallabhācārya unterteilt die Konstituenten in sechs verschiedene Ebenen: Bücher-Themen-Kapitel-Sätze-Worte-Silben. Für den Grammatiker sind die Morpheme der Sprache die Konstituenten. Im nächsten Schritt folgt die Bestimmung des Inhalts sowie die der Bedeutung der einzelnen Komponenten. Hier werden die festen Bedeutungen identifiziert und bestimmte Inhalte mit den Bausteinen assoziiert. Wie dargestellt, assoziiert Vallabhācārya die Bedeutungen mit den Bausteinen auf unterschiedlichen Ebenen. Für den Grammatiker sind manche Bedeutungen fest vorhanden (bspw. lexikalisierte

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Worte) und manche durch die Grammatik festgelegt (bspw. der semantische Inhalt der Verbalwurzeln im Sanskrit). Die Hauptaufgabe der Textanalytiker und Grammatiker ist die Synthese dieser Bausteine. Eine Hauptbedingung für diese Synthese ist, dass Form, bzw. Gestalt, sowie Inhalt der Kombination mit der Form der ursprünglichen Einheit übereinstimmen muss. Auf diese Weise fügt Vallabhācārya einerseits die Komponenten zusammen und erhält somit die Gesamtheit des BhP. Andererseits schafft er durch diesen Prozess der Synthese einen Beweis dafür, dass das BhP eine Sprachverkörperung Gottes sei.

4 Zusammenfassung Zum Schluss seien hier vier Aspekte noch einmal besonders herausgestellt. (I) Durch seine These, die Bedeutung des BhP auf sieben hierarchischen Ebenen festzulegen, gibt Vallabhācārya diesem Text eine vertikale Dimension. Dies verleiht dem BhP einen besonderen strukturellen Charakter. Die Bedeutung einer bestimmten Ebene setzt sich aus den Bedeutungen vorangegangener Ebenen zusammen (vgl. dazu oben die Struktur-Abb. 1). Sein Erfolg zeigt sich nicht nur in seiner Darstellung und auf welche Art und Weise die verschiedenen Bedeutungen auf einer Ebene miteinander verknüpft sind, sondern auch wie die Bedeutungsebenen miteinander kompositionell in Beziehung stehen. Wie bereits gezeigt, greift Vallabhācārya hier auf die Methodik der Grammatiker zurück (vgl. Abschnitt 3). Wie ein Grammatiker eine linguistische Äußerung analysiert, so erläutert auf diese Weise Vallabhācārya das BhP. (II) Der zweite Aspekt bildet die Assoziierung der Form oder Struktur mit einem semantischen Inhalt. Die Strukturierung des BhP erfolgt durch die Unterteilung in sieben Ebenen. Innerhalb der ersten vier Ebenen spielen Anzahl und Aufteilung von Komponenten eine wichtige Rolle. So stimmt z. B. die Zahl der 12 Bücher mit den 12 Gliedern des Puruṣa überein (vgl. oben Abb. 2) oder so entspricht bspw. die Anzahl 6 den sechs Kräften Gottes. Hier wiederum gleicht die Methodik der der Grammatiker, die ein semantisches Konzept mit einer phonetischen Lautkette verknüpfen. Diese Besonderheit in Vallabhācāryas Werk zeigt, dass diese Verbindung nicht ein zufälliges Phänomen ist, sondern mit Teilen anderer Texte gut harmoniert. Das ermöglicht die Festlegung und Ausmessung der Bedeutung der Texte. (III) Der dritte Aspekt ist die Vergöttlichung des BhP durch die Identifizierung seiner Struktur mit dem Körper Gottes – nämlich Śrīnāthjī – und des Inhalts des BhP mit dem göttlichen Wirken. (IV) Der vierte Aspekt schließlich, nach dem das BhP der höchste autoritative Text sei, erfolgt aus den vorhergehenden Merkmalen. Das BhP ist nicht nur irgendeine Sammlung von irgendwelchen Gedanken, es ist eine Manifestation Gottes und

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verkörpert göttliches Wirken. Darüber hinaus belegt Vallabhācārya seine Thesen über das BhP mit Hilfe von Aussagen aus dem BhP selbst. Dies zeigt, dass für Vallabhācārya das BhP der höchste autoritative Text ist.

5 Literatur 5.1 Internetquellen Q1: Darstellung des Śrīnāthjī. Online verfügbar unter: http://sixstarscollecitve.com/2015/10/ 06/gods-decorations-an-exhibition-of-pichhvais/. Direkt-URL: https://i0.wp.com/ sixstarscollective.com/wp-content/uploads/2015/10/Pichwai-Painting-Shrinathji-10X12.jpg. Stand: 9.02.2017.

5.2 Primärquellen Tattvārthadīpanibandha. 1982 [1942]. Vallabhācārya-prakaṭitaḥ Tattvārthadīpanibandhaḥ (saprakāśaḥ) Prathamo bhāgaḥ (ed. Hariśaṅkara Oṅkārajī Śāstrī). Kolhapur: ŚrīvallabhavidyāpīṭhaŚrīviṭṭaleśaprabhucaraṇāśrama Ṭrasṭa. Tattvārthadīpanibandha. 1983 [1942]. Vallabhācārya-prakaṭitaḥ Tattvārthadīpanibandhaḥ (saprakāśaḥ) Dvitīyo bhāgaḥ (ed. Hariśaṅkara Oṅkārajī Śāstrī). Kolhapur: ŚrīvallabhavidyāpīṭhaŚrīviṭṭaleśaprabhucaraṇāśrama Ṭrasṭa. Tattvārthadīpanibandha. 1983 [1942]. Vallabhācārya-prakaṭitaḥ Tattvārthadīpanibandhaḥ (saprakāśaḥ) Tṛtīyo bhāgaḥ (ed. Hariśaṅkara Oṅkārajī Śāstrī). Kolhapur: ŚrīvallabhavidyāpīṭhaŚrīviṭṭaleśaprabhucaraṇāśrama Ṭrasṭa. Sāṃcorā Gokuladāsa. 2000a. Śrī Vallabhācārya viracita Tattvārthadīpanibandhāntargata Śāstrārthaprakaraṇakī Vrajabhāshāṭīkā. Māṇḍavī: Śrīvallabhācārya Ṭrasṭa. Sāṃcorā Gokuladāsa. 2000b. Śrī Vallabhācārya viracita Tattvārthadīpanibandhāntargata Sarvanirṇayaprakaraṇakī Vrajabhāshāṭīkā. Māṇḍavī: Śrīvallabhācārya Ṭrasṭa.

5.3 Sekundärliteratur Bhatt, Govindal Hargovind (1928): The double authorship of Aṇubhāṣya. In: Proceedings of the AllIndia Oriental Conference 4.2, 799–806. Bhatt, Govindal Hargovind (1949): Vallabhācārya and Pūrvamīmāṃsā. In: 15th session of All India Oriental Conference. Bombay. Mishra, Anand (2010): On the Possibilities of a Pāṇinian Paradigm for a Rule-based Description of Rituals. In: Axel Michaels et al. (Hg.): Grammars and Morphologies of Ritual Practices in Asia. Bd. 1: Ritual Dynamics and the Science of Ritual. Wiesbaden, 85–97. Mishra, Anand (2014): The divine embrace: Role of senses in puṣṭimārga. In: Axel Michaels/Christoph Wulf (Hg.): Exploring the senses, South Asian and European perspectives on rituals and performativity. London, 64–77. Mishra, Kedāranātha N. (1971): Vallabhācārya-viracita. Tattvārthadīpanibandha (Śāstrārthaprakaraṇa) with Prakāśa. Varanasi.

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Ulla Fix

8. Religion als Ressource in säkularisierten Gesellschaften Abstract: Der Beitrag befasst sich theoretisch und empirisch mit einem speziellen Fall sprachlich-kommunikativer ‚Außenbeziehungen‘ von Religionsgemeinschaften, nämlich dem außerreligiösen Vergegenwärtigen religiöser Rituale. Jede religiöse Gemeinschaft muss sich damit auseinandersetzen, dass es in ihrem Umfeld Bereiche gibt, die nicht Teil des eigenen Weltausschnitts sind, mit denen sie aber in Berührung kommen und im Austausch stehen kann. Eine Aufgabe sprachwissenschaftlicher Bemühungen um den Kommunikationsbereich z. B. von christlichen Kirchen muss es daher sein, das Verhältnis zwischen dieser Institution und ihrer Umwelt am Fall der sprachlich-kommunikativen Unterschiede und der diese Unterschiede teilweise verwischenden gegenseitigen Einflussnahmen zu untersuchen. Das Beispiel der Montagsgebete des Herbstes 1989 in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) ist ein besonderer Fall, der zeigt, dass die ‚Außenwelt‘, so fremd sie der Kirche auch gegenüberstehen mochte, im Bedarfsfalle Anleihen bei deren Ritualhaushalt machte. Während die Mächtigen in der DDR die öffentliche Rede sakralisierten, vollzogen Bürgerbewegung und Ausreisewillige das Gegenteil. Durch ihre Teilnahme an gottesdienstlichen Veranstaltungen entsakralisierten sie sakrale Rede und brachten nichtreligiöses Reden in die religiöse Praxis ein. Auflockerungen und Funktionsverschiebungen der Rituale waren die für beide Seiten bedeutungsvolle, durchaus auch bereichernde Folge. Wie sich das vollzog, wird am Fall der Analyse des Montagsgebetes vom 25. September 1989 gezeigt werden. 1 2 3 4 5 6

Religiös bestimmtes Sprachhandeln und religiöse Sprache. Problemstellung und Forschungssituation Ritualität in den Handlungsbereichen von Politik und Kirche Politische Kommunikation in der DDR Der Sprachraum Kirche in der DDR Exemplarische Analyse: Das Beispiel Montagsgebet Literatur

DOI 10.1515/9783110296297-009

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1 Religiös bestimmtes Sprachhandeln und religiöse Sprache. Problemstellung und Forschungssituation Religiöse Sprache und Sprachgebrauch im Handlungsbereich der Religion werden nur selten einbezogen, wenn es um die linguistische Beschreibung und Kategorisierung sprachlicher Äußerungen nach Handlungs- und Kommunikationsbereichen, nach Textsorten, Handlungsmustern, Funktionalstilen, nach Funktionen und Formen geht, wie man sie z. B. in Textlinguistik, Pragmastilistik, Ethnolinguistik und Soziolinguistik vornimmt. Der Bereich religiöser Kommunikation befindet sich offensichtlich am Rande, wenn nicht gar außerhalb des linguistischen Blickfelds. Dass hier ein weites Feld für sprachwissenschaftliche Untersuchungen brachliegt und welchen Gewinn seine Bearbeitung böte, zeigen die wenigen Ansätze, die sich in systematisierender und kategorisierender Absicht mit der Beschreibung von Textsorten und mit der Erfassung der komplexen Kommunikationszusammenhänge im Bereich der Religion (Grözinger 1991; Simmler 2000; Bayer 2009; Paul 2009; Lasch 2011) bzw. mit „Welten als Bezugssystemen für Texte“ (Adamzik 2004, 64) auseinandersetzen. Die Herausgeber des vorliegenden Handbuchs geben in ihrem Einleitungsbeitrag zum Thema (vgl. Lasch/Liebert 2015) einen Forschungsüberblick, der die defizitäre Situation klar umreißt. Hinzuzufügen ist ihm aus meiner Sicht allerdings, auch wenn das zunächst abwegig erscheint, dass sich in den letzten Jahren eine ziemlich umfangreiche Diskussion zwischen Theologen, Literatur- und vereinzelt auch Sprachwissenschaftlern zu Prinzipien von Bibelrevisionen entwickelt, die – da es bei den Revisionen natürlich um Sprache und deren Gebrauch geht – Ansprüche an die Linguistik deutlich macht, denen sich das Fach stellen muss (Schmid 2003; Werner 2012; Dahlgrün/Haustein 2013; Lange/Rösel 2014). Diese Ansprüche gehen über zu erwartende philologische und übersetzungstheoretische Probleme hinaus und führen zu pragmalinguistischen Fragen, z. B. nach Kontextualisierung, Funktionsbestimmung, Kulturalität und Historizität der zur Rede stehenden Texte. Die Auseinandersetzung um die Sprache der Luther-Bibel und um deren vorliegende oder noch vorzunehmende Revisionen ist also nur zum Teil philologischer Natur. In der Diskussion der Revisionsprinzipien, in der es, zugespitzt gesagt, um die Entscheidung zwischen dem – wie auch immer verstandenen – ‚Alltagsdeutschen‘ und der Wahrung des ‚Luther-Tons‘ geht, wird vielmehr, explizit oder implizit, die Spezifik und die kommunikative Funktion religiöser Sprache, „die mit Sprachform und Lautung innig verbundene Aura des Außergewöhnlichen, Heiligen“ (Schrader 2013, 179) herausgearbeitet. Begonnen hat diese Auseinandersetzung nach meinem Überblick mit den gar nicht hoch genug zu schätzenden und unter dem Aspekt der Besonderheit und Leistung religiöser Sprache zu wenig ausgewerteten Arbeiten von

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Stolt (1983, 1988, 2000), die ebenfalls im Kontext der Debatte um Revisionen und Rückübersetzungen des Luther-Textes in ‚moderne Sprache‘ entstanden sind. Sie weist auf die Gefahr einer „Entmythologisierung des Bibelstils“ (Stolt 1983) hin. Das tut sie nicht aus Konservatismus, sondern im Gegenteil aus der Einsicht heraus, dass neue Gesichtspunkte, v. a. die der pragmatischen Linguistik, einbezogen werden müssen. Stolt führt anhand des sprachhistorischen Materials, aber über dieses hinausweisend, die Betrachtung religiöser Sprache unter pragmatischem Aspekt ein, sie betrachtet sie also – verallgemeinert gesagt – unter dem Gesichtspunkt des ‚auf die anstehende Sache‘ gerichteten Umgangs mit Sprache, und zeigt, dass es eine spezifische Verwendungsweise sprachlicher Mittel gibt, die keiner der bis dahin im Blick befindlichen Textfunktionen (u. a. Informieren, Appellieren, Kontaktherstellen, Deklarieren) dient, sondern die vielmehr eine speziell sakrale Funktion erfüllt, nämlich den Verweis auf eine Transzendenz. Man könnte das die Funktion des Mythologisierens oder Sakralisierens nennen. Die Sprache dieser Textsorte [Bibel, U. F.] hat Aufgaben zu erfüllen, die sie von allen anderen abhebt: der Text muß [...] den Eindruck seines hohen Alters und seiner sakralen Dimension vermitteln. Ein religiöser Text muß die Dimensionen von Mysterium und Mythos, von Jenseitigem im Diesseits verständlich machen. Er muß das ‚ganz Andere‘ formulieren, ohne so zu tun, als sei von etwas ganz Alltäglichem, Selbstverständlichem die Rede [...]. (Stolt 1988, 19)

Im selben Sinne bestimmen Lasch und Liebert (2015) das Phänomen als sprachlichkommunikativ-rituelle Bezugnahme auf die Existenz eines wie auch immer gearteten Transzendenten. Man kann die auf das Mythische, Jenseitige, Sakrale, kurz auf das Transzendente gerichteten speziellen Arten des Sprachgebrauchs im Sinne Wittgensteins als Elemente des religiösen Sprachspiels betrachten, als typische Sprachverwendung in transzendenzbestimmten Handlungszusammenhängen. Grünert (1984) überträgt den Gedanken Wittgensteins (1990, 101), dass „das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben sind“, als Sprachspiel zu betrachten sei, auf den Handlungsbereich der Politik und strukturiert Handlungszusammenhänge innerhalb des politischen Sprachspiels nach ihren Textsorten und Funktionen als regulatives, integratives, informativ-persuasives und instrumentales Sprachspiel. Er schafft so Kategorisierungen, die man, da sie einem allgemeinen politischen Sprachspiel untergeordnet sind, eigentlich als ‚Untersprachspiele‘ bezeichnen müsste. Der Einfachheit halber wird im Folgenden aber immer nur von Sprachspiel die Rede sein. Da nicht anders als mit Texten kommuniziert werden kann, stellt Grünert folgerichtig Texte in den Mittelpunkt. Er betrachtet diese als Bausteine eines jeden Sprachspiels (vgl. Grünert 1984, 31). Dass im vorliegenden Beitrag der Ansatz Grünerts, der der politischen Kommunikation gilt, aufgegriffen wird, mag zunächst verwundern, wird aber sicher einleuchten, wenn man bedenkt, dass damit erstens ein auf andere Kommunikationsbereiche, also auch auf die Kirche, übertragbarer Kategorisierungsansatz vorgestellt wird und dass zweitens im Kontext dieses Beitrags gerade die Beziehungen zwischen Sprache und Sprachge-

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brauch von Religion und Politik, also auch die Beziehungen ihrer jeweiligen Sprachspiele interessieren. Zunächst sei festgehalten: In der Kirche, jedenfalls in ihrem Kernbereich von Verkündigung und Verehrung, kann man von einem religiösen, d. h. auf Transzendenz verweisenden Sprachspiel ausgehen und hat damit das Phänomen religiösen Sprachhandelns an sich im Blick. Das betrifft v. a. die Unterart des integrativen Sprachspiels. Dessen Texte ordnen die Beteiligten in eine Gemeinschaft ein, sie sind z. T. ritualisiert, schaffen ein „gruppenspezifisches Bewusstsein“ (Grünert 1984, 34) und bestätigen das Wertesystem der Gruppe (ebd., 32). Typische politische Textsorten sind hier Parteiprogramme, politische Slogans, Hymnen; typisch religiöse sind Bekenntnistexte, Gebete, Choräle. Das regulative Sprachspiel umfasst die Textsorten, die der Regulierung des Handelns einer jeden Gemeinschaft dienen: z. B. Verfassung, Gesetz, Verordnung. „Hier sprechen die Mächtigen. Hier setzt sich Herrschaft in sprachliche Zeichen um“ (Grünert 1984, 32). Texte dieses Sprachspiels finden sich auch in der Kirche, nicht aber im religiösen, sondern im institutionellen Bereich. Das informativ-persuasive Sprachspiel will zum einen durch politische Propaganda das Bewusstsein der Öffentlichkeit beeinflussen, zum anderen politisches Handeln ankündigen, motivieren und rechtfertigen. Inwieweit sich solche Verwendungsweisen auch im Bereich der Institution Kirche finden lassen, sei dahingestellt. Sie spielen jedenfalls für das Anliegen dieses Beitrags keine Rolle. Wichtig dagegen ist ein Blick auf das instrumentale Sprachspiel. Es „lässt sich als die Umkehrung des regulativen Sprachspiels verstehen.“ (Grünert 1984, 33) Es wird „das Begehren formuliert, um dessen Erfüllung der politisch/sozial Mächtige angegangen wird“ (ebd.). Eine wesentliche Funktion […] bekommt das instrumentale Sprachspiel dort, wo bisher von der Herrschaftsausübung (im weitesten Sinne) ausgeschlossene Gruppen gleichsam durch die Decke des regulativen Sprachspiels hindurchstoßen, wo sie gegen oder auch neben bestehende(n) Institutionen neue Herrschaftsverhältnisse herzustellen versuchen oder auch herstellen. Dieses Sprachspiel beschränkt sich nicht auf eine räsonierende Funktion und zielt nicht in erster Linie auf Bewusstseinsprozesse ab, sondern diese Texte sind vielmehr eingebettet in Handlungen, Taten, Aktivitäten. (ebd.)

Texte instrumentaler Sprachspiele repräsentieren wesentliche Stadien politischer Geschichte, auch die politische Wende von 1989. Im Raum des Ritualkomplexes der Andacht in den Montagsgebeten werden Texte integrativer Sprachspiele zu instrumentalen ‚umfunktioniert‘ bzw. neue eingeführt. Auf sie werden wir zurückkommen, wenn es um das Beispiel für ein Ineinandergreifen von politischem und religiösem Sprachspiel im Herbst 1989 geht (siehe Abschnitt 5). Ebenso wenig wie die Bemühungen um die Bibelübersetzung und ihre darüber hinausreichenden theoretischen Resultate hat die Sprachwissenschaft die von einem anderen Ansatz her kommende, viel versprechende kommunikationslinguistische bzw. handlungstheoretische Ritualität einbeziehende Betrachtung von Sprachgebrauch im Bereich der Religion und Kirche aufgegriffen und weitergeführt,

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wie sie z. B. von Gülich 1983 und Paul 1983, 1989, 1990, 2009 vorgestellt wurden. Diese Autoren haben das Thema Religion als kommunikatives Ereignis etabliert, theoretisch diskutiert und empirisch an exemplarischen Studien vorgestellt. Das war der Zeitpunkt, an dem der Ritualitätsbegriff in seiner Bedeutung für die Beschreibung religiösen Handelns aus der benachbarten ethnologischen (Douglas 1993; Turner 1989), soziologischen (Soeffner 1989; Goffman 1991) und politikwissenschaftlichen Forschung (Edelman 1990; Rytlewski 1987; Rytlewski/Kraa 1987) für die Linguistik (Paul s. o.; Werlen 1984a,b; Rauch 1991) wichtig wurde. Nun waren nicht mehr nur einzelne Wörter oder Texte, sondern große ritualisierte Handlungszusammenhänge Gegenstand der Untersuchung, vor allem der Gottesdienst mit seinen spezifischen Funktionen, nämlich Integration, Wertebestätigung, vor allem aber der Verweis auf Transzendenz. Die Rollen der Ritualteilhaber, also der in das Ritual Integrierten, und die Rolle der Außenstehenden, also der auf das Ritual von außen Schauenden, rückten ins Blickfeld. Gerade mit dem Blick auf diese Rollen ist ein Ansatz gegeben, auf die spezielle Situation der Kirche in der Gegenwart, nämlich das Verhältnis der Kirche mit ihrer Art der Kommunikation und ihren spezifischen Ritualen zu ihrer sie quasi von außen beobachtenden säkularen Umwelt, auch linguistisch einzugehen. Eine Umwelt, die auch über Rituale, nur anders orientierte, verfügt. Paul (u. a. 1983, 1990) widmet sich dem Charakter des evangelischen Gottesdienstes als institutionell inszeniertes Ritual. Er stellt fest: „Der Gottesdienst ist als Ganzes ein Ritual, erst in zweiter Linie eine institutionelle Veranstaltung“ (1983, 94). Als Institution muss die Kirche ihren Mitgliedern Amtshandlungen gleichsam als Dienstleistung anbieten. Diese werden zwar immer noch vielfach in Anspruch genommen, Paul beobachtet aber schon 1983, dass gegenüber dem rituellen der institutionelle Teil des Gottesdienstes zunimmt, während die Schaffung mystischer Gemeinschaft im Verkündigungsbereich, die durch den Vollzug von Ritualität hergestellt wird, zurückgeht. Die Gründe sieht er im Bemühen der Kirche um Legitimation durch ‚Volksnähe‘. Die Defizite, die die Beteiligten in der rituellen Kompetenz aufweisen, nämlich mangelnde Kenntnis des Vollzugs und der Semantik von Ritualen, sollen auf diese Weise überdeckt werden. Das hat zur Folge, dass die Funktionen des Rituals von der Institution übernommen werden. Paul nennt dies das „inszenatorische ‚Tun als ob‘“. Der Pfarrer ändert das Ritual, „während im Bewusstsein aller Beteiligten [also der Integrierten, U. F.] der rituelle Charakter nicht gestört werden darf“ (Paul 1983, 96). Als Folge der vermeintlichen Defizite bemüht man sich, Gottesdienste attraktiver bzw. zugänglicher zu gestalten. Mittel sind: Änderungen, v. a. Kürzungen der Liturgie bis hin zur Aufnahme neuer Elemente, profane Predigttexte, zeitgenössische Lieder und Anspiele. Die Diskursivität des Gottesdienstes wird durch Regieanweisungen, Reflexionen und Zusatzinformationen erhöht. Dieser Bestandsaufnahme stellt Paul gegenüber, dass jede Änderung am Vollzug des Gottesdienstes das Ritual grundlegend gefährdet – deshalb, weil der geänderte rituelle Vorgang reflektiert werden muss und man damit aus dem Ritual heraustritt. Unterbrechungen und Reflexion der Ritualität bedeuten

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immer, dass man zum Beobachter wird. Es stellt sich die Frage, ob die Integrationsleistung des Gottesdienstes dadurch abnimmt. Aus der ethnologischen Feldforschung, die sich dem Erkunden von Ritualen widmet, weiß man, dass ein Beteiligter ein Ereignis zwangsläufig anders sieht, als es ein Beobachter tut. Man muss in ein Ereignis integriert sein, um es völlig verstehen zu können. Zugleich muss man es als Feldforscher aber immer auch von außen beobachten. Vergleichbar gelagert ist das Problem des Ritualleiters, also des Pfarrers im Gottesdienst. Er muss in das Ereignis Gottesdienst als Teilnehmer integriert sein. Zugleich muss er als Leiter des Vollzugs auch beobachten, kommentieren, inszenieren. Er muss etwas ankündigen, den Ablauf ansagen und nötigenfalls Reparaturen vornehmen. Wenn dieser Teil des Gottesdienstablaufes unverhältnismäßig zunimmt, ist die Integrationsleistung des Ritualvollzugs gefährdet. Wenn zudem der Gestus rituellen Gebrauchs der Sprache wegfällt und an dessen Stelle die Verwendung von Alltagssprache tritt, können die Beteiligten aus dem Ritualvollzug gerissen werden. Mit Gestus ist der ‚pastorale Stil‘ gemeint: „die Summe der kontextspezifischen Kommunikationsstrategien, die im Vollzug des Rituals das interaktive Zustandebringen ritueller Bedeutung steuern“ (Paul 1989, 109). Dazu gehören die traditionell üblichen Stilzüge wie feierlich, öffentlich, konventionell, stilisiert, ernst (in unserem Kulturkreis), emotional/expressiv und harmonisierend sowie der Gebrauch von Stilelementen wie gehobener Wortschatz, Verwendung von Hochwertwörtern, formelhafte Ausdrücke (v. a. am Anfang und Schluss des Gottesdienstes), sprachliche Bilder, Elemente der Dichtung, altertümliche Sprachelemente, konnotative Überhöhungen und rhythmisierte Sprache. Dieses Reservoir von Sakrales markierender Mittel aus Gründen vermeintlich besserer Verständlichkeit und ‚Volksnähe‘ aufzugeben, bedeutet auf das zu verzichten, was sich sprachlich als Signal für einen Bezug auf große Transzendenz herausgebildet hat. Die Folgen einer solchen Verlagerung vom rituellen zum institutionellen Handeln der Kirche waren es u. a., die Pfarrer und Theologen bei der Erweiterung der Leipziger Montagsgebete um den Kreis der Ausreisewilligen und Oppositionellen bedenklich stimmten –wenn im Folgenden von Kirche die Rede ist, bezieht sich das auf die evangelische Kirche in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Die Verantwortlichen mussten befürchten, dass sie mit der Erweiterung des Teilnehmerkreises um Menschen, die aus anderen als religiösen Gründen in die Kirche kamen und dem Ritual mehr oder weniger fremd gegenüberstanden, ihre eigentliche Aufgabe, nämlich die der Verkündigung, gefährdeten. Wie aus diesem Dilemma ein Weg gefunden wurde, allen gerecht zu werden, soll am Ende exemplarisch gezeigt werden. Hier müsste sich ein Forschungskomplex anschließen, der sich dem speziellen Aspekt der sprachlich-kommunikativen ‚Außenbeziehungen‘ von Glaubens- und Religionsgemeinschaften widmet. Jede religiöse Gemeinschaft muss sich damit auseinandersetzen, dass es in ihrem Umfeld zunehmend größere Bereiche gibt, die nicht Teil des Weltausschnitts sind, den sie selbst ideologisch für sich in Anspruch nimmt, mit denen sie aber in verschiedenartigem Austausch stehen kann. Es muss

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daher auch eine Aufgabe kommunikations- und sprachwissenschaftlicher Bemühungen um den Kommunikationsbereich Kirche sein, das Verhältnis zwischen der Institution Kirche und ihrer Umwelt am Fall der sprachlich-kommunikativen Unterschiede und der diese Unterschiede teilweise verwischenden gegenseitigen Einflussnahmen zu untersuchen, d. h. das Verhältnis, das die Kirche zu ihrer Umwelt entwickelt und das umgekehrt die Umwelt zu ihr mit ihren Kommunikationsgepflogenheiten herausbildet, in den Blick zu nehmen. Das sollte angesichts der gegenwärtigen Situation der Kirchen, in unserem Fall der christlichen, ein zentraler Forschungsgegenstand sein. Die Kirche mit ihrer spezifischen Art ritueller Kommunikation (s. u.) ist eingebettet in eine Welt, die mit der Art des religiös-rituellen Sprachgebrauchs nicht vertraut ist. Diese ‚Außenwelt‘, so fremd sie der Kirche auch gegenüberstehen mag, macht im Bedarfsfalle aber Anleihen bei deren Ritualhaushalt (s. u.). Lasch und Liebert verweisen im Kurzkonzept für dieses Handbuch unter dem Stichwort Vergegenwärtigung darauf, dass es Übernahmen von Ressourcen kirchlicher Kommunikation in andere soziale und kulturelle Zusammenhänge unter Ausnutzung religiös motivierter Symbolhausalte (vgl. Lasch/Liebert 2015, 483f.) geben kann. Solche Übernahmen findet man bereits im Falle lebensweltlicher, ‚privater‘ Ritualausübung, wenn z. B. weltliche Beerdigungen sich an die Muster kirchlicher Bestattungen anlehnen, ohne freilich deren Transzendenzbezug zu übernehmen. Besonders ausgeprägt und von ganz anderer Bedeutung ist die Anleihe an Ritualen der Kirche aber in der öffentlichen politischen Kommunikation, vor allem im Falle diktatorischer Gesellschaftssysteme. Diese versuchen durch den Rückgriff auf religiöse Rituale bzw. in Anlehnung daran, einen über die ‚normale‘ Lebenswelt hinaus verweisenden Bezug herzustellen. Der eigentliche Transzendenzbezug politischer Rituale ist der, den Luckmann mittlere Transzendenz nennt. Da die Gesellschaftsordnung ohne Rücksicht auf Person, Ort und Situation als gültig und verpflichtend erfahren wird, kann sie als Manifestation einer universalen und transzendenten Ordnung angesehen werden. (Luckmann 1991, 89)

Der einzelne muss und kann die Sinnfindung nicht selbst leisten, die Gesellschaft liefert sie ihm und nutzt sie als Form politischer Sozialisation und Mittel zur Erzeugung von Gruppensolidarität (vgl. Rytlewski/Kraa 1987). Große Transzendenz dagegen findet man nur im religiösen oder mythischen Bereich, im Bezug auf etwas, das nicht von dieser Welt ist, d. h. „wenn etwas überhaupt nur als Verweis auf eine andere, außeralltägliche und als solche nicht erfahrbare Wirklichkeit erfasst wird“ (Luckmann 1991, 168; zum Transzendenzbegriff vgl. weiter Lasch in diesem Band). Die Praxis diktatorischer Systeme besteht in dieser Hinsicht nun darin, dass mit dem Gebrauch religiöser Rituale im politischen Geschäft etwas Außerweltliches imaginiert wird, obwohl politische Rituale von ihrem Wesen her nur mittlere Transzendenzen, d. h. den Bezug auf Werte einer politischen, kulturellen, nationalen Gemeinschaft herstellen können. Mit der Vorspiegelung einer vermeintlich großen

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Transzendenz im politischen Bereich soll die ‚Vergöttlichung‘ und damit die Unangreifbarkeit der politischen bzw. ideologischen Inhalte, um die es geht, erreicht werden. Umgekehrt dringt angesichts der Schrumpfung der Kirchgemeinden sowie der Tatsache, dass zu den Teilnehmern an kirchlichen Ritualen wie Taufe, Konfirmation, Trauung und Bestattung immer mehr nicht religiös gebundene Menschen gehören, zunehmend Nichtsakrales in den Kirchenraum ein. Das beeinflusst den Sprachgebrauch, lockert die Rituale und bringt es mit sich, dass der Transzendenzbezug in den Hintergrund tritt und sich die Grenze zu nichtreligiösen Veranstaltungen immer mehr verwischt. Diese Situation ist sicher der bisher am wenigsten beachtete Bereich innerhalb des Problemfeldes Sprache und Kirche. Gerade hier liegen aber Möglichkeiten – besonders für ein diskurslinguistisches Vorgehen –, dem Phänomen religiöser wie dem politischer ritueller Kommunikation theoretisch und empirisch näher zu kommen, indem man den Blick darauf richtete, wie sich Glaubensund Kulturgemeinschaften in ihrem andersreligiösen und nichtreligiösen Umfeld situiert haben, wie sie ihr Verhältnis zu anderen Glaubens- und Kulturgemeinschaften, vor allem aber zu Gruppen und Wirklichkeitsbereichen, die nichtreligiöse Anschauungen, Ziele und Ideologien vertreten, bewältigen, welches Verhältnis also zu Menschen besteht, die von der jeweiligen Gemeinschaft als ‚Nichtgläubige‘ betrachtet werden? Wie wird mit den dabei entstehenden Konflikten sprachlichkommunikativ-rituell umgegangen? Auch der Fall DDR gehört hierhin (vgl. Abschnitte 3, 4 und 5).

2 Ritualität in den Handlungsbereichen von Politik und Kirche Die Untersuchung religiöser Kommunikation als ritualisiertes Ereignis und speziell der Beziehungen zwischen religiöser und politischer, ebenfalls zum Teil ritualisierter Kommunikation erfordert zunächst einmal die Klärung der Kategorie Ritualität. Der Ritualitätsbegriff, auf den ich mich beziehe, wird im Folgenden unter den Aspekten Funktion und Struktur unter Einbeziehung des Transzendenzbegriffes dargestellt (Fix 1998, IX–XXII). Als zentrales Kriterium für Rituale kann gelten, dass ihre grundsätzliche Funktion darin besteht, Bezug auf Werte zu nehmen und der Bestätigung dieser Werte zu dienen, wobei diese dadurch bestimmt sind, dass sie über den einzelnen und seine Situation hinaus auf Transzendenz verweisen (Goffman 1974, 1991). Ihr Gebrauch zeigt die Überzeugtheit von einer Anschauung bzw. einer Lebensform. Das gilt für alle Arten von Ritualen: lebensweltliche, politische wie religiöse. Der damit hergestellte Transzendenzbezug dient, abgesehen vom Verweis über sich selbst hinaus, auch der Stiftung von Bindungen und damit verbunden der Integration in eine Gruppe, die von solch gemeinsamer Anschauung

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bzw. Lebensform bestimmt sein kann. Die Bindungen drücken über die gemeinsame Bejahung hinaus Verbundenheit und Teilhabe aus. Diejenigen, die die jeweiligen Werte im rituellen Handeln anerkennen, gehören zusammen und machen das sichtbar. Wenn man Rituale mit vollzieht, fühlt man sich mit den anderen Ritualitätsteilnehmern verbunden. Funktion der Rituale ist es zudem, der Markierung und Ermöglichung von Übergängen zu dienen und Mittel zu ihrer Bewältigung zu sein: Mit besonderem Bezug auf Gennep und Turner behandelt Geyer (2007) die Montagsgebete akzentuiert unter diesem Aspekt der Transformation. Alle genannten Aspekte gelten für die Bereiche Familie (Taufe, Hochzeit, sozialistische Namensgebung, sozialistische Eheschließung), Beruf (Arbeiterweihe), öffentliches Leben (Singen der Nationalhymne, Eröffnung des Parlaments, Demonstration am 1. Mai) und religiöses Leben (Singen, Beten, Segnen). Die Beispiele zeigen bereits, dass Rituale immer Handlungscharakter haben. Es geht jeweils darum, gemeinsame akzeptierte Werte durch einen gemeinschaftlichen Vollzug zu erleben (Sandig 1986, 306), sei es als Teilnehmer einer Versammlung, eines Demonstrationsmarsches, einer Feier, eines Gottesdienstes, sei es mit den Handlungen des Mitsingens, Mitspielens oder Mitmarschierens. Die Teilnehmer, d. h. die wirklich am Ritual Beteiligten, tun aus denselben Gründen dasselbe. Diese Handlungsvollzüge sind grundsätzlich Elemente einer Inszenierung. Nichts verläuft zufällig. Alles wird nach einem vorgegebenen Muster durchgeführt. Dadurch wird zum einen das Verhalten geregelt. Die Inszenierungen geben vor, wie eine Handlung auszuführen ist, und wirken so notwendigerweise einengend. Zum anderen dienen die Inszenierungsmuster aber auch der Entlastung, sie befreien von dem Zwang, Formen selbst finden zu müssen. Das ist besonders in Übergangssituationen (Erwachsenwerden, Hochzeit, Tod) hilfreich. Ob es um Statuswechsel in Familie, Beruf oder öffentlichem Leben geht, die Teilnehmer müssen die Formen ihres Handelns in diesen ungewohnten Situationen nicht selbst finden, sondern können sich auf bewährte, vereinbarte, mit Sinn geladene Formen des Handelns stützen. Das ist sicher ein Grund dafür, dass religiöse Rituale auch von Außenstehenden in Anspruch genommen werden. Die integrierende und Werte bestätigende Funktion bringt es mit sich, dass rituelle Texte in der Regel von Expressivität geprägt sind (Werlen 1984a). Die zum Ausdruck des Expressiven verwendeten Wörter, Wendungen und Textstrukturen werden zu „Bausteinen eines [...] sekundären semiotischen Systems“ (Werlen 1984a, 85). Sie vermitteln nicht bzw. nicht in erster Linie Sachinformation, sie teilen nichts ‚Neues‘ mit, sondern sie dienen dem Ausdruck von Wertebezügen und damit der Integration (vgl. Kauke-Kececi 2002). Beides – Wertebezug wie Integration – lässt sich nachhaltiger über Emotion als über Kognition erreichen. Das Expressive der Form hat daran einen nicht zu unterschätzenden Anteil. Die rituell gebrauchten Formen und Texte sind Teil unseres kulturellen Gedächtnisses und haben den Charakter von Wiedergebrauchsrede (Lausberg 1967), d. h. sie werden in immer gleichem Wortlaut im Sinne einer Zitation wieder aufgenommen. Dass das möglich ist, beruht auf ihrer elaborierten Form, die sie die ständige Wiederholung unbeschadet überstehen und nicht abgegriffen

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erscheinen lässt. Wenn es Änderungen ritueller Texte geben sollte, werden sie sich nicht von selbst, nicht als Phänomene der unsichtbaren Hand einstellen, sondern sie werden auf einer bewussten Entscheidung beruhen, der in der Regel eine reflektierte Erörterung vorangeht. So bedürfen z. B. auch geringe Veränderungen am Wortlaut von Chorälen des Gesangsbuch-Kanons, z. B. mit dem Ziel, sie ‚verständlicher‘ zu machen, eines institutionellen Beschlusses. Die zum Teil heftigen Diskussionen um solche Änderungen machen deutlich, welche Bedeutung die feste Form für Aussage und Funktion des Textes hat. Wenn also z. B. in den Montagsgebeten ad hoc entschiedene Veränderungen von Ritualen vorgenommen wurden, war das ein Vorgang von Tragweite. Die genannten Funktionen Wertebestätigung, Integration, Markierung von Übergängen und die angeführten Merkmale gemeinsames Handeln nach festen Mustern im Rahmen einer Inszenierung, Expressivität lassen sich in allen Ritualbereichen finden. Sie treffen für politische Rituale wie für Lebenslaufrituale zu. Und natürlich existiert im religiösen Bereich eine große Zahl sehr ausgearbeiteter komplexer Rituale. Das zentrale ist der Gottesdienst. Am Beispiel der Jugendweihe lässt sich erkennen, welche Aufschlüsse ein Ritualvergleich für die Betrachtung der Rolle der Kirche in ihrem säkularen Umfeld bringen kann. Die Jugendweihe, die in Anlehnung an die Ritualität der Konfirmation und als Ersatz für diese eingeführt wurde, zeigt dieselben funktionalen Merkmale wie die Konfirmation: Sinnfindung, Wertebestätigung, Ermöglichung von Übergängen und Integration (vgl. Kauke-Kececi 2002). In beiden Ritualen bekennt man sich zu etwas, das über einen hinausweist, und kann dahinter nicht zurück. Die Gemeinschaft, in deren Rahmen man das Gelöbnis vollzogen hat, könnte einen ja auf die eingegangene Verpflichtung verweisen. Das Bekenntnis zu etwas Transzendentem erfolgt in beiden Fällen, im einen Fall ist es der Verweis auf Gott, im anderen der Verweis auf die Ideologie der Gesellschaft. Deutlich wird hier Ideologie zur Religion gemacht. Gerade da liegt der Unterschied zwischen den beiden Ritualkomplexen und da zeigt sich das Problem, mit dem sich die Kirche am Fall der ‚Konkurrenz‘ der Jugendweihe auseinandersetzen musste. Beiden Ritualhaushalten, dem religiösen wie dem politischen, ist zwar der Werte- und Transzendenzbezug gemeinsam, aber es gibt den entscheidenden Unterschied der verschiedenen – religiösen bzw. politischen – Wertebezüge, wobei die mittlere Transzendenz, die ein politisches Ritual bestimmt, als eine große Transzendenz imaginiert wurde (Luckmann 1993, s. o.).

3 Politische Kommunikation in der DDR Ein Blick auf die Machtstrukturen der DDR erklärt auch ihre Haltung zur Kirche. Die DDR vertrat prinzipiell eine kirchenfeindliche Politik, die zum einem in dem als bedrohlich empfundenen christlichen Menschenbild begründet war. Die inhaltlich-

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programmatische Kritik, die sie daran übte, war ein fester Bestandteil der ideologischen Einflussnahme, die sich auch darin zeigte, dass ein Gegenbild entworfen wurde: „Nicht sündiges, erlösungsbedürftiges Wesen und geschaffenes Geschöpf sollte der Mensch sein, sondern stolz und selbstbewusst, Schöpfer seiner selbst [...]“ (Löffler 2013, 19). Zum anderen waren die Auseinandersetzung mit der Kirche und die Anfeindungen, die diese zu spüren hatte, funktional-programmatisch bedingt. Es war die Furcht vor der mit – wenn auch beschränkten – Freiheiten versehenen Institution Kirche (siehe 4.), die die nach innen gerichtete Politik und Ideologie der DDR mitbestimmte. Die daraus entstehenden Konflikte wurden besonders deutlich, wenn die beiden Welten aufeinander trafen. Das zeigte sich z. B. am 11. September 1989, als „tausend Friedensgebetsbesucher/innen beim Kirchgang massiv behindert worden [waren]“ (Geyer 2010, 16). Greiftruppen der Stasi und Bereitschaftspolizei [...] hatten die Menge eingekesselt, Menschen verprügelt, unter Schlägen auf Polizeiwagen verladen und sie unter Misshandlungen inhaftiert. (Ebd.)

Während der letzten Phase der DDR konnte man aber erleben, wie die mit ideologischen Argumenten errichtete Barriere zwischen Kirche und Öffentlichkeit überwunden wurde. Das war besonders ausgeprägt in den Montagsgebeten der Fall. Hier trafen Menschen einer bestimmten Glaubens- und Kulturgemeinschaft und Menschen, die sich zu keinem Glauben bekannten, aufeinander. Darauf wird mit einer exemplarischen Analyse in Teil 5 des Beitrags eingegangen. Die dort vorgestellten Überlegungen zur Verflechtung von Ritualen politischer und religiöser Natur (vgl. Fix 2011a,b) sind zu verstehen vor dem Hintergrund des Macht- und Wissensbegriffs von Foucault. Macht ist aus seiner Sicht das Funktionsprinzip einer jeden Gesellschaft (Fink-Eitel 2002, 7). Keine, sei sie totalitär oder demokratisch, kann ohne Machtstrukturen existieren. Deren Herstellung und Aufrechterhaltung, so Foucaults zentraler Gedanke, vollzieht sich vor allem durch die Hervorbringung, Strukturierung und Zuteilung von Wissen. Zu ergänzen ist, dass dieser Prozess ohne Sprache undenkbar ist. Wissen kann sich nur durch Sprache konstituieren und wird vorwiegend in sprachlicher Form weitergegeben. Wenn das Machtprinzip der Wissenszuteilung auch generell gilt, so hat man es sich doch in totalitären Systemen als besonders strikt vorzustellen. Anders gesagt: Wenn eine einzige Instanz, in unserem Fall die Sozialdemokratische Einheitspartei Deutschlands (SED), allein bestimmen kann, was in einer Gesellschaft gewusst und damit auch gedacht und besprochen werden darf und in welcher Form das zu geschehen hat, hat sie die entscheidende Machtposition inne. So gesehen stellt die Ordnung nicht nur des Wissens, sondern auch der öffentlichen Rede ein unentbehrliches Element totalitärer Machtkonstitution dar. Wenn jemand sich gegen dieses Verfahren wendet, wie es Oppositionelle in der DDR unter dem Schutz der Kirche getan haben, greift er die Macht und ihre Praktiken an. Eine Ausnahme bildete in diesem System allerdings die Kirche, die

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sich dem Herrschaftsanspruch der SED partiell entziehen konnte. Sie stand bis zu einem gewissen Grade außerhalb dieser Durchherrschtheit und war demnach den geltenden Regelungen des Diskurses weniger ausgesetzt. Auch im Bereich der Sprache hatte sie sich dem Herrschaftsanspruch deutlich verweigert: z. B. durch den Gebrauch religiöser Sprache, durch religiös ritualisierte, über Jahrhunderte hinweg tradierte Kommunikationskonstellationen, die ihr eine auch nach außen sichtbare Eigenständigkeit gaben. Ihre Vertreter hoben sich auch durch größere Geübtheit im freien Sprechen und Argumentieren ab. Hinzu kam ihre (teilweise) demokratische Verfasstheit, die sich z. B. in der Wahl und Arbeit der Kirchenvorstände zeigte. Sie bot also die Möglichkeit, demokratisches, selbst bestimmtes Handeln und Diskutieren im Kleinen zu üben. Diese freiere Situation übertrug sich auf die Gruppen, die unter ihrem Dach Asyl fanden. Das war der Grund, weshalb sich Menschen, denen die Kirche eigentlich fremd war, dennoch an sie wandten. Sie suchten einen Ort, an dem ein offener Diskurs möglich war, und wandten sich an eine in der DDRGesellschaft bisher randständige Institution. Lange Zeit hatte es die breite kirchenferne Öffentlichkeit der DDR, d. h. die Mehrheit der Bevölkerung, wenig interessiert, was in der ‚Randgruppe‘ Kirche gesagt und geschrieben wurde, sieht man von politisch brisanten Situationen wie der Attacke gegen die Junge Gemeinde 1953 und der Einführung der Jugendweihe 1954 ab. In dem Moment aber, wo das in der Kirche Gesprochene oder Geschriebene politisch wurde und in die Öffentlichkeit drang, vor allem im letzten Jahrzehnt der DDR, richtete sich die gesammelte Aufmerksamkeit bestimmter Teile der Öffentlichkeit auf die Kirche. Das waren auf der einen Seite westliche Medien, Ausreisewillige und vor allem Mitglieder von Protestbewegungen, auf der anderen Seite die SED und die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Kirche ermöglichte den Zugang zu einem – eigentlich unmöglichen – Diskurs, indem sie das unzensierte öffentliche Reden ermöglichte. Sie verhalf zu bisher nicht gekannten Freiheiten auf den verschiedenen Ebenen öffentlicher Kommunikation. Auf der Ebene der gesellschaftlich-politischen Handlungsbedingungen betraf das die politisch bedingten Strukturen öffentlicher Rede. Es geht dabei darum, welche Möglichkeiten den Mitgliedern einer Gesellschaft zugestanden werden, am öffentlichen Diskurs teilzunehmen, bzw. wie ihnen der Zugang zum öffentlichen Diskurs erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht wird. Als Beispiel seien Fälle des restringierenden Umgangs mit dem gedruckten Wort genannt: Abhängigkeit einer Veröffentlichung von parteigelenkten Druckgenehmigungsverfahren, Durchsetzung des Medienmonopols durch die SED mit dem Instrument der ‚von oben‘ erfolgten Anleitung und Kontrolle der Medienarbeit, Überprüfung von Druckerzeugnissen durch Grenz- und Postzollämter, Anwenden des Zollgesetzes und der Postzollfahndung, seit Beginn der achtziger Jahre verstärkte Aufmerksamkeit auf Druck- und Vervielfältigungsgeräte und Nutzungsbeschränkungen in den Bibliotheken. Vor diesem Hintergrund wird die gesellschaftliche Bedeutung des Handelns der Kirche deutlich. Sie unterlief den Machtanspruch der SED, alle öffentliche Kommunikation zu regeln, indem sie die Möglichkeit eines unzensierten, macht-

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freien öffentlichen Sprechens bot, an dem sich, wer wollte, beteiligen konnte. Auf der sozialen Ebene geht es um die Beziehungen, in der die an der Kommunikation Beteiligten zueinander stehen. Anders als in einer Demokratie war die Situation des öffentlichen Sprechens in der DDR für den ‚normalen‘ Bürger grundsätzlich asymmetrisch, d. h. ‚die oben‘ bestimmten, was ‚die unten‘ erfahren und selbst sagen durften. Diese anscheinend durch nichts zu erschütternde asymmetrische Konstellation normierten und sanktionierten Kommunikationsverhaltens wird, indem die Kirche ihre Türen öffnet, durch eine symmetrische abgelöst: Jeder kann selbst oder im Diskurs seiner Gruppe entscheiden, was er sagen will. Die von Foucault beschriebenen Regelungen des Verbietens, Ausschließens, Verordnens etc. wurden für die sich im Kirchenraum Befindlichen außer Kraft gesetzt. Auf der normativethischen Ebene handelt es sich um Fragen der kommunikativen Ethik (Habermas 1984, 1988; Apel 1988), zu deren Grundaussage es gehört, dass man, wenn man kooperieren, wenn man sich also wirklich verstehen will, allgemeine Normen kommunikativen Handelns einhalten muss (Grice 1979). Dass die an erster Stelle stehende Maxime der Wahrhaftigkeit: Sage nur, was du für wahr hältst oft genug verletzt wird, weiß man aus Erfahrung. In einer Demokratie kann der Bürger jedoch Wahrhaftigkeit durch Widerspruch, Wahlverhalten etc. einfordern. Das galt nicht für die DDR. Abgesehen davon, dass es keinen Ort für das öffentliche Einmischen gegeben hat, wäre es auch ein Verstoß gegen die Staatsräson gewesen, hier gegen die Maxime der nicht nur genehmigten, sondern geforderten Verschleierung, Vertuschung und Lüge, nämlich: „Du und ich, wir wissen, was gemeint ist. Aber der Dritte (der Klassenfeind) darf das nicht wissen. (Also musst du lügen)“. Dass in diesem gesellschaftlichen Kontext die Dinge im (halb)öffentlichen Raum der Kirche ohne jede Rücksicht auf den ‚Dritten‘ klar beim Namen genannt werden konnten, verhalf dem Kooperationsprinzip wieder zur Geltung und stellte die Gültigkeit der Kommunikationsmaxime Sei wahrhaftig wieder her. Auf der Ebene des sprachlich-kommunikativen Handelns geht es um die Beschreibung der vorzugsweise verwendeten Sprachspiele (siehe 2.). In unserem Kontext ist zu fragen, wer die Verfügungsgewalt über Sprachspiele hat und welche es im Bereich öffentlicher, d. h. die Gesellschaft betreffender und für die Allgemeinheit zugänglicher Kommunikation gibt. Während vor allem das integrative und informativ-persuasive Sprachspiel in der DDR eine Inflation erlebten, gab es das instrumentale Sprachspiel im öffentlichen Sprachgebrauch (und nur dort ist es sinnvoll) überhaupt nicht. Es wird „das Begehren formuliert, um dessen Erfüllung der politisch/ sozial Mächtige angegangen wird“ (Grünert 1984, 33). Textsorten, die diesem ‚Begehren‘ gegenüber installierter Macht dienten, sind traditionell z. B. Protestlieder, Protestreden, politische Witze, Slogans. Die Texte dieses Sprachspiels entstanden in der letzten Phase der DDR zu einem wichtigen Teil im Raum der Kirche sowie auf den Plätzen und Straßen während der sich an die Montagsgebete anschließenden Demonstrationen. Als neues Phänomen sind die sich in den Friedensgebeten entwickelnden Formen von Liturgie, vor allem Ansprache/Predigt, Fürbitte und Seligprei-

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sungen anzusehen. Die Kirche und die Opposition entschärften bzw. verhinderten die Regelung, die Foucault Verweigerung des Zugangs zu den Diskursen, hier zum widerständigen Diskurs, nennt. Die ‚unten‘ verschafften sich den Zugang zum Diskurs unter dem Dach der Kirche. Weiter ist auf der Ebene des sprachlich-kommunikativen Wissens danach zu fragen, was Bürgern als kommunikative ‚Bausteine‘ für ihr instrumentales Sprachspiel an Wissen über Wörter, Formeln, Textsorten zur Verfügung stand. Die politischen Veränderungen beeinflussen folgerichtig auch den Text- und Wortgebrauch. Die Textsorten, über die die Bevölkerung der DDR für öffentliche Äußerungen verfügte – z. B. Dankadresse, Willensbekundung, Verpflichtungserklärung –, wurden von Texten ganz anderer Art abgelöst, von Protestbriefen, Aufrufen und den so genannten Demo-Sprüchen, aber auch von Chorälen, Segenssprüchen und Gebeten. Im Rahmen des damals verbreiteten Spiels mit Textsorten werden auch religiöse Texte zu weltlichen umfunktioniert. So greift, was kein Einzelfall ist, ein politischer Slogan der Demonstrationszüge auf das Neue Testament zurück (nach der aktuellen Luther-Übersetzung): So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener; und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht. (Mt 20,26f.)

Auch die Texte innerhalb der Kirche ändern sich: Aus performativen Texten werden (nicht immer von der Kirche gewollte) widerständige, instrumentale Texte (s. u.).

4 Der Sprachraum Kirche in der DDR Die Kirche hat in der DDR, besonders in ihrer letzten Phase, Freiräume für angstfreies, gleichberechtigtes, freies Sprechen geboten und damit die Möglichkeit, die Stabilität eines Staates zu erschüttern, die „entscheidend von der dauerhaften Verhinderung jeder nicht systemgerechten politischen Artikulation“ abhing (Neubert 2008, 30). Das ist aus dem bisher Gesagten schon deutlich geworden, soll aber nun vertieft werden. Die Bedeutung der Kirche als freier Sprachraum ist eben (Abschnitt 3) angesprochen worden. Zugleich ist sie auch ein anders gearteter Sprachraum. Sie bot außer der Gelegenheit, frei zu sprechen, auch die Möglichkeit, anders zu sprechen, und das heißt, anders zu denken. Indem sie Sprachmöglichkeiten bot, wie sie außerhalb ihrer Mauern nicht existierten, eröffnete sie neue sprachliche Zugänge zur Welt und machte neue Denkweisen zugänglich. Das geschah u. a., indem man andere Gesprächsstrategien und -stile, andere Textsorten – solche des religiösen und kirchlichen Bereichs – mit anderen Intentionen (Verkündigen) und andere Terminologien (mit anderen Bedeutungsinhalten) kennen lernen konnte. So wurde der Entdifferenzierung des Wortschatzes in der DDR und damit dem Vorenthalten von Denkmöglichkeiten im Sinne des Verknappens, wie Foucault es genannt hat, etwas entgegen

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gestellt. Wer z. B. bis dahin nicht gewusst hatte, dass das Wort Wahrheit über die Alltagsbedeutung – nicht lügen – und die ideologische Bedeutung hinaus – wahr ist, was der Arbeiterklasse oder ‚der Partei‘ dient – auch philosophische, theologische und ethische Dimensionen hat, konnte dies nun erfahren und in diesen Richtungen weiter denken. Schließlich ist eine Veränderung des Sprachraums Kirche selbst zu konstatieren. Die Kirche befand sich in der politischen Situation des Herbstes 1989 mit der Offenheit für alle und der Möglichkeit des freien Sprechens für jeden in einem offenkundigen Dilemma. Ihre Öffnung geschah, obwohl sich ihre Vertreter durchaus nicht einig waren, ob ein freier öffentlicher Diskurs mit Menschen, deren Intentionen und Motive man nicht kennt oder denen man nicht zustimmen kann, gewährt werden darf. Es war sicher, dass diese, zumal unzensierte, Öffnung der Kirche nach außen politisch nicht ungefährlich war und dass Abstriche am eigentlichen Auftrag der Kirche, also der Verkündigung, nötig sein würden. Einerseits war die Kirche natürlich eine vom Staat nur geduldete und immer gefährdete Institution, andererseits verfügte sie aber über Möglichkeiten, die die oppositionellen Gruppen und die Ausreisefordernden nicht hatten, nämlich Räume, Telefone, Vervielfältigungsmöglichkeiten und die Befreiung von der Anmeldungspflicht für (gottesdienstliche) Veranstaltungen. Damit hatte sie eine gewisse Freiheit, die sie – aus ihrem Selbstverständnis heraus – verpflichtet war, mit anderen zu teilen. Schließlich unterlag sie einer religionsethischen Verpflichtung, die aus den Traditionen z. B. der Bekennenden Kirche herrührte, v. a. aber aus dem Anspruch ihrer Lehre, dem Nächsten beizustehen. Dieses Dilemma wird in historischen Arbeiten (z. B. Enquete VII, 1, 612ff.) thematisiert. Es gab also zum einen politische Bedenken. Die Kirche wollte sich als Institution nicht gefährden und ihre Möglichkeiten, in der Gesellschaft wirksam zu sein, nicht aufs Spiel setzen. Ihre Bedenken waren berechtigt. So eskalierte am 11. September 1989 z. B. die Machtausübung. Das zeigte sich an Behinderungen von etwa tausend Besuchern der Friedensgebete, am Einkesseln der Menge durch Staatssicherheit und Bereitschaftspolizei, an Schlägen und Inhaftierungen (vgl. 3.; Geyer 2010, 16). Die Kirchen standen immer vor dem Problem, nicht als politisch gelten zu wollen, zugleich aber unter den obwaltenden Verhältnissen fast automatisch in eine politische Rolle und Funktion zu geraten. Allein ihre Existenz war in der Diktatur ein politisches Faktum. […] Im Prinzip ist den Kirchen auch nicht anzulasten, dass sie die Bedürfnisse des Parteistaates und die Ansprüche der Opposition nicht gleichermaßen ihren Entscheidungen zugrunde legten, sondern zu oft im Zweifelsfall für die staatlichen Bedürfnisse eintraten. […] Nicht zuletzt deshalb, und eben nicht nur aus theologischen Erwägungen heraus, blieb sie stärker staats- und weniger gesellschaftsorientiert. In ihren eigenen Worten hieß dies: Die Kirche ist für alle, aber nicht für alles da. (Kowalczuk 2009, 209)

Zum anderen gab es theologische Bedenken (Enquete Kommission VII, 1, 615ff.). Diese spielen im Kontext dieses Beitrags eine größere Rolle. Es war klar, dass mit der

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Öffnung der Kirche für Nichtchristen das Ritual und der damit verbundene Werteund Transzendenzbezug zwangsläufig gelockert, ja geändert werden würde. Das bedeutete, dass der Kern der Religion, ihre Transzendenz auf das, was über die Menschenwelt hinausreicht, zumindest partiell aufgegeben werden müsste. Dass sich Theologen und Pfarrer darüber Gedanken machten, ist nicht nur verständlich, sondern war nötig. Ebenso denke ich persönlich an – einzelne – Bürgerrechtler in Leipzig, denen ich innerlich nicht offen genug begegnet bin. Aber ich sehe nicht, dass wir ihnen schuldhaft geschadet haben. Es bestand zwischen uns und einzelnen von ihnen ein echter Überzeugungsunterschied über das zum Evangelium passende Maß politischer Aktionen, über das Wie, nicht über das Ob. Dieser Konflikt würde heute wieder entstehen. (Hempel 2004, 129)

Was in gottesdienstlichen Handlungen vollzogen wird, ist, wie gezeigt wurde, ein anderes Sprachspiel, als es die Sprachspiele der politischen Kommunikation sind. Das religiöse Sprachspiel wird mit einer anderen Intention vollzogen als die politischen. Es dient dazu, den der Kirche auferlegten Pflicht zu genügen, das Wort ihres Gottes in der Form der Liturgie als Vollzug kirchlicher Gemeinschaft zu verkündigen. Die gottesdienstliche Handlung, in der das geschieht, ist, wie auch gezeigt wurde, rituell geregelt. Sprachliche Äußerungen des Geistlichen sind v. a. Verkündigung und Auslegung des Wortes Gottes – z. T. horizontal an die Gemeinde, z. T. vertikal an Gott gerichtet. Es werden Handlungen vollzogen, die nicht nur auf das Neben-uns, auf andere Menschen, sondern die auf das Über-uns, auf Gott, verweisen. Es ist klar, dass sich der Charakter ändern muss, wenn andere Kommunikationselemente und andere Beteiligte hinzukommen, wenn also neben das VERKÜNDIGEN die Sprachhandlungen APPELLIEREN, INFORMIEREN und ANKLAGEN treten, wenn ein weltlicher Adressat als das ‚Oben‘ angesprochen wird, wenn die Anwesenden durchaus nicht alle den Verweis über sich selbst hinaus auf Gott herstellen, wenn der Ritualbezug von vielen nicht verstanden werden, geschweige denn geteilt werden kann. Mit anderen Erwartungen aufgenommen, ändern die Texte ihren Charakter. In der speziellen Situation werden diese Texte, Kirchenlieder und Predigten z. B. (die sich freilich in ihrem Charakter verändert haben können) auch für Kirchenfremde interessant und verständlich. Zum Teil dadurch, dass sie umfunktioniert werden, z. T. durch Erweiterung ihres Spektrums. Eine spezifische Gestalt bildete sich mit der Zeit heraus. Mit den – gesellschaftlich politischen – „Informationen“ und „Zeugnissen der Betroffenheit“, mit einer ‚niedrigschwelligen‘ Gestaltung mit Dias, Meditation, Musik, wiederkehrenden Liedern usw. entstand ein Gottesdienst, der auch für mit der Kirche nicht Vertraute mitzuvollziehen war. (Geyer 2010, 15)

Ein ambivalentes Verhalten der Kirche in dieser Situation und Konflikte zwischen den Beteiligten sind nachvollziehbar, geben sie doch etwas von ihrem ureigenen Anliegen auf (Kowalczuk 2009, 200ff.). Dass die Kirche dabei auch viel gewonnen hat, wurde erst allmählich klar. Nicht nur die Hinzugekommenen mussten Neues

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zur Kenntnis nehmen – Gebete, Segen und Lieder waren für den Atheisten sicher eine Herausforderung. Auch die religiösen ‚Insider‘ mussten mit Neuem leben. Unter dem Ansturm der von außen Hereingekommenen hat sich möglicherweise das Selbstverständnis des Theologen bzw. Pfarrers geändert und haben sich neue – in der Auseinandersetzung mit der Grenze zwischen Profanem und Sakralem gewonnene – Möglichkeiten gezeigt, die durchaus auch liturgischen Charakter gewinnen konnten wie die folgenden Äußerungen zeigen. Für mich war diese Zeit auch als Theologin sehr spannend. Die Kirche hatte ja das Privileg, Veranstaltungen ohne vorherige Anmeldung durchführen zu können – aber eben ausschließlich Veranstaltungen mit gottesdienstlichem Charakter. Aus diesem Grund mussten alle eigentlich vorrangig politischen Veranstaltungen mindestens einen gottesdienstlichen Teil haben. Das war oft eine ungeheure Herausforderung für mich. Alle politischen Überzeugungen musste ich vor mir selbst, dem Gemeindekirchenrat und der Welt theologisch begründen. (Misselwitz in Brummer 2009, 113; Herv. im Orig.) Ruth Misselwitz, Pfarrerin, Pankower Friedenskreis Die Friedensgebete in den Kirchen und die anschließenden Demonstrationen auf Straßen und Plätzen waren durch eine Art Liturgie miteinander verbunden. Viele Veranstaltungen begannen meditativ, als Gottesdienst oder Andacht, setzten sich fort als Informations- und Diskussionsrunde und mündeten schließlich in einer Demonstration. – Oder soll ich sagen Prozession? Entscheidend ist, dass dabei die oft unerträglich hohe Schwelle zwischen sakralem und profanem Bereich überschritten wurde. Was in der Kirche begann, setzte sich auf der Straße fort. (Bindemann in Brummer 2009, 28f.; Herv. im Orig.) Walther Bindemann, Theologe, Pfarrer, Studienleiter

5 Exemplarische Analyse: Das Beispiel Montagsgebet 5.1 Die Situation der Montagsgebete Es ist eine gemeinhin unwidersprochen akzeptierte Feststellung, dass die öffentliche Kommunikation totalitärer Systeme in besonderem Maße ritualisiert und damit auch ‚religionalisiert‘ wird (vgl. Abschnitt 2). Elemente eines vage bleibenden, in seinem Inhalt nicht klar zu fassenden religiösen Denkens, Handelns und entsprechender sprachlicher Formung dringen in die öffentliche Kommunikation ein und prägen sie. Sie vermitteln in ihren zentralen Texten durch den Bezug auf eine scheinbare große Transzendenz den Eindruck von ‚Göttlichkeit‘, von einer Größe, die außerhalb der Welt der ‚normalen‘ Menschen existiert und auf diese bestimmend einwirkt. Das war auch in der DDR der Fall und ist hier umso interessanter, als die „durchherrschte Gesellschaft“ (Kocka 1994, 548) der DDR vom strikten Atheismus als Bestandteil der Staatsideologie, des Marxismus-Leninismus, ausging. Die Machthaber verkündeten, dass auf dem Weg zum Kommunismus, den sie einge-

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schlagen zu haben glaubten, jegliche Religion verschwinden würde. Ihre Haltung zur Kirche bzw. zur Religion hatte aber noch eine andere Seite. Obwohl sie jede Art von Religiosität verwarfen und die Kirchen als ideologische Gegner betrachteten (auch wenn in der DDR-Kirchenpolitik immer wieder Entspannungen zu verzeichnen waren), bedienten sie sich doch – wie andere totalitäre Systeme auch – in ihrem Sprach- und Ritualhaushalt sakraler Elemente und stellten damit den Verweis auf eine große Transzendenz her, die der Überhöhung der Doktrin ins ‚Göttliche‘ diente. Elemente religiös bestimmten Sprachgebrauchs wurden zum festen Bestandteil der öffentlichen Kommunikation. Ein Beispiel dafür sind die 10 Gebote der sozialistischen Moral, die auf dem fünften Parteitag der SED 1958 verkündet und 1963 auf dem sechsten Parteitag in das Parteiprogramm aufgenommen wurden. Sie umfassten die politischen Pflichten eines jeden DDR-Bürgers und wurden so zum Mittel der Indoktrinierung und Integration. Ihre Textstruktur und Sprache, speziell der Parallelismus der zehnmal wörtlich wiederholten Einleitungsformel Du sollst, verweisen auf die zehn Gebote des Alten Testamentes. Interessanterweise gab es jedoch auch den genau umgekehrten Vorgang: Bürgerbewegung und Ausreisewillige, die Nichtmächtigen also, brachten in den letzen Jahren der DDR nichtreligiöses Reden und Handeln in die religiöse Praxis ein. So wurde von den Vertretern der Widerständigkeit, die ihren Platz in der Kirche suchten, das religiöse Handeln zu einem bestimmten Grade – sicher unbewusst und ungewollt – entsakralisiert. Die Teilnehmer der Montagsgebete, die an der gottesdienstlichen Veranstaltung aus verschiedenen Gründen teilnahmen und aus unterschiedlichen Lebensbereichen kamen, machten sich die Religion als Ressource für ihre eigenen Anliegen zunutze, indem sie sich mit ihren anderen Zielen in den Raum der Kirche begaben. In diesem Kontext entwickelten sich neue, weniger strikt festgelegte Formen religiöser Praxis. Die für diese Praxis Zuständigen, Theologen und Pfarrer, sahen sich veranlasst, eine ‚Lockerung‘, ja gewisse Entleerung der Rituale zuzulassen. Fazit: Aus entgegengesetzten Zielen – Machtausübung versus Widerspruch gegen die Macht – sakralisierten die Mächtigen die öffentliche Rede und entsakralisierten die Widerständigen die sakrale Rede. Zum Charakter der Montagsgebete in Leipzig: In diesen speziellen Gottesdiensten (s. u.) trafen Menschen, die traditionell zu einer Kirchgemeinde gehörten (die Gemeinden der Nikolaikirche und anderer Kirchen Leipzigs sowie aus dem Umfeld der Stadt) mit Menschen zusammen, die Mitglied keiner religiösen Gemeinschaft waren und die sich wahrscheinlich, wenn man sie gefragt hätte, als Atheisten bezeichnet hätten. Die Interessen der Zusammentreffenden waren unterschiedlich. Sie reichten vom Willen zur Teilnahme am gewohnten Vollzug eines religiösen Rituals bis zur Äußerung politischer Widerständigkeit im Kontext dieses Ritualvollzugs. Für all das mussten im Rahmen der schon seit Jahren geübten Montagsgebete von den Verantwortlichen, Pfarrern, Vertretern der Landeskirche, Landesbischof, Lösungen gefunden werden, die das Sakrale bewahrten und zugleich dessen ‚Verweltlichung‘ zuließen. Das ist eine konfliktbeladene und zugleich bereichernde Situation – der

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Fall der außerreligiösen Vergegenwärtigung eines Musters genuin religiöser Kommunikation. In seiner Spezifik und politischen Wirkung – eine religiöse gab es, wie man heute sagen kann, nicht – verdient dieser Fall eine Untersuchung, die nicht nur den einmaligen Vorgang deskriptiv erfasst, sondern auch verallgemeinerbare Aufschlüsse über das Vergegenwärtigen religiöser Rituale erwarten lässt. Das überbzw. außerreligiöse Vergegenwärtigen des komplexen Gottesdienstrituals in den Montagsgebeten brachte es mit sich, dass dessen „konservative Eigenart“ (Lasch 2011, 549) teilweise aufgegeben werden musste. Es ging – diskurs- und textlinguistisch gesehen – um die Umfunktionierung eines religiösen Diskurses, nämlich um die Ausweitung einer vor allem dem Gebet gewidmeten Kurzform des Gottesdienstes, der Andacht, in einen teilweise weltlich-politischen, direkt auf die Machtverhältnisse reagierenden. „Verkündigung“ und „Verehrung“ sind deswegen zwar prinzipiell jederzeit und an jedem Ort möglich, religionsgeschichtlich ist aber zu konstatieren, dass der Gottesdienst eine „konservative Eigenart“ aufweist, in dem mit den fest gefügten Orten und Handlungen meist auch Zeiten, Räume und Rituale verbunden sind [...] alle Akte der „Verkündigung“ und „Verehrung“ werden gleichsam vergegenwärtigt im Vollzug ritueller Handlungen an einem heiligen Ort zu einer heiligen Zeit, an einem Heterotopos mit der ihm eigenen Zeitstruktur. (Lasch 2011, 549)

Die spezielle Art kirchlicher Veranstaltung, wie sie die Montagsgebete darstellen, hatte ihren Ursprung in der Friedensbewegung, die es in der DDR seit Anfang der 1980er Jahre gab. Die Jungen Gemeinden aus Leipzig [...] bildeten den Stamm, hinzu kamen politisch unruhige Geister etwa aus der Hausbesetzer-Szene und politischen Gruppen bis zu unzufriedenen Genossen, eine anonyme Stadtöffentlichkeit als ‚zweite Gemeinde‘ [...] der Stadtkirche stellte sich ein. Das Friedensgebet der ‚offenen Stadtkirche‘ wurde zur Stadtliturgie. (Geyer 2010, 14f.)

In der Folge gab es Konflikte zwischen den Protestgruppen, meist Jugendlichen, und der Kirchenleitung, genannt sei stellvertretend Johannes Hempel, damals Bischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, die als Vermittlerin zwischen den Forderungen des Staates und den Bestrebungen der oppositionellen Gruppen in der Basis-Arbeit der Kirche „einhegend“ (Geyer 2010, 15) und damit auch bremsend wirkte. Hempel hat sich später zu diesem Dilemma geäußert, das in der immer wieder notwendigen Entscheidung zwischen Bewahren des Christlichen sowie Vermeidung der Konfrontation mit dem Staat und den neuen Formen von Widerständigkeit bestand. Ich habe zu spät erkannt, dass in den ‚Basisgruppen‘ sich die neue Erwachsenengeneration mit ihrem Recht, neue Wege in eigener Verantwortung zu gehen, zu Wort meldete. Ich habe die Konfrontation zum Staat mit bewusster Öffentlichkeitswirkung zu lange vor mir her geschoben. Und ich bin in den Jahren nicht frei genug von Gewöhnung an die damaligen Verhältnisse geblieben. (Hempel 2004, 127)

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Wir haben auch gesagt […], dass das Christliche an unseren Veranstaltungen erkennbar bleiben muss. (Hempel 2004, 316)

Oppositionelle Gruppen und Leipziger Pfarrer setzten sich gegen die von der Kirchenleitung angemahnte Vermeidung politischer Anliegen durch. Die Gruppen fanden in der Nikolaikirche und auch in anderen Leipziger Kirchen einen Ort, wo sie ihren Protest äußern und ihre politischen Probleme zur Sprache bringen konnten. Auf den sich an die Andacht anschließenden Montagsdemonstrationen wurde der Protest nach außen getragen und so für alle sichtbar gemacht. Diskurslinguistisch gesehen lässt sich die damalige Situation der Kirche als die eines durch die bestehenden Machtverhältnisse verursachten geistlichen und kommunikativen Dilemmas beschreiben. Die Kirche stand vor der Entscheidung, ihr eigentliches – das religiöse Sprachspiel– gegen ein ihr fremdes – das politische – aufzugeben oder das Liturgische des Sprachspiels zumindest zu lockern und mit dem politischen zu mischen. Das hat grundsätzliche Bedeutung. Das religiöse Sprachspiel wird mit einer anderen Intention und mit anderen Texten vollzogen als es in den Spielarten des politischen Sprachspiels (s. o.) der Fall ist. Wenn man sie miteinander verflicht, gehen der Bezug auf die außerweltliche Transzendenz und der Bezug auf die mittlere Transzendenz des Politischen ineinander über. Nun ist es das grundsätzliche Anliegen der Liturgie eines (christlichen) Gottesdienstes, so Simmler (2000, 681), „das Wort Gottes […] als Vollzug kirchlicher Gemeinschaft zu verkündigen“ und so auf eine große Transzendenz zu verweisen. Die gottesdienstliche Handlung, in der das geschieht, ist auch in Bezug auf das Sprachliche rituell geregelt. Es liegt auf der Hand, dass sich der Charakter gottesdienstlicher Handlungen ändern muss, wenn andere Beteiligte hinzukommen, die keinen Transzendenzbezug herstellen können und wollen, die durchaus nicht den Verweis über sich selbst hinaus auf das Göttliche im Sinn haben, sondern die, wenn sie ‚nach oben‘ verweisen, auf die weltliche Macht Bezug nehmen. Sie sind Teilnehmer, die den Ritualbezug kaum oder gar nicht verstehen, was bedeutet, dass sie nicht im wirklichen Sinne daran teilnehmen können. Neben das VERKÜNDIGEN der Worte Gottes als zentrale Sprachhandlung des Gottesdienstes traten in den Montagsgebeten folgerichtig die Sprachhandlungen des APPELLIERENS, INFORMIERENS, ANKLAGENS, bezogen auf politische Institutionen, also auf weltliche Macht. Mit anderen Erwartungen aufgenommen, konnten auch die Texte ihren Charakter ändern. Die Predigt konnte nun auch für Kirchenfremde interessant und verständlich sein, teils dadurch, dass sie umfunktioniert wurde, teils dadurch, dass sie ihr Spektrum erweiterte, ohne dabei den Predigtcharakter zu verlieren. Mit den neuen Teilnehmern am religiösen Sprachspiel hat sich das Selbstverständnis der beteiligten Theologen und Pfarrer in dieser Zeit geändert und haben sich neue Möglichkeiten in der Auseinandersetzung um die Grenze zwischen Profanem und Sakralem gezeigt, die durchaus auch liturgischen Charakter gewinnen konnten. Um das Problem am konkreten Fall zu demonstrieren und zu erörtern, wird ein exemplarisches Beispiel aus den Leipziger Montagsgebeten herangezogen.

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5.2 Das Montagsgebet vom 25. September 1989 Das für diese Untersuchung ausgewählte Montagsgebet wurde am 25. September 1989 in der Nikolaikirche gehalten. Es hatte zentrale Bedeutung, da im Anschluss daran die erste große Demonstration stattfand. Bevor es betrachtet wird, sollen die Elemente einer ‚normalen‘ Gottesdienstsituation rekapituliert werden. Der Ablauf eines Gottesdienstes (Paul 1983; Werlen 1984a,b) ist relativ konstant, wenn auch Spielräume zugelassen sind. Die Predigt steht im Mittelpunkt, um sie herum gruppieren sich rituell-gottesdienstliche und institutionelle Handlungen. Gottesdienstliche Handlungen sind vor allem sprachliche (Gebet, Predigt, Segen), aber auch musikalische (Singen, Orgelspielen) und körperliche (Sich-Erheben, Bewegungen im Raum, Gesten). Zu den institutionellen Handlungen gehören z. B. Abkündigungen, der Hinweis auf die Kollekte und das Ankündigen der nächsten Veranstaltungen. Die zwei herausgehobenen Teilnehmer des Gottesdienstes sind Pfarrer und Gemeinde. Der Pfarrer als Repräsentant der Gemeinde und zugleich Mittler zwischen der Gemeinde und Gott hat verschiedene Teilrollen zu übernehmen: Er ist Vermittler des Numinosen, Leiter des Gottesdienstes und damit Verantwortlicher für den Ritualvollzug und er ist Mitglied der Gemeinde. Als Verkünder des Numinosen spricht er die Worte Gottes. Als Mittler zwischen Gott und der Gemeinde wählt er in der Predigt vorzugsweise eigene Worte. Als Teil der Gemeinde spricht er mit der Gemeinde gemeinsam zu Gott, in vorgegebenen Texten (z. B. feste Gebete wie das Vaterunser) und in selbst gewählten Formulierungen (z. B. freie Gebete wie der Fürbitte). Demgegenüber hat die Gemeinde normalerweise keine aktive Rolle. Sie ist Ritualteilnehmer und vollzieht eine Reihe von Handlungen mit, wie z. B. Mitsprechen, Mitsingen und Aufstehen. Typische Sprachhandlungen des Gottesdienstes sind BETEN, SEGNEN, (VOR)LESEN, PREDIGEN, SINGEN, MITTEILEN, BEGRÜßEN und VERABSCHIEDEN. Abgesehen von den beiden letzteren sind die Handlungen gerahmt, d. h. Beginn und Ende einer Handlung werden kommentiert, um Übergänge zu schaffen. Vor diesem Hintergrund sei nun der Ablauf des Montagsgebets analysiert, das am 25. September 1989 in der Nikolaikirche in Leipzig gehalten wurde. Das Friedensgebet vom 25. September 1989 ist zweifellos als ein Angelpunkt des Leipziger ‚Herbst‘ 89 anzusehen. Von ihm nahm das ‚Leipziger Modell‘ (C. Führer) eines Doppelrituals von Friedensgebet in den Kirchen und Demonstration auf den Straßen seinen Ausgang [...] Das Doppelritual [...] baute [...] in einer Zeit größter Verunsicherung als ‚Antistruktur‘ (Victor Turner) eine begehbare Brücke vom Ufer der kollabierenden SED-Diktatur zum Ufer der nicht ohne Kämpfe und Verluste zu erlangenden Demokratie westlichen Zuschnitts. (Geyer 2010, 19)

Grundlage der Rekonstruktion des von der AG Menschenrechte unter Verantwortung von Pfarrer Christoph Wonneberger gestalteten Montagsgebets sind das Predigtmanuskript sowie ein Tonbandmitschnitt und ein Bandprotokoll des Gesamtverlaufs, angefertigt von Christian Dietrich (Dietrich/Schwabe 1994, 417–422). Der

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Ablauf wird nun mit Blick auf die in der Veranstaltung vollzogenen Sprachhandlungen (in Kapitälchen) gestrafft wiedergegeben: − Begrüßung (Pfarrer Führer): BEGRÜßEN (explizit die kirchlichen Mitarbeiter und Kirchenvorstände), INFORMIEREN (letztes Montagsgebet, Brief an die für den Polizeieinsatz vom letzten Montag zuständigen Stellen, Kirchen wegen Überfüllung geschlossen, Termine der Fürbittandachten für Inhaftierte, weitere Friedensgebete künftig in anderen Kirchen etc.), DANKEN (Kollekte) − Wochenspruch: VERKÜNDIGEN „Dieses Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder und seine Schwester liebe. Amen.“ − Kanon unter Leitung von C. Miehm gemeinsam gesungen: „Einsam bist du klein …“ VERGEWISSERN, VERKÜNDIGEN − Predigt (Pfarrer Wonneberger): Gleichnis, direkter Bezug auf den Staat, Problem der staatlichen Gewalt, VERKÜNDIGEN und politisches ARGUMENTIEREN, „Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen“ „Wer andere willkürlich der Freiheit beraubt, hat bald selbst keine Fluchtwege mehr.“ BERUHIGEN „Also fürchtet euch nicht …“. − Bericht über erlebte Gewalt, über Inhaftierungen in Leipzig und darüber hinaus (Frank Richter): Beispiele. INFORMIEREN, APPELLIEREN für Gewaltlosigkeit, von Beifall unterbrochen. − Fürbitte (AG Menschenrechte: J. Fischer, F. Richter, C. Motzer): BETEN, BITTEN, GEDENKEN, Gemeinde: Kyrie eleison von Orgel und Gemeinde. − Seligpreisungen (J. Fischer, F. Richter, Chr. Wonneberger, C. Motzer): PREISEN, VERGEWISSERN (6x Selig sind..., z. B. „Selig sind, die auf Gewalt verzichten, das Land wartet auf sie.“), MAHNEN (3x Unselig sind..., z. B. „Unselig sind, die Gewalt anwenden, sie werden sich und das Land ruinieren.“) − (Praktische) Anregungen zur Gewaltlosigkeit beim Verlassen der Kirche (Fischer): INFORMIEREN, BITTEN, RATEN − Lied: We shall overcome (deutsche Fassung) (Aufstehen, an den Händen halten) ERMUTIGEN − Vaterunser, Segen: BETEN, SEGNEN − Viele Teilnehmer sangen We shall overcome noch beim Verlassen der Kirche. Die üblichen Sprachhandlungen des Gottesdienstes wie BETEN, SEGNEN, das Wort Gottes VORLESEN (hier der Wochenspruch), PREDIGEN, SINGEN, MITTEILEN, BEGRÜßEN, VERABSCHIEDEN, INFORMIEREN finden wir auch in diesem Montagsgebet. Hinzu kommen aber unübliche bzw. seltene Sprachhandlungen wie die folgenden, nicht auf die große Transzendenz, sondern auf mittlere Transzendenzen, nämlich auf die politische Situation bezogene Handlungen wie politisches ARGUMENTIEREN, auf die aktuelle Situation gerichtetes INFORMIEREN sowie BITTEN um konkrete Verhaltensweisen und RATEN zu solchem Verhalten. Hier wird jeweils der Ritualrahmen durchbrochen und die sich außerhalb der Kirche befindende Welt hereingeholt. Das geschieht in einem viel stärkerem Maße als es mit den im Gottesdienst üblichen

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institutionellen Handlungen wie ANKÜNDIGEN und HINWEISEN auf die Kollekte der Fall ist. Das Weltliche nimmt einen bedeutenden Platz ein. Es wird vor allem von Vertretern der veranstaltenden Gruppe getragen, also nicht vom Pfarrer als Vermittlerperson. Besonders interessant sind darüber hinaus die ineinander übergehenden Sprachhandlungen, die religiöses und politisches Sprachspiel miteinander verflechten. Das ist in besonderer Weise das PREDIGEN (s. u.), aber es geht auch um das INFORMIEREN und ERMUTIGEN, das weltliche und kirchliche Anliegen verbindet. Hier wirken Gruppen und Prediger zusammen. Der die Predigt an Umfang übertreffende Bericht über erlebte Gewalt endet mit dem APPELL zur Gewaltlosigkeit. Hinter den praktischen Ratschlägen zum gewaltlosen Verhalten beim Verlassen der Kirche und außerhalb des Gebäudes, die in der Handlung des RATENs vermittelt werden, steht für alle deutlich das VERKÜNDETE Bild der Schwerter, die zu Pflugscharen werden sollen, um das es auf einer zweiten Ebene in der Predigt auch ging und das nicht nur theologisch, sondern auch auf die konkrete politische Situation bezogen verstanden werden soll (vgl. zur Metaphorik besonders Grözinger in diesem Band). Der im Zentrum der Predigt stehende und von Wonneberger frei gewählte Spruch „Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen“ (nach Mt 26,52) konnte in der damaligen Situation nicht gehört werden, ohne gleichzeitig an den anderen, viel zitierten Spruch „Schwerter zu Pflugscharen“ (Mi 4,3) zu denken. Er hatte seine Geschichte in der Friedensbewegung der DDR; Jugendliche, vor allem in kirchlichen Gruppen, hatten zu Beginn der 1980er Jahre die Zeichnung der von der Sowjetunion an die Vereinten Nationen (UNO) geschenkten Skulptur von Jewgeni W. Wutschetitsch mit dem Schriftzug Schwerter zu Pflugscharen und dem Verweis auf Micha 4 zu ihrem Symbol gemacht. Sie trugen dieses als Aufnäher auf ihren Jacken und schnitten es, als das öffentliche Tragen verboten wurde, kreisrund heraus. Mit dem so entstandenen Loch drückten sie dasselbe Bekenntnis aus. Diesen Vorgang hatten mit Sicherheit viele während dieses Montagsgebetes, das dem Thema Gewalt gewidmet war, im Kopf. Sie werden den gesamten Ablauf, ob in seinen geistlichen oder in seinen weltlichen Passagen, daher vor dem Hintergrund dieses Bildes und Spruches, also als Verkündigung, erlebt haben. Die Geschichte des Spruches ist das wahrscheinlich deutlichste Beispiel für die Verflechtung von Sprachspielen in dieser Zeit: Er wird von den Basisgruppen außerhalb der Kirche verwendet und so entsakralisiert und politisiert. Indem er von diesen Gruppen aber wieder in die Kirche gebracht wird, kommt er in seinen eigentlichen, den sakralen Raum zurück. Dort wird er von seinen ursprünglichen ‚Sachwaltern‘, den Predigern, aufgegriffen und im geistlichen Sinne verwendet, ohne dass der politische Sinn dabei aus dem Blickfeld geriete. Grundsätzlich ist es ein Charakteristikum dieses Montagsgebetes wie aller anderen, dass sie direkter und ausgeprägter, als es sonst in Gottesdiensten üblich ist, Theologisches mit Lebenspraktischem verbinden. Einsatz und Gewichtung sowie unterschiedliche Transzendenzbezogenheit der Sprachhandlungen weisen darauf hin, dass es sich bei den Montagsgebeten um eine Struktur handelte, in der die Bedürfnisse aller Beteiligten erfüllt wurden, sowohl das nach Ritualität und

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Verkündigung als auch das nach Information und politischer Stellungnahme, ohne das eines das andere überdecken oder ‚aushebeln‘ musste. Alle Beteiligten konnten zur Sprache kommen, so dass auch die eigentlich Außenstehenden, die Beobachter zu Teilnehmern wurden, die in den Ritualvollzug integriert waren. Das geschah auch durch das gemeinsame Singen, vor allem des allen bekannten Liedes We shall overcome. Die Kommunikationsrichtung war in quantitativer Hinsicht überwiegend horizontal an die anderen Teilnehmer und vertikal an die weltliche Macht gerichtet (mittlere Transzendenz), von der man annehmen konnte, dass ihre Informanten anwesend sein würden. Qualitativ überwog das vertikale, an Gott gerichtete Handeln (große Transzendenz) wie PREDIGEN, BETEN, SELIGPREISEN, FÜRBITTEN, das den inhaltlichen Kern des Gottesdienstes bildete.

5.3 Predigt Der Predigttext von Chr. Wonneberger wird im Folgenden wiedergegeben, wobei Abweichungen des Redetexts vom Manuskript in runde Klammern gesetzt sind (Dietrich/Schwabe 1994, 417ff.; Herv. im Orig.): „Mit Gewalt“ − sagte der Friseurgehilfe, − das Rasiermesser an meiner Kehle – „ist der Mensch nicht zu ändern!“ Mein Kopfnicken beweist ihm das Gegenteil. (Lachen, Beifall) Mit Gewalt ist der Mensch durchaus zu ändern. Mit Gewalt lässt sich aus einem ganzen Menschen ein kaputter machen (Beifall), aus einem freien ein gefangener, aus einem lebendigen ein toter. Beweise dafür gibt es viele (durch die ganze Geschichte). Aber einen Versuch würde ich Ihnen nicht raten. Sie hätten mit einem Strafverfahren nach §129 des Strafgesetzbuches wegen Nötigung zu rechnen, (Beifall) denn mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren wird bestraft, „wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem schweren Nachteil zu einem bestimmten Verhalten zwingt.“ (Lachen, Klatschen) Auch der Versuch ist strafbar − jedenfalls dann, wenn ein einzelner Bürger ihn unternimmt. (Lachen, Beifall) Anders, wenn der Staat selbst den Tatbestand der Nötigung erfüllt. Wenn der Staat selbst Gewalt androht oder anwendet − oder Versuche in dieser Richtung anstellt − oder andere dazu auffordert. Wenn der Staat selbst Gewalt androht oder anwendet, hat er nicht mit einem Strafverfahren zu rechnen (Lachen, Beifall) aber, aber mit den Folgen (Lachen, Beifall): Wer Gewalt übt, mit Gewalt droht und sie anwendet, wird selbst Opfer der Gewalt. Wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen. Wer die Kalaschnikow nimmt, hat mit einem Kopfschuss zu rechnen. (langer Beifall) (Das ist nicht begrüßenswert, ich finde, das ist einfach so). Wer eine Handgranate wirft, kann gleich eine Armamputation einkalkulieren. Wer einen Bomber fliegt, erscheint selbst im Fadenkreuz. Wer einen Gummiknüppel schwingt, sollte besser einen Schutzhelm tragen. (langer Beifall) Wer andere blendet, wird selbst blind. Wer andere willkürlich der Freiheit beraubt, hat bald selbst keine Fluchtwege mehr. (Lachen, Beifall) Wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen. Das ist für mich keine grundsätzliche Infragestellung staatlicher Gewalt. Ich bejahe das staatliche Gewaltmonopol. Ich sehe keine sinnvolle Alternative dazu.

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Aber 1. Staatliche Gewalt muss effektiv kontrolliert werden; gerichtlich, parlamentarisch und durch uneingeschränkte Mittel der öffentlichen Meinungsbildung. (langer Beifall) 2. Staatliche Gewalt muss sinnvoll begrenzt sein: Unser Land (zum Beispiel) ist nicht so reich, dass es sich einen so gigantischen Sicherheitsapparat leisten kann. (20 Sekunden Beifall) „Die Verfassung eines Landes sollte so sein, dass sie die Verfassung des Bürgers nicht ruiniert“, (Lachen, Beifall), so schrieb Stanislaw Jerzy Lec vor 20 Jahren. Da (muss) die Verfassung eben (geändert werden) [im Manuskript: müssen wir ... ändern]. (Beifall) Angst? Angst haben wir, denke ich, alle. Und nicht nur dann, wenn wir einsam sind. Wie wir das im ersten Kanon gehört haben. Aber: „Fürchtet euch nicht! Mir ist gegeben alle Gewalt, im Himmel und auf Erden.“ − so sagte einst Jesus. Das war keine Drohung. Das (war keine Nötigung und) ist keine Nötigung. Dahinter steht kein Machtapparat. „Mir ist gegeben alle Gewalt ...“, d. h. innere (Gewissheit und innere Kraft) und äußere Glaubwürdigkeit und das heißt für mich: echte Kompetenz: Vollmacht (haben die Älteren dazu gesagt). Und daran bekomme ich Anteil, wenn ich verantwortlich denke, glaubwürdig rede, durchschaubar handle. (Und) dazu lade ich Sie ein, heute. Gegenüber solcher Vollmacht sind Stasi-Apparat, Hundertschaften, Hundestaffeln nur Papiertiger. (Beifall) Also: Fürchtet Euch nicht! Wir können auf Gewalt verzichten.

Der Predigttext ist als eine Collage von Texten und Textstücken verschiedener Textsorten zu analysieren: − Literarischer Text: Der Text beginnt mit einem Aphorismus: „Mit Gewalt“ – sagte der Friseurgehilfe – das Messer an meiner Kehle – „ist der Mensch nicht zu ändern!“ Mein Kopfnicken beweist ihm das Gegenteil. − Anschluss und Übergang: Gegenthese: Mit Gewalt ist der Mensch durchaus zu ändern. − Verfassungsrechtliche Äußerung: Beispiele dafür und Verweis auf den Paragrafen 129 des Strafgesetzbuches der DDR – Strafverfahren wegen Nötigung; man wird bestraft, wenn man einen Menschen zu einem bestimmten Verhalten zwingt − Gesellschaftspolitische Äußerung: Allerdings wird nur der einzelne bestraft. Nicht bestraft wird der Staat, wenn er Gewalt androht oder anwendet. − Biblischer Text: „Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen.“ (Mt 26,47–56) − Staatsrechtliche Äußerung: Der Sprecher bejaht das staatliche Gewaltmonopol – nennt aber Bedingungen, unter denen es vollzogen werden sollte. − Literarischer Text (Aphorismus): „Die Verfassung eines Landes sollte so sein, dass sie die Verfassung des Bürgers nicht ruiniert.“ (Lec) − Gesellschaftspolitische Äußerung: Da müssen wir die Verfassung eben ändern. − Theologischer Begriff von Gewalt. Angst? „Fürchtet euch nicht! Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ – so sagte einst Jesus. Das ist keine Drohung. Dahinter steht kein Machtapparat. − Predigttext – eigentliche Verkündigung: Gewalt im christlichen Sinne – innere und äußere Glaubwürdigkeit, „wenn ich verantwortlich denke, glaubwürdig re-

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de, durchschaubar handle (und) dazu lade ich Sie ein, heute. Gegenüber solcher Vollmacht sind Stasi-Apparat, Hundertschaften, Hundestaffeln nur Papiertiger. (Beifall) Also fürchtet euch nicht! Wir können auf Gewalt verzichten.“ Wie ist der knappe Predigttext des Montagsgebetes vom 25. September 1989 beschaffen? Welche Merkmale hat er, die möglicherweise von der Vorstellung einer ‚normalen‘ Predigt abweichen? Die Gattung Predigt wird in der Rhetorik wie in der Theologie verstanden als (zumeist) liturgisch eingebundene kirchengeschichtlich und religionskulturell spezifizierten Formgesetzen verpflichtete, an eine bestimmte Hörerschaft (Gemeinde) gerichtete, einen traditionalen (meist biblischen) Sinngehalt in die eigene konkrete Situation vermittelnde […] religiöse Rede. (Hist. Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 7, 2005, 45)

Der hier zu betrachtende Predigttext nun ist wenig an kirchlichen Formgesetzen orientiert – seine Formulierungen sind nahezu alltagssprachlich – und nicht mehr ausschließlich an die Gemeinde als Hörerschaft gerichtet. Vielmehr muss damit gerechnet werden, dass die Mehrzahl der Hörer die Textsorte Predigt kaum oder gar nicht kennt, dass sie sie nicht nur als Verkündigen ansieht, sondern mehr noch als ein Eingehen auf ihre aktuellen Probleme. Das zeigt sich auch an den sonst nicht üblichen Beifallsbekundungen während des Predigtverlaufs. Inhaltlich überwiegt quantitativ die Beschreibung der aktuellen Situation gegenüber der Vermittlung des biblischen Sinngehalts. Unter qualitativem Aspekt ist das anders zu betrachten; denn alles, was gesagt wird, steht unter einem einzigen Thema, nämlich dem der Gewalt, zentral durch den Satz „Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen“, der die Rezeption nach dem biblischen Sinngehalt herausfordert. Parallelismen schließen sich an. Statt vom Schwert ist von der Kalaschnikow, der Handgranate, dem Bomber, dem Gummiknüppel, der Blendung und der Freiheitsberaubung und deren tödlichen Folgen die Rede. Damit wird der Vorgang, ohne den biblischen Gehalt zu verwässern, näher an die Gegenwart herangerückt und auf die eigene Verantwortung verwiesen, v. a. sicher mit der Nennung der aktuell am ehesten zu befürchtenden Gewaltanwendungen: Wer einen Gummiknüppel schwingt, sollte besser einen Schutzhelm tragen. (langer Beifall) Wer andere blendet, wird selbst blind. Wer andere willkürlich der Freiheit beraubt, hat bald selbst keine Fluchtwege mehr. (Lachen, Beifall)

Diese Parallelismen stellen aber zugleich auch ein Merkmal von elaborierter und daher gut merkbarer Wiedergebrauchsrede dar, wie sie im religiösen Sprachgebrauch zu Hause ist. Wenn auch der gesamte Predigttext sehr viele aktuelle Aussagen zum politischen Alltag enthält, lebt doch alles Gesagte letztlich vom Bezug auf den oft zitierten biblischen Satz vom Schwert, durch das man umkommen kann. Der Text wird eröffnet mit einem Aphorismus: „‚Mit Gewalt‘ – sagte der Friseurgehilfe –

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das Rasiermesser an meiner Kehle – ‚ist der Mensch nicht zu ändern!‘ Mein Kopfnicken beweist ihm das Gegenteil.“ Gewalt wird dann in verfassungsrechtlichen und gesellschaftspolitischen Äußerungen angesprochen. In der Mitte des Textes findet sich – gut vorbereitet durch diese Äußerungen – der schon genannte religiöse Bezug: „Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen.“ (nach Mt 26,52). Diesem einen Satz folgt wieder eine staatsrechtliche Äußerung, dann wieder ein Aphorismus und schließlich wird der theologische Begriff von Gewalt eingeführt und in seiner Bedeutung vor Augen gestellt. Angst? [...] „Fürchtet euch nicht! Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ – so sagte einst Jesus. Das war keine Drohung [...]. Dahinter steht kein Machtapparat.“

Und nun folgt im eigentlichen Predigttextteil die Verkündigung und Vergewisserung: Gewalt im christlichen Sinne – ist innere (Gewissheit und innere Kraft) und äußere Glaubwürdigkeit und das heißt für mich: echte Kompetenz [...] Und daran bekomme ich Anteil, wenn ich verantwortlich denke, glaubwürdig rede, durchschaubar handle. (Und) dazu lade ich Sie ein, heute. Gegenüber solcher Vollmacht sind Stasi-Apparat, Hundertschaften, Hundestaffeln nur Papiertiger. (Beifall) Also fürchtet euch nicht! Wir können auf Gewalt verzichten. (Herv. im Manuskript)

Der predigttechnischen Erfahrung, dass man den Hauptpunkt der Predigt konkret auf den Alltag beziehen soll, wird gefolgt. Biblisches und Aktuelles werden aufeinander bezogen und können vor dem aktuellen Hintergrund gar nicht anders rezipiert werden. Der Erörterung folgen Ermutigung und Verkündigung. Zusammenfassend gesagt: Dieser Predigttext enthält in sich den Kern eines Diskursuniversums. Die gesamte politische und kommunikative Situation des Herbstes 1989 ist daran abzulesen, wer über welche Probleme in welcher Situation, in welcher Weise spricht.. Der Einsatz der Textsorten und Sprachhandlungen zeigt, dass es sich bei den Montagsgebeten um eine gute Mischung von Texten handelt, in der die Bedürfnisse aller Beteiligten erfüllt werden, das nach Ritualität und Verkündigung wie das nach Information und politischer Stellungnahme. Die Gemeinde, die Teilnehmer von ‚draußen‘ (Oppositionelle, Ausreisewillige) wie die Beobachter von SED und Staatssicherheit werden jeden einzelnen Text sehr bewusst wahrgenommen und Predigt, Fürbitte und Seligpreisungen als widerständige Texte gehört haben. Die Vergegenwärtigung des Rituals als politisch-religiöser Handlungsvollzug hat hier in besonders komplexer Weise und unter besonders brisanten Umständen stattgefunden. Man kann den Stellenwert der Texte dieses Gottesdienstes rückblickend auch daran erkennen, dass mit ihnen als historischen Zeugnissen umgegangen wird. Bei der Aufarbeitung der Ereignisse misst man ihnen so viel Bedeutung bei, dass sie als Quellentexte benutzt, archiviert, publiziert und kommentiert werden (z. B. Dietrich/Schwabe 1994).

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9. Postmoderne Religiosität und Spiritualität Abstract: So umstritten die „Postmoderne“ als Epochenbegriff auch sein mag, so offensichtlich versammeln sich in dieser Diagnose doch bestimmte Entwicklungen, die in unterschiedlichen kulturellen Handlungsbereichen beobachtbar sind. Dabei handelt es sich u. a. um Prozesse der Differenzierung, der Dezentralisierung und der Pluralisierung, zugleich ist in spät- oder postmodernen Gesellschaften eine zunehmende Medialisierung und Popularisierung kultureller Inhalte zu beobachten. Diese Entwicklungen gehen auch an der Religion nicht spurlos vorbei. Um die Auswirkungen bis auf die sprachliche Ebene zu verfolgen, wird im Folgenden eine Unterscheidung von unterschiedlichen Analyseeinheiten getroffen. Dabei sollen zunächst die neuen religiösen Institutionen dargestellt werden, über welche sich die postmoderne Religiosität verbreitet. Danach soll der Frage nachgegangen werden, welche religiösen Inhalte gegenwärtig Konjunktur haben, zuletzt gilt es zu fragen, welche die spezifischen zeitgenössischen Aneignungs- und Aushandlungsweisen des Religiösen sind. Es zeigt sich, dass die institutionellen und ideellen Innovationen der zeitgenössischen Spiritualität einen religiös-sprachlichen Wandel befördern, der eine Reihe von Wortschöpfungen, begrifflichen Moden, Benennungen und Attributen hervorgebracht hat, die dem religiösen Feld bislang nicht bekannt waren. 1 2 3 4 5

Neue religiöse Institutionen, ihre Träger und ihre Benennung Neue religiöse Inhalte und ihre sprachlichen Manifestationen Neue Aneignungsweisen des Religiösen: Von der festen Mitgliedschaft zum flexiblen Zugang Schluss Literatur

1 Neue religiöse Institutionen, ihre Träger und ihre Benennung Religion als einen kultur- oder sozialwissenschaftlichen Gegenstand zu begreifen, bedeutet, ihre Manifestationen auf die soziohistorischen Umstände zu beziehen, welche bestimmte religiöse Institutionen und Ideen plausibel machen und legitim erscheinen lassen. Die gesellschaftliche Einbettung des Religiösen bestimmt in dieser Perspektive die Formen und Inhalte des Religiösen, ihre Institutionen und Aneignungsweisen, was sich nicht zuletzt auch auf der Ebene der Sprache niederschlägt (siehe dazu Lasch/Liebert 2015). In den westeuropäischen Staaten haben die christlichen Großkirchen seit den 1960er Jahren ihre Exklusivstellung bezüglich der Verbreitung und Verwaltung religiöser Ideen verloren (Luckmann 1991). Mit der fortschreitenden Modernisierung

DOI 10.1515/9783110296297-010

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der Lebensverhältnisse und dem damit einhergehenden Akzeptanz- und Legitimitätsverlust der einst herrschenden religiösen Organisation wurde in den vergangenen Jahrzehnten der Weg frei gemacht für „neue Spezialisten der symbolischen Produktion“ (Bourdieu 1992). Während die Deutungshoheit über religiöse Ideen bis in die Nachkriegszeit noch auf die groß- oder freikirchlich autorisierten Priester, Pfarrer oder Prediger begrenzt war, ist es in den letzten vier Jahrzehnten zu einer Ausweitung der religiösen Arbeitsteilung gekommen. Das Auftreten und die Etablierung dieser neuen religiösen Experten hat die religiöse Gegenwartskultur in entscheidendem Maße geprägt. In den meisten westeuropäischen Ländern hat sich seit den 1980er Jahren ein Dienstleistungsmarkt etabliert, der einer Vielzahl von Anbietern die Möglichkeit zur Verkündung von spirituellen Lebenshilfen und Heilverfahren bietet. Wie Vonderach (1980) zu den Ursprüngen der damals neuen Beschäftigungsfelder ausführt, gehen die ökonomischen und ideellen Beweggründe der Anbieter auf die Alternativkultur der 1970er Jahre zurück. Eine vertiefende Analyse der Entstehungsgründe dieser Szenerie bietet Pierre Bourdieu (1982). Bourdieu stellt sowohl die anbieter- als auch die nachfrageseitigen Dispositionen in den sozialstrukturellen Kontext des „neuen Kleinbürgertums“. An diese Argumentation schließen u. a. Chevalier (1983), Featherstone (1987) und Knoblauch (1993) an. Waren es bis in die 1970er Jahre hinein noch der „Guru“ oder „Sektenführer“, welche die kirchlichen „Weltanschauungsbeauftragten“ auf den Plan riefen, so besteht die gegenwärtige alternativreligiöse Szenerie aus einer kaum noch zu überschauenden Zahl von freigewerblichen Heilsanbietern (vgl. Hero 2011). Ob „Aurareiniger“, „Reiki-Therapeut“, „Schamanischer Berater“ oder „Ganzheitlicher Astrologe“ – das entscheidende Merkmal der neuen religiösen Experten besteht darin, dass sie weder durch eine religiöse Organisation („Kirche“) noch durch eine religiöse Gruppe oder Gemeinschaft („Sekte“, „Gruppe“, „Kommune“) legitimiert sind. Die Orte der Religiosität haben sich geändert: Zahlenmäßig dominant sind die vielen meist als Einzelunternehmen geführten Zentren, in denen Sinn und Sinntechnik angeboten werden, in denen aber keine über einzelne Dienstleistungsepisoden hinausgehende dauerhafte Bindung zwischen den Beteiligten zustande kommt. Gleichermaßen bedingt durch ihre große Zahl sowie durch ihre Außenseiterstellung im religiösen Feld sind die vielen freigewerblichen Ritendesigner dazu gezwungen, sich eine Verhaltensdisposition zu eigen zu machen, die bisher so gut wie ausschließlich im Bereich der Wirtschaft anzutreffen ist. „Das unternehmerische Selbst“ (Bröckling 2007) verlangt von den Akteuren, sich selbst als „Firma“ zu begreifen, findig zu sein, religiös innovativ zu sein und die eigenen religiösen Kreationen bedürfnisgerecht zu vermarkten. Aus sozialstruktureller Sicht handelt es sich bei den neuen religiösen Entrepreneuren – auf diesen Begriff komme ich später noch einmal zurück – häufig um Angehörige von Humandienstleistungsberufen im sozialen, bildenden, beratenden und pflegerischen Bereich, bei denen der Schritt in die Selbständigkeit eine Fortsetzung ihrer bisherigen Tätigkeit bedeutet (vgl. Hero 2011) – allerdings erweitert um

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ein religiöses Ideenrepertoire, welches für Zwecke der Beratung, Bildung und Heilung eingesetzt wird. Ohne auf etablierte Karrieren zurückgreifen zu können, setzen sich die Vertreter der neuen Dienstleistungsberufe dabei jedoch beträchtlichen Risiken aus. Die neu entstehenden Betätigungsfelder bieten bei weitem nicht die Einkommensmöglichkeiten (vgl. Q2) und Sicherheiten etablierter Berufe. Im Gegenzug gewährt die mangelnde Definiertheit der alternativen Berufsbilder einen umso breiteren Raum für einen ‚alternativen‘ Lebensstil, für Selbstinszenierungs-, Bluff- und Euphemisierungsstrategien. Derartige Ambitionen lässt auch das neue religiöse Unternehmertum unmissverständlich erkennen. Gerade die Sprache des Religiösen bietet den Akteuren die Möglichkeit, die angestrebte Aufwertung der eigenen Identität (zumindest symbolisch) vorwegzunehmen. Diese Ambition zeigt sich schon rein äußerlich durch die Wahl der mit transzendenten Verweisen (siehe Lasch in diesem Band) angereicherten „Berufsbezeichnungen“. Die Titel der neuen Heilsanbieter sind Teil einer „spirituellen Selbstermächtigung“ (vgl. auch Liebert in diesem Band, „Religionslinguistik“). Sie zielen darauf ab, die bestehende soziale Existenz zu transzendieren, indem sie die berufliche Emanzipation vorwegnehmen. Für den religiösen Entrepreneur gilt es, der eigenen Existenz und den angebotenen Dienstleistungen soziale Anerkennung zu verleihen: „Certified Shamanic Counselor“, „Diplom-Astrologe“, „Reinkarnationstherapeut“, „Hildegard-Mediziner“, „Qualified Rebirther“, „Ganzheitlicher Auraberater“, „Kraftfeld-Prophet“. Einen ganz entscheidenden Einfluss auf die sprachlichen Eigenheiten der zeitgenössischen Spiritualität üben die Marketingmaßnahmen der genannten Anbieter aus. Es handelt es sich dabei um symbolische und institutionelle Maßnahmen, welche die Bekanntheit und Anerkennung der Anbieter steigern sollen und die man durchaus im Kontext unternehmerischer Tätigkeit interpretieren kann (vgl. dazu zu folgenden Ausführungen auch HSW 13 Sprache in der Wirtschaft). Eine besondere Rolle spielen dabei auch die biographischen Selbstdarstellungen der Anbieterseite. Grundlegende Voraussetzung dafür, dass eine bestimmte religiöse Dienstleistung von potenziellen Interessenten wahrgenommen wird, ist die Identifizierbarkeit des betreffenden Angebots. Spirituelle Anbieter, die sich aus der Masse der Konkurrenz abheben möchten, benötigen einen Namen, der die Aufmerksamkeit der Nachfrager auf sich zieht. Markennamen, teilweise patentiert, wie Sensitiver Lebensenergie Berater®, Pulsor®Energie Therapeut, Alexas-Livetarot®, Channelmedium Askara®, Omegateam® gehören mittlerweile zu den gängigen Erscheinungen des spirituellen Dienstleistungsmarktes. Mit ihnen sollen die neureligiösen Angebote eine distinkte Identität erhalten, die sich entweder an der Person des Anbieters (seinem Namen, seinem Titel) orientiert oder auf die Besonderheit der Institution bzw. der Heilsdienstleistung verweist. Neben der Identifikations- und Unterscheidungsfunktion ist die Namengebung auch in evaluativer Hinsicht von entscheidender Bedeutung. Für die Anbieter kommt es bei der Namengebung vor allem darauf an, positive Assoziationen zu wecken. Pierre Bourdieu (1982, 748) spricht in diesem Zusammenhang von einem

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„Evokationsvermögen der sprachlichen Äußerung[...], das, indem es Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata modifiziert, anderes sehen läßt“. Der „Namensund Begriffskult“ (Goldner 2000, 40) der Szene ist nicht nur geprägt von den szenetypischen Klischeeattributen („ganzheitlich“, „spirituell“, „harmonisch“, „kreativ“), sondern zeugt von dem Versuch, Reputation und Anerkennung zu gewinnen. Die neuen religiösen Entrepreneure greifen dabei in großen Teilen auf Begrifflichkeiten zurück, die eine Nähe zu den als legitim anerkannten gesellschaftlichen Institutionen suggerieren. Als Referenzpunkt dienen vor allem die etablierten Bildungsinstitutionen, allen voran die staatlichen Institutionen der Wissenschaft und der schulischen Bildung („Akademie“, „Schule“, „Universität, „Zentrum“). Neben der Suggestion von Professionalität verbindet sich mit dieser Namengebung ein weiterer Effekt. Die Glaubwürdigkeit oder die Integrität eines Anbieters wird in dem Maße bestärkt, wie letzterer in der Lage ist, die „ökonomische Wahrheit“ (Bourdieu 1992, 188) seines Unternehmens im Verborgenen zu halten. Gerade dies gelingt mit den geschilderten Benennungsstrategien, da die Konnotationen, die mit „Wissenschaft“, „Forschung“ und „Lehre“ verbunden sind, im Wesentlichen nicht auf privatwirtschaftliche Erwerbsinteressen hindeuten. Das Aufkommen der zeitgenössischen Spiritualität hat noch weiteren Institutionen den Weg gebahnt, die bisher im religiösen Feld kaum von Bedeutung waren. Es geht um die Rolle von Mittlern oder „Maklern“ (Rademacher 2010, 123). Solche Institutionen sind dabei behilflich, die Beziehungen von spirituellen Anbietern und Nachfragern zu befördern. Offensichtlich weiß eine Vielzahl von alternativen Heilsanbietern die Infrastruktur von Volkshochschulen, Seminarzentren, Weiterbildungseinrichtungen, kommunalen Veranstaltungsforen usw. zu schätzen. Zu den Mittlerinstitutionen gehören auch die Betreiber von sogenannten „Gesundheits“und „Esoterikmessen“: „Bioterra“, „Esoterik und Naturheiltage“, „Lebenskraft“, „Esoterik-Tage“ oder „Energetika“ u. a. Mit den Dienstleistungen der Mittlerinstitutionen verbindet sich für die Anbieter zunächst die Möglichkeit, geeignete Räumlichkeiten zu nutzen und ein breiteres Publikum anzusprechen. Den Mittlern kommt darüber hinaus noch eine wichtige Funktion im Hinblick auf das Problem der Reputationsgewinnung im alternativ-gesundheitlichen Dienstleistungsgeschehen zu. Da die Mittlerinstitutionen selbst ein Interesse am Ausbau oder dem Erhalt ihrer Reputation haben, werden sie die Anbieter, welche in ihren Häusern „Seminare“, „Workshops“ oder „Ausbildungskurse“ veranstalten, kritisch beobachten und einer Auswahl unterziehen. In dem Maße, wie sich die Betreiber von Seminarhäusern auf die Vermittlung spiritueller Angebote konzentrieren, schlägt sich diese Spezialisierung auch in der Namengebung ihrer Unternehmungen nieder. Kompositionen, die szenetypische Schlagwörter mit dem Namen ihres Hauses verbinden, sind charakteristisch für die Annoncen der Betreiber in Esoterikzeitschriften und auf Internetseiten: „Haus der Stille“, „Ort der Kraft“, „Lichtquell-Zentrum“. Zu den Mittlerinstitutionen des alternativen Heilsgeschehens müssen inzwischen auch verschiedene Internetplattformen gerechnet werden. Unter dem Dach

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solcher Foren und Hotlines sammeln sich hunderte spirituelle Dienstleister. Um die „Professionalität“ ihrer Plattformen zu unterstreichen, beteuern die Betreiber ihre Auswahl, wonach dort nicht jeder Anbieter tätig werden kann. Betont werden bestimmte Voraussetzungen, wie etwa eine vorhergehende Tätigkeit als „professioneller Lebensberater“, ggf. ein „Abschluss in Psychologie“, „Pädagogik“ oder ähnliche akademische Referenzen, „Praxiserfahrung“ in beratenden Berufen und „das Gefühl, sich berufen zu fühlen“ (vgl. u. a. das Portal „Questico“ [Q1]). Zweifellos tragen die angeführten Institutionen und Marketingstrategien dazu bei, neue Wortschöpfungen an der Peripherie des religiösen Feldes zu etablieren. Ein durchgehend zu beobachtendes Moment dieser Wortschöpfungen ist die Kombination aus szenetypischen Klischeeattributen und einer an „Professionalität“ orientierten Begriffswahl. Ein weiterer und mindestens ebenso wichtiger Zug des religiös-sprachlichen Wandels geht jedoch aus der inhaltlichen Ausgestaltung der neureligiösen Dienstleistungen hervor. Hier verschiebt sich nun der Blickwinkel auf die rituelle Praxis, auf die inhaltliche Kommunikation zwischen Anbietern und Interessenten. Das folgende Kapitel ist damit den ideellen Ursachen ritueller und sprachlicher Veränderungen gewidmet.

2 Neue religiöse Inhalte und ihre sprachlichen Manifestationen Der gesellschaftliche Wandel zur Spät- bzw. Postmoderne führt zu einem neuen Bedarf an religiösen Sinnstiftungs-, Orientierungs- und Selbstdarstellungsmöglichkeiten (Luckmann 1991; Baumann 1998). Gleichzeitig forciert die durch die Bildungsexpansion ermöglichte „Horizonterweiterung“ in immer breiteren gesellschaftlichen Schichten einen mündigen und selbstbestimmten Umgang mit religiösen Ideen. Unter diesen Voraussetzungen kommt es einerseits zu einem Verlust der traditionellen Fügsamkeit des Kirchenvolkes, ebenso werden religiöse Ideen und Praxisformen in neuen, modernitätsadäquaten Formen und Inhalten gesucht. Religiöse Ideen werden in neuer Weise angeeignet, um sie für die spezifischen Herausforderungen einer modernisierten Lebensführung nutzbar zu machen. Das Spektrum der Anwendungsfelder reicht von Problemen der Biografie, der Emanzipation, der Distanzierung von überkommenen Sozialverhältnissen und (religiösen) Autoritäten (vgl. Gebhardt et al. 2005) bis zur Symbolisierung eines „alternativen“, „gesunden“ und „selbstbestimmten“ Lebensstils. Die Gemeinsamkeit der neuen Bezugsfelder des Religiösen liegt darin, dass sie religiöse Ideen in Formen bereitstellen, welche auf das Individuum und seine subjektiven Bedürfnisse adressiert sind. Die individuums- und situationsbezogene Aneignung des Religiösen lässt zusammen mit der „entschiedene[n] Orientierung an den subjektiven Erfahrungen“ (Knoblauch 2005, 129) den Begriff der Spiritualität zu

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einer Schlüsselkategorie für die Betrachtung der Religion in der Gegenwart werden. Sicherlich ist dieser Aneignungsmodus religiöser Sachverhalte kulturgeschichtlich keineswegs neu. Während jedoch historische Vorläufer wie der islamische Sufismus (vgl. Selmani in diesem Band), die jüdische Kabbala (vgl. Kämper in diesem Band), die mittelalterliche christliche Mystik (vgl. zur Auseinandersetzung damit u. a. Stridde in diesem Band) oder die esoterischen Strömungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts (vgl. Jacobs in diesem Band) in ihrer Rezeption stets ein Minderheitenphänomen geblieben sind, hat die zeitgenössische Spiritualität die Enklaven der „religiös Virtuosen“ längst verlassen und ist für breite gesellschaftliche Schichten attraktiv und zugänglich geworden. Die inhaltliche Ausgestaltung der einschlägigen Angebote weist eine Schwerpunktsetzung in Richtung einer Individualisierung und Subjektivierung auf. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, schlagen sich beide Momente unverkennbar in der Veränderung der religiösen Semantik nieder. Gemeint sind damit spezifische und sozial bedeutsame Leitvorstellungen und Bedeutungszuschreibungen im Bereich des Religiösen, die sich aus Standardisierungen des Empfindens, Denkens, Handelns und Redens ergeben. In dem Maße, wie die Selbstverständlichkeit traditioneller (religiöser) Vergemeinschaftung verloren geht, müssen sich religiöse Angebote auf zu umwerbende Individuen einstellen (oder eine alternative Ideologie übernimmt diese Aufgabe, vgl. Fix in diesem Band). Dies gilt mittlerweile auch für die großen kirchlichen Organisationen, auch sie können sich kaum noch auf sozialisierte Mitglieder verlassen, welche bereits durch Familie oder Schule disponiert sind, sich in der religiösen Tradition einzufinden. Religiöse Weltdeutungen, welche unter diesen Bedingungen anschlussfähig sein sollen, müssen den lebensweltlichen Dispositionen (post-) moderner Individuen stärkeren Tribut zollen. Sie tendieren deshalb zu einer Wendung ins Diesseits, richten ihr Augenmerk auf die Kontingenzen des Alltagslebens, wobei Fragen nach den so genannten „letzten Dingen“ zurücktreten. Die Sinnhaftigkeit religiöser Vorstellungen muss sich an dem festmachen, was aus Sicht der subjektiven Alltagserfahrungen der Laien naheliegend und nachvollziehbar ist. Wie Schlamelcher (2013, 184) zusammenfasst, hat es diesen Orientierungswandel auch in den Großkirchen gegeben, bei dem „das Christentum [...] aufgehört hat, im Kern eine Erlösungsreligion zu sein“. In diesem Prozess verlieren theologische Deutungen an sozialer Bedeutung, welche auf das „Jenseits“ als heilsrelevante Kategorie verweisen, so etwa die Fokussierung „auf ein postmortales Heil“, auf einen Dualismus, „der zwischen gut und böse sowie zwischen Heil- und Verdammnis scheidet“ (ebd.). Veränderungen ergeben sich analog in der Seelsorge, die sich zunehmend in eine diesseitsorientierte „Selbstsorge“ verwandelt: „[D]ie Kirche begreift ihre Aufgabe nicht mehr darin, die menschlichen Seelen ihrem postmortalen Heil zuzuführen, sondern sie begreift sich als eine Institution für Lebenshilfe“ (ebd.). Auch verliert die Rhetorik der Punitivität an Akzeptanz, welche den „irdischen Sündern“ mit einer endlosen Sicherungsverwahrung im „Jenseits“ droht, ebenso stößt die Idee des „Teufels“ an ihre kulturellen Grenzen, wie auch „die Ambivalenz des guten,

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aber ebenso strafenden Gottes“ (ebd.). Im Zuge der kirchlichen Wende ins Diesseits tendiert die Seelsorge mittlerweile zu einer „therapeutischen“ und „beraterischen Intervention“ (Ziemann 2006). Was sich in der geschilderten Weise im großkirchlichen Bereich verändert hat, ist im spirituellen Dienstleistungssektor längst zum Standard geworden. Die Orientierung ins Diesseits manifestiert sich in der Sakralisierung alltäglicher Dinge (seien es Fragen der Biographie, der zwischenmenschlichen Beziehungen, der richtigen Ernährung, der Ökologie oder des richtigen Umgangs mit dem Körper). Es sind Fragen des (post-)modernen Alltagslebens, welche in eine religiöse Ethik überführt werden (vgl. Baumann 1998). Sowohl in den Großkirchen als auch bei der Vielzahl der freigewerblichen Ritendesigner setzt das neue religiöse Beratungs- und Identitätsmanagement dabei oft an Lebenswenden und Übergängen an (zur Ausnutzung zentraler Passagen in säkularisierten Riten vgl. auch Fix in diesem Band). Der relative Bedeutungsverlust jenseitiger religiöser Ideen und Autoritäten führt dazu, dass die Heilsziele und Heilsmittel zunehmend im Diesseitigen gesucht werden. Dies betrifft nicht zuletzt die Person bzw. den Körper desjenigen, der sich auf eine seelsorgerische Betreuung einlässt oder – um Beispiele aus dem alternativreligiösen Spektrum zu nennen – eine „spirituelle Beratung“, eine „ganzheitliche Therapie“ oder ein „energetisches Coaching“ in Anspruch nimmt. Es kommt zu einer Sakralisierung des Kunden oder Klienten. Der Einzelne wird dazu angeleitet, sich „vermöge spiritueller Techniken […] seines göttlichen Ursprungs“ zu versichern (Künzlen 2003, 85) und „sich den Gott in ihm“ (ebd.) zu suchen. Demnach kann jeder Mensch bzw. sein Körper Träger des Heils sein. Das „Göttliche“ wird nicht mehr als ein ontologisch „anderes“ oder „fernes“ gedeutet, sondern zusammen mit dem Menschen als eins gedacht. Neben der potenziellen „Göttlichkeit“ des Einzelnen muss die individuumsbezogene Vermittlung zusätzlich unterstellen, dass es ein individuelles Potenzial zur Vervollkommnung gibt, welche durch eine psychische oder körperliche „Bewusstwerdung“ zu erreichen ist. Der Einzelne besitzt demnach die Fähigkeit zu seiner eigenen Vervollkommnung: Seine Fehlhandlungen, sein Unvermögen, sein Versagen usw. sind nur defiziente Modi seines eigentlichen Wesens und können deshalb etwa durch [...] pädagogische oder therapeutische Anstrengungen aufgehoben werden (ebd., 27).

Weil die Idee der Vollkommenheit des Einzelnen angesichts der realen Unvollendetheit menschlicher Wesen permanent in ihre Grenzen verwiesen wird, benötigt die religiöse Therapie eine transzendente Unterstützung von außen. Diese wird im Wesentlichen durch eine identifikatorische Verschmelzung mit einem transzendenten Ideal herbeigeführt. Erst durch das Streben nach diesem „eigentlichen Ich“, dem „ursprünglichen Wesen“ oder dem „höheren Selbst“ wird dem Adepten die mögliche Vervollkommnung seiner Identität in Aussicht gestellt. Der „Weg“ verläuft über den Glauben an ein transzendentes Selbst. Die Gebote, die den Annäherungsprozess

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anleiten, lauten: „entdecke Dein Inneres“, „transformiere Dich“, „erweitere Dein Bewusstsein“ oder „werde Du selbst“ (zu Transzendierungsprozessen vgl. Lasch in diesem Band). Unverkennbar schlagen sich die „Sakralisierung des Ich“ (Knoblauch 1999, 319), die Hinwendung zu Fragen der Identität und des Identitätsmanagements (vgl. Barth 2012) in der Benennung der einschlägigen Dienstleistungsangebote nieder: Von „Selbstfindung“, „Selbsterfahrung“, „Selbstbeobachtung“, „Selbstsicherheit“ bis „Selbstentwicklung“ richten sich die Angebote auf ein persönliches Wohlbefinden, eine erhöhte Lebenszufriedenheit und eine verbesserte Lebenstüchtigkeit. Seit geraumer Zeit erhalten die Angebote eine weitere inhaltliche Färbung, indem religiöse Ideen für gesundheitliche Dienstleistungen fruchtbar gemacht werden. Durch den Rückgriff auf „ganzheitliche“ oder „spirituelle“ Vorstellungen werden neue Formen der „Kur von Leib und Seele“ (Bourdieu 1992, 233) propagiert. Die sowohl an „Körper und Geist“ orientierte Ausrichtung kann als konstitutives Element der einschlägigen Angebote betrachtet werden: „Schamanismus“, „Reiki“, „Tarot“, „Bachblüten“, „Channeling“, „Rebirthing“, „Aurareinigung“, „Astrologie“, „Geoästhesie“, „Qui Yong“, „Yoga“, „Meditation“ und „Hypnose“ werden in ihrem „psychotherapeutischen und medizinischem Anspruch“ (Straube 2005, 19) von einem breiten gesellschaftlichen Publikum akzeptiert.

3 Neue Aneignungsweisen des Religiösen: Von der festen Mitgliedschaft zum flexiblen Zugang Die genannten inhaltlichen Merkmale gegenwärtiger Spiritualität gehen mit „neuen Formen des religiösen Lebens“ (Hero 2010) einher, welche den Interessenten einen situativen, unverbindlichen Zugang zum weltweiten Arsenal religiöser Deutungsmuster ermöglichen. Neue religiöse Veranstaltungsformen wie „Seminare“, „Workshops“, „Wochenendkurse“ oder „Events“ lassen eine religiöse Infrastruktur entstehen, die das Prinzip der Zugehörigkeit zu religiösen Gruppen und Organisationen nach und nach durch das Prinzip des Zugangs zu unterschiedlichen und kurzfristig wechselbaren religiösen Angeboten ersetzt hat (Hero 2009). Die Umstellung von einer kollektiven zu einer individuumsbezogenen Vermittlung zeitigt ihre Konsequenzen bis auf die inhaltlich-sprachliche Ebene des Religiösen. Wenn die evidenzsichernde Stützung des Glaubens durch ein Kollektiv verlorengeht, obliegt es den punktuellen Beziehungen innerhalb eines Veranstaltungspublikums (im Falle eines religiösen Events) oder den dyadischen Beziehungen zwischen Anbietern und Nachfragern (im Falle eines Dienstleistungsangebots), die Plausibilität der propagierten Heilsideen situativ herzustellen. Es gilt, gemeinsam geteilte Denk- und Zuschreibungskategorien auszuhandeln, durch welche die Kommunikation über die Identität oder den Körper möglich wird. Die dabei kom-

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munizierten religiösen Ideen sollten in die Lage versetzen, „Diagnosen“ zu stellen, die aufbauenden „therapeutischen“ Schritte einzuleiten; idealerweise sollten sie den religiösen Identitäts- und Körperdeutungen den Charakter des Unausweichlichen verleihen. Dies kann z. B. der Verweis auf einen „Zyklus von Wiedergeburten“ oder auf ein „früheres Leben“ leisten, dem nun in der entsprechenden Weise Rechnung getragen werden muss. In dieser Hinsicht unterliegt der Reinkarnationsglaube derzeit einer deutlichen Veränderung. Wird der „Kreislauf der Wiedergeburten“ in vielen östlichen Traditionen als ein Übel angesehen (vgl. dazu Vogd und Mishra in diesem Band), so hat sich in der neureligiösen Szenerie die Vorstellung der Reinkarnation, samt den aus ihr abgeleiteten Praxisformen, zu einer Idee der Vervollkommnung des Einzelnen entwickelt. Dabei wird das traditionale Verständnis, das in der je neuen Wiederverkörperung eine Folge von Strafe und Leid sieht, „voluntaristisch“ uminterpretiert. Durch geeignete spirituelle Techniken lassen sich die „Fehler“ aus früheren Leben korrigieren, so dass in optimistischer Weise an einer Aufwärtsentwicklung gearbeitet werden kann. Attraktiv sind solche „shared believes“ (Kaptchuk/Eisenberg 1998, 1061) vor allem dann, wenn sie unmittelbar an die individuell-biographische Situation der Adepten anschließen, d. h. „Diagnose“ wie „Therapie“ so zu legitimieren wissen, dass darin eine unverwechselbare Identität zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus muss der „religiöse Bewährungsmythos“ (Oevermann 1996) den Entwurf einer Lösung der identifizierten Probleme enthalten und „einen […] Maßstab des möglichen Gelingens“ (ebd., 35) aufzeigen. In den Dienstleistungen des spirituellen Marktes wird der Kunde oder Klient selbst als potenzieller Träger der Heilsmittel gedacht. Die Salutogenese ist das Ergebnis seines Tuns; im Zusammenspiel mit dem Anbieter besitzt er die Fähigkeit zur eigenen Vervollkommnung. Den Weg der „Transformation“ weisen die einschlägigen spirituellen Techniken. Die geschilderte Einbettung der Beratung oder Therapie in ein religiöses Narrativ läuft auf eine besondere Form der Kundenorientierung hinaus. Je mehr die religiösen Ideen auf die Symbolisierung des Einzelnen und seiner Befindlichkeiten zugeschnitten sind, desto stärker kommt es zu einer Sakralisierung des Kunden. Sie manifestiert sich in einer individuell passenden „Elevator Metaphorik“ (Nassehi 1996, 43), die es dem Kunden oder Klienten erlaubt, seine Kontingenzerfahrungen „als geordnete[n] Kosmos [...] erfahrbar und bestimmbar“ (Nassehi 1996, 43) zu machen. Das religiöse Narrativ gewährt den Interessenten gerade dann Orientierung, Selbstidentifikation und Selbstbestätigung, wenn es konkret auf folgende Fragen Auskunft geben kann: „Warum leide gerade ich an diesem Problem?“, „Wie kann ich meine Situation begreifen?“, „Welche Therapie ist für mich die richtige?“ Nicht umsonst expandieren im spirituellen Gewerbe solche Ideen, die es (nach dem Vorbild der Astrologie) erlauben, eine „Typenlehre“ zu entwickeln. Gerade sie können als Vehikel für die häufig genannten Empfindungen von „empowerment, authenticity, and enlarged self identity“ (Kaptchuk/Eisenberg 1998, 1061) gelten. Auf den einzelnen Kunden oder Klienten zugeschnitten, vermitteln sie klare Bot-

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schaften der Lebensführung, über die „ein Verbund von ‚innerer Bestimmung‘, ‚individuellem Charaktertyp‘ oder ‚spiritueller Berufung‘“ (Koch 2006, 175) hergestellt wird. Neben der Wertschätzung von Individualität und Subjektivität ist es ein charakteristisches Merkmal des Sprachgebrauchs im spirituellen Dienstleistungssektor geworden, die emotionalen und affektiven Qualitäten der rituellen Praxis hervorzuheben. Auch diese Beobachtung steht in engem Zusammenhang mit den bereits erwähnten Aneignungsformen des Religiösen. Weil sich die propagierten religiösen Ideen anhand der situativen und subjektiven Befindlichkeit der Kundschaft legitimieren müssen, ist es für ihren Erfolg von besonderer Bedeutung, inwieweit sie in der Lage sind, „innere Wirkungen“ (vgl. Höhn 1998) hervorzurufen: Gefühle, Stimmungen, Extasen, Betroffenheit und Ergriffenheit werden zum Gradmesser für die Legitimität religiöser Rituale. Anbieter und Nachfrager suchen deshalb nach Verifizierungserfahrungen in Form von „Visionen“, „psychischen Spontanerlebnissen“, „ästhetischen Naturerlebnissen“, „außersinnlichen Wahrnehmungen“, „Gipfelerlebnissen“ und anderen „mystischen Erfahrungen“. Selbst dem nur beiläufig interessierten Beobachter der zeitgenössischen Spiritualität dürfte nicht entgangen sein, wie sehr sich in den einschlägigen religiösen Ideen eine Rhetorik der „Entwicklung“, der „Kreativität“, des „Weiterkommens“, des „Weges“ oder des „(spirituellen) Werdegangs“ manifestiert. Um diese sprachliche Besonderheit postmoderner Religiosität in ihrer Soziogenese nachzuvollziehen, lohnt es sich, noch einmal einen Blick auf das performatorische Handeln religiöser Entrepreneure zu werfen, insbesondere auf ihre Versuche, die Glaubwürdigkeit und Authentizität ihrer Dienstleistungen unter Beweis zu stellen. Um die Kommunikation mit ihren Kunden und Klienten zu mobilisieren, wirbt eine Vielzahl von religiösen Entrepreneuren mit einer biographischen Selbstinszenierung. Hinter diesem performativen Handeln der Anbieter steht der Versuch, sich aufgrund ihrer besonderen Biographie, ihres persönlichen Werdegangs als Garant für ihre Heilsideen zu präsentieren. Den Eindruck der Glaubwürdigkeit und Authentizität zu erzeugen, ist für die neuen religiösen Entrepreneure mit bestimmten Aufwendungen verbunden. Ein erfolgreicher Anbieter muss den Eindruck vermeiden, er spiele seinen Kunden und Klienten nur eine Rolle vor. Weil es den Kursteilnehmern um persönliche Probleme der Identität bzw. der Gesundheit geht, erwarten sie eine aufrichtige Haltung. Die Glaubwürdigkeit des Anbieters gehört deshalb unmittelbar zum spirituellen Gewerbe, es wird ein „wirkliches“ Interesse an den verkündeten religiösen Ideen und den Belangen der Teilnehmer erwartet. Um diesem Bild gerecht zu werden, müssen erfolgreiche Anbieter werbende Signale aussenden, die nicht für „jedermann“ zugänglich sind: „In der Esoterikbranche tummeln sich“ schließlich „viele, die sich zum geistigen Heilen ermächtigt fühlen“, so der vom Deutschen Dachverband für geistiges Heilen anerkannte Heiler Jürgen Bongardt in der Zeitschrift Zukunftsblick (04/2012, 172). Der Beitrag mit dem Titel „Was einen guten Geistheiler ausmacht!“

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zeigt, wie offensichtlich der Konkurrenzkampf um charismatische Legitimität innerhalb der Szene ist. Als distinguierende Signale lassen sich freilich schon die in den vorherigen Kapiteln genannten Strategien der Benennung und der Titelgebung einstufen. Gemeinsam ist diesen Werbesignalen jedoch, dass sie in ihrer unterstellten Wirkung auf emotive oder appellative Aspekte beschränkt bleiben; sie zielen auf die äußerliche Wahrnehmung der spirituellen Dienstleistungsangebote ab. In der Praxis spiritueller Dienstleistungen werden dagegen vor allem solche Signale motivierend wirken, die aus der persönlichen Begegnung und Kommunikation der Beteiligten erwachsen. In diesem Sinne widmet sich der folgende Abschnitt der AnbieterKunden-Interaktion und zeigt, wie die Selbstdarstellung religiöser Entrepreneure Vertrauen und Bindung unter den Beteiligten generieren kann. Wie oben gezeigt, liegt es im Interesse der Anbieter, gemeinsam geteilte Denkund Zuschreibungskategorien in Form eines religiösen Narrativs zu entwickeln, durch welches die wechselseitige Anschlussfähigkeit der Kommunikation ermöglicht wird. Den Anbietern wird dabei ein Einfühlungsvermögen abverlangt, für das sie umso besser gerüstet sind, je mehr sich ihre eigenen Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsschemata mit denjenigen ihrer Kundschaft decken. Welches sind nun die objektiven Voraussetzungen, die eine solche „Sympathie“ zwischen Anbietern und Nachfragern ermöglichen? Hier rückt die beiderseitige persönliche Identität in den Vordergrund. Der Kunde oder Klient steht vor der Frage, ob der Anbieter selbst an das glaubt, was er vorgibt zu glauben, ob der Anbieter die von ihm propagierten Werte selbst internalisiert hat. Religiöse Entrepreneure erscheinen als glaubwürdig, wenn sie glaubhaft machen können, dass sie sich in die Situation des zu beratenden, heilenden Kunden hineindenken können. Diese Möglichkeit ist vor allem dann gegeben, wenn ein Anbieter zeigen kann, dass er in seiner Biographie identische oder ähnliche Problemlagen durchlebt hat; gezwungen war, sich mit ähnlichen Krisen auseinanderzusetzen, und selbst in den verkündeten religiösen Ideen Halt gefunden hat. Zu einem erfolgreichen Anbieter gehört es folglich, dass er selbst als lebendiges Beispiel seiner Heilsideen vorangeht – hier schlägt das Muster des exemplarischen Propheten als Handlungsmaxime durch (vgl. Weber 1976, 273). Entscheidend für das „Kundenvertrauen“ ist, ob die Identität, der Lebensstil und die Vergangenheit des Anbieters als kongruent mit den angebotenen Heilsideen wahrgenommen werden. Die wechselseitige Anerkennung ergibt sich damit aus der Möglichkeit einer reziproken Perspektivität. Die „Sympathie“ zwischen Anbietern und Nachfragern resultiert aus dem Vermögen, sich in die Gefühle und Vorstellungen des Gegenübers hineinzuversetzen und hineinzudenken. Die Betrachtung der szenetypischen Marketingsprache, insbesondere der „Kurzbiographien“ und „Werdegänge“, wie sie auf den Flyern, Prospekten und Internetseiten der Anbieter zu finden sind, gibt in dieser Hinsicht eindeutige Hinweise: Ein durchgängiges Muster der Selbstdarstellung religiöser Entrepreneure besteht in Semantiken der „persönlichen Entwicklung“, des „Weiterkommens“, des

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„permanenten an-sich-Arbeitens“ sowie der fortdauernden Bereitschaft, „sich neu zu erfinden“. Deutlich signalisiert wird dies durch eine Vielzahl von Ausbildungen, Kursen und Weiterbildungen, welche die meisten Anbieter als Garant für ihre Ambitionen auflisten. Der Verweis auf die „eigene Entwicklung“ oder den „eigenen Werdegang“ tritt ebenfalls in narrativ-biographischen Interviews zutage, die mit religiösen Entrepreneuren durchgeführt wurden. Im Rahmen der DFG-Forschergruppe „Transformation der Religion in der Moderne“ (zusammenfassend Damberg et al. 2013) wurde über biographische Interviews mit religiösen Entrepreneuren versucht, die Beweggründe ausfindig zu machen, die für den Schritt in die (unsichere) Selbstständigkeit verantwortlich sind. Dabei zeigt sich, dass der entsprechende Antrieb, wie auch die Glaubensvorstellungen vieler Anbieter in direktem Zusammenhang mit biographischen Krisenerfahrungen und Bewältigungserfordernissen stehen (vgl. Hero 2013). Die biographischen Erzählungen der Anbieter enthüllen vielfach das Motiv einer Heilsgeschichte, die in der Emanzipation von einer als problematisch erlebten Vergangenheit besteht. Betont wird der „Weg“, den man gegangen ist, aus einer biographischen Krisenerfahrung heraus, um mit neuen Denkmustern eine neue Identität anzustreben. In diesem Zusammenhang kommt auch dem Schritt in die Selbstständigkeit als religiöser Unternehmer eine besondere Bedeutung zu. Die Selbstständigkeit steht nicht nur für die Befreiung von vorgängigen, als obsolet eingestuften Arbeits- und Lebensverhältnissen, sie bietet den Anbietern auch die Möglichkeit, ihren Werdegang und ihre Identitätssuche in der Kommunikation mit ihren Kunden zu vergegenwärtigen, zu wiederholen und implizit zu bestätigen. Dass ein nicht zu unterschätzender Anteil der Anbieter auf dem spirituellen Markt solche Signale hinsichtlich eines „adäquaten“ biographischen Werdegangs kommunizieren kann, belegt die Mitgliederstudie des Dachverbandes der Freien Gesundheitsberufe: Viele haben sich aus ursprünglich eigener Betroffenheit und Krankheit den jeweiligen Methoden zugewandt und dort eine neue Berufung gefunden. Zweifellos stellt eine hohe intrinsische Motivation vieler Anbieter den Antrieb für die bemerkenswerte Bereitschaft dar, sich ständig weiter zu bilden und -zu entwickeln (Q2, 3).

Aus der Studie geht hervor, dass ein Großteil der Anbieter alternativer Gesundheitsdienstleistungen selbst als Beispiel der „spirituellen Selbstermächtigung“ vorangeht, womit sie ein zentrales Motiv der Nachfrageseite vorwegnehmen. Wie Gebhardt et al. (2005) ausführen, muss die „Selbstermächtigung des spirituellen Subjekts“ als zentrale Akteursdisposition angesehen werden, welche die Zuwendung zu außerkirchlichen, neureligiösen Angeboten vorantreibt. Die für die Nachfrageseite charakteristischen Identitäts-, Selbstdarstellungs- und Stilisierungsbedürfnisse finden damit ihr Komplement in den Präsentations- und Repräsentationsstrategien der neuen Heilsanbieter. Häufig besteht für beide Seiten ein erhöhter Bedarf an identitätsbezogenen Selbstfindungs- und Selbstdarstellungstechniken.

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Auf diese Form der Reziprozität weisen soziologische Studien bereits mit dem Aufkommen der alternativen Humandienstleistungsberufe seit den 1980er Jahren hin. Wie Huber (1987, 44) ausführt, beginnen die Angehörigen neuer Lebenshilfeberufe meist selbst als Betroffene oder doch als sich betroffen Fühlende. Sie identifizieren sich hochgradig mit den Problemen und Anliegen ‚ihrer Leute’. [...]. Die ‚neuen’ sind deshalb besser als die alten Sozialberufe auf ihr Geschäft vorbereitet. Denn in der psychosozialen Dienstwirtschaft ist eine synergetische Verbindung zwischen Experten und Klienten die wichtigste Erfolgsbedingung.

Notgedrungen gehen viele der neuen Selbstständigen als Exempel ihrer Maximen der „Kreativität“ und der „Individualität“ voran. Diesen Anbietern ist es möglich, sich selbst als Modell für ihr „Produkt“ – das Selbstmanagement – zu präsentieren. Die von ihnen verkündete Religiosität, mit starken Bezügen zu selbstreferentiellen, biographiebezogenen Deutungsmustern ist ihre ureigene. Eine solche vertrauensstiftende Reziprozität beruht auf einer sozialstrukturellen Kongruenz: Je ähnlicher der Habitus von Anbietern und Nachfragern, desto wahrscheinlicher kommt die diskursive Konstruktion von Heil und Heilung zustande. Statusähnlichkeit, Ähnlichkeiten der Biographie und konvergierende Identitätsbedürfnisse korrelieren mit einer höheren Vertrauenswürdigkeit im spirituellen Dienstleistungssektor. Die rituelle Praxis profitiert von einem geteilten sozialen Hintergrund, von einer gemeinsamen Sprache, welche die religiösen Narrative und Bezeichnungsmuster für die Beteiligten attraktiv und plausibel macht. Soziale Nähe wird in der Szene gesucht, performativ inszeniert und sprachlich betont. Dementsprechend hat sich die Ansprache unter den religiösen Akteuren angepasst – mit dem Aufkommen des „New Age“ hat das alternativ-therapeutische „Du“ sowohl das formellere „Sie“ der etablierten bürgerlichen Expertenkultur als auch das auf eine Kollektivethik ausgerichtete „wir“ religiöser (Groß-)gruppen in den Hintergrund gedrängt.

4 Schluss Das Anliegen dieses Aufsatzes besteht darin, sprachliche Veränderungen im Bereich des Religiösen zu identifizieren, welche im Feld zeitgenössischer Spiritualität sichtbar werden. Die zugrundeliegende Hypothese lautet dabei, dass religiöse Innovation mit sprachlicher Innovation korreliert. Die Aufmerksamkeit richtete sich zunächst auf die Institutionalisierungsformen und Anbieter, welche neue religiöse Deutungen kreieren und ihren Abnehmern im Rahmen von Dienstleistungsbeziehungen anbieten. Die Wortschöpfungen der Szene verdanken sich hier in erster Linie dem Kampf um gesellschaftliche Anerkennung und der Distinktion gegenüber überkommenen Formen kirchlicher Religiosität. Aus den Strukturmerkmalen des „beruflichen“ Handelns religiöser Entrepreneure (Konkurrenzkampf, Zwang zur

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Innovation, fehlende dogmatische Gebundenheit) lassen sich des Weiteren eine Reihe von szenetypischen Wortschöpfungen und Benennungen ableiten, welche die spirituellen Dienstleistungsanbieter als zentrale Agenten im Hinblick auf die (sprachliche) Entwicklung der zeitgenössischen Spiritualität ausweisen. So wurde unter Rückgriff auf die biographische Laufbahn religiöser Entrepreneure argumentiert, dass die Rhetorik der Selbstvervollkommnung sowohl Teil der lebensweltlichen Disposition der Anbieter- wie auch der Nachfrageseite ist. Den sprachlichen Innovationen kommt eine doppelte Funktion für den gegenwärtigen religiösen Wandel zu. Sie symbolisieren einerseits institutionelle und organisatorische Veränderungen im religiösen Feld, wozu auch die in diesem Aufsatz geschilderten Marketingaktivitäten zählen. Andererseits sind die neuen Ideologeme aber auch ein Innovator auf der inhaltlichen Seite. Ihnen obliegt es, sowohl die Maxime der spirituellen Selbstermächtigung als auch die szenetypische Emotionalität und Affektivität des Religiösen zu verkörpern. In diesem Sinne bündeln die Namen der neureligiösen Dienstleistungsangebote eine Vielzahl gegenwärtiger Sozial- und Selbsttechnologien, deren gemeinsamer Nenner die Ausrichtung der Lebensführung am Verhaltensmodell der Identitätsfindung, der religiösen Eigenverantwortung und Erlebnissuche bildet. Nicht zuletzt spielen die sprachlichen Neuarrangements eine wichtige Rolle in den Konkurrenzbeziehungen eines erweiterten Feldes von körper- und identitätsbezogenen Angeboten. Hier geht es sowohl um die (sprachliche) Abgrenzung gegenüber etablierten Formen von Religion und Medizin als auch um die Positionierung in einem internen Wettbewerb einer Vielzahl freigewerblicher Ritendesigner. Die Strategien in diesem Konkurrenzkampf manifestieren sich in sprachlichen Dekonstruktionen althergebrachter religiöser Benennungen und dem Neuarrangieren von religiösen Codierungen, bei dem unterschiedliche, moderne und archaische Rituale, Symbole, Texturen, Ideen und Ästhetiken neu vermischt und zusammengesetzt werden.

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236 | Markus Hero

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| Teil III: Schlüsselbegriffe im Feld Sprache und Religion

Alexander Lasch

10. Transzendenz Abstract: Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Auseinandersetzung mit einem der zentralen Grundbegriffe des Themenzusammenhangs „Sprache und Religion“ – der Bezug zur Transzendenz. Es gilt, einen operationalisierten Begriff der Transzendenz als außenweltlicher Innerweltlichkeit zu entwickeln und an Beispielanalysen auszuführen. Religion wird dabei als (eine Form von) Ideologie aufgefasst, der spezifische Verhältnisse zu Transzendenz eignen, die in verschiedenen Symbolsystemen in Transzendendierungsprozessen behauptet, diskursiv konstruiert, legitimiert und stabilisiert werden und sich als ‚Reflexe auf Transzendenz‘ analysieren lassen. 1 2 3 4 5 6

Hinführung Transzendenz als außerweltliche Innerweltlichkeit Das Verhältnis zu Transzendenz in Akten der Verkündigung, Verehrung und Vergegenwärtigung Beispiele Fazit Literatur

1 Hinführung Anliegen dieses Beitrags im Handbuch „Sprache und Religion“ ist es nicht, einen Überblick über theologische, philosophische, psychologische und soziologische Transzendenzbegriffe zu geben. Ziel ist, sich mit dem Transzendenzbegriff auseinanderzusetzen, wie er für eine Religionslinguistik von Liebert (in diesem Band, „Religionslinguistik“) in Rekurs auf Plessners philosophische Anthropologie Stufen des Organischen und der Mensch (1975), Luckmanns unsichtbare Religion (1991) und Knoblauchs Entwurf über die populäre Religion (2009) fundiert wird, um, ergänzt durch die Überlegungen von Dupré zu den Symbolen des Heiligen (2007), einen Transzendenzbegriff zu operationalisieren, der für die linguistische Auseinandersetzung mit dem Thema „Sprache und Religion“ fruchtbar werden kann. Zugleich soll ganz im Sinne der Religionslinguistik, die Religion als anthropologisches Konstituens auffasst, eine Engführung des Gegenstands auf bestimmte Religionsgemeinschaften (wie die christlichen Kirchen) oder Teilaspekte religiöser Vollzüge (Liturgie, Predigt, Lied) vermieden werden, selbst wenn in diesem Beitrag aus Gründen der Homogenität der Argumentation vor allem Beispiele aus der christlichen Tradition im Vordergrund stehen werden. Außerdem sei bereits vorweggenommen, dass Religionslinguistik sich als ein Teilaspekt einer Transzendenzlinguistik begreifen lässt, die Rentsch (2013, 497) sehr grundsätzlich Transzendenzanalyse nennt.

DOI 10.1515/9783110296297-011

242 | Alexander Lasch

Kern der Transzendenzbegriffe, die hier diskutiert werden (Dupré 2007; Jaspers 2011; Knoblauch 2009; Liebert in diesem Band, „Religionslinguistik“; Luckmann 1991 und in Ergänzung in Bezug auf die Konstruktion von Transzendenz Rentsch 2013 sowie Transzendenzbehauptung Vorländer 2013), ist eine Denkfigur, die man vorläufig so charakterisieren könnte: Mit Transzendenz wird nicht das „NichtWirkliche“, das „Nicht-Wahrnehmbare“ oder das „Außerweltliche“ bezeichnet oder nachaufklärerisch eine der auseinandertretenden Sinndimensionen neben der Immanenz aufgerufen. In den hier zitierten Ansätzen wird, wenn sie sich auf Religion beziehen, eine Denkfigur konstituiert, die Transzendenz – so will ich sie hier fassen und bezeichnen – als außerweltliche Innerweltlichkeit versteht. Sie ist der Motor für Paradoxa, die kommunikativ erzeugt, verstetigt, vollzogen und schließlich in der Kritik am Mythos (vgl. Dupré 2007) aufgelöst werden (können oder müssen). Sie bringt Metaphern hervor (vgl. Grözinger in diesem Band), ist Quell einer Kommunikation über Unsagbares (vgl. Liebert in diesem Band, „Unsagbares“) oder manifestiert sich in einer ‚außerweltlichen‘ Sprache (vgl. Selmani in diesem Band). Alle diese Aspekte und noch einige mehr zielen auf den Kern des Themas „Sprache und Religion“. Zunächst wird diese Denkfigur der Transzendenz als außerweltliche Innerweltlichkeit in Bezug gesetzt zu ausgewählten Transzendenzbegriffen, die für eine Religionslinguistik relevant werden können. Notgedrungen muss sich der Artikel dabei beschränken und gibt nur einen stark selektiven Überblick über Begriffe und Konzepte der Transzendenz (Abschnitt 2). Einen Transzendenzbegriff zu explizieren und zu operationalisieren vor dem Hintergrund der entworfenen Kommunikationstypologie aus Verkündigung, Verehrung und Vergegenwärtigung, ist Anliegen des nächsten Kapitels (Abschnitt 3) und der Beispielanalysen. Die im Beitrag gegebenen Beispiele werden der christlichen Überlieferung entnommen (Abschnitt 4). Nicht eingegangen wird auf die Prämissen der gesamten Handbuchreihe und speziell des Handbuchs Sprache und Religion (vgl. dazu die einschlägigen Einführungen in HSW 1 und in diesen Band), die mit den Stichworten Wissenssedimentierung in und diskursive Konstruktion von Wissen und Wirklichkeit durch Sprache zumindest hier knapp aufgerufen seien (und deshalb auch von Arbeiten wie Hänseroth 2013; Rentsch 2013 und Vorländer 2013 profitieren) .

2 Transzendenz als außerweltliche Innerweltlichkeit Jaspers zeigte in seinen Vorlesungen über die Chiffren der Transzendenz im Sommer 1961 die Grenzen von Wissenschaft auf, wenn er ihr attestierte, sich nur auf „Erscheinungen in der Welt beziehen“ (Jaspers 2011, 8), aber niemals „die Welt“ erreichen zu können (Jaspers 2011, 8). Dieser Beschränkung auf das Faktische ist Wissenschaft verpflichtet, Transzendenz – also das nicht „Mundane“, nicht Weltliche –

Transzendenz | 243

wird sie nach Jaspers nie erfassen, sondern nur in den ‚Reflexen‘ beschreiben können, in denen Transzendenz in kultureller Kommunikation und Symbolik von Architekturen, Kleidern, Räumen, Dingen und Menschen, die sich in diesen Symbolordnungen als Heterotopien bewegen, eingeschrieben sind. Jaspers verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der Transzendenz: Transzendenz ist uns gegenwärtig, wo die Welt nicht mehr als das aus sich selbst Bestehende, als das sich Seiende, das Ewige, sondern als ein Übergang erfahren wird, mag dieser Übergang dann in der Chiffer beschrieben werden oder mag er sogar bis in die Physik hinein, kosmologisch, eine wunderliche Objektivität erfahren, die praktisch irrelevant ist. (Jaspers 2011, 43f.)

Jaspers fasst als Transzendenz – in unseren Worten außerweltliche Innerweltlichkeit – als Übergangsphänomen, dem man sich z. B. in „Chiffren“ (hier wird gegen Jaspers diese Schreibung bevorzugt), die, so eine der zentralen Positionen Jaspers, immer ‚in der Schwebe‘ gehalten werden, nähern kann. Welche Bedeutung kann die Denkfigur von außerweltlicher Innerweltlichkeit in einer Religionslinguistik entfalten, wenn man sie zugleich als Konstituens einer (religiösen) Ideologie versteht? Muss diese außerweltliche Innerweltlichkeit auf verschiedenen systematischen Ebenen beschrieben werden; muss man unterschiedliche Transzendenzbegriffe annehmen (wie Jaspers das z. B. tut), die auch in areligiöse Domänen ausgreifen (wie Vorländer 2013, 7f. und Rentsch 2013, 397 postulieren)? Welche Rolle spielen im Verhältnis zu Transzendenz Aushandlungsprozesse und die von Jaspers so benannten „Chiffren“? Was bei der Beantwortung dieser Fragen zunächst helfen mag, ist das Ausblenden von Metaphern in religiösen Narrationen im Sinne von Lakoff (1980 und 1987 sowie mit Wehling 2009), hier am Beispiel christlicher Überlieferung und Legendarik, da sie strukturell nicht phänomenbezogen auf Transzendenz sind, sondern Transzendenz, Transzendieren, Transzendenzbehauptungen (Vorländer 2013, 16 und 27) und Transzendierungsprozesse in der Logik der erzählten Welt verorten: Wie etwa die Rede vom Himmel als dem Sitz Gottes oder als Ort des ewigen Lebens, das Herabsteigen Gottes, des Gottessohnes oder seiner Boten auf die Erde, bzw. deren Auffahren in den Himmel. Diese Metaphern befördern eine Konzeptualisierung, in der Außerweltlichkeit und Innerweltlichkeit in vertikaler Ordnung gedacht sind, so wie Lukas Granach d. Ä. Welt und Schöpfer in Luthers Bibel (1534) darzustellen scheint (Füssel 2016). Was Granach aber auch zeigt, ist das Umfassen, das Gründen und das Wirkliche als Außerweltliches, auf dem das Innerweltliche aufruht – wir suchen, wenn wir das Transzendente als Gegenstand einer Religionslinguistik bestimmen wollen, nach Reflexen auf die Gründung, nach behaupteten und kommunikativ verhandelten Verhältnissen zu dem Fundament, dem außerweltlich Innerweltlichen, was – auch wenn es bei Jaspers noch so klingen mag – keineswegs als defizitär anzusehen ist. Für diese Suche bietet Louis Dupré (2007) mit seiner Schrift über die Symbole des Heiligen. Die Botschaft der Transzendenz in Sprache, Bild und Ritus (den Untertitel hat das Original nie getragen) einige interessante Ansatzpunkte. Denn ihn inte-

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ressiert vor allem, wie man die Erfahrung der „Unverfügbarkeit der Transzendenz“ aushalte. Heinz Grosch, der die Einleitung für die Ausgabe von 2006 besorgte, stellt Duprés Stufenmodell vor, in welchem sich eine Auseinandersetzung mit dem Transzendenten mehrstufig von der bloßen Wahrnehmung und Vergewisserung über ‚heilige Zeichen‘ (Stufe 1), adäquate Kommunikation (Stufe 2) bis hin zu der Vereinnahmung vollzieht (Stufe 3) und schließlich die Stufe der kritischen Rückfrage, ob und inwiefern der Mythos – als Bildsprache, die der Welt des religiösen Symbols ‚Ordnung, Sinn und Struktur‘ verleiht (Altizer) – unter den Bedingungen des derzeitigen europäischen und amerikanischen Wirklichkeitsverständnisses und Denkens zu überleben vermag. (Stufe 4, Grosch in Dupré 2007, 8)

Duprés religionsphilosophischer Ansatz, wie man an Groschs Einleitung schon deutlich erkennt, ist ein ganzheitlicher, dem wir uns über zwei basale Bestimmungen aus den Überlegungen Duprés (gewissermaßen zur ersten Stufe) nähern werden: [Glaube] ist vielmehr das Gewahr-Sein, da Gewahr-Werden einer Dimension, die jenseits meiner Möglichkeiten und aller Erfahrungen des Lebens liegt, die Bejahung einer tieferen Wirklichkeit, die allen sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen zugrunde liegt. (Dupré 2007, 15) Für die meisten Menschen früherer Zeiten standen sich in den religiösen Symbolen nicht zwei relativ unverbundene Sphären der Wirklichkeit gegenüber – die eine religiös, die andere weltlich – wie für die Mehrzahl der heutigen Menschen des Westens; vielmehr ließ sich mit den religiösen Symbolen innerhalb der einen Sphäre des Wirklichen unterscheiden zwischen dem, was im umfassenden Sinne wirksam, mächtig und bedeutungsvoll ist: das Heilige – und dem, was nicht so wirklich, was nur für den Augenblick und letztlich nur im oberflächlichen Sinne ‚da‘ ist: das Profane. (Dupré 2007, 16f.)

Duprés Ausgangspunkt, das „Gewahr-Sein“ und „Gewahr-Werden einer Dimension“, die nicht erfahrbar ist, ist als Voraussetzung zu verstehen, um schließlich eine „tiefere Wirklichkeit“ überhaupt behaupten und bejahen zu können, die sich kategorial von dem unterscheidet, was als Profanes ‚einfach nur da ist‘. Das Transzendente ist, wenn man Dupré so interpretieren mag, das außerweltlich Innerweltliche, welches als Heiliges sinnlich in seiner Außerweltlichkeit nicht wahrnehmbar ist, aber dessen man gewahr ist. Konstitutiv, das wird noch zu zeigen sein, ist, dass sich das Außerweltliche in seiner außerweltlichen Innerweltlichkeit offenbart, damit man es als solchem gewahr werden kann: Tranzendenz meint so die vorgängige Öffnung eines Sinnhorizonts, ein vorgängiges Sinngeschehen […]. Die Sinnraumeröffnung zum Beispiel durch die reale Räumlichkeit [vgl. unten Abschnitte 3.3 und 4] geschieht für unseren Leib und unsere Wahrnehmung, bevor wir konkrete Schritte vollziehen bzw. bevor wir einzelne Phänomene genauer wahrnehmen […]. (Rentsch 2013, 403)

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Eine besondere Rolle spielt bei Dupré zur Exemplifizierung dieses Ausgangspunktes die Rolle des Opfers, prototypisch verkörpert in der Figur Jesus Christus. Dieser ist für die christlichen Kirchen Gottessohn und gleichzeitig Opfer, der die zweifache Kommunikationsrichtung mit der Transzendenz als verkörperte außerweltliche Innerweltlichkeit offenhält. Er bringt die Botschaft seines Vaters und gibt sein Leben wissend und freiwillig zur Gründung des neuen Bundes hin. Sein Opfer wird weder verlangt, noch ist es unumgänglich – es vollzieht sich, so, wie es geschrieben steht. Er zeigt in seinem Leben und Sterben, dass das, was über das Außerweltliche gesagt (und geschrieben ist), sich innerweltlich vollzieht, die Welt als wirkliche Sinndimension in der Welt sichtbar wird und dieser Fundament ist. Damit erweist der Prophet nicht nur mit dem, was er sagt, sondern dem, was man vor ihm von ihm sagte (vor allem in Mi 5,1 und Jes 7,14), Wirkungsmacht und macht das sichtbar, was niemand vorher ‚erfahren konnte‘ (vgl. Dupré 2007, 41f.). Gleichzeitig zeigt dieses Sichtbarwerden außerweltlicher Innerweltlichkeit die kulturell spezifische da diskursive Konstruktion des Verhältnisses zwischen Heiligem und Profanem (nach Dupré) deutlich, denn nicht alle bewerten die Ereignisse als die Offenbarung von Heiligem und ‚bejahen‘ diese eine „tiefere Wirklichkeit“ (nach Dupré 2007, 15), sondern es zirkulieren verschiedene ‚Chiffren in der Schwebe‘ (nach Jaspers 2011), die die Transzendenzbehauptungen (Vorländer 2013, 16 und 27) auch konsequent in Frage stellen – Rom kreuzigte Jesus Christus wie viele tausend andere Straftäter auch, im jüdischen Glauben kennt man ihn weder als Gottessohn noch als Prophet, wobei die Kreuzigung als Verfluchung galt (Dtn 21,23 und Gal 3,13), und im Islam ist er als ʿĪsā ibn Maryam (‚Jesus, Sohn der Maria‘) ein Gesandter, aber nicht zugleich Gottessohn (Koran 4:171 [Sure an-Nisa]) – einer der Propheten in langer Reihe, die durch Muhammad erst vollendet wurde. Aufgabe von Repräsentationen (Sprache, Musik, bildende Kunst, Architektur usw.) ist, dieser außerweltlichen Innerweltlichkeit Ausdruck zu verleihen, das Heilige in der Welt des Profanen auf Dauer wahrnehmbar zu machen und gleichzeitig kommunikative Möglichkeiten zu finden, um in der Welt Kontakt zu halten zum die Welt gründenden Fundament (vgl. Luckmanns „große Transzendenz“ [1991] und Rentsch 2013). Dupré behandelt dieses Problem (holzschnittartig) aus zwei historisch ableitbaren Perspektiven, die man heute differenzierter fasst: Vormoderne religiöse ‚Kunst‘ (er meint hier sprachliche, musikalische und bildende Repräsentationsformen) versuche (1), dem außerweltlich Innerweltlichen alternativlos Gestalt zu geben und andere Deutungsmöglichkeiten auszuschließen. Die Künstler „der Vergangenheit […] öffneten einen Blick für eine Schau des Heiligen“ (Dupré 2007, 88). In der Gegenwart (2) und der „Zweideutigkeit der modernen Kunst“ mag, so Dupré (2007, 88), die „geistliche Funktion der Kunst […] dann nichts anderes mehr zum Inhalt haben als das Schaffen eines Raumes, in dem der Mensch fähig wird, Transzendenz wahrzunehmen.“ Diese Dialektik (vgl. dazu besonders unten Abschnitt 4.2) schließlich ist auch Ausdruck der modernen und grundsätzlichen Kritik an Transzendenzbehauptungen, wie sie Religion und Mythos anbieten, und damit

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im Kern auch an institutionellen Aneignungen von Transzendenz zur Erklärung des Zusammenhangs der Welt, die in modernen Formen individueller „Selbstermächtigung“ (Lasch/Liebert 2015 sowie Hero in diesem Band) aufgebrochen werden, wenn individuelle Transzendenzerfahrungen besonders betont werden und im Diskurs Gewicht erhalten. Eines dieser Verhältnisse zu außerweltlich Innerweltlichem nach Dupré charakterisiert Liebert (in diesem Band, „Religionslinguistik“, 19) mit Plessner als Verhältnis zur Transzendenz in der Denkfigur des „Kreises“: Der eine eben thematisierte Weg ist die Religion, die in der Unsicherheit Sicherheit und in der Heimatlosigkeit Heimat bietet. Das von Plessner eingeführte Symbol des Kreises erweist sich als angemessen, als Religion in diesem Sinne verstanden ein Innen und ein Außen bietet und damit zwei zunächst einander unzugängliche Welten konstituiert, die konkret dann meist asymmetrisch als eine irdische und eine himmlische Welt – oder je nach kultureller Ausformung in anderer Weise – versprachlicht wird (Luckmann 1991, 80).

Liebert stellt außerdem an gleicher Stelle Non-Transzendenz (in der Denkfigur der „Gerade“) und Trans-Transzendenz (als „Möbius-Schleife“) als weitere Positionierungen zu Transzendenz vor. Besonders die non-transzendente innerweltliche Verhaftung wird in diesem Beitrag noch häufiger begegnen (vgl. dazu auch Abschnitt 4.2). Religion – so Liebert weiter nach Plessner – beanspruche für sich, „eine Verbindung zwischen beiden Welten herzustellen“ (in diesem Band, „Religionslinguistik“, 19). Mit Dupré kann man allerdings formulieren, dass Religion für eine Ideologie steht, die in der Bejahung einer tieferen Wirklichkeit fußt und aus der Bezeichnung, Verkündigung, Verehrung und Vergegenwärtigung des außerweltlich Innerweltlichen ihre Legitimität zieht. Diese Auffassung scheint der von Knoblauch nahe, da er den ‚Binarismus‘ zweier getrennter Welten u. a. mit dem Hinweis auf non-duale Konzeptionen kritisierte. Allerdings machte Knoblauch bereits das Transzendieren (auch „kleiner“ und „mittlerer Transzendenz“) als Wurzel des Religiösen aus (Knoblauch 2009, 53ff.), was wiederum Liebert (in diesem Band, „Religionslinguistik“) in Frage stellt – im Hinblick auf diese vertikale Kategorisierung folgen wir ihm hier. Wie mit Dupré bereits gezeigt, geht der hier vorgeschlagene Transzendenzbegriff also nicht von zwei Welten aus, die ‚binär‘ getrennt seien (Knoblauch), sondern von einer außerweltlichen Innerweltlichkeit, in der die wahrnehmbare Wirklichkeit auf tieferen Wirklichkeiten, fundamentalen gründet (vgl. zu dieser Frage besonders auch Stridde in diesem Band). Diese außerweltliche Innerweltlichkeit lässt sich an ‚Reflexen auf Transzendenz‘ (Jaspers 2011) fassen, die das einzige sind, was uns Hinweise auf die kulturelle Auseinandersetzung mit Transzendenzerfahrungen gewährt. Insofern ist eine Religionslinguistik als Teil einer Transzendenzlinguistik sehr wohl innerweltlich orientiert, da sie Transzendenz nur in Reflexen in der Welt erfassen kann – das ist aber nicht defizitär, sondern Folge des Paradoxons Transzendenz selbst.

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Mit Duprés Stufen- und Jaspers Transzendenzmodell kann zum einen der ‚Binarismus zweier Welten‘ zur Disposition gestellt werden. Zum anderen ist es weiter möglich, die Luckmannschen Transzendenzbegriffe, an denen sich u. a. Knoblauch auch orientiert, zu integrieren. Denn der Schritt von der Wahrnehmung und Bejahung tieferer Wirklichkeiten zu institutionellen Formen mit eigenen ‚symbolischen Universa‘ (vgl. Luckmann 1991, 80) hilft zwar, historische Entwicklungen in der Welt zu charakterisieren und ist analytisch nützlich. Unterschiedliche Transzendenzbegriffe verdecken aber, dass die Transzendenz als außerweltliche Innerweltlichkeit, wie Dupré in seinem Stufenmodell illustriert, systematisch nicht zu scheiden ist, sondern dass man nur unterschiedliche Verhältnisse zum Transzendenten beschreiben kann. Unabhängig davon nimmt eine Religionslinguistik ohnehin eher, um noch einmal mit Luckmann (1991) zu sprechen, „große Transzendenzen“ in den Blick. Konsequent setzt deshalb auch Liebert (in diesem Band, „Religionslinguistik“) bei seiner Bestimmung der „transzendente[n] Positionierung“ bereits bei den institutionalisierten Formen des Verhältnisses zur Transzendenz an und streift die „kleinen“ und „mittleren Transzendenzen“ (auf die u. a. Knoblauch 2009 in Bezug auf ‚Religion‘ wert legt) nicht. Allerdings interessiert er sich nicht nur für die bereits institutionalisierten Formen der symbolischen Repräsentation von außerweltlich Innerweltlichem, sondern auch für Phänomene im Anschluss an Luckmanns „unsichtbare Religion“ (1991) und Knoblauchs „spirituelle Gesellschaft“ (2009) (vgl. dazu auch Lasch/Liebert 2015; Vorländer 2013 und Rentsch 2013), die er als Formen der „Selbstermächtigung“ in spätmodernen Kulturen kennzeichnet und die sich u. a. auch in „individualistische[n] Metaphysik-Brikolagen“ zeigten, „deren Definitivum auch durch ein Feindbild artikuliert wird (zum Feind wird dann [z. B.] Heimatlosigkeit, Wissenschaft, Denken, rationales Räsonnement)“ (Liebert in diesem Band, „Religionslinguistik“, 21; vgl. weiter Hero in diesem Band). Mit Dupré handelt es sich dabei strukturell um Formen der letzten Stufe des Verhältnisses zur Transzendenz, nämlich dem Zweifel des modernen Menschen an etablierten und kulturell eingeübten Verfahren zur Annäherung an diskursiv spezifisch geprägte Transzendenz (bspw. in den christlichen Kirchen oder im Islam und Judentum, um nur einige Beispiele zu nennen), die dazu führen können, einer tieferen Wahrheit ‚gewahr zu werden‘ und ‚gewahr zu sein‘, deren Heiliges – hier systematisch als Symbol außerweltlicher Innerweltlichkeit verstanden – (noch) nicht in etablierten institutionellen Vollzügen und Praktiken versprachlicht ist und in verschiedenen Vollzügen prozessiert wird. Diese Prozesse der Transzendierung (nicht des Transzendierens) – also zunächst der Wahrnehmung sowie der individuellen und dann der kollektiven Versicherung und Auseinandersetzung darüber, dass Transzendenz sei, und zum zweiten der Verständigung darüber, wie diese adäquat zu bezeichnen sei usw. – können Gegenstand einer Religionslinguistik als Teil einer Transzendenzlinguistik sein. Das schließt dann im Übrigen auch Adaptationen ein, in denen etablierte Transzendierungsprozesse nachgeahmt werden, um in säkularisierten Gesellschaften Profanes durch Transzendierungsprozesse aufzuwerten (vgl. Fix in diesem Band).

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Was ist in unserem Sinne Transzendenz als operationalisierter Begriff für die Religionslinguistik (als Teil einer Transzendenzlinguistik)? Mit Transzendenz sei außerweltliche Innerweltlichkeit markiert, die (1) sich vorgängig (Rentsch 2013) in der Welt zeigt und (2) gedacht und wahrgenommen (Dupré: Stufe 1) und als solche in einem Deutungshorizont (3) intersubjektiv behauptet (Rentsch 2013; Vorländer 2013), verortet und (4) bezeichnet werden kann (Dupré: Stufe 2; Jaspers: ‚Chiffren in der Schwebe‘). Aus dieser ursprünglichen Auseinandersetzung und Verständigung darüber, was das Heilige als außerweltlich Innerweltliches sei, können (5) Ideologien (wie z. B. Religionen) hervorgehen und auf Dauer gesehen (6) einen adäquaten Rahmen bieten, um weitere Formen der Bezeichnung des Verhältnisses zu außerweltlicher Innerweltlichkeit zu behaupten, zu legitimieren und zu stabilisieren (Dupré: Stufe 3; Luckmann: „große Transzendenz“; Rentsch 2013). Keine dieser Ideologien kann aber (7) alleinige Deutungshoheit (vgl. Vorländer 2013) darüber beanspruchen, wie (vgl. Jaspers 2011) und wer (vgl. Rentsch 2013) das Verhältnis zur Transzendenz bestimmt, wie man bspw. an der historischen Ausformung unterschiedlichster Religionsgemeinschaften und Kulte ablesen kann. Kulturell stabilisierte Deutungsmuster der Transzendenz und Verhältnisse zu Transzendenz können (8) bezweifelt (Dupré: Stufe 4) oder (9) in innerweltlicher Verhaftung gänzlich abgelehnt bzw. umgedeutet und für alternative Sinnstiftungen als Ressource ausgebeutet werden (vgl. z. B. Hänseroth 2013; Fix und Hero in diesem Band). Da der Mensch aber immer droht, ‚einer Dimension gewahr zu sein bzw. gewahr zu werden‘ (vgl. Dupré 2007, 15), die nicht erfahrbar ist, können Vorgänge des Transzendierens (10) Prozesse der Transzendierung (2–9) immer wieder neu auslösen und als ‚Reflexe auf Transzendenz‘ an ‚Chiffren in der Schwebe‘ (Jaspers 2011) und Kämpfen um behauptete Transzendenz und deren Deutung usw. beschrieben werden. Mit diesem Transzendenzbegriff lassen sich unterschiedliche stabilisierte institutionalisierte Verhältnisse in ihrem Werden und Vergehen ebenso beschreiben wie Reformationen, Neuansätze und noch nicht institutionalisierte Formen von Spiritualität und Religiosität (vgl. Hero in diesem Band). Gegenstand der Religionslinguistik als Teil einer Transzendenzlinguistik ist also nicht das Phänomen Transzendenz als außerweltliche Innerweltlichkeit, sondern die Relationen und Verhältnisse zu Transzendenz, die kulturell, sozial und historisch je unterschiedlich behauptet werden und ausgeformt sind und die kommunikativ immer wieder neu hergestellt und verhandelt werden müssen. Drei wesentliche kommunikative Formen, die das Verhältnis zu Transzendenz in der Spannung zwischen Sprache und Religion berühren, werden an ausgewählten Beispielen Gegenstand des nächsten Abschnitts sein, während einzelne Beispielanalysen in Abschnitt 4 (auch) zeigen, dass Transzendierungsprozesse diskursive Aushandlungen sind, die nicht immer konfliktfrei ablaufen müssen.

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3 Das Verhältnis zur Transzendenz in Akten der Verkündigung, Verehrung und Vergegenwärtigung Wie in Abschnitt 2 erläutert, ist die Scheidung zwischen ‚zwei Welten‘, nämlich eine der Immanenz und eine der Transzendenz, eine, die Kennzeichen eines bestimmten Verhältnisses zur Transzendenz sein mag, aber eine analytische bleiben muss, wenn man Transzendenz als außerweltliche Innerweltlichkeit begreift (vgl. dazu auch Lasch 2011, 539 sowie Lasch/Liebert 2015, 480 und 483). Nimmt die Religionslinguistik als Gegenstand an, Verhältnisse zu dieser außerweltlichen Innerweltlichkeit zu beschreiben, dann stellt sich im Hinblick auf etablierte Religionsgemeinschaften, die im Folgenden die Folie der Argumentation bilden, die Frage, wie sich dort diese Verhältnisse zu Transzendenz im Rahmen einer Kommunikationstypologie im Spannungsfeld von Verkündigung, Verehrung und Vergegenwärtigung charakterisieren lassen und welche besondere Rolle Sprache dabei spielt. Prämisse ist, dass „die ‚Sprache der Religion‘ systematisch als funktionale Varietät zu bestimmen ist“ (Lasch/Liebert 2015, 477), die sich aus einem bestimmten Verhältnis zu Transzendenz historisch entwickelte und institutionalisierte. In Lasch (2011) sowie Lasch/Liebert (2015) wurde für religiöse Kommunikationsbereiche die kommunikative Typologie zwischen Verkündigung, Verehrung und Vergegenwärtigung als Grundkonstellation ausgearbeitet, die kommunikative Akte benennt, die nicht nur aufeinander bezogen sind, sondern auch ein spezifisches Verhältnis zur Transzendenz als innerweltlicher Außerweltlichkeit etablieren: „Verkündigung“ zieht „Verehrung“ nach sich und umgekehrt. Das liegt daran, dass alle kommunikativen Akte, die sich diesen beiden Formen zuordnen lassen, auf einer kommunikativen Achse von – analytisch – der Immanenz zur Transzendenz und umgekehrt liegen und in rituelle Handlungen der „Vergegenwärtigung“ eingebettet sind. (Lasch 2011, 240)

Vor dem Hintergrund der Bestimmungen der Transzendenz als außerweltlicher Innerweltlichkeit sind die – analytisch gebrauchten – Begriffe Immanenz und Transzendenz in Lasch 2011 zwar zu relativieren, aber die kommunikative Achse und damit die Kommunikationsrichtungen in die Welt und in Bezug auf die Welt (mit Dupré) bleiben kennzeichnend für Verkündigung und Verehrung, denen wir uns im Folgenden zuwenden werden, um abschließend Aspekte der Vergegenwärtigung zu charakterisieren.

3.1 Verkündigung Nicht in allen Religionsgemeinschaften spielt Verkündigung so eine herausgehobene Rolle wie in Judentum, Christentum und dem Islam. In diesen Gemeinschaften nehmen Propheten (von griech. προφήτης, der „Ausleger, Wahrsager, Vorhersager,

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Verkünder“; vgl. Klein 1997, 475) eine zentrale Rolle ein, denn sie haben Teil an der außerweltlichen Innerweltlichkeit und tragen mit dem Charisma eine von Gott dauerhaft verliehene Gabe (Lang 2001, 172). Ihr Charisma (vgl. Steen in diesem Band) ist Merkmal der Transzendenz und heilig, nicht profanen oder mundanen Ursprungs – es ‚zeigt sich‘ und lässt sich anhand von ‚Reflexen auf Transzendenz‘ beschreiben. Um das genannte Beispiel der Nachfolge Christi noch einmal zu bemühen: Er offenbarte sich und seine Anhänger wiesen ihm göttliches Charisma eines Propheten zu. Die Stärke der christlichen Überlieferung und des christlichen Gründungsmythos liegt, wie man sich an den neutestamentlichen Schilderungen der Kartage vor Augen halten mag, vielleicht darin, dass (1) auf der einen Seite Prozesse des Transzendierens und der Transzendierung ‚Chiffren in der Schwebe‘ hervorbringen, die narrativ verarbeitet und reflektiert werden wollen. Sie finden ihren stärksten Ausdruck möglicherweise in Angst, Zweifel und Verzweiflung, in die nicht nur Anhänger Jesu (Verleugnung des Petrus, Mk 14,66–72), sondern Jesus Christus – am Kreuz (Mk 15,34) – selbst verfallen. Auf (2) der anderen Seite wird eine Transzendenzbehauptung als Glaubensinhalt gegen den Zweifel narrativ durch Momente erfüllter Hoffnung etabliert und stabilisiert – der Ruf Der Herr ist wahrhaftig auferstanden (Lk 24,34) bildet bis heute den Kern der Osterliturgie. Christus wurde als Heiland verkündet, offenbarte sich selbst und wurde als solcher offenbart. Sein Leben, Wirken, Sterben und seine Auferstehung werden vor dem Hintergrund der alttestamentlichen Prophetie, seiner Offenbarung und Selbstoffenbarung sowie der persönlichen Erfahrung der Anhänger in sich zunehmend stabilisierenden narrativen Entwürfen in einen Deutungshorizont eingeordnet, der nicht nur der außerweltlichen Innerweltlichkeit Jesus Christus einen Platz zuweist, sondern die Ideologie der christlichen Religion hervorbringen sollte. Träger göttlichen Charismas sind durch diese Verständigungs- und Transzendierungsprozesse also selbst außerweltliche Innerweltlichkeiten und gefährden grundsätzlich das Amtscharisma der Verwalter anderer Kulte, die sie als solche erkennen und mit denen sie in Bezug auf Transzendenzbehauptungen um die adäquate Bezeichnung und Prozessierung des außerweltlich Innerweltlichen in Konkurrenz treten. Es ist vor diesem Hintergrund vielleicht kein Wunder, dass im Gegensatz zur Geburt Jesu Christi, die nur bei Lukas und Matthäus berichtet wird und auf die ich noch zurückkommen werde (Abschnitt 4.1), alle vier Evangelien des Kanons die so genannte „Tempelreinigung“ durch Jesus Christus zum Thema machen (Mt 21,12–17; Mk 11,15–18; Lk 19,45–48; Joh 2,13–16), wobei sie bei Matthäus und Johannes nicht in der Schärfe heraustritt, wie bei Lukas und Markus: 15 Und sie kamen nach Jerusalem. Und Jesus ging in den Tempel und fing an, hinauszutreiben die Verkäufer und Käufer im Tempel; und die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenhändler stieß er um 16 und ließ nicht zu, dass jemand etwas durch den Tempel trüge. 17 Und er lehrte und sprach zu ihnen: Steht nicht geschrieben (Jes 56,7): „Mein Haus wird ein Bethaus heißen für alle Völker“? Ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht. 18 Und es kam vor die Hohenpriester und Schriftgelehrten, und sie trachteten danach, wie sie ihn um-

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brächten. Sie fürchteten sich nämlich vor ihm; denn alles Volk verwunderte sich über seine Lehre. (Mk 11,15–18)

Der Träger göttlichen Charismas stellt in der narrativen Würdigung durch seine Anhänger nicht einmal als „Sprachrohr“ einer Gottheit (Klein 1997, 475), sondern durch Schriftauslegung, konsequente Umsetzung und Normverletzung (Riesebrodt 2001, 198) die Auslegungskompetenz, religiöse, rituelle Praxen sowie das Amtscharisma der Priester und Verwalter des alten Glaubens (Klein 1997, 476) und damit alle ihre Transzendierungsakte, mit denen sie sich auf die Transzendenz beziehen, so radikal in Frage, dass sie ihn und seine „Lehre“, die nichts anderes ist als ein Neuansatz von Prozessen der Transzendierung, im Wortsinne aus der Welt schaffen wollen. Sie fürchten, dass er Anhänger um sich schart, die in Verständigungsprozessen zur Überzeugung und zu ‚Chiffren‘ gelangt sind, dass er ein unverfälschtes Bild von der Welt in die Welt trägt, für die er gleichzeitig als Mensch in der Welt steht und sich zeigt. Da Transzendenz als außerweltliche Innerweltlichkeit selbst ein Paradoxon ist, kann auch ein Prophet oder Träger des Charismas nur Paradoxien produzieren, wenn er spezifische Transzendierungsprozesse in Gang setzt. Denn er muss sich symbolischer Kommunikation bedienen, die den Wahrnehmungshorizont in der Welt nicht zu überschreiten vermag, was ihm (und seinen späteren Nachfolgern und Verwaltern der Transzendierungsprozesse) Auslegungsmacht verleiht (Lang 2001, 176) und immer zur Auslegung verpflichtet. Neben Formen rituellen Handelns und Formen der Organisation des Wissen um religiöse Symbole und Glaubenssätze entwickeln die „nachprophetischen Gestalten“ (Lang 2001, 175) auch eine Lehre, die schlussendlich darauf abzielt, die Transzendierungsprozesse ‚abzurunden‘: „[N]eben die unmittelbar wirkende Religion tritt die Theologie, welche die Lehre zu erklären, ihre Widersprüche auszugleichen und zu einem einheitlichen System zusammenzufassen sucht“ (Meyer 1965, I, 146) oder, um noch einmal mit Jaspers zu sprechen, die ‚Chiffren in der Schwebe‘ in Ruhelage zu bringen, was sie gleichzeitig gefährdet. Aufgabe der Verkündigung ist, die Transzendenz als außerweltliche Innerweltlichkeit und Transzendierungsprozesse, die zur Manifestation von Heiligem in der Welt beitrugen, in symbolischer Kommunikation zu vermitteln und einmalige Ereignisse sukzessive in eine stabilisierte Perspektive auf die gründende Wirklichkeit, das Fundament zu überführen. Damit ist die VERKÜNDIGUNG der kommunikative Akt, der religiöse Kommunikation von anderen Kommunikationsbereichen unterscheidet, denn hier (und nur hier) wird jeder Transzendierungsakt immer und immer wieder prozessiert.

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3.2 Verehrung Wie die nachprophetische Verkündigung dient auch die Verehrung der Verstetigung von bestimmten Verhältnissen zu Transzendenz in Transzendierungsprozessen. Wird als eine der tieferen Wirklichkeiten eine Gottheit verehrt, die sich in außerweltlicher Innerweltlichkeit (z. B. einem Propheten) offenbart, dann ist es der Kult- oder Glaubensgemeinschaft, die durch ein Bekenntnis (d. h. kulturell, historisch und diskursiv spezifische Transzendierungsverständigungen und -prozesse) verbunden ist, nicht möglich, sich kommunikativ direkt mit dem, was möglicherweise vorgängig, aber nicht in der Welt sich zeigt, in Verbindung zu setzen. Dass sie es dennoch und immer wieder versucht, ist als starker Ausdruck ihrer Überzeugung zu werten, dass die wahrnehmbare Welt auf einem wirklichen Fundament ruht, welches sich ihrer Wahrnehmung entzieht und nur anhand ‚gewahr gewordener‘ Transzendenz als außerweltlich Innerweltliches erschließbar wird. Dass sie weiter damit Transzendierungsprozesse nachhaltig und langfristig prägt, rückt zwar nicht sofort ins Bewusstsein, ergibt sich aber als notwendige Konsequenz, wenn man kommunikative Aushandlungsprozesse unter der Prämisse beschreibt, dass Wissen nicht nur in Sprache sedimentiert, sondern auch durch sie hervorgebracht wird: Verehrung und Vergegenwärtigung in nicht-kanonisierten, individuellen Formen sind Quell von ‚Chiffren in der Schwebe‘ und vielstimmiger Transzendenzbehauptungen, die die Deutungshoheit von institutionalisierten Formen der Verehrung und Vergegenwärtigung immer wieder in Frage stellen können (vgl. dazu unten Abschnitt 4.2.2). Deshalb etablieren sich früh in der christlichen Tradition kanonisierte Formen der Verehrung. Auch wenn das Bekenntnis (Credo) eine zentrale Rolle einnimmt, ist es bei der Fokussierung auf die Transzendenz besonders das Gebet des Vaterunsers (vgl. dazu Luz 2002), das unsere Aufmerksamkeit weckt. Es reicht bis auf den verkündigenden Propheten zurück, wie die Evangelien nach Lukas (Lk 11,1–4; Gebet 2– 4) und besonders Matthäus (Mt 6,5–15; Gebet im Zitat hervorgehoben, 9–13) berichten: 5 Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, um sich vor den Leuten zu zeigen. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. 6 Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten. 7 Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. 8 Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet. 9 Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt. 10 Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. 11 Unser tägliches Brot gib uns heute. 12 Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. 13 Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. [Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.] 14 Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. 15 Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.

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Der verkündende Prophet verkörpert nicht nur Transzendenz als außerweltlich Innerweltliches, als „göttlicher Menschensohn“ ist er Gott selbst (und Teil der Trinität), er offenbart sich auch immer zugleich und lehrt, wie man sich der Transzendenz im Gebet zuzuwenden hat (Mt 6,5–9). Zugleich zeigt er, dass Handlungen und Haltungen in der Welt das Verhältnis zum nicht wahrnehmbaren Gottvater beeinflussen können (Mt 6,14f.) – damit wird der Transzendenzstatus der dreieinigen Gottheit (neben ihrer Konstitution in den großen Narrativen der Glaubensgemeinschaft) weiter befestigt.

3.3 Vergegenwärtigung Neben Sprache (vgl. dazu im besonderen Dupré 2007, 45–68) spielen in der Vergegenwärtigung und Erinnerung an Transzendierungsprozesse rituelle Handlungen, Musik (instrumental/Gesang), Tanz, Festzüge und Prozessionen eine tragende Rolle, die zumeist an einem Heterotopos mit der ihm eigenen Heterochronie vollzogen werden (vgl. Foucault 2005, 14–18). An diesen heiligen Orten (und in diesen heiligen Zeiten) werden „an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen[gebracht], die eigentlich unvereinbar sind“ (Foucault 2005, 14; vgl. auch Lasch 2011). Heterotopien sind z. B. Gotteshäuser, die architektonisch auf Transzendierungsprozesse Bezug nehmen. Sie stellen deshalb in ihrer symbolischen Ausgestaltung unterschiedliche Verhältnisse zu Transzendenz aus und offenbaren in ihrer historischen Gewordenheit auch divergierende Auffassungen vom rechten Verhältnis zur Transzendenz: So ist z. Β. die Frage, weshalb Labyrinthe als gestalterische Mittel und symbolische Räume, die über Jahrhunderte in Praxen der Vergegenwärtigung als Heterotope im Heterotop Kirchenraum eingebunden waren, heute im Kirchenbau keine Bedeutung mehr haben, keineswegs trivial (vgl. dazu Hiller/Hutter 2017). An diesen Orten mit ihrer spezifischen Symbolik werden rituelle Handlungen vollzogen (vgl. dazu Lasch 2005 und 2011), die ihrerseits wieder typische Verhältnisse zu Transzendenz bedeuten. Das zentrale Ritual für die christliche Gemeinschaft ist die Feier der Eucharistie (in der römischen Kirche) bzw. des Abendmahls (in lutherischer und reformierter Kirche), in dem Verkündigung, Verehrung in der Vergegenwärtigung zusammenfallen (vgl. Angenendt 2017; Kaufmann 2017). Wie in den bereits diskutierten Bezugnahmen auf die außerweltliche Innerweltlichkeit in Jesus Christus als charismatischem Propheten wird auch hier wieder auf ein überliefertes Ereignis Bezug genommen, das Abendmahl Jesu (1 Kor 11,23–26): 23 Denn ich habe von dem Herrn empfangen, was ich euch weitergegeben habe: Der Herr Jesus, in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, 24 dankte und brachʼs und sprach: Das ist mein Leib für euch; das tut zu meinem Gedächtnis. 25 Desgleichen nahm er auch den Kelch nach dem Mahl und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut; das tut, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis. 26 Denn sooft ihr von diesem Brot esst und von dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.

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Wie das adäquate Gebet lehrt der Prophet auch die adäquate Art der Vergegenwärtigung und hält damit kommunikativ und im Vollzug die Transzendenz als außerweltliche Innerweltlichkeit präsent, indem er sich in beiden Formen offenbart. In den zwei Formen, Gebet und Abendmahl, kulminieren nicht nur Transzendierungsprozesse der christlichen Kirchen, sie markieren – folgerichtig – auch große Unterschiede. In der römischen Kirche empfängt man (Kommunion, vgl. dazu Nikolasch 2017) in der Eucharistie das Messopfer nach Wandlung (Konsekration, vgl. Haunerland 2017): Mit den Einsetzungsworten wird das Fundament der Innerwelt sichtbar, indem die Hostie mit den Worten „Das ist mein Leib“ (hoc est [enim] corpus meum, vgl. Mühling-Schlapkohl u. a. 2017) zum Leib Christi substantiiert (vgl. zur Transsubstantiation Steiger 2017). Hostie und Wein werden im Ritus heilig und bedeuten nicht etwas, sondern sie sind heilige Artefakte, die in der Innerwelt Bezug zur Welt herstellen. Auch in den lutherischen Kirchen ist im Abendmahl Christi Leib und Blut realpräsent, wenn die Einsetzungsworte Christi über Wein und Brot gesprochen sind: Im Abendmahl werden die Worte des Propheten nicht uneigentlich gedeutet. Sie sind eine Formel im Ritual, die das Außerweltliche im Innerweltlichen vergegenständlicht, wahrnehmbar, erfahrbar macht (vgl. Mühling-Schlapkohl u. a. 2017). Anders ist dies in den reformierten Kirchen nach Ulrich Zwingli (1484–1531), die nicht an die Wandlung von Brot und Wein, sondern an die geistliche Realpräsenz Jesu Christi glauben, da die Einsetzungsworte metaphorisch gefasst werden (vgl. zum Abschnitt Slenczka 2017; Baur 2017 zum lutherischen, Beintker 2017 zum reformierten und Sattler 2017 zum katholischen Verständnis; zum Abendmahl ebenfalls Stridde in diesem Band). Heute spielt zwar diese Differenz in der Abendmahlsauffassung zumindest zwischen lutherischen und reformierten Kirchen keine Rolle mehr, aber die Ablehnung ökumenischer Abendmahlsfeiern durch die römische Kirche wird nachvollziehbarer, wenn man sich die diametral unterschiedlichen Verhältnisse zu Transzendenz in den Abendmahlsritualen vor Augen hält. Neben der Choreographie und Performanz von Ritualteilnehmern dient der Vergegenwärtigung, wie im Hinblick auf das Labyrinth bereits kurz angerissen, auch die symbolische Ausgestaltung des Heterotops, auf die ich aber in der Analyse (Abschnitt 4.2) an zwei konkreten Beispielen genauer eingehen möchte. In der Beispieldiskussion wird auf theoretische Positionen, die (in den Abschnitten 2 und 3) entwickelt worden sind, nicht mehr im Detail verwiesen. Das betrifft vor allem zentrale Prämissen und Begriffe sowie den operationalisierten Transzendenzbegriff (vgl. besonders Abschluss Abschnitt 2).

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4 Beispiele 4.1 „Es begab sich aber zu der Zeit“ – Transzendierungsprozesse in der biblischen Narration Im Folgenden möchte ich mein Hauptaugenmerk auf zwei zentrale Passagen des Neuen Testaments richten, die davon berichten, wie sich außerweltliche Innerweltlichkeit in der Welt manifestiert. 8 Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. 9 Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. 10 Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; 11 denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. 12 Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. 13 Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: 14 Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens. 15 Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen gen Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. 16 Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. 17 Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. 18 Und alle, vor die es kam, wunderten sich über die Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. 19 Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. 20 Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war. (Lk 2,8–20)

Lukas erzählt von der Selbstentbergung des Außerweltlichen in der Welt, als der Bote Gottes in der Nacht zu den Hirten kommt – der vorgängigen, Sinnhorizonte öffnenden Erscheinung werden sie nicht nur lediglich gewahr, sondern sie „fürchteten sich sehr“ (Lk 2,9). Anstatt sie aber der Verständigung darüber zu überlassen, wie diese Erfahrung zu deuten, zu verhandeln und adäquat zu bezeichnen sei, offenbart sich der Bote als Bote Gottes, in dem er den Messias, den Heiland, ankündigt. Die außerweltliche Innerweltlichkeit wird durch den Boten also nicht nur verkörpert, indem „die Klarheit des Herrn“ (Lk 2,9) die Szene förmlich flutet, sondern auch benannt und in einen Deutungshorizont gestellt, in dem der Heiland verkündet wird. Den Auftrag, zu ihm zu gehen, spricht der Bote indes nicht aus, sondern er offenbart weitere Zeichen einer zweiten Form der Transzendenz, an denen man diese erkennen wird, als Verheißung. Die Szene wird beschlossen durch ein sturzartiges Hereinbrechen der Transzendenz in die Welt – die „Menge der himmlischen Heerscharen“ (Lk 2,13) loben den Gott der Welt und sprechen den Menschen in der Welt den Friedensgruß. Sie stehen als Mittler und Boten einer tieferen Wirklichkeit in der Welt und wenden beiden ihre Stimme zu. Die Hirten verständigen sich über ihre Transzendenzerfahrung. Sie stoßen damit den bereits durch den Boten initiierten innerweltlichen Transzendierungsprozess an und ‚eilen‘ (Lk 2,16), um die verhie-

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ßene, zweite Form außerweltlicher Innerweltlichkeit zu sehen – sie sind ihrer schon ‚gewahr‘, denn der Interpretationsrahmen für die Transzendenz steht bereits. Und so kommen sie, ‚sehen‘ (Lk 2,17), finden das Interpretationsangebot bestätigt und schließen „alle, vor die [das Wort] kam“ (Lk 2,18), in den Transzendierungsprozess ein: Sie sind die ersten Anhänger des Propheten, die ihn in der Welt verkünden und verehren. 1 Da Jesus geboren war zu Bethlehem in Judäa zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem und sprachen: 2 Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, ihn anzubeten. 3 Als das der König Herodes hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem, 4 und er ließ zusammenkommen alle Hohenpriester und Schriftgelehrten des Volkes und erforschte von ihnen, wo der Christus geboren werden sollte. 5 Und sie sagten ihm: In Bethlehem in Judäa; denn so steht geschrieben durch den Propheten (Micha 5,1): 6 »Und du, Bethlehem im Lande Juda, bist mitnichten die kleinste unter den Fürsten Judas; denn aus dir wird kommen der Fürst, der mein Volk Israel weiden soll.« 7 Da rief Herodes die Weisen heimlich zu sich und erkundete genau von ihnen, wann der Stern erschienen wäre, 8 und schickte sie nach Bethlehem und sprach: Zieht hin und forscht fleißig nach dem Kindlein; und wenn ihr's findet, so sagt mirʼs wieder, dass auch ich komme und es anbete. 9 Als sie nun den König gehört hatten, zogen sie hin. Und siehe, der Stern, den sie hatten aufgehen sehen, ging vor ihnen her, bis er über dem Ort stand, wo das Kindlein war. 10 Da sie den Stern sahen, wurden sie hocherfreut 11 und gingen in das Haus und sahen das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe. 12 Und da ihnen im Traum befohlen wurde, nicht wieder zu Herodes zurückzukehren, zogen sie auf einem andern Weg wieder in ihr Land. (Mt 2, 1–12)

Die Transzendenz als außerweltliche Innerweltlichkeit wird bei Matthäus aus anderer Perspektive bestätigt. Die Weisen, Gelehrte „aus dem Morgenland“ (Mt 2,2), wurden einer Erscheinung gewahr, die sie vor dem Hintergrund ihres Wissen und als Ergebnis von Verständigungsprozessen als Zeichen für einen „neugeborene[n] König“ (Mt 2,2) deuteten, dessen Namen „Christus“ sie bereits kennen (Mt 2,4) – hier führen Transzendieren und angestoßene Transzendierungsprozesse, da ohne stützendes Interpretationsangebot, zunächst zu einer ‚Chiffre‘ und damit Deutung, die Herodes „und mit ihm ganz Jerusalem“ erschreckte (Mt 2,3). Die Gelehrten und Priester des alten Kultes am Hofe des Herodes aber werden in die Verhandlung und die Transzendierungsprozesse einbezogen und sie ordnen die durch die Weisen beobachtete Transzendenz mit Mi 5,1 in einen Deutungshorizont ein, der für Herodes nicht weniger prekär ist. Das verleitet ihn wohl zu einem heimtückischen Plan, der erst später offenbar wird (Mt 2,7). Die Weisen jedoch ziehen weiter dem außerweltlich innerweltlichen Zeichen, dem Stern, nach, bis dieser über einem Ort steht – sie erkennen „hocherfreut“, dass sie das Ende ihrer Reise erreicht haben (Mt 2,10). Sie verehren unterwürfig und beten das Kind an und beschenken es. Mit diesen Handlungen sind die unterschiedlichen Transzendierungsprozesse, die sich in den ersten Versen bei Matthäus andeuten, unter dem Stern in Bethlehem narrativ zusammengeführt. Aufgrund einer weiteren Transzendenzerfahrung folgen sie einem

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anderen Heimweg: „[I]m Traum [wurde ihnen] befohlen“ (Mt 2,12), nicht nach Jerusalem zurückzukehren. Welche besondere Rolle dem ‚Träumen‘ für Prozesse des ‚Gewahr-Werdens‘, mithin Transzendierens und schließlich der Transzendierung zukommt, kann hier nur markiert, jedoch als Thema nicht expliziert werden. Der Abschlussvers der Narration über die „Weisen aus dem Morgenland“ bei Matthäus zeigt aus unserer Sicht, dass das Stufenmodell Duprés zur differenzierten Beschreibung von Transzendenz, von Transzendieren und Transzendierungsprozessen gegenstandsadäquater ist, als eine Differenzierung zwischen „kleinen“, „mittleren“ und „großen Transzendenzen“. Denn was würde man gewinnen, wenn man den Traum der Weisen im Kontext eines derart komplexen Transzendierungsprozesses als „kleine“ in der „großen Transzendenz“ bewertete? Systematisch ist weiter zumindest nicht unproblematisch, ob ein Traum, in dem Gott gebietet, als „kleine“ oder „große Transzendenz“ einzustufen sei. In Summe verleitet die Differenzierung aus unserer Perspektive dazu, bspw. graduelle Unterschiede zwischen den Erfahrungen der Hirten und denen der Weisen zu bestimmen oder Erfahrungen der Weisen untereinander abzuwägen, obwohl doch das entscheidende Moment auch der narrativen Entwicklung in den komplexen Transzendierungsprozessen als solchen liegt, die es als mehrstufige zu analysieren gilt. An diesen beiden Belegstellen lässt sich nicht nur das Stufenmodell Duprés zur Transzendenz am Beispiel verdeutlichen, sondern auch zugleich zeigen, mit welch feinem Gespür der zentrale Text der christlichen Kirchen Transzendenzerfahrungen und -prozesse narrativ verarbeitet: Die zwei Fassungen der ‚Weihnachtsgeschichte‘ gehören zum Haushalt christlicher Kulturen und sie erzählen u. a. Geschichten von mehrstufigen Transzendierungsprozessen, die sich in ihnen vollziehen. VERKÜNDIGUNG und VEREHRUNG sind in diesen komplexen Zuweisungsprozessen zentrale kommunikative Akte, deren Orte – hier die Krippe im Stall zu Bethlehem unter dem Stern –, wie der heilige Ort des Altars für das heilige Buch, das sie fasst, zu ikonischen Orten der Vergegenwärtigung, Verehrung und Verkündigung in der christlichen Tradition werden. Die biblischen ‚Weihnachtsgeschichten‘ sind deshalb Gegenstand von Religionslinguistik ebenso wie andere Narrationen, die die diskursive Aneignung von außerweltlich Innerweltlichem verhandeln. Auf Lk 2,1–7 und Mt 1,18–25, die die Vorgeschichte und das Marienwunder berichten, welches auch im Koran dargelegt wird (u. a. Koran 19:17–21 [Sure Maryam]), sowie die Prophezeihungen im Alten Testament konnte ich an dieser Stelle nicht eingehen.

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4.2 Heterotopische Verhältnisse zur Transzendenz 4.2.1 Adams Hand Gotteshäuser als Heterotope müssen, wie Rituale, Sprache, Musik, Gesang, ein spezifisches Verhältnis zu Transzendenz verkörpern, um sich zur außerweltlichen Innerweltlichkeit adäquat zu verhalten, wie an diesem einleitenden Beispiel knapp illustriert werden soll. 1512 schließt Michelangelo Buonarroti (1475–1564; vgl. Buttler 2017) seine Arbeit am Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle in Rom ab – die Genesisfresken und insbesondere die „Erschaffung Adams“ dürften (neben dem David in Florenz) zu seinen berühmtesten Schöpfungen zählen. Berühren sich die Zeigefinger Gottes und Adams auf Michelangelos berühmtem Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle? „Die meisten Leute glauben, sie berühren sich. In 80 Prozent der Literatur und sogar auf der Homepage des Vatikans ist von ,Berührung‘ die Rede“, sagt David Hornemann von Laer [2008]. […]. In Wahrheit berühren sich die Finger nicht. „Darin liegt gerade die Spannung, die Dramatik des Bildes“, sagt der Wissenschaftler. (Q 12)

Dieses Beispiel ist paradigmatisch geeignet, um das Interesse einer Religionslinguistik zu illustrieren. Nicht die Frage, ob Michelangelo ein adäquates Verhältnis zur Transzendenz abbildete, sondern die Vorstellung der Interpretierenden, die sich vom Augenscheinlichen täuschen lassen und meinen, dass sich die Finger zwischen dem Schöpfer und seinem Adam berühren, ist als Ergebnis von Transzendierungsprozessen und Ausdruck einer Hoffnung (vgl. dazu unten Assoziationen zu Richters Fenster in Abschnitt 4.2.2) aufzufassen – die, wie von Laer herausgearbeitet hat, durch die Vatikanischen Museen mitgetragen wird: In der Episode der Erschaffung des Menschen ist die Berührung zwischen den Fingern Gottes und denen Adams der kompositorische Brennpunkt, da dadurch der Lebenshauch übertragen wird. Gott ist schwebend dargestellt, wird von Engeln gestützt und ist in einen Umhang gehüllt. Er wendet sich Adam zu, der wie ein ruhender Athlet dargestellt ist. Seine Schönheit scheint die Worte des Alten Testaments zu bestätigen, wonach der Mensch als Abbild Gottes geschaffen wurde. (Q 13).

Tatsächlich kann der hier vorgestellte Transzendenzbegriff helfen, einen Aspekt der möglichen Aussageabsicht Michelangelos aufzudecken: Die Transzendenz als außerweltliche Innerweltlichkeit zeigt sich in der Welt und wird durch diese als Adam und von Adam wahrgenommen. Die erzeugte Spannung und das Skandalöse an Michelangelos Fresko ist scheinbar, dass Adam nur die Hand auszustrecken brauchte, um das Transzendente zu fassen. Da er aber selbst die außerweltliche Innerweltlichkeit als Archetyp Jesu Christi verkörpert (vgl. Leiner 2007 und Sellin/Krötke 2017), besteht dazu keine Veranlassung – er ist ‚beseelt‘, ‚fertig‘ und in der Welt als Ausdruck der Welt. Alle, die ihm nachfolgen, werden nicht in die Transzendenz reichen können, aber sie werden wie Michelangelo versuchen, sie in Transzendie-

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rungsprozessen adäquat zu fassen. Eine Religionslinguistik kann an Beispielen wie diesen zeigen, dass Transzendierungsprozesse sich weder einsträngig vollziehen, noch gänzlich einer Steuerung unterworfen werden können (dafür wird auch das Beispiel in Abschnitt 4.2.2 stehen). Vielmehr können sich auch konkurrierende Behauptungen von außerweltlicher Innerweltlichkeit – und das ist eigentlich eher die Regel als die Ausnahme –etablieren, die, da sie das die Welt gründende Fundament z. B. einer Ideologie einer Glaubensgemeinschaft betreffen, in den meisten Fällen echte Machtkämpfe in der Welt nach sich ziehen können.

4.2.2 Symphonie des Lichts Die Logik von Transzendierungsprozessen kommt sehr schnell ans Licht, wenn ein stabilisiertes Verhältnis zu Transzendenz durch konkurrierende ‚Chiffren in der Schwebe‘ und damit Deutungsprozesse (die z. B. hervorgehen aus nontranszendenter bzw. trans-transzendenter Positionierung, vgl. Liebert in diesem Band, „Religionslinguistik“) in Frage gestellt und verletzt wird. Genau dies ließ sich am „Kölner Fensterstreit“ 2007 beobachten (vgl. dazu ausführlich Lasch 2009 auch besonders zur Dokumentation der Quellen, die heute nur noch zum Teil verfügbar sind), was für die symbolische Ausgestaltung von Heterotopen und deren Verhältnis zu Transzendenz recht selten ist. Ausgangspunkt des „Kölner Fensterstreits“ war die Weihe des Fensters im Südquerhaus des Kölner Doms am 25. August 2007. Norbert Feldhoff, Dompropst, betonte im Weihgottesdienst die Funktion des Fensters in der „Verherrlichung Gottes“ (Q 1). Domkapitular Prälat Sauerborn staunte über die „überwältigende Farbenfülle“ des Fensters, das eine „Symphonie des Lichts sei, in der alle Farben des Doms erklingen“ (Q 2). Wie eindrucksvoll das Richter-Fenster das Licht bricht, zeigt anschließend ein so genannter Weihrauchritus. […] „Himmel und Erde berühren sich“, sagt Hildegard Müller-Brünker leise. Die Theologin hat eine direkte Sicht auf das neue Fenster und ist beeindruckt. „Das ist doch ein schönes Symbol: Gott scheint durch das Fenster hindurch.“ (Q 2)

Auch für die damalige Dombaumeisterin Barbara Schock-Werner ist es ein „sakrales Fenster, weil es [...] die Schönheit von Gottes Schöpfung repräsentiert“ (Q 3 und Q 4); es habe „etwas ganz Überirdisches. Das Licht fließt fantastisch durch die Farben hindurch.“ (Q 5). Was sich in diesen Schilderungen widerspiegelt, sind Transzendenzerfahrungen, die in Transzendierungsprozessen einem Deutungshorizont zugeordnet werden. Das Fenster im Südquerhaus des Kölners Doms stellt, so zeigen diese Schilderungen mit unterschiedlichen Anknüpfungspunkten einhellig, ein adäquates Verhältnis zu Transzendenz, zu außerweltlich Innerweltlichem aus. Es mache – nach den Worten einer Theologin (!) – sogar möglich, dass ‚Gott durch das Fenster scheine‘ und sich ‚Himmel und Erde berührten‘, was es in der Logik der

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Transzendenz, wie wir sie hier mit Dupré bestimmen, selbst als Artefakt heiligt und als außerweltlich Innerweltliches markiert, indem ihm funktional eine Mittlerrolle als diaphane Bildwand (vgl. Kurmann-Schwarz 2017) nicht nur in komplexen rituellen Vollzügen als Teil des Heterotops zukommt. Denkt man so weiter, dann offenbarte sich das außerweltlich Innerweltliche im Fenster selbst. Die zitierte Theologin setzt mit ihrer Äußerung einen komplexen und streitbaren Transzendierungsprozess in Gang, in dessen Verlauf das Fenster als Teil des Heterotops Kirchenraum sakralisiert werden würde. Der Kölner Erzbischofs Kardinal Joachim Meisner hingegen entzog sich solchen Transzendenzbehauptungen zunächst, blieb demonstrativ der Weihe fern und stimmte auch nicht in das Lob über das Fenster ein. Stattdessen beklagt er sich später bei FOCUS ONLINE über dieses „Moscheefenster“ (Q 6) und stellt damit eine diametral andere Meinung in den Diskurs. Er stört die angestoßenen Transzendierungsprozesse nachhaltig. Was war passiert? Das Domkapitel hatte sich in einem mehrjährigen Prozess für einen nichtfigürlichen Entwurf Gerhard Richters entschieden, der sich durchaus darüber bewusst war, ein „Fenster für die Ewigkeit“ (Q 1) zu gestalten. Das Ergebnis ist ein „Ozean aus Glas“ (Q 7) aus über 11.000 farbigen Glasquadraten, für die die „4096 Farben“ Richters aus dem Jahr 1974 Vorlage waren. Die unterschiedlichen Entwurfsvarianten geben einen Einblick in das komplexe Zusammenspiel von Zufall und Kalkül, das dem auf 72 Farbtönen aufbauenden Glasmosaik im Dom zugrunde liegt, das sich zwischen dem Maßwerk auf etwa 113 Quadratmetern entfaltet. (Q 8)

Christoph Heckeley, der stellvertretende Sprecher des Erzbistums, erklärt darauf bezugnehmend die Intention des Kardinals: Meisner habe ihm erklärt, er habe tatsächlich gesagt, er könne sich das Gerhard-RichterFenster genauso gut in einer Moschee vorstellen, zumal der Islam ja ein ausdrückliches Bilderverbot kenne und das Dom-Fenster ohne figürliche Darstellung auch in einer Moschee möglich sei. Allerdings bestätigte Heckeley, dass Meisner nicht mit dem Fenster einverstanden gewesen sei, er hätte sich für den Dom etwas „weniger Beliebiges“ vorstellen können. (Q 9)

Um mit Dupré zu sprechen: Meisner hätte ein ‚vormodernes‘ Gestaltungskonzept bejaht, welches systematisch und nicht historisch gedacht eine „Schau des Heiligen“ (Dupré 2007, 88) ermöglicht, während Richters Entwurf aus einer transtranszendenten Positionierung heraus als Ausdruck des Zweifels an den etablierten Transzendierungsprozessen und für ein Verhältnis zu Transzendenz steht, das Dupré zwar mit der Moderne assoziiert, welches sich aber als Signum aller Reformations- und Erneuerungsbewegungen zeigt, womit zugleich angezeigt sei, dass Lieberts Positionierungen systematischer und nicht historischer Art wie bei Dupré sind: In einem Punkt gibt Richter dem Kardinal recht – seine Fenstergestaltung sei nicht katholisch: „Aber wie sähe eine katholische Gestaltung aus, die nicht plagiatorisch die Historie beschwört

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und nicht kunstgewerblich ist?“ […] Der Künstler zeigt in seinem Domfenster eigener Aussage zufolge den Zufall als überwältigende Macht, nicht etwa göttliche Vorsehung. Dennoch vertritt er die Meinung, dass das Fenster sich in sakralem Rahmen am richtigen Platz befinde. Wenn er auch keiner Glaubensgemeinschaft angehöre, so sei er doch der Auffassung, dass „man ohne Glauben gar nicht leben kann“, ohne den Glauben an eine höhere Macht oder an „etwas Unbegreifliches“. (Q 10)

In der Diskussion um den Entwurf Richters werden auch in der Selbstreflexion die unterschiedlichen Verhältnisse zu Transzendenz überdeutlich. Die Position Meisners verklingt fast in der Wucht der Empörung, die ihm – nicht nur wegen des Politikums des „Moscheefensters“ – entgegenschlägt. Seine und die Position Richters, dass es wohl kein ‚katholisches‘ Fenster sei, wird im Diskurs überhört. Für das Heterotop Kirche mit seiner zentralen Bedeutung für die Ausstellung des Verhältnisses zu Transzendenz (vgl. oben Abschnitt 3.3) ist es allerdings theologisch durchaus ein Unterschied, ob man das Fenster metaphorisch als „Symphonie des Lichts“ bezeichnet und funktional beschreibt, in dem man sagt, ‚es diene der Verherrlichung Gottes‘, oder ob man es in Transzendierungsprozessen sakralisiert – also zu Heiligem erklärt, wenn man sagt, dass ‚Gott durch das Fenster hindurchscheine‘. Abgesehen davon, dass die Selbstermächtigung zu Transzendierungsakten dieser Art ohnehin nicht unproblematisch ist, aber wie an ‚Adams Hand‘ (Abschnitt 4.2.1) gesehen, nicht ausgeschlossen werden kann, wird die Tragweite einer solchen Sakralisierung dann deutlich, wenn man sich den Entstehungsprozess des Fensters noch einmal vergegenwärtigt. Auch wenn sich Meisner unbedacht äußerte, so bringt er in Bezug auf diese Transzendierungsprozesse mit der ‚Beliebigkeit‘ des Fensters und dem ‚Zufall‘ seiner Entstehung gewichtige Argument in die Debatte ein. Mit dem „komplexe[n] Zusammenspiel von Zufall und Kalkül“ (Q 8) ist nämlich der Kern genannt, um den sich Rede Meisners und Erwiderung Richters drehen. Richter bringt den „Zufall als überwältigende Macht, nicht etwa die göttliche Vorsehung“ (Q 10) zur Darstellung. Damit sind Assoziationen wie die des durch das Fenster scheinenden Gottes aus der Sicht der Kirche höchst bedenklich, denn der Glaube an den ‚Zufall‘ selbst ist unchristlich (Mt 10,29f. und Röm 8,28), da menschliches Schicksal im göttlichen Heilsplan aufgehoben ist (vgl. Stoellger 2017). Der Kölner Maler hatte aber, was die jetzt tatsächlich vorgebrachte Kritik Meisners betrifft, „schon so was geahnt“ – nicht den Hinweis auf eine Moschee, aber die Möglichkeit, dass ihm sein Entwurf „nicht passen“ könne. Und so schwante Richter bereits im Voraus, „das könnte der Einzige sein, der mitkriegt, dass das wirklich nicht katholisch ist, das Fenster“ […]. (Q 11)

Richter ist es schließlich, der mit der Erwiderung auf Meisner seine Sensibilität gegenüber dem komplexen Verhältnis von christlichem Glauben, bildender Kunst und Architektur zu Transzendenz ausstellt.

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5 Fazit Anliegen des Beitrags war es, das Stufenmodell Duprés für eine Religionslinguistik (als Transzendenzlinguistik) fruchtbar zu machen und einen operationalisierbaren Transzendenzbegriff aus der bisherigen Forschung herauszuarbeiten, der es gestattet, u. a. Prozesse der Transzendierung zu beschreiben. Mit Transzendenz sei außerweltliche Innerweltlichkeit markiert, die der Wahrnehmung vorgängig Sinnhorizonte in der Welt eröffnet (vgl. Rentsch 2013), wahrgenommen, in einem Deutungshorizont intersubjektiv behauptet (Rentsch 2013; Vorländer 2013), verortet und benannt werden kann (vgl. Dupré 2007 und Jaspers 2011). Aus diesem komplexen Verhalten zu Transzendenz können Ideologien (wie z. B. Religionen) erwachsen und dauerhaft einen adäquaten Rahmen bieten, um das Verhältnis zu außerweltlicher Innerweltlichkeit zu behaupten, zu legitimieren und zu stabilisieren (vgl. Dupré 2011; Liebert in diesem Band, „Religionslinguistik“; Luckmann 1991; Rentsch 2013). Da das Außerweltliche systematisch nicht verfügbar ist (vgl. Rentsch 2013) und Ideologien immer versucht sind, ‚Chiffren in der Schwebe‘ (vgl. Jaspers 2011) in Ruhestellung zu bringen, zu organisieren, behutsam zu erweitern, zu verwalten und zu prozessieren, muss von Verwaltern und Anhängern der Ideologie immer wieder neu erkämpft werden, wie (vgl. Jaspers 2011) und wer (vgl. Rentsch 2013) das Verhältnis zu Transzendenz auf welche Art und Weise adäquat bestimmt. Steht die Deutungshoheit in Frage, werden kulturell stabilisierte Deutungsmuster der Transzendenz bisweilen bezweifelt, umgedeutet (vgl. z. B. Hänseroth 2013; säkularisiert: Fix in diesem Band), abgelehnt (vgl. Abschnitt 4.2) und offen angegriffen (vgl. Abschnitt 3.1 und 4.1). Da der Mensch ein transzendentes Wesen ist (vgl. Jaspers 2011; Dupré 2007 und Rentsch 2013), werden durch Transzendieren immer wieder Prozesse der Transzendierung angestoßen (vgl. Abschnitt 4.1) und können an ‚Reflexen auf Transzendenz‘ (vgl. Jaspers 2011) wie bspw. dem Kampf um Transzendenzbehauptungen beschrieben werden (vgl. Abschnitt 4.2). Gegenstand der Religionslinguistik kann nicht die Transzendenz als außerweltliche Innerweltlichkeit als Phänomen, sondern müssen solche Verhältnisse zu Transzendenz sein (vgl. Abschnitte 3 und 4). Diese sind kulturell, sozial und historisch je unterschiedlichen Bedingungen unterworfen und dementsprechend, auch in der kommunikativen Bewältigung, unterschiedlich ausgeformt: Sprache kommt hier als Instrument zur Bewahrung, zum Transfer sowie zur Konstitution von Wissen und Wirklichkeit zu ihrem Recht.

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6 Literatur 6.1 Quellen Q 1: „Ein Fenster für die Ewigkeit“. Kölner Dom weiht Fenster von Gerhard Richter. In: Rheinische Post Online (25.08.2007). Online verfügbar unter: http://www.rp-online.de/public/article/ aktuelles/kultur/mehr_kultur/472792. Stand: 06.01.2017. Q 2: Wortel, Silke (2007): Richter-Fenster im Kölner Dom eingeweiht. „Ein Fenster für die Ewigkeit“. In: WDR.DE – Kultur (25.08.2007). Online verfügbar unter: http://www.wdr.de/themen/kultur/bildende_kunst/gerhard_richter/070825.jhtml. Stand: 12.09.2007. Aktuell nicht mehr verfügbar. Q 3: Kölner Dom. Richter-Fenster enthüllt. 113 Quadratmeter-Fenster aus kleinen, farbigen Quadraten zusammengesetzt. In: Stuttgarter Zeitung Online (26.08.2007). Online verfügbar unter: http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/1501249. Stand: 12.09.2007. Aktuell nicht mehr verfügbar. Q 4: Hofsähs, Ulrike (2007): 113 qm im Licht des Doms. Richter-Fenster enthüllt. In: N-TV.DE Online (26.08.2007). Online verfügbar unter: http://www.n-tv.de/archiv/Richter-Fenster-enthuelltarticle228684.html. Stand: 06.01.2017. Q 5: Kölner Dombaumeisterin hochzufrieden. Neues Domfenster von Gerhard Richter. In: WDR2.DE Online Mittagsmagazin (24.08.2007). Online verfügbar unter: http://www.wdr.de/radio/wdr2/mima/392379.phtml. Stand: 12.09.2007. Aktuell nicht mehr verfügbar. Q 6: Mayer, Iris (2007): Kölner Dom. Meisner beklagt „Moscheefenster“. Der Kölner Erzbischof Kardinal Joachim Meisner hat das neu gestaltete Domfenster scharf kritisiert. Es spiegele nicht den christlichen Glauben wider. In: FOCUS Online – Politik (30.08.2007). Online verfügbar unter: http://www.focus.de/politik/deutschland/koelner-dom_aid_131137.html. Stand: 06.01.2017. Q 7: Spies, Werner (2007): Gerhard Richters Fenster. Ein Ozean aus Glas im Kölner Dom. FAZ.NET – Feuilleton – Kunst (25.08.2007). Online verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bilder-und-zeiten-1/gerhard-richters-fenster-ein-ozeanaus-glas-im-koelner-dom-1463774.html.Stand: 06.01.2017. Q 8: APÖK (=Amt für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Stadt Köln, Online-Redaktion) (2007): Museum Ludwig Köln – Ausstellungen. Online verfügbar unter: http://www.museenkoeln.de/museum-ludwig/. Stand: 12.09.2007. Aktuell nicht mehr verfügbar. Q 9: „Kardinal Meisner hat seine eigene Meinung“. In: Kölner Rundschau Online (30.08.2007). Online verfügbar unter: http://www.rundschau-online.de/html/artikel/1187348189760.shtml. Stand: 14.09.2007. Aktuell nicht mehr verfügbar. Q 10: Bosetti, Anette/Bertram Müller (2007): Streit um neues Domfenster. Viel Kritik an Meisners Moschee-Äußerung. In: Rheinische Post Online (31.08.2007). Online verfügbar unter: http://www.rp-online.de/public/article/aktuelles/kultur/474852. Stand: 06.01.2017. Q 11: Imdahl, Georg (2007): „Meisner irrt sich ein bisschen“. In: Kölner Stadt-Anzeiger Online (31.08.2007). Online verfügbar unter: http://www.ksta.de/html/artikel/1187344877397.shtml. Stand: 14. 09.2007. Aktuell nicht mehr verfügbar. Q 12: Di Blasi, Johanna (2012): Das Geheimnis in Michelangelos Fresko. In: Hannoversche Allgemeine (29.10.2012). Online verfügbar unter: http://www.haz.de/Nachrichten/Kultur/Uebersicht/Das-Geheimnis-in-Michelangelos-Fresko. Stand: 06.01.2017.

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Q 13: Detailbeschreibung der Sixtinischen Kapelle. Online verfügbar unter: http://mv.vatican.va/6_DE/pages/x-Schede/CSNs/CSNs_V_StCentr_06.html. Stand: 06.01.2017

6.2 Textausgaben Der Koran. Aus dem Arabischen übersetzt von Max Henning. Einleitung und Anmerkungen von Annemarie Schimmel. Stuttgart 1991. Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung – Lutherbibel revidiert 2017. Online verfügbar unter: https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lutherbibel-2017/bibeltext/. Stand: 08.08.2017. Füssel, Stephan (Hg.) (2016): Die Luther-Bibel von 1534. Gebundene Ausgabe. Köln u. a.

6.3 Forschung Angenendt, Arnold (2017). Abendmahl. II. Kirchengeschichtlich. 2. Mittelalter. In: RGG4O. Online verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.1163/2405-8262_rgg4_COM_00027. Stand: 25.07.2017. Baur, Jörg (2017). Abendmahl. III. Dogmatisch. 1. Evangelisch. a) Lutherisch. In: RGG4O. Online verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.1163/2405-8262_rgg4_COM_00027. Stand: 25.07.2017. Beintker, Michael (2017). Abendmahl. III. Dogmatisch. 1. Evangelisch. a) Reformiert. In: RGG4O. Online verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.1163/2405-8262_rgg4_COM_00027. Stand: 25.07.2017. Buttler, Karen (2017): Michelangelo Buonarroti. In: RGG4O. Online verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.1163/2405-8262_rgg4_SIM_14082. Stand: 25.07.2017. Dupré, Louis (2007): Symbole des Heiligen. Die Botschaft der Transzendenz in Sprache, Bild und Ritus. Übers. u. hg. v. Heinz Grosch unter Mitarbeit v. Alice Fleming-Corten. Freiburg i. Br. u. a. Foucault, Michel (2005): Die Heterotopien – Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Frankfurt a. M. Hänseroth, Thomas (2013): Technischer Fortschritt als Heilsversprechen und seine selbstlosen Bürgen. In: Hans Vorländer (Hg.): Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen. Berlin/Boston, 267–288. Haunerland, Winfried (2017): Konsekration. In: RGG4O. Online verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.1163/2405-8262_rgg4_SIM_12100. Stand: 25.07.2017. Hiller, Stefan/Manfred Hutter (2017): Labyrinth. In: RGG4O. Online verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.1163/2405-8262_rgg4_COM_12551. Stand: 25.07.2017. Hornemann von Laer, David (2008): Vom Geschöpf zum Schöpfer. Die Genesisfresken Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle. Stuttgart. Jaspers, Karl (2011): Chiffren der Transzendenz. Mit zwei Nachworten hg. v. Anton Hügli/Hans Saner. Muttenz. Kaufmann, Thomas (2017). Abendmahl. II. Kirchengeschichtlich. 3. Reformation. In: RGG4O. Online verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.1163/2405-8262_rgg4_COM_00027. Stand: 25.07.2017. Klein, Wassilois (1997): Propheten/Prophetie. Religionsgeschichtlich. In: TRE 27, 473–476. Knoblauch, Hubert (2009): Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft. Frankfurt a. M. Kurmann-Schwarz, Brigitte (2017): Glasmalerei. In: RGG4O. Online verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.1163/2405-8262_rgg4_COM_08681. Stand: 26.07.2017.

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Wolf-Andreas Liebert

11. Das Unsagbare Abstract: Als Unsagbares werden gemeinhin Formen nonverbaler Ausdrucksbewegungen und unterschiedliche Spielarten des Schweigens und Verstummens in Verbindung gebracht. Die Unmöglichkeit von Expressivität wird in fünf Kategorien eingeteilt: die Interruption des expressiven Flusses durch bestimmte Ereignisse (perplexe Unsagbarkeit), die Erkenntnis von den Ausdrucksgrenzen der Sprache (erkannte Unsagbarkeit), die normative Setzung von Ausdrucksgrenzen durch Tabus und Verbote (normative Unsagbarkeit), die auch zu einer gewaltsamen Beschränkung des Ausdrucks führen kann (erzwungene Unsagbarkeit) und schließlich diskursiv bedingte ‚blinde Flecken‘, die im Sinne eines Foucault’schen historischen Aprioris Unsagbares auch ohne explizite Normsetzung produzieren (diskursive Unsagbarkeit). Expressivität wird zunächst als anthropologische Konstante eingeführt, um dann auf die genannten Kategorien einzugehen. Durch die Abgrenzung von der Unsagbarkeit in anderen Lebensbereichen wird das Spezifische im Bereich des Religiösen verdeutlicht. Schließlich wird durch Beispielanalysen gezeigt, dass das Unsagbare das zentrale Moment des Religiösen ausmacht. 1 2 3 4 5 6

Einleitung: Das Feld des Schweigens Expressivität als anthropologische Konstante Formen des Unsagbaren im Bereich des Religiösen Die Expressivität des Unsagbaren Zusammenfassung Literatur

1 Einleitung: Das Feld des Schweigens Das Stichwort Unsagbarkeit steht im Zusammenhang mit einer Reihe von Ausdrücken, die im weitesten Sinne mit der Unmöglichkeit des Sprechens, ja sogar mit der Unmöglichkeit jeglicher Expressivität (Plessner 1975, 321ff.) zu tun haben: Gemeinhin werden mit dem Unaussprechlichen Formen nonverbaler Ausdrucksbewegungen und unterschiedliche Spielarten des Schweigens und Verstummens in Verbindung gebracht. (Heimböckel 2003, 25)

Man kann die Unmöglichkeit von Expressivität grob in fünf Kategorien einteilen. Zum einen die Interruption des expressiven Flusses durch bestimmte Ereignisse (perplexe Unsagbarkeit), dann die Erkenntnis von den Ausdrucksgrenzen der Sprache (erkannte Unsagbarkeit), die normative Setzung von Ausdrucksgrenzen durch Tabus und Verbote (normative Unsagbarkeit), die auch zu einer gewaltsamen Be-

DOI 10.1515/9783110296297-012

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schränkung des Ausdrucks führen kann (erzwungene Unsagbarkeit) und schließlich diskursiv bedingte ‚blinde Flecken‘, die im Sinne eines Foucault’schen historischen Aprioris Unsagbares auch ohne explizite Normsetzung produzieren (diskursive Unsagbarkeit). Weitere Kategorien wie eine medizinisch bedingte Unsagbarkeit (Gülich 2005) sollen hier nicht ausgeführt werden. Zunächst soll Expressivität als anthropologische Konstante eingeführt werden, um dann auf die genannten Kategorien einzugehen. Durch die Abgrenzung von der Unsagbarkeit in anderen Lebensbereichen, kann schließlich das, was für Unsagbarkeit im Bereich des Religiösen spezifisch ist, deutlich gemacht werden. Durch die Beispielanalysen im Abschnitt Expressivität der Unsagbarkeit kann dann Unsagbarkeit als das zentrale Moment des Religiösen ausgemacht werden.

2 Expressivität als anthropologische Konstante Mit dem Begriff der Expressivität wird auf die Philosophische Anthropologie Helmut Plessners Bezug genommen, in der sich ein grundlegendes humanes Ausdrucksprinzip aus dem dort vorgestellten Konzept der „exzentrischen Positionalität“ des Menschen ableitet (vgl. dazu Plessner 1975, 2002 sowie die detaillierte Diskussion in Liebert in diesem Band, „Religionslinguistik“). Nach Plessner zeichnet den Menschen im Unterschied zum Tier ein nicht hintergehbares Ungleichgewicht und eine Mehrdeutigkeit aus, die ihm eine reflexive Sicht und ein Erleben seiner selbst erlauben. Dies hat ein dauerndes Bestreben zur Folge, welches sich in einer Notwendigkeit des Sich-Ausdrückens zeigt, und zwar nicht nur in der verbalen Sprache, sondern in allen Äußerungsmodalitäten: Jede Lebensregung der Person, die in Tat, Sage oder Mimus faßlich wird, ist daher ausdruckshaft, bringt das Was eines Bestrebens irgendwie, d. h. zum Ausdruck, ob sie den Ausdruck will oder nicht. Sie ist notwendig Verwirklichung, Objektivierung des Geistes. (Plessner 1975, 337, Herv. i. Orig. gesperrt)

Plessner geht also von einem intentionalen Fluss aus, der sich als komplexe, multimodale Ausdrucksbewegung zeigt, die zwar angehalten werden kann, die aber auch im Angehaltensein ihre Ausdruckhaftigkeit nicht verliert. Von diesem Konzept der Expressivität ausgehend können einige Fälle der Unsagbarkeit unterschieden werden, in denen die intentionale Ausdrucksbewegung teilweise oder ganz zum Erliegen kommt und dabei Gesten des Nichtverstehens, der Fassungslosigkeit etc. zum Ausdruck gebracht werden: – Die perplexe Unsagbarkeit tritt ein, wenn bestimmte Ereignisse erlebt werden, die die betroffene Person oder Gruppe in ihren Verstehensmöglichkeiten teilweise oder ganz überfordern, so dass eine oder mehrere Ausdrucksmodalitäten erstarren und dadurch die Perplexität selbst zum Ausdruck gebracht wird.

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Die erkannte Unsagbarkeit ist die aus dem Sagbaren heraus gezogene Grenze des Sagbaren, so dass dadurch das Unsagbare deutlich gemacht wird. Dadurch kann das Unsagbare nicht gesagt werden, es kann aber auf einer Metaebene über das Unsagbare gesprochen werden (vgl. dazu Paul 1990, 28; Fuchs 1989, 87 sowie Gülich 2005, 239; Schwarz-Friesel 2013, 314ff.). Die analytische Unsagbarkeit ist strikt genommen eine normative, da nun jeder Versuch, das Unsagbare zu sagen, als Unsinn gewertet und damit eine Sanktionsmöglichkeit zur Unterdrückung von Ausdrucksformen geschaffen wird. Die normative Unsagbarkeit wird durch Verbote, Gebote und Tabus explizit bestimmt und durch bestimmte Praktiken aufrechterhalten, d. h. bestimmte Ausdrucksformen wie die Visualisierung transzendenter Größen, werden unterdrückt, oder es wird ein Bekenntnis von Unsagbarkeit eingefordert, etwa als kollektiv verpflichtender Ausdruck von Betroffenheit. Die erzwungene Unsagbarkeit wird mit Rechtfertigung durch eine normative Unsagbarkeit durch Gewalt hergestellt, indem der Sprecher oder die sprechende Institution durch die Vernichtung expressiver Medien ‚mundtot‘ gemacht wird, etwa durch Herausreißen der Zunge, Kreuzigung oder die Enteignung oder Auflösung von Zeitungen. Die diskursive Unsagbarkeit kann nur durch einen Perspektivenwechsel oder aber in der Retrospektive zum Vorschein gebracht werden. Dann zeigt sich die diskursive Unsagbarkeit als eine kulturelle Regulierung von Ausdrucksbewegungen und -formen.

Im Folgenden sollen die ersten vier Arten von Unsagbarkeit in den Blick genommen werden, nicht weil die diskursive Unsagbarkeit nicht relevant wäre, sondern weil das Spezifische der Unsagbarkeit im Bereich des Religiösen auf diese Weisen am besten herausgearbeitet werden kann.

3 Formen des Unsagbaren im Bereich des Religiösen 3.1 Perplexe Unsagbarkeit Die perplexe Unsagbarkeit kann im Bereich des Religiösen verschiedene Formen ausprägen: So kann angesichts eines Transzendenten eine Perplexität ausgemacht werden, die eine spontane Relationierung der eigenen Kleinheit gegenüber einem transzendenten Großen zur Folge hat (vgl. dazu auch Lasch in diesem Band). Die Kleinheit ist dabei die Voraussetzung für Teilhabe am Großen und schließt damit an das Konzept der Erhabenheit von Immanuel Kant und Friedrich Schiller an. Die Expressivität beschränkt sich darauf, sich selbst im Modus der Kleinheit zu präsen-

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tieren und das transzendente Große nicht nur anzuerkennen, sondern zu verehren. Mit Bezug auf Immanuel Kant (1974, 164ff.) und Friedrich Schiller (1997a, 1997b) kann diese Form von Perplexität auch die erhabene Unsagbarkeit genannt werden. Als Beispiel dazu kann das Gedicht „Der Engel am Grabe des Herrn“ von Heinrich von Kleist (1808) herangezogen werden, das die Auferstehungserkenntnis nach der Kreuzigung Christi zum Inhalt hat: […] Da nun die Frau’n, die gläubigen, sich nahten Der Grabeshöhle: was erblickten sie? Die Hüter, die das Grab bewachen sollten, Gestürzt, das Angesicht in Staub, Wie Todte, um den Felsen lagen sie; Der Stein war weit hinweggewälzt vom Eingang; Und auf dem Rande saß, das Flügelpaar noch regend, Ein Engel, wie der Blitz erscheint, Und sein Gewand so weiß wie junger Schnee. Da stürzten sie, wie Leichen, selbst, getroffen, Zu Boden hin, und fühlten sich wie Staub, Und meinten, gleich im Glanze zu vergehn: Doch er, er sprach, der Cherub: ‚Fürchtet nicht! Ihr suchtet Jesum, den Gekreuzigten — Der aber ist nicht hier, er ist erstanden: Kommt her, und schaut die öde Stätte an.‘ Und fuhr, als sie, mit hocherhobnen Händen, Sprachlos die Grabesstätte leer erschaut, In seiner hehren Milde also fort: ‚Geht hin, ihr Frau’n, und kündigt es nunmehr Den Jüngern an, die er sich auserkohren, Daß sie es allen Erdenvölkern lehren, Und thun also, wie er gethan: und schwand. [sic!]

Die Perplexität kommt in diesem Gedicht durch die Erstarrungsvergleiche mit „Tothe[n]“ für die Grabwächter oder „Leichen“ für Maria und die sie begleitenden Frauen zum Ausdruck. Durch die Bewegung „zu Boden hin“ wird die eben erwähnte Kleinheit, durch „Staub“ ihre Geringheit ausgedrückt. Das Unsagbare erscheint dabei ebenso plötzlich („Blitz“) wie das dazu komplementäre „Stürzen“ der Frauen. Das erhabene Große ist in diesem Text das Übermenschliche in Gestalt des Engels (als der von Gott Gesandte oder Bote Gottes), aber auch die extreme Lichterscheinung, die die Frauen in Ehrfurcht erstarren lassen. Erst als der Cherub ihnen die Furcht nimmt, und sie bittet, sich selbst davon zu überzeugen, dass Jesus auferstanden sei, bewegen sie sich wieder, aber es setzt sogleich wieder eine teilweise Erstarrung ein – „mit hocherhobnen Händen, Sprachlos“ – als sie sich der Leerheit des Grabes aussetzen. Aus der perplexen Unsagbarkeit kann auch eine fundamentale Unsagbarkeit werden; das Verstummen ist in diesen Fällen keine asketische Übung im Sinne ei-

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nes Schweigegelübdes, sondern die spontan auftretende Unmöglichkeit über eine längere Zeitspanne zu sprechen. Ein Beispiel hierfür wäre Hugo von Hofmannsthals Chandosbrief: Mein Fall ist, in Kürze, dieser: es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte ‚Geist‘, ‚Seele‘ oder ‚Körper‘ nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgend welcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgend welches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze (Hofmannsthal 2000, 50f.).

Die fundamentale Unsagbarkeit stellt eine Kalamität dar, die im Zuge eines sich verstärkenden, autohermeneutischen Gewahrwerdens der Arbitrarität von Zeichen entsteht (Jäger 2007; Schwarz-Friesel 2005, 236ff.). Sie kann die Basis für einen Erkenntnisprozess sein (vgl. den folgenden Abschnitt über die erkannte Unsagbarkeit).

3.2 Erkannte Unsagbarkeit Die erkannte Unsagbarkeit kann in zwei Erscheinungen auftreten, der analytischen und der geschauten Unsagbarkeit. Die analytische Unsagbarkeit ist eine indirekte Bestimmung des Unsagbaren durch die Bestimmung des Sagbaren. Am meisten diskutiert ist dabei der „Tractatus“ von Ludwig Wittgenstein (1918/1966), der diese Grenze explizit markiert. So heißt es über die Aufgabe der Philosophie 4.115 Sie wird das Unsagbare bedeuten, indem sie das Sagbare klar darstellt. (ebd., 42)

Später wird das Sagbare auch aus der Sprache heraus abgegrenzt: 5.6 Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt. (ebd., 89; Herv. i. Orig.)

Dies bedeutet allerdings nicht, dass es Unsagbares nicht gebe: 6.522 Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische. (ebd., 115; Herv. i. Orig.)

Im Bereich des Religiösen findet man argumentative Diskurse dieser Art in der negativen Theologie um die Begriffe ‚apophatisch‘ (vgl. Habermann 2012, 13ff.), welches

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den unnennbaren Aspekt des Göttlichen darstellt, und ‚kataphatisch‘ (Keller 1998), welches die Offenbarung des Göttlichen in der Welt darstellt. Dieser Aspekt ist für den Menschen manifest und zugänglich und damit auch im Bereich des Sagbaren. Neben der analytischen Vorgehensweise zeigt sich im Bereich des Religiösen jedoch noch eine weitere Form der erkannten Unsagbarkeit, die nicht argumentativ vorgeht, sondern künstlerisch: Das Unsagbare ist erfahrbar, aber nicht theoretisierbar. […] Die Künste hingegen scheinen eine höhere Affinität zum Unsagbaren zu haben und bieten sich als Medien zu seiner Erfahrung an. (Habermann 2012, 13)

Nun wäre es eine vorschnelle Gleichsetzung und vielleicht auch eine Vereinfachung, künstlerische Expressivität mit einer ‚Sagbarkeit des Unsagbaren‘ gleichzusetzen. Im Folgenden soll aber gezeigt werden, dass im Bereich des Religiösen künstlerische Ausdrucksformen für das Unsagbare, insbesondere lyrische, narrative und metaphorische, aber auch bildnerische, musikalische und performative, eine bedeutende Rolle spielen und sich von der analytischen Unsagbarkeit durch die Art der Erkenntnisgewinnung unterscheiden, da sie nicht philosophisch-deduktiv erkannt wird, sondern in einer Art geistiger Schau, die etwa aus einer fundamentalen Unsagbarkeit (s. o.) erwachsen kann. Man kann sie daher auch geschaute Unsagbarkeit nennen. Auch die geschaute Unsagbarkeit kann daher als Ergebnis eines Erkenntnisprozesses verstanden werden, aus dem sich Aussagen anderer Art über das Unsagbare, gerade auch die medialitätsspezifische Unsagbarkeit ergeben – ob also Sprache insgesamt oder ein bestimmter Modus von Sprache oder bestimmte Kunstformen in bestimmter Weise geeignet oder ungeeignet sind, um das Unsagbare auszudrücken bzw. es zu konstituieren. Hier sieht Heimböckel (2003) die Kleist’sche Sprachskepsis als Vorläufer Hofmannsthals, die über Schillers Distichon: „Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr.“ hinausgehe (ebd., 341) In der Christusnovelle von Patrick Roth (2005) wird dies folgendermaßen ausgedrückt: „Ich weiß nicht, wie ihr das in Schrift fassen wollt. Es war einfach still.“ (ebd., 42) Aber auch in anderen kulturellen Kontexten wird diese Frage diskutiert. Im Diamantsutra etwa (Thích-Nhất-Hạnh, 2011) wird diese Rolle von Sprache explizit angesprochen: ‚Was denkst du, Subhuti, ist es möglich, den Tathagata anhand körperlicher Kennzeichen zu erfassen?‘ ‚Nein, Weltverehrter. Spricht der Tathagata von körperlichen Kennzeichen, so gibt es doch keine Kennzeichen, über die zu sprechen wäre.‘ Der Buddha sagte zu Subhuti: ‚Wo es etwas gibt, das durch Zeichen unterscheidbar ist, da gibt es Täuschung. Wenn du die zeichenlose Natur der Zeichen sehen kannst, dann kannst du den Tathagata sehen.‘ (ebd., Abs. 5, 13)

Diese Passage verweist bereits auf die in der Religionslinguistik vorgebrachte „trans-transzendete Positionierung“ (Liebert in diesem Band, „Religionslinguistik“),

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die Peter Fuchs (1989, 51) mit dem Ausdruck der „primordialen Differenzlosigkeit“ bezeichnet.

3.3 Normative Unsagbarkeit Während die perplexe Unsagbarkeit stark vom religiösen Erleben geprägt ist, besitzt die normative Unsagbarkeit Funktionen der Enkulturation, der Institutionalisierung und der Herrschaftsregulierung. Perplexe und normative Unsagbarkeit hängen somit zusammen, ohne dass dieser Zusammenhang hier ausgeführt werden kann. Jedoch erscheint in den Berichten (vgl. z. B. James 1997) das Erleben so intensiv, das Erhabene so wunderbar und mächtig, dass dies mit Unbeteiligten kaum geteilt werden kann – zumindest nicht, wenn dies im Rahmen gegenseitiger Anerkennung geschehen soll. Die Enkulturation der Alltagswirklichkeit versagt und bestenfalls kann ein religiöses Deutungsgefüge die Integration der Erfahrung übernehmen. Gebote und Verbote stellen also auch eine Möglichkeit dar, das Erleben von Erhabenem in seiner Qualität zu schützen und sich mit dem Erlebten in einem religiösen Deutungsrahmen neu zu enkulturieren. Die manipulative Nutzung zur Herrschaftsausübung ist darin allerdings ebenso angelegt wie eine sich verselbständigende Institutionalisierung, die Gebote und Verbote für den visuellen, sprachlichen, musikalischen oder allgemein künstlerischen Ausdruck verhängt. Insbesondere in der transzendenten Positionierung (Liebert in diesem Band, „Religionslinguistik“) mit ihrem Hang zur Ontologisierung des Jenseits besteht die Tendenz, Transzendentes mit dem Gebot der Verehrung zu umgeben, während dies in der non-transzendenten Positionierung (d. h. atheistischen, skeptischen oder gleichgültigen Haltungen) oder in der oben erwähnten trans-transzendenten Positionierung (ebd.) nicht der Fall ist. Der Inhalt der Verbote kann von Beleidigungen des Transzendenten bis zu dessen Nichtanerkennung oder auch dessen simplem Ignorieren variieren. Es ist naheliegend, dass innerhalb einer non-transzendenten Positionierung zunächst keinerlei Verbote in Bezug auf ein Transzendentes bestehen. Im Sinne eines guten Miteinanders kann aber auch in der non-transzendenten Positionierung eine Selbstbeschränkung erfolgen, etwa in der Anerkennung der Verletzbarkeit der religiösen Gefühle des Anderen oder sogar in der rechtlichen Institution eines entsprechenden Gesetzes, das die normative Unsagbarkeit von Religionen schützt. Ist dieses einmal eingeführt, kann es zu vielfältigen Konflikten mit anderen Prinzipien wie der freien Meinungsäußerung oder der wissenschaftlichen und künstlerischen Freiheit kommen, die religiöse Unsagbarkeiten unter Umständen verletzen. Diese Konflikte sind insbesondere dann vorhanden, wenn in bestimmten Religionen Meinungsfreiheit nicht priorisiert wird. Dann können auch einfache Verletzungen von normativen Unsagbarkeiten (‚Blasphemie‘) unter Todesstrafe gestellt werden, die sogar über den eigentlichen Machtbereich des religiösen Rechtssystems hinaus vollstreckt werden kann. Die religiöse Verfolgung des Schriftstellers Sir Ahmed Salman Rush-

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die oder die gewalttätigen Angriffe auf dänische und französische Karikaturisten zeigen, wie eine normative Unsagbarkeit in eine erzwungene Unsagbarkeit (vgl. dazu den folgenden Abschnitt) übergehen kann, und dass die durch globalisierte Medien ermöglichte staatenüber- und eingreifende informelle ‚Rechtsprechung‘ und ‚Strafverfolgung‘ im Bereich Religion ein enormes Gewalt- und Konfliktpotenzial bereithalten.

3.4 Erzwungene Unsagbarkeit Innerhalb der erzwungenen Unsagbarkeit gibt es verschiedene Typen: Erzwungene Unsagbarkeit meint zunächst alle Fälle, in denen Personen oder Institutionen mit Gewalt zum Schweigen gebracht werden, also die Unterdrückung oder Auslöschung des Nicht-Identischen. Im religiösen Kontext ist die erzwungene Unsagbarkeit des Nicht-Identischen sehr vielfältig. Zunächst sind die religiös gerechtfertigten, machtpolitisch elaborierten Formen von Gewalt zu nennen wie Folter, Verstümmelung oder Mord. Dies kann einzelne oder mehrere Personen, aber auch große, religiös stigmatisierte Gruppen betreffen. Darüber hinaus können auch Organisationen, insbesondere Schulen, Universitäten, Gerichte, Firmen, Theater, Zeitungen, Fernsehsender, Blogs oder andere Medien, als gesamte Organisation (oder ihre Funktionsträger) eliminiert und/oder umfunktionalisiert werden. Eine weitere Form der erzwungenen Unsagbarkeit stellt sozusagen das Gegenteil der ersten dar, da sie auf die Unterdrückung bzw. Blockierung des Identischen abzielt. Ein Beispiel ist der später noch zu diskutierende Zen-Buddhismus, in dem ein ‚Meister‘ einem Adepten auch einmal die Nase verdrehen oder ihn schlagen kann, damit dieser in seiner Ausdrucksbewegung innehält. Hier ist die Zielsetzung eine ganz andere, nämlich ein religiöses Streben, das im Rahmen eines vertrauensvollen Lehrer-Schüler-Verhältnisses unterstützt werden soll, und das auch mit Schockelementen arbeitet, um das Alltagsverständnis und die kulturelle Normalität zu erschüttern (vgl. dazu den nächsten Abschnitt). Zur erzwungenen Unsagbarkeit gehören auch meditative Praktiken, in denen die Meditierenden sich selbst das Sprechen oder auch das (verbale) Denken untersagen. Die darin liegende Paradoxie (vgl. Abschnitt 4) wurde früh erkannt, etwa von Seng-ts’an aus dem 5./6. Jahrhundert, dem sogenannten ‚3. Patriarchen des Zen‘: Wenn du versuchst, deine Geschäftigkeit zu beenden, um Ruhe zu erreichen, dann ist dieser Versuch auch nur ein weiterer Teil deiner Geschäftigkeit. (Seng-Ts’an 2001, dt. Übersetzung W.-A. L.).

Auch wenn diese Paradoxie bekannt ist, sind religiöse Schweige- und Rückzugspraktiken bereits in den ältesten Religionen bekannt und haben sich bis heute erhalten. Am bekanntesten dafür sind die Mönchsklausen (vgl. Luhmann/Fuchs 1989) oder die heute weit verbreiteten ‚Schweigeretreats‘, also längere Phasen des

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Nichtsprechens in Verbindung mit religiösen Praktiken. Die erzwungene Unsagbarkeit ist Kernbestandteil der meisten religiösen Selbstpraktiken. Die Expressivität wird dabei durch rituelle Bewegungen reguliert, oder diese werden gänzlich zum Erstarren gebracht wie im folgenden Beispiel „Machigs letzte Lehrrede“ der tibetischen Yogini Machig Labdrön aus dem Vajrayana-Buddhismus des 11. Jahrhunderts: Alle Körperaktivitäten beenden – Verharre wie ein aufgeschnittener Strohballen. Jegliches Sprechen und Denken beenden – Verharre wie eine Laute mit durchgeschnittenen Saiten. Jegliche geistige Aktivität vollständig einstellen – Das ist Mahāmudrā. (Edou 1996, 167, dt. Übersetzung W.-A. L.)

Der Sinn dieser Meditationen bzw. Exerzitien liegt dabei nicht auf einer normativen oder moralischen Ebene, sondern im Versuch, eine Bereitschaft für die Differenzlosigkeit herzustellen, die im folgenden Abschnitt erläutert wird.

4 Die Expressivität des Unsagbaren Während oben verschiedene Aspekte bzw. Spielarten von Unsagbarkeit einzeln thematisiert wurden, zeigt sich Unsagbarkeit im Bereich des Religiösen als komplexes Phänomen, in der viele Spielarten beteiligt sein können. Diese sollen nun anhand verschiedener Beispiele diskutiert werden. Zunächst soll es um die bekannte Erzählung über den Untergang von Sodom und Gomorra und die Errettung Lots gehen, in der Unsagbarkeit in der Verwandlung von Lots Frau zur Salzsäule personifiziert wird. Dann sollen Beispiele untersucht werden, in denen das Unsagbare als Sprecher auftritt. Des Weiteren werden Textstellen untersucht, in denen das Unsagbare als Namenloses dargestellt wird, und schließlich wird es um das Unsagbare als Ausgangspunkt und Ziel von spirituellen Bemühungen v. a. im Zen-Buddhismus gehen, in denen Unsagbarkeit als Differenzlosigkeit betrachtet wird.

4.1 Sodom und Gomorra: Über die Deutung von Gleichnissen und die Unsagbarkeit als innere Quelle In der Narration der Genesis wird von zwei ‚sündigen‘ Städten erzählt, Sodom und Gomorra. Die Sünden bestehen nun nicht einfach in sexuellen Verfehlungen, sondern in einer generellen Verrohung bis hin zu einer Gewaltkultur (vgl. Knauf 2007), was auch in drastischer Weise dargestellt wird: So werden die beiden Engel, die Lot in sein Haus aufnimmt, von den Sodomitern nicht erkannt und für Fremde gehalten. Als wütender Mob sind sie dabei, die Tür aufzubrechen, um sowohl die Fremden als

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auch Lot, selbst kein Zugereister, zu vergewaltigen. Die Engel schützen Lot und sein Haus durch ein Wunder und teilen ihm mit, dass Sodom und Gomorra vernichtet werden sollen. Lot und seine Familie müssen geradezu zur Flucht gedrängt werden, da sie dies nicht glauben können. Die potenziellen Schwiegersöhne der beiden Töchter Lots bleiben wegen ihres Unglaubens auch zurück. Lot, seine Frau und seine beiden Töchter fliehen mit der (nicht näher begründeten) Auflage, weder stehenzubleiben, noch sich zur Stadt umzusehen. Lots Frau hielt sich nicht daran und wurde in eine Salzsäule verwandelt: Und Lots Frau sah hinter sich und ward zur Salzsäule. (Gen 19,26)

Der auch in der Alltagssprache geläufige Phraseologismus „zur Salzsäule erstarren“ übernimmt aus der Bibelerzählung den Aspekt des plötzlichen Einhaltens aller Ausdrucksbewegungen. Das Bild der Salzsäule in der Genesis enthält darüber hinaus allerdings noch viele weitere Aspekte, denn es stellt den größtmöglichen Gegensatz zur menschlichen Ausdrucksbewegung dar: ein Bild der Leblosigkeit und der endgültigen, kristallinen Erstarrung durch den physisch unmöglichen Wechsel aus dem organischen in den anorganischen Bereich. Hierbei ist eine gängige Interpretation, diese Erzählung sei als Bestrafung Gottes der Unfolgsamkeit der Frau Lots zu sehen. Es wäre mithin eine – in diesem Fall vom Mosaischen Gott – erzwungene Unsagbarkeit, getan durch die Allmacht Gottes, der auch Naturgesetze aufheben kann. Häufig findet man auch moralische Interpretationen, etwa, man solle nicht an der Vergangenheit festhalten. In der Bibel selbst wird diese Erzählung mehrfach angesprochen, ausführlich in ‚Die Weisheit Salomons‘ (Weish). Die ‚Weisheit‘ bezieht sich explizit auf Gen 19, verweist jedoch auf einen gleichnishaften Charakter dieser Passage, wie sie auch in den meisten Formen der Bibelexegese angenommen wird (Bitter 2006). Im Kapitel „Das rettende Walten der Weisheit von Adam bis Mose“ wird das Prinzip der Weisheit als göttliches Prinzip eingeführt und dabei auch auf die Errettung Lots und seiner Familie aus Sodom und Gomorra Bezug genommen: 6 Die Weisheit rettete den Gerechten, als er beim Untergang der Gottlosen vor dem Feuer floh, das auf die fünf Städte herabfiel. 7 Von ihrer Bosheit zeugen noch heute rauchendes und ödes Land, Bäume, die zur Unzeit Frucht bringen, und eine Salzsäule, die dasteht als Denkmal einer ungläubigen Seele. 8 Denn sie achteten die Weisheit nicht und hatten danach nicht nur den Schaden, dass sie das Gute nicht erkannten, sondern hinterließen den künftig Lebenden auch noch ein Denkmal ihrer Torheit, damit ihr Irrtum keinesfalls verborgen bliebe. 9 Die Weisheit aber errettete die aus allen Nöten, die ihr dienen. (Weish 10,6–9)

Durch die hier angelegte, gleichnishafte Deutung kommt noch eine ganz andere Art von Unsagbarkeit zum Vorschein, die nur im Bereich des Religiösen zu finden ist. Bevor nun die in dieser Geschichte angesprochene Unsagbarkeit als Gleichnis diskutiert wird, muss zunächst bemerkt werden, dass der Status und Umgang mit

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Gleichnissen in der Theologie und Literaturwissenschaft umstritten ist. Erlemann (2014, 22) versteht Gleichnisse „als fiktionale Erzählungen, die bestimmte Eigenschaften mit der Metapher gemeinsam haben“ (ebd., 22). Sie sind „allesamt fiktionale Texte: Ihr Inhalt ist erfunden, auch wenn er auf historischen Erfahrungen gründet“ (ebd., 37). Außerdem weisen sie einen „bleibenden Sinnüberschuss“ (ebd., 24) sowie eine „Pointe als Zielgedanken der Gleichnisse“ (ebd., 24) auf. Abgelehnt wird dagegen eine allegorische Deutung (ebd., 38ff.). Damit wird eine Dichotomie des Fiktionalen und Faktischen angenommen, religiöse Gleichnisse dem fiktionalen Bereich zugesprochen. Einen anderen Ansatz wählt Halbfas (2011) (vgl. zu dieser Diskussion auch Loose 2014, insb. 124ff.). Halbfas sieht im religiösen Gleichnis eine 3. Ebene, die jenseits eines propositionalen oder fiktionalen Modus liegt, und die man als das ‚Leben aus dem Unsagbaren‘ bezeichnen kann. Seine aus dem Hinduismus herrührende Metapher dafür ist das „3. Auge“, das es seiner Ansicht nach zu entwickeln gelte. Es ist hier nicht der Ort, die Angemessenheit dieser Metaphorik zu diskutieren, hier ist relevant, dass er eine 3. Ebene neben Fiktionalität und Faktizität einführt. Hierzu kann er an die Bibelexegese nach Ambrosius von Mailand anschließen. Dieser unterscheidet mit dem historicus (literalis), mysticus und moralis einen dreifachen Schriftsinn (vgl. Bitter 2006). Im Mittelalter wurde dies auf einen vierfachen Schriftsinn erweitert, in der heutigen Bibelexegese spielt die drei- oder vierfache Sichtweise kaum noch eine Rolle (vgl. Erlemann 2014). Der Ansatz von Halbfas wird daher in der Religionspädagogik unter dem Stichwort „Symbolhermeneutik“ zumindest thematisiert (vgl. Loose 2014, 124ff.). Während sich die Deutung des literalen Schriftsinns bis heute erhalten hat – in fundamentalistischer Sicht als unmittelbare, unhinterfragbare, buchstabengetreue Wahrheit, in aufgeklärter Sicht als historisch-kritische Textarbeit – ist es vor allem der ‚moralische Sinn‘, der den Ansatzpunkt für Deutungen in Predigten liefert. Eine Deutung nach dem ‚mystischen Schriftsinn‘ ist lediglich vereinzelt zu bemerken. Daher kommt dem Ansatz von Halbfas auch eine besondere Bedeutung zu. Mystisch heißt hier, dass das Unsagbare als unmittelbar mit dem Menschen verbunden angelegt ist und darauf wartet, freigelegt zu werden. Betrachtet man das Gleichnis von Lots Frau unter einer in diesem Sinne verstandenen Deutungsperspektive, dann wäre das Unsagbare demzufolge die Quelle der Expressivität, die durch das Ausrichten auf das Vergängliche der Erscheinungen zum Versiegen gebracht bzw. gefiltert werden kann. Die Abkehr vom Unsagbaren führt so dazu, dass der zur vergänglichen Welt Gekehrte spricht, ohne (im religiösen Sinn) zu sprechen und hört, ohne (im religiösen Sinn) zu hören. In diesem Sinne geht es in der Geschichte von Sodom und Gomorra weniger um die Propagierung eines bestimmten Sittenmodells, ja noch nicht einmal um die Folgsamkeit im engeren Sinne, sondern um die Richtung der Aufmerksamkeit: Während sie im Alltagsleben auf die Welt der Erscheinung gerichtet ist, soll sie im Religiösen nach innen, auf das Erleben und das Zentrum des Erlebens gerichtet werden. Diese ‚Umkehr‘ oder ‚Bekehrung‘ im Sinne eines Umwendens nach ‚innen‘ d. h. auf das Erleben, wird in vielen Religionen thematisiert.

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Es kann nur von jedem Einzelnen selbst durch seine eigene ‚Umkehr‘ getan werden. Geschieht diese innere Umkehr, so kann die Ausdrucksbewegung aus dem Unsagbaren heraus entstehen, wird aus der Quelle des Unsagbaren gespeist. Verbleibt die Aufmerksamkeit auf den Erscheinungen, so erstarrt man im Starren auf die Erscheinungen bis eine Umkehr nicht mehr möglich ist.

4.2 Das Unsagbare als Sprecher und Hörer In der eben angesprochenen, ‚mystischen‘ Sichtweise, in der das Unsagbare als innere Quelle erscheint, ist es auch nicht verwunderlich, dass das Unsagbare als Sprecher auftreten kann. In einem Lehrgespräch – es wäre lohnend, die Gemeinsamkeiten zwischen einem Gleichnisgespräch und einem zen-buddhistischen Mondo (s. u.) oder auch einem Satsang (s. u.) herauszuarbeiten – im nicht-kanonischen, gnostischen Thomas-Evangelium wird dies deutlich. (1) Jesus sprach zu seinen Jüngern. „Vergleicht mich (und) sagt mir, wem ich gleiche.“ (2) Simon Petrus sprach zu ihm: „Du gleichst einem gerechten Boten.“ (3) Matthäus sprach zu ihm: „Du gleichst einem (besonders) klugen Philosophen.“ (4) Thomas sprach zu ihm: „Lehrer, mein Mund es ganz und gar nicht zu ertragen zu sagen, wem du gleichst.“ (5) Jesus sprach: „Ich bin nicht dein Lehrer. Denn du hast getrunken, du hast dich berauscht an der sprudelnden Quelle, die ich ausgemessen habe.“ (Nag Hammadi, Das Evangelium nach Thomas (NHC II,2), 128)

Als Thomas versucht, der Aufforderung anzukommen und einen Vergleich zu ziehen, versagt er unter Qualen. Dieses kommunikative Versagen führt aber gerade zur Anerkennung des Thomas durch Jesus als eines Gleichen, der das Lehrer-JüngerVerhältnis hinter sich gelassen hat. Die hier angesprochene Quellenmetaphorik wird später aufgegriffen und auch gedeutet: Jesus spricht: „Wer von meinem Mund trinken wird, wird werden wie ich. (2) Ich selbst werde zu ihm werden, (3) und was verborgen ist, wird sich ihm offenbaren.“ (Nag Hammadi, Das Evangelium nach Thomas (NHC II,2), 139)

Durch diese zweite Passage wird nun die zuvor zitierte verdeutlicht, dass nämlich Thomas zu Jesus geworden ist („Ich selbst werde zu ihm werden“) und das Unsagbare sich als „sprudelnde[…] Quelle“ durch ihn ausdrückt. Dieser neue kommunikative Modus – ein Hybrid aus Ethnonarration und poetischem Sprechen – bildet eine Sprache der Verständigung, die die Aktivierung eines bestimmten Modus des Verstehens voraussetzt. Dieser Modus zeigt sich im Sprechen, vor allem aber im Hören. Dazu führt der indische Weise Sri Nisargadatta Maharaj den Begriff des ‚intuitiven Hörens‘ (Balsekar 2007, 190) ein. Der kommunikative Kontext ist ein so genanntes ‚Satsang‘. In der indischen Advaita-Tradition ist dies ein informelles Gespräch zwischen einem Jnani, was etwa mit ‚Weiser‘ übersetzt werden kann, und ‚Schülern‘

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oder interessierten Zuhörern. Im Gegensatz zu institutionalisierten Religionen ist dieses Verhältnis jedoch informell, d. h. es gibt kein Ritual und auch keine formellen Riten etwa der Aufnahme, des Bekennens etc. Ab den 1980er Jahren wurden diese Satsangs auch zunehmend von Personen aus westlichen Staaten besucht. Bei den Aufzeichnungen Ramesh Balsekars (2007) handelt es sich nicht um die Transliteration von Tonbandaufnahmen, sondern um Aufzeichnungen, die er als langjähriger Begleiter Nisargadattas gemacht hat; man kann ihnen daher den Status einer autoethnographischen Quelle zuerkennen. Der Begriff des ‚intuitiven Hörens‘ wird von Nisargadatta aus einer trans-transzendenten Positionierung folgendermaßen begründet: Ich frage mich (…), ob Ihnen diese Worte wirklich etwas zu sagen vermögen; oder sind es nur Worte für Sie? (…) Sie opfern hier Ihre Zeit, sitzen auf dem Fußboden, was die meisten von Ihnen nicht gewohnt sind, und hören meinen Worten sicherlich aufmerksam zu. Doch Sie müssen verstehen, dass ohne eine bestimmte Art von Empfänglichkeit Worte nur einen sehr begrenzten Zweck erreichen können. (…) Was ist nun diese besondere Art von Empfänglichkeit? (…) jegliches Interesse daran aufzugeben, durch das Zuhören ein ‚besseres‘ Individuum zu werden und darauf zu hoffen, durch ‚Bemühungen‘ einen wahrnehmbaren Fortschritt zu erzielen. (Balsekar 2007, 189–190, Herv. i. Orig.)

Diese Aufforderung unterläuft die Interessen der meisten Anwesenden, die moralische und spirituelle Fortschritte erzielen wollen. Dieses Interesse muss jedoch in dieser Sichtweise – wie auch immer – aufgegeben werden, um zu dem oben ausgeführten ‚intuitiven Hören‘ oder – um den Ausdruck aus dem Thomas-Evangelium aufzunehmen – zum ‚offenbarenden Hören‘ zu gelangen.

4.3 Unsagbarkeit als Unnennbares – „ich“ als Eigenname Gottes Die Namensnennung oder eben auch -nichtnennung spielt im Bereich der Religion eine besondere Rolle. Verschiedene Kulturen haben dazu eine Vielzahl von normativen Umgängen entwickelt, die hier nicht thematisiert werden sollen. Vielmehr soll die Namenproblematik auf der Basis von Selbstthematisierungen in heiligen Schriften der Weltreligionen behandelt werden. Dabei soll auf das taoistische Tao Te King, die altindischen Upanishaden, das Alte Testament und schließlich auf eine Schrift der Nag-Hammadi-Bibliothek eingegangen werden. Im Tao Te King gibt es eine Vielzahl von Stellen, in denen über das Unsagbare gesprochen wird. So heißt es im Tao Te King zu Beginn: Das Tao, das sich aussprechen läßt, ist nicht das ewige Tao. Der Name, der sich nennen läßt, ist nicht der ewige Name. ‚Nichtsein‘ nenne ich den Anfang von Himmel und Erde. ‚Sein‘ nenne ich die Mutter der Einzelwesen.

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Darum führt die Richtung auf das Nichtsein zum Schauen des wunderbaren Wesens, die Richtung auf das Sein zum Schauen der räumlichen Begrenztheiten. Beides ist eins dem Ursprung nach und nur verschieden durch den Namen. In seiner Einheit heißt es das Geheimnis. Des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis ist das Tor, durch das alle Wunder hervortreten. (Laotse 1978, 41)

Es wird hier nach der Ausgabe von Richard Wilhelm (Laotse 1978) zitiert, allerdings wurde die Wilhelm’sche Übersetzung von Tao mit „SINN“ zugunsten der Belassung des Ausdrucks Tao geändert, da „Sinn“ – auch in Majuskeln gesetzt – gegenüber „Tao“ einen deutlich eingeschränkteren Begriffsumfang aufweist. Ansonsten wird die Schreibweise Wilhelms auch angesichts einer andauernden Diskussion darüber übernommen, da sie zum einen vertretbar und zum anderen weit verbreitet ist. Im zitierten Vers wird nicht einfach die Unmöglichkeit, das Tao auszusprechen, behauptet, sondern vielmehr macht das Aussprechen durch seine Unterscheidungsoperation den Versuch, die Idee eines Ununterschiedenen auszusprechen, durch den sprechenden Vollzug unmittelbar zunichte. Ein Eigenname, wie wir sie aus dem antiken oder auch germanischen Götterhimmel kennen, der das Tao als eines gegenüber einem anderen ausweisen würde, ist in dieser Sichtweise somit unmöglich. Wenn es daher um Eigennamen für das Unsagbare geht, werden lediglich unwirksame Eigenamengebungsakte vollzogen (vgl. dazu Wimmer 1979). So wird in den Upanishaden das Personalpronomen „ich“ als der erste Eigenname eingeführt: Am Anfang war hier nur das Selbst; es war wie ein Mensch. Es blickte um sich und sah nichts anderes als sich selbst. „Das bin ich“, war sein erstes Wort. Daher erhielt es den Namen „Ich“. Darum sagt auch jetzt jemand, der begrüßt worden ist, zuerst, „ich bin der“ und nennt dann den anderen Namen, den er führt. Aus: Brihad-Âranyaka-Upanishad, Gedanken über die Entstehung der Schöpfung aus dem Âtman (Hillebrandt 1958, 52).

Im weiteren Verlauf der Brihad-Âranyaka-Upanishad teilt sich das Selbst dann zunächst in zwei und dann immer weiter, bis alle Dinge der Welt entstanden sind. In dieser Sichtweise ist das „Ich bin“ also die Formel, die auch in alltäglichen Kommunikationsvollzügen, etwa des Sich-jemandem-Vorstellens, auf den ersten Ursprung verweist und die Vielzahl der Erscheinungen damit verbindet: Das (Selbst) ist (in alles) bis in die Nagelspitzen eingegangen. Wie das Messer in der Scheide verborgen liegt, wie das Feuer im Reibholz, so nimmt man es nicht wahr. Denn es ist zerteilt. (ebd., 53)

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Im Lehrgespräch wird diese Formel dann in der Cândogya-Upanishad umgekehrt als „tat twam asi“, d. h. „Das bist du.“ (vgl. Hillebrandt, 116ff.; neben der hier verwendeten, von Arthur Schopenhauer eingeführten und im Duden angegebenen Schreibweise findet sich im deutschen Sprachraum auch die aus dem Englischen als Lehnübersetzung übernommene Schreibweise „tat tvam asi“). Das Personalpronomen ‚ich‘ spielt auch im Alten Testament eine zentrale Rolle, als die Ichheit einem infiniten Regress unterworfen wird. Es handelt sich um das Tetragramm YHVH, das im zweiten Buch Mose (Exodus) eingeführt wird (vgl. Becking 2006 sowie Diesel 2006). Dabei gibt es große Unsicherheiten der Übersetzung, so dass in verschiedenen Bibeln auch verschiedene Textfassungen zu finden sind, die sich in der Bedeutung stark unterscheiden. Dabei besteht ein Konsens, dass das Personalpronomen ‚ich‘ in der Verdoppelung ebenso eine Rolle spielt wie das Verb ‚sein‘. Offen ist aber u. a., welches Tempus angesetzt werden kann, Präsens oder Futur? So wird in der Lutherbibel 2017 (Ex 3,14) eine futurische Interpretation vorgenommen: 13 Mose sprach zu Gott: Siehe, wenn ich zu den Israeliten komme und spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt!, und sie mir sagen werden: Wie ist sein Name?, was soll ich ihnen sagen? 14 Gott sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde. Und sprach: So sollst du zu den Israeliten sagen: »Ich werde sein«, der hat mich zu euch gesandt. (Ex 3,13f.)

Die englischen Fassungen unterscheiden sich in zwei interessanten Punkten. Zum einen wird das Tempus durchgehend im Präsens gehalten, zum anderen wird statt des personalen ein sächliches Relativpronomen gewählt. In der King James Bibel (ähnlich auch in der englischen Standardbibel) heißt es: 13 And Moses said unto God, Behold, when I come unto the children of Israel, and shall say unto them, The God of your fathers hath sent me unto you; and they shall say to me, What is his name? what shall I say unto them? 14 And God said unto Moses, I AM THAT I AM: and he said, Thus shalt thou say unto the children of Israel, I AM hath sent me unto you. (Ex 3,13f.)

Von der Übersetzung dieser Formel „Ich bin das ich bin.“ soll im Folgenden ausgegangen werden. Auf den ersten Blick erscheint die Formel tautologisch, jedoch zeigt die grammatische Analyse, dass die Konstruktion komplexer ist. Das zu erwartende Prädikatsnomen wie z. B. in ‚Ich bin Thomas.‘ oder ‚Ich bin ein Tunichtgut.‘) wird durch einen Satz realisiert. Dies ist nicht unüblich, wenn man an Sätze denkt wie ‚Ich bin der, der die ganze Arbeit machen muss.‘ Im semantischen Muster ‚X ist Y ‚‘, ist Y etwas, das X spezifiziert. Zwar ist eine Tautologie auch in der Alltagssprache möglich (z. B. ‚Nein heißt nein.‘), diese wird aber als Beharrung, Bestätigung oder Bekräftigung interpretiert. „Ich bin das ich bin“ oszilliert dadurch, dass die Suche nach dem Spezifischen, das es möglich machen würde, Gott zu bestimmen, zurückgeworfen wird auf das zu Bestimmende und so der Versuch, das „Ich bin“ und damit Gott zu spezifizieren, ins Leere läuft. Als Name, den Moses schließlich weiterge-

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ben soll, wird „Ich bin“ genannt. Es besteht hier also eine deutlich Parallele zur Namensgebung in der erwähnten Brihad-Âranyaka-Upanishad. Das Unsagbare als Namenloses und Unbenennbares wird auch in der „Apokalypse des Jakobus“ (NHC V,3) thematisiert. Hier spricht Jesus im „Karwochengespräch“ zu Jakobus: Und (nun) höre! Nichts existierte außer dem Seienden. Er ist unbenennbar und unaussprechlich. Auch ich bin ein Unbenennbarer aus dem Seienden. (…) Ich aber, [ich] existiere vor dir. (Nag Hammadi, Apokalypse des Jakobus (NHC V,3), 305)

In dieser Stelle spielt zunächst das Unsagbare als Quelle eine Rolle, die das „Seiende“ als „unbenennbar“ und „unaussprechlich“ ausweist. Dann setzt die Ich-Rede Jesu an, der vom Unsagbaren nicht verschieden ist. Das Unsagbare tritt in der Sprecherrolle auf. Rätselhaft bleibt die präpositionale Gruppe „vor dir“. Diese ist grundsätzlich lokal und temporal interpretierbar. Hier ist jedoch ersichtlich, dass es sich unabhängig von dieser Entscheidung weder um eine im konventional-wörtlichen Sinn lokale, noch eine temporale Interpretation handeln kann, sondern dass – im Sinne einer kooperativen Umdeutung (Grice 1975) – „vor dir“ in lokaler Lesart als ‚jenseits aller Räumlichkeit‘ und in temporaler Lesart als ‚jenseits aller Zeitlichkeit‘ gelesen werden kann. Mithin soll dies mit Verweis auf den nächsten Abschnitt als „PräDifferenziertes“ (Fuchs 1989) interpretiert werden.

4.4 Das Unsagbare als Prä-Differenziertes – oder das Verpuffen des Sprechers 4.4.1 Das Differenzierte – Salzsäulen, Leichen In diesem Abschnitt soll das Unsagbare als „Prä-Differenziertes“ im Anschluss an Peter Fuchs (1989) thematisiert werden. Während es bei Fuchs vor allem um die Lehrgespräche im Zen-Buddhismus (‚mondo‘) geht, sollen im Folgenden auch Bezüge zu anderen religiösen Traditionen hergestellt werden. Betrachtet man die Sprache des Zen-Buddhismus allgemein, so fällt neben dem oft rüden Umgangston, paradoxer Kommunikation, einer Abwertung von elaboriertem Gedankengut auch eine Sprache des Todes für die Lebenden auf. Letztere wird aber auch in der gnostisch-christlichen Literatur verwendet: (1) Jesus spricht: ‚Wer die Welt erkannt hat, hat den Leichnam gefunden. (2) Wer aber den Leichnam gefunden hat, dessen ist die Welt nicht wert.‘ (Nag Hammadi, Das Evangelium nach Thomas (NHC II,2), 136)

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Während die buddhistische Leichenmetaphorik direkt auf die Traum- bzw. Schattenmetaphorik der Existenz in der Diamant-Sutra (Thích-Nhất-Hạnh 2011, 46) verweist, zeigt das Zitat aus dem Nag Hammadi den weiteren Wirkungskreis der Desillusionierungsmetaphorik (Liebert 2015). Wie oben am Beispiel der zur Salzsäule erstarrten Frau Lots steht das Bild der Welt als Leichnam für ein Erstarren der Expressivität des Unsagbaren, die überwunden werden muss. Nur der, der nicht stehenbleibt im Prozess der Umwandlung, kann ein Lebender genannt werden bzw. das ‚ewige Leben‘ gewinnen. Weiterhin finden sich viele Angriffe gegen das Sprechen, Denken und Begriffe im Allgemeinen (vgl. z. B. Sawaki 2005; Huang-Po 1997). Auf den ersten Blick ist man daher versucht, dies als eine antirationalistische Religion, die hinter die Aufklärung zurückfällt, einzuordnen. Auf den zweiten Blick eröffnet sich mit den Lektüren von Fuchs (1989) und Vogt (in diesem Band) allerdings die Aussicht auf ein radikales Denken, das sich in Paradoxien zeigt und daher Anschlüsse an bestimmte Formen der Mystik, der Gnosis und der Philosophie (z. B. bei Kierkegaard 1967) bereithält. Dazu werden zwei grundsätzliche Wissensarten unterschieden: eine differenzierte Wissensart, die mit der erwähnten Metaphorik des hiesigen Lebens als Leichen oder Salzsäulen sowie mit sprachlich-begrifflichem Denken einhergeht, und eine differenzlose Wissensart, die durch die oben beschriebene Expressivität des Unsagbaren gekennzeichnet ist.

4.4.2 Das Differenzlose Peter Fuchs (1989) entwickelt eine Reihe von Synonymen, um das Differenzlose zu bezeichnen. Dazu gehören – in lemmatisierter Form – das „Zweitlose“ (ebd., 46), „primordiale Nichtzweiheit“ (ebd., 48), das „Prä-Differentielle aller Differenzen“, „primordiale Nichtunterschiedenheit“ (beide ebd., 50), „Zweitlosigkeit“ (ebd., 53, 55) sowie „Nichtzweiheit“ (ebd., 55), also Ausdrücke, die das Unsagbare bezeichnen und eine trans-transzendente Positionierung anzeigen (Liebert in diesem Band, „Religionslinguistik“). In dieser Sichtweise stellt Sprache Prototyp und Exempel des Differenten dar: Schärfer noch als der Differenzgebrauch in Wahrnehmung, Referenz und Beobachtung verhindert Sprache, verhindert Kommunikation Satori. Denn ohne Differenzgebrauch (und ohne komplexen Gebrauch) geschähe weder Sprache noch Kommunikation. Schweigen wäre mithin die angemessene Form des Umgangs mit Zweitlosigkeit. (Fuchs 1989, 53)

Um das Zitat zu verstehen, muss man wissen, dass der Ausdruck „Satori“ hier übersetzt werden kann mit ‚Erwachen‘ (aus dem ‚Leichendasein‘), was dem christlichen Motiv von Tod und Auferstehung (in diesem Leben) entspricht. Oben wurde bereits auf die Vielzahl der Thematisierung des ‚Sprachproblems‘ im Zen-Buddhismus hin-

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gewiesen. Aber auch in der gnostisch-christlichen Literatur findet sich ein Hinweis auf diese Grenzen: Wehe euch auf Grund des Rades, das sich im Kreise dreht – in euren Gedanken! (Nag Hammadi, Das Evangelium nach Thomas (NHC II,2), 212)

Wenn nun Sprache als Differenzsystem versagt, um das Unsagbare auszudrücken – wie kann dies dann einem Lehrgespräch wie dem ‚mondo‘ vollzogen werden? Fuchs (1989) meint, dies zwinge zu einer „kommunizierten Kommunikationsverweigerung im Zen-Buddhismus“ (ebd., 53), zu einer paradoxen Kommunikation, also „Operationen, deren Vollzugsbedingungen zugleich die Bedingungen der Unmöglichkeit ihres Vollzugs sind“ (ebd., 54). Daraus folgert Fuchs, Differenzlosigkeit sei „weder durch Referenz noch durch Beobachtung und nicht einmal durch Erkennen erreichbar“ (ebd., 55): Weder deduktiv noch induktiv noch mit irgendeinem rationalen Denkmittel läßt sich diese Paradoxie aus der Welt schaffen. […] Deshalb kann Zen nicht begrifflich operieren, deshalb löscht jeder differentiell gesteuerte Realitätskontakt aus, was Zen sucht. […] Die Frage ist, wie es zugeht, daß Unzugängliches kommunikativ bewegt werden kann. (Ebd., 57)

Das didaktische Ziel in einem trans-transzendenten Lehrgespräch wie dem ‚mondo‘ liegt dann darin, den Schüler zu einem ‚Sprung‘ aus dem Differenzsystem zu bewegen. Das eben genannte, bevorzugte Mittel der Paradoxie soll ihn in eine qualvolle Denkschleife stürzen: Die Folge dieses Gebrauchs ist, daß der Schemabenutzer im Schema gefangen wird und zwischen den Schemaseiten unaufhörlich hin- und herjagt, weil jede Position die Negation und jede Negation die Position impliziert. Die Zen-Paradoxie liegt darin, daß jeder Versuch, Differenzlosigkeit zu beobachten, im Moment des Versuchs Differenzlosigkeit aufhebt. (Ebd., 54)

Ein weiteres Mittel ist der im Abschnitt erzwungene Unsagbarkeit erwähnte Schock, der durchaus auch Handgreiflichkeiten bedeuten kann: Man kann ferner sehen, daß diese Kommunikation auf Schock angelegt ist oder, wenn man so will, auf das Durchschlagen des dualistischen Knotens. Die Rolle des Meisters besteht offenbar darin, den Schüler durch immer neue Irritationen an seinen bursting point heranzuführen. […] Er zerbricht sich den Kopf im Rahmen einer Paradoxie, und es dauert gewöhnlich lange, ehe er bemerkt, daß buchstäblich das Zerbrechen des Kopfes der Ausweg, die Lösung des Koans ist. (Ebd., 61f.).

Schließlich ist noch ein weiteres Mittel bekannt, das als Frontalangriff bezeichnet werden kann, und das auf die Radikalität der Umkehr hinweist: Jesus sprach zu ihnen: „Wenn ihr die zwei zu einem macht und wenn ihr das Innere wie das Äußere macht und das Äußere wie das Innere und das Obere wie das Untere, – (5) und zwar damit ihr das Männliche und das Weibliche zu einem einzigen macht, auf daß das Männliche

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nicht männlich und das Weibliche nicht weiblich sein wird – (6) wenn ihr Augen macht anstelle eines Auges und eine Hand anstelle einer Hand und einen Fuß anstelle eines Fußes, eine Gestalt anstelle einer Gestalt, (7) dann werdet ihr eingehen in [das Königreich].“ (Nag Hammadi, Das Evangelium nach Thomas (NHC II,2), 129)

Das „Eingehen in das Königreich“ ist eine Beobachtung ohne Beobachter, wofür Fuchs das Verb „nichtbeobachten“ kreiert: Entweder Satori wird nichtbeobachtet (es kann keinen Beobachter geben), oder es stürzt aus aller Erreichbarkeit. (Ebd., 56)

Was beim Wegfall eines Beobachters oder eines Sprechers bleibt, ist Unsagbarkeit, die zur Expressivität des Unsagbaren führt und Lots Frau von der Salzsäule zum Leben erweckt. In der gnostisch-christlichen Literatur verweist dies nicht auf den Vater, sondern auf den Vor-Vater: Dies aber [ist ein Anfang] des Wissens: Der Herr des [Alls] wird in Wahrheit nicht ‚Vater‘ genannt, sondern ‚Vorvater‘, denn der Vater ist der Anfang derer, die durch ihn kommen. Der anfangslose Unendliche aber ist der Vorvater – damit wir ihm Gnade erweisen mögen durch seinen Namen, denn (eigentlich) wissen wir nicht, wer er ist. (Nag Hammadi, Eugnostos (NHC III,3; V,1), 252)

Das Prä-Differentielle wird hier als Vor-Vater, der „anfanglose Unendliche“ (vgl. dazu das Konzept des ‚Parabrahman’ von Nisargadatta, Balsekar 2007, passim), angesprochen, von dem wir nichts wissen können und uns daher mit dem Namen ‚Vor-Vater‘ begnügen müssen und dürfen (vgl. dazu die Praxis des ‚NembutsuSagens’, der Amida-Anrufung, im Jodo-Buddhismus, Okochi/Otte 1979).

5 Zusammenfassung Das Unsagbare in einer trans-transzendenten Positionierung wie dem ZenBuddhismus kann als das „Prä-Differentielle aller Differenzen“ (Fuchs 1989, 50) betrachtet werden. Der trans-transzendenten Positionierung ist die Wissensart des Differenzlosen zugänglich, der transzendenten und der non-transzendenten Positionierung nicht. Der Wissensart des Differenzlosen entspricht auch eine andere Art der Kommunikation, die als Expressivität des Unsagbaren bezeichnet wurde. Diese Kommunikation aus dem Unsagbaren als Differenzlosem ist aber nicht der Alltagsmodus der Kommunikation; vielmehr wird letztere als unwirklich und erstarrt betrachtet. Um den Zugang zur Wissensart des Differenzlosen zu ermöglichen, wurden verschiedene Kommunikationsformen entwickelt. Das wichtigste ist das unmittelbare Gespräch zwischen einer Person, die aus dem Unsagbaren spricht, und anderen, die dies erreichen wollen – hierzu gibt es unterschiedliche Rollenbezeichnungen wie Lehrer – Schüler, Meister – Schüler, Meister – Jünger u. v. a. m. Aus dem Gesag-

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ten folgt, dass auch nur das Erreichenwollen bereits in der „Präsenz“ (Gumbrecht 2004) wahrnehmbar wird und zu einer Abwehr führt, ohne dass auch nur ein einziges Wort gesprochen wurde: „Alles was aus deinem Mund kommt, deine Erklärungen und Aufsätze: Es ist nur dummes Zeug. Deine Gesichtszüge verraten bereits, was Sache ist.“ (Sawaki 2005, 28). Der Versuch, das Differenzlose aus der Differenz zu entwickeln oder die Differenz aus der Differenz aufzugeben, muss scheitern. Dennoch geschieht den Berichten zufolge auf noch ungeklärte Weise – im protestantischen Denken ist es die Gnade – ein Übergang in das Differenzlose, in dem sich mit der Auflösung des Differenzierers alle Differenzen auflösen und der Sprecher, Frager, Zweifler, Diskutant – verpufft: In den unterschiedlichen religiösen Richtungen gibt es dafür verschiedene Bezeichnungen wie etwa Ego, Täter, kleines Ich u. v. a. m. Das damit einhergehende Moment der Plötzlichkeit lässt Fuchs von einem „Sprung“ sprechen, eine Metapher, die vor allem von Søren Kierkegaard (1967) bekannt ist: „Nichts bringt dich über dich als die Vernichtigkeit; Wer mehr vernichtet ist, der hat mehr Göttlichkeit.“ („Die Selbstvernichtung“, Angelus Silesius (1960, 73)). Das Unsagbare ist somit für alles Religiöse konstitutiv.

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Pamela Steen

12. Charisma Abstract: Göttliche Gnadengabe, Talent, Ausstrahlung – was Diskursakteure heute mit Charisma als Sammelbegriff umschreiben, ist mehr als die Bezeichnung einer sozialen und emotionalen Wirkung, die von einer Person auf andere ausgeht. Mit diesem semantisch vagen und polysemen Ausdruck werden hierarchische soziale Beziehungen etabliert, Machtgefüge konstruiert; sei es im traditionell religiösen Sinne, indem Kirchenvertreter eine stärkere Ausübung von Laien-Charismen fordern, oder im profanen Sinne, indem das beschworene Charisma eines Politikers oder Popstars zur Wahl oder zum Konsum von kulturellen Artefakten animiert. Da die Verwendung des Ausdrucks Charisma eine Transzendenzerfahrung behauptet, ist die Versprachlichung dieser Erfahrung notwendigerweise inadäquat. Dennoch und gerade deshalb wird die referenzielle Leerstelle – egal, ob durch Gott oder eine magische, nicht rational erklärbare Anziehungskraft gefüllt – pragmatisch betrachtet funktionalisiert. Charisma-Behauptungen basieren, anders als sie zumeist suggerieren, nicht auf Wissen, sondern auf Glauben bzw. auf ‚einem Glauben machen wollen‘. 1 2 3 4

Darstellung des Gegenstands „Charisma“ im medialen Diskurs Triviale Transzendenz? Ausblick und Desiderata Literatur

1 Darstellung des Gegenstands Zum Ausdruck Charisma – „das; -s ...rismen u. ...rismata“ (griech. „Gefälligkeit“, „Geschenk“, von cháris, „Liebenswürdigkeit“, „Wohlwollen“, „körperliche Attraktivität“) (Bernard/Kehrer 1988, 205) – finden sich im Duden (Q1) zwei deskriptive Bedeutungen: 1. (Theologie) Gesamtheit der durch den Geist Gottes bewirkten Gaben und Befähigungen des Christen in der Gemeinde 2. besondere Ausstrahlung[skraft] eines Menschen.

Die Bedeutungen scheinen sich auf den ersten Blick aufgrund ihrer inhärenten Konzepte Transzendenz und Performanz einerseits sowie Immanenz und Kompetenz andererseits zu unterscheiden. Das eine Charisma ist an eine sakrale Sinnsphäre gekoppelt und Resultat von Handlungen einer Person aufgrund einer Gabe, die Gott ihr zuteil werden lässt. Ihr Handlungsraum ist auf die christliche Gemeinde reduziert. Das andere Charisma entspringt einer profanen Sinnsphäre und wird als Eigenschaft einer Person verstanden, über deren Auswirkungen nichts weiter gesagt

DOI 10.1515/9783110296297-013

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ist. Der Ausdruck Charisma ist also scheinbar polysem, und die zwei Bedeutungen sind klar voneinander zu unterscheiden. Tatsächlich aber sind in der sprachlichen Verwendung von Charisma semantische Verschmelzungen festzustellen. So sind profane Referenzierungen mit dem Ausdruck Charisma mit sakralen, numinosen, gar transzendenten Bedeutungskomponenten aufgeladen, wird etwa die (mediale) Ausstrahlung eine Filmstars oder Politikers auf göttliche oder zumindest mysteriösunerklärliche Gründe zurückgeführt. Und vice versa: Die in den vergangenen Jahren zunehmende mediale Vermarktung kirchlicher Würdenträger wie des Papstes transformiert Amtscharisma in das oberflächliche, auf Äußerlichkeiten reduzierte Charisma eines Filmstars (vgl. Bergmann/Luckmann/Soeffner 1993). Diese semantischen Verschmelzungen lassen den Schluss zu, dass einerseits traditionell religiöse Erfahrungen heute von vielen Menschen als Pop-Ereignis erlebt werden. Andererseits bedürfen die profanen Erfahrungen des Lebens einer Sinnanreicherung. Charismazuschreibungen im profanen Bereich können als Indizien für eine „unsichtbare Religion“ (Luckmann 1991) betrachtet werden, als Zeichen dafür, dass „religiöse Inhalte immer häufiger in einer sozialen und kommunikativen Gestalt auftreten, die nicht mehr als religiös erkennbar ist.“ (Knoblauch 2009, 25) Charisma ist damit ein Zeichen für eine Synthetisierung der sakralen und profanen Sinnsphäre. Die sprachlichen Zuschreibungsprozesse von Charisma dezidiert offenzulegen und diese auf ihre intra- und intertextuellen sowie gesellschaftlichen Bedeutungen hin zu befragen, ist eine bislang desiderate Aufgabe derjenigen linguistischen (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011) oder wissenssoziologischen Ansätze (vgl. Keller 2004a), die Diskurse zum Untersuchungsgegenstand machen und diese als Versuche verstehen, Bedeutungszuschreibungen und Sinn-Ordnungen zumindest auf Zeit zu stabilisieren und dadurch eine kollektiv verbindliche Wissensordnung in einem sozialen Ensemble zu institutionalisieren. (Keller 2004b, 7)

Gerade weil Charisma auch im profanen Bereich nicht einfach nur ein Bündel aus nachweisbaren Fähigkeiten und Eigenschaften einer Person beschreibt, nicht nur eine (inter-)subjektive Zuschreibung ist, sondern zumeist eine transzendente oder zumindest geheimnisvolle Bedeutungsaufladung erfährt, wird der Gegenstand für Diskursforscher interessant. Für diese ergeben sich aus der sakralen Bedeutung bzw. Bedeutungsaufladung des Ausdrucks Charisma methodische Prämissen. Die Erforschung von Charisma kann nur mittelbar erfolgen. Das heißt, die höchst heterogenen Performanzphänomene, denen Charisma zugeschrieben wird, bzw. aufgrund derer einer Person Charisma zugeschrieben wird, wie etwa rhetorische Fähigkeiten eines Politikers, Inszenierungstechniken eines Popstars, bewirken beim Rezipienten intersubjektive Erfahrungen von Charisma, die Gegenstand sozialpsychologischer Studien sein können. Auch ein Abgleich mit dem soziologischen Idealtypus von Charisma, wie ihn Bergmann/Luckmann/Soeffner (1993) mit der Gegenüberstellung der Inszenierungstechniken zweier Päpste vornehmen, beginnt bereits

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auf einer Interpretationsstufe zweiten Grades, die Charisma gewissermaßen als existent voraussetzt. Das Befähigtwerden durch Gott, die mysteriöse Ausstrahlung, Charisma als ein Mehr der Summe seiner Teile, bleiben empirisch nicht nachweisbare Behauptungen. Als diskursives Konstrukt verrät es jedoch viel über die Sehnsüchte einer Gesellschaft bzw. über machtpolitische sprachliche Mechanismen. Charisma ist ein semantisch vieldeutiger und vager Ausdruck, den Diskursakteure verwenden, um diese Behauptungen als Wissen zu präsentieren. Die eigentliche Charismaproduktion liegt daher in den kommunikativen Handlungen derjenigen Akteure, die an dieses Charisma glauben, die andere an dieses Charisma kommunikativ glauben machen wollen. Indem sie dies tun, etablieren sie soziale Hierarchien aus superioren Charismaträgern und inferioren Charismaanhängern.

1.1 Zur Begriffsgeschichte von Charisma Die heutige wissenschaftliche Auffassung von Charisma beruht zum einen auf dem christlich-theologischen Verständnis von Charisma, zum anderen auf dem Charisma-Begriff, wie ihn Max Weber für die Soziologie fruchtbar machte. Diese ineinander übergehende Entwicklung wird im Folgenden kurz skizziert. Eingeführt in die christliche Literatur wurde der Charisma-Begriff durch den Apostel Paulus. Der Begriff findet sich im Neuen Testament in Röm 12,6ff. und 1 Kor 12,6ff. und bezeichnet dort die christlichen Gnadengaben, die der Charis, der Gnadenmacht Gottes, entspringen (vgl. Jorissen 1988, 103). Zu den Charismen zählen nicht nur außergewöhnliche ekstatische Phänomene wie prophetische Rede, Zungenreden und Heilung, sondern auch ganz allgemeine wie diakonischer Dienst, Lehre, Ermahnung, Gemeindevorstand und Barmherzigkeit (vgl. Krech 2006, 91). Die Charismen heben keine begnadete Person hervor, sondern jedes Gemeindemitglied besitzt seine Charismen zum Wohle der Gemeinschaft (vgl. Bernard/Kehrer 1988, 205). Der ursprüngliche Begriff besitzt daher keine Implikationen von Macht, er vergemeinschaftet „alle Glieder der Gemeinde als Teilhaber am Geist und als Träger eines Charismas“ (Hahn 1985, 339). Paulus’ Idee von Charisma hat daher nicht viel mit dem späteren soziologischen Verständnis Webers als Herrschaftsinstrument gemeinsam. Statt einer Hierarchie zwischen Führer und Anhänger, die durch Kommunikation vergemeinschaftet werden, um die Macht des Führers zu stabilisieren, sind bei Paulus „die lebendige Kommunikation mit dem auferstandenen und erhöhten Herrn, zum anderen die Verbundenheit untereinander“ (Hahn 1985, 339) zentral. Eine veränderte Bedeutung besitzt der Begriff in den nachpaulinischen Texten, in 1 Petr 4,10 sowie in den Pastoralbriefen 1 Tim 4,14 und 2 Tim 1,6 (vgl. Jorissen 1988, 103). Während der erste Text der paulinischen Konzeption analog ist, setzen die Pastoralbriefe für Charisma die Ordination des Gemeindeleiters voraus. Sein Amt und das damit verbundene Charisma werden durch Handlauflegung verliehen

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(vgl. Krech 2006, 91). Damit kommt diese Vorstellung von Charisma bereits der heutigen nahe, nach der es vor allem eine Eigenschaft charismatischer Persönlichkeiten ist. Der Kirchenrechtler Sohm (1841–1917) vertritt die in der Theologie nicht unumstrittene Ansicht, dass die Pastoralbriefe die ursprüngliche pneumatische Auffassung von christlicher Religion als vorrangig geistig und nicht durch von Menschen geschaffene Autoritäten erlebbar verfälscht hätten (vgl. Krech 2006, 91f.). Die Diskussionen um die Kirchenverfassungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Rahmen der Auflösung der Staatskirchlichkeit in Deutschland bewirken daher ein neues Interesse an der Charismenlehre (vgl. Kehrer 1990, 196). Die Frage, wie kirchliches Amt und Charisma miteinander vereinbar sind, beschäftigt die Theologie bis heute. Um das dem Charisma innewohnende Dämonische der Unterwerfung zu tilgen – dämonisch, da dem charismatischen Unterwerfungsverhältnis „das Freiheitsmoment“ fehlt – so Müller (1985, 444), stellte die Kirche nicht den Dienstcharakter wie bei Paulus in den Vordergrund, sondern bewirkte eine allgemeine Verrechtlichung von Charisma. „Nur der durch geordnete Amtsübertragung in ein System von Rechten und Pflichten Eingesetzte“ (Müller 1985, 444) sollte über Charisma verfügen. Durch diese Sichtweise änderte sich die christliche Bedeutung von Charisma. Durch die Verbindung von Amt und Charisma besitzt nur der Amtsträger Charisma, „was ihn zugleich zur Ausübung von Herrschaft über andere legitimiert“ (Müller 1985, 444). Nachdem der Begriff durch Weber in den 1920er Jahren in die Herrschaftssoziologie übernommen wurde, wurde er auch von der Religionswissenschaft entdeckt. Wach bezieht sich mit seinen „Typen religiöser Autorität“ (Wach 1951, 375ff.) auf Weber. Für ihn ist Charisma nicht nur ein Phänomen der christlichen Religion, sondern für ihn ist das „mana“ der „primitiven Völker“ oder das „hvarenah“ bei den Persern dem Charisma analog (vgl. Wach 1951, 382). Van der Leeuw (1956) sowie Yinger (1970) verwenden den soziologischen Charismabegriff als allgemeines Charakteristikum von Sekten (vgl. Kehrer 1990, 197f.). Obwohl bei charismatischen Bewegungen, zum Beispiel der Pfingstgemeinde, die Spiritualität grundsätzlich egalitär ausgerichtet ist, ist auch ihre Funktionalität strukturell mit charismatischen Einzelpersonen verbunden. Nur diese können Heilungen ausführen oder prophetische Visionen haben (vgl. Haydt 1999, 207). Müller (1985, 445) betont deshalb, dass sowohl „freies“ Charisma als auch Amtsgnade heute letztlich exklusiv und autoritär aufgefasst und gebraucht werden. Unter sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkten ist die religiöse Auffassung, Charisma befördere bestimmte kommunikative Fähigkeiten, herauszustellen. Glossolalie, also die Rede in fremden Zungen, Prophetie und Predigt sind urchristliche Charismen, die das Moment der oralen Kommunikation betonen (vgl. dazu auch Lasch in diesem Band). Auch in den charismatischen Bewegungen findet sich eine ausgeprägte mündliche Kultur in Form von Liedern und Predigten. Diese Charismen haben gemeinsam, dass sie sich nur im Akt der Aufführung, der rituellen „Performanz“ (Wirth 2002), entfalten. Charisma ist daher seinem Wesen nach ein kollekti-

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ves, performatives Erlebnis. Wie sich zeigen wird, dient der Ausdruck Charisma im nicht-religiösen, postmodernen Mediendiskurs ebenfalls zur Beschreibung eines Performanzerlebens. Die Beschreibung dieses umfassenden, scheinbar durch eine höhere Macht inspirierten Erlebnisses muss jedoch mangelhaft bleiben. Diese Mangelhaftigkeit schürt Geheimnisse und ein damit verbundenes ‚mehr wissen‘ als andere. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der idealtypische Ritualcharakter des Erlebens von Charisma als kollektive Erfahrung durch die charismatische Persönlichkeit unterminiert wird. Die Anbetung eines Charismaträgers qua Amt oder Ausstrahlung trennt die charismagläubige Gemeinde vom Charisma und vom Charismaträger, da sich dieser aufgrund seines individuellen Charismas als Individuum vom Kollektiv absondert. Die Entwicklung des Charisma-Begriffs in der christlichen Tradition macht deutlich, dass sich seine Bedeutung von einer zunächst antienthusiastischen, kollektiven zur primär enthusiastischen, individuellen Gnadengabe transformierte. Der theologische Charisma-Begriff wurde dann von Weber aus der Religion in die Herrschaftssoziologie überführt. In seinem 1922 posthum publizierten Werk Wirtschaft und Gesellschaft bezieht er sich ausdrücklich auf die Schriften des Rechtsgelehrten Sohm. Während Sohm den Begriff verwendet, um Kritik am verrechtlichten Katholizismus zu üben, verwendet Weber ihn zur Beschreibung eines Herrschaftstypus. Bei Weber ist die „charismatische Herrschaft“ neben der „legalen“ und der „traditionalen“ eine von drei Idealtypen: „Charisma“ soll eine als außeralltäglich [...] geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als „Führer“ gewertet wird. Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus „objektiv“ richtig zu bewerten sein würde, ist natürlich dabei begrifflich völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den „Anhängern“, bewertet wird, kommt es an. (Weber 1922/1980, 140)

Um den Begriff als heuristisches Instrument seiner Verstehenden Soziologie zu gebrauchen, muss Weber ihn „ausdünnen und gleichsam minimalisieren, nämlich seiner massiven theologischen, anthropologischen und ekklesiologischen Implikationen“ (Seit 2008, 44) entledigen. Charisma wird bei Weber vorrangig zu einer sozialen Beziehung zwischen Führer und Anhängern. Zudem beschreibt er dezidiert die vielfältigen Mechanismen der Veralltäglichung von Charisma, da es als außeralltägliche Form der Herrschaftslegitimierung kurzlebig und auf die ständige Bewährung angewiesen ist. Amts- und Erbcharisma stellen bei ihm zwei legitimierte Übergangsformen dar. Mit Tänzler (2007) lässt sich konstatieren, dass durch die Übertragung des Begriffs aus dem religiösen Bereich in die Soziologie Weber vor einem paradoxen Prob-

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lem steht. Das von Weber postulierte politische Charisma, das als solches sinnhaft verstehend rekonstruiert werden soll, ist kein genuin politisches Phänomen. Sondern: Das Charisma einer Person oder Sache repräsentiert zunächst eine transzendente Macht, die dann für die Legitimierung einer politischen Repräsentations- oder Machtbeziehung eingesetzt wird. (Tänzler 2007, 123).

Tänzler betont in seinem Aufsatz „Politisches Charisma in der entzauberten Welt“, dass es nicht darauf ankomme, woran die Anhänger glauben, sondern dass danach zu fragen sei, „wie der Geltungsanspruch für eine solche transzendente Macht kommunikativ erzeugt“ (Tänzler 2007, 123) wird. Wie beim religiösen Charisma existiert auch in der politischen Handlungssphäre ein Glaube an außergewöhnliche Fähigkeiten, und diese Tatsache bewirkt weitere soziale Tatsachen (vgl. Tänzler 2007, 123). Es gibt in der Forschungsliteratur geteilte Ansichten darüber, ob die Übertragung des theologischen Begriffs auf die Politik zu einer Säkularisierung seines Inhalts führt, wie dies Tänzler im Anschluss an Brunner (1968, 73) befindet. Bei Weber ist der charismatische Herrschaftstyp nicht restlos als säkularisiert zu verstehen. Bei ihm gewinnt Charisma seinen numinosen Gehalt im Kontrast mit der traditionalen und legalen Herrschaft, da sich in seiner Typenlehre die charismatische Herrschaftsform als residuale Kategorie bildet, die sich nicht auf einer rationalen Regelhaftigkeit gründet. Nach der modernen Phase des Weberʼschen Charismas beginnt für Lenze (2002) die Phase des postmodernen Charismas. Dieses Pseudo-Charisma wird im Sinne von Flussers Phänomenologie des technischen Bildes (Flusser 1994) durch „PseudoMagie, durch ‚Magie 2. Ordnung‘ konstituiert“ (Lenze 2002, 130). Das technische Bild wird zu einem magischen Medium, das dem alltäglichen „rationalen Handeln einen scheinbar tiefen Sinn verleihen will“ (Lenze 2002, 131). Dieses künstliche Charisma äußert sich in Pseudo-Kulten und -Religionen. Marken, Stars – die Güter der Kulturindustrie – werden in einem medialen „Charisma-Management“ dazu kreiert, um „vorhandene (und verstärkte) gesellschaftliche Stimmungslagen mit den passenden emotionalistischen ‚Hoffnungsträgern‘ zu besetzen“ (Lenze 2002, 133). Religiöses Charisma, Herrschaftscharisma und künstliches Charisma lassen sich zwar begriffsgeschichtlich voneinander trennen, es ist jedoch fraglich, ob dies auch in den medialen Zuschreibungsakten diskursanalytisch gelingt. Wie die exemplarischen Analysen zeigen werden, kann etwa das politische Charisma eines US-Präsidenten dazu herhalten, das adäquate Charisma des nächsten Papstes zu ersinnen, womit dieses dann zur künstlichen Retorte wird.

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1.2 Forschungsstand Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Charisma lässt sich analog zu den vorherigen Ausführungen zur Begriffsgeschichte in drei Bereiche einteilen: 1. Theologische Arbeiten zu Charisma als Begriff transzendenter Erfahrung. 2. Die soziologische Beschäftigung Max Webers mit Charisma als Herrschaftsbegriff. 3. Die Medien- und sozialwissenschaftliche Perspektive auf ein postmodernes Charisma als Unterbrecher von Kontingenz und Zeichen von Trivialisierung. Da die Forschungsliteratur zu Charisma mittlerweile derart umfangreich ist, können an dieser Stelle nur die wichtigsten Werke zur Orientierung angeführt werden. Ausgewählt werden medien- und sozialwissenschaftliche Arbeiten, die für diskurslinguistische Überlegungen adäquate Anschlüsse bieten. Die Mehrheit der Arbeiten widmet sich direkt (z. B. Breuer 1994) oder indirekt im Anschluss an Weber dem Phänomen mit unterschiedlichen Schwerpunkten: Lipp (1985) verbindet Stigma und Charisma; Sennett (1983) sieht das moderne Charisma als unzivilisierten, psychischen Striptease; Günther (2005) fokussiert soziale Gründe für das Auftreten von Charisma als fanatisches Massenphänomen; Jentges (2010) unterstreicht die Rolle von Maskensprüngen politischer Repräsentanten, die Charismatisierungen erst möglich machen, und diskutiert u. a. Analogien von Charisma und Heldentum. Bei den Sammelbänden zum Thema sind Gebhardt/Zingerle/Ebertz (1993) hervorzuheben, die Beiträge zur Theorie, Religion und Politik vereinen; Häusermann (2001) mit einem Schwerpunkt auf mediale Einflüsse; Bliesemann de Guevara/Reiber (2011), die politische, historische und kulturelle Rahmenbedingungen in ihre Betrachtungen einbeziehen. Neben dem Klassiker Max Weber ziehen die Autoren Verbindungen zu Siegmund Freud (1927), Norbert Elias (1983) und Pierre Bourdieu (1987), die sich ebenfalls, implizit oder explizit, mit Charisma beschäftigen. Die kommunikativen medialen Mechanismen, die heute eine Charismatisierung in der politischen Handlungssphäre befördern, werden in der soziologischen Literatur weitgehend übereinstimmend benannt: Personalisierung, Inszenierung von Authentizität und menschlicher Nähe führen zur Pervertierung des Politikers zum Medienstar (vgl. Tänzler 2007, 118; Fasel 2001). Bliesemann de Guevara/Reiber (2011, 32) nennen neben den Inszenierungspraktiken die Kontext-Faktoren politisches System, Traditionen und Werte, politische Kultur, Zusammenhang von Charisma und Gewalt sowie Interessen und Motive der Anhängerschaft. Diese Kontextfaktoren sollten auch bei einer diskurslinguistischen Herangehensweise an das Thema berücksichtigt werden. Ein großer Teil der zum Thema ‚Charisma‘ erschienenen Arbeiten untersucht die besonderen Charaktermerkmale einzelner Charismatiker (z. B. bei Stars wie Marilyn Monroe, vgl. Bechdolf 2001; bei Politikern wie Willy Brandt oder Helmut Schmidt, vgl. Bliesemann de Guevara/Reiber 2011). Da Charisma-Zuschreibung heterogen und irrational ist, wendet sich der andere Teil der Arbeiten den sozialen bzw. psychoso-

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zialen Rahmenbedingungen zu, die sich aus der Rolle der Medien, dem politischen System oder der menschlichen Disposition zusammensetzen. Sennet (1983, 307ff.) betont, dass Weber soziale Konstellationen in Form unlösbarer Gruppenkonflikte fokussiert, Freud (1927) hingegen psychische Dispositionen, nach denen der charismatische Führer den Wunsch nach Angst-Liebe zum Vater erfüllt. Bei beiden aber erwachse Charisma aus „krisenhaften Verhältnissen sozialer Unordnung“ (Sennett 1983, 307), der Charismatiker werde zum Heilsbringer. Für Sennett ist Charisma die Ordnung selbst und produziert als solche erst Krisen (vgl. Sennett 1983, 312). Für Bliesemann de Guevara/Reiber (2011, 28) hingegen sind es „die normalen Bedingungen des Alltags“, die Charismatisierungen bewirken, und die Funktion des Alltagscharismatikers besteht darin, eine gegebene Ordnung zu stabilisieren. Obwohl bereits Weber den Zuschreibungsaspekt betont, wird die Art und Weise der sprachlichen Zuschreibung von Charisma in der Forschung bislang gänzlich ignoriert. Jentges (2010, 76f.) fordert zwar, dass bei der Untersuchung von Charisma Kommunikation ins Blickfeld rücken müsse, spricht daher nicht mehr von „Charisma“, sondern von „Charismatisierungsprozessen“. Aber auch er löst seine Forderung, auf die Interpretationsgemeinschaft zu blicken, empirisch nicht ein. Über diese konkret zum Charisma-Thema angeführten Arbeiten hinaus sind für ein diskurslinguistisches Verständnis von Charisma auch Arbeiten zu angrenzenden Themenfeldern signifikant. Herausgehoben werden sollen beispielhaft Religionshybride (Berger/Hock/Klie 2013), Populäre Religion (Knoblauch 2009) sowie Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung (Gabriel 1996). Da Charisma auch in der profanen Handlungssphäre eine irrationale und transzendente Bedeutungskomponente hat, muss die Frage danach gestellt werden, wie sich in gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen diese ‚Glaubensfrage‘ kommunikativ durchsetzt und was diese menschliche Sinnsuche über die jeweilige Gesellschaft verrät.

2 „Charisma“ im medialen Diskurs 2.1 Kommunikative Rituale Obwohl sprachwissenschaftliche Forschungen zu Charisma erst bei der Zuschreibung ansetzen können, sind Überlegungen, wie es zu diesen Zuschreibungen als letzte Instanz in einem sozialen Prozess kommen kann, durchaus von Relevanz. Charisma ist ein kommunikatives Produkt ritualisierter Prozesse mit einer initiierenden Kommunikation als Basis und mindestens zwei darauf aufbauenden Stufen. In einem initiierenden performativen Ritual (des späteren Charisma-Trägers) manifestiert sich Charisma als emotionale Hingabe der Zuschauer/Zuhörer; reines Charisma in statu nascendi. Dies ist die Ur-Kommunikation im Charismatisierungsprozess (vgl. die Ausführungen zum ersten Abendmahl u. a. bei Lasch und Stridde in

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diesem Band). Die kommunikativen Vorgänge ‚erster Stufe‘ sind dann diejenigen, mit denen Akteure mittels Sprache diese unmittelbar in der Ur-Kommunikation (z. B. einem religiösen Ritual, einer politischen oder kulturellen Veranstaltung) erlebte Charismaerfahrung nachträglich rekonstruieren, besser, zu rekonstruieren versuchen. Auf dieser ersten Stufe werden intersubjektive Erfahrungen von Transzendenz „zeichenhaft objektiviert, in kommunikative Formen eingeschmolzen“ (Luckmann 1991/2010, 142). Diese rekonstruierenden, nicht-öffentlichen kommunikativen Rituale können als Zeugenaussagen verstanden werden, mit denen Charisma mittels der Verwendung des sprachlichen Ausdrucks „Charisma“ bezeugt und damit erst (in der Retrospektive) konstruiert wird; rekonstruiertes Charisma. Vom diskurslinguistischen Standpunkt aus betrachtet sind diese Prozesse erster Stufe relevant, mehr noch aber diejenigen zweiter Stufe: Als diskursives, mediales Konstrukt können Charismatisierungen als kommunikative Handlungen „zweiter Stufe“ nach Luckmann (1991/2010, 142) betrachtet werden (vgl. dazu analog Transzendierungsprozesse bei Lasch in diesem Band). Im medialen Diskurs werden die unmittelbaren Erfahrungen von Charisma bearbeitet – wobei mit der Ablösung der unmittelbaren Erfahrung diese nicht mehr nachprüfbar ist. Die Charismatisierung wird in TV-Talkshows, Printmedien, Onlinezeitungen, Internetblogs, Onlineforen etc. vervielfältigt, d. h. fraglos tradiert oder kritisch hinterfragt, umformuliert, geglättet, übertrieben, kanonisiert, zensiert oder verworfen. Hierbei muss es sich gar nicht mehr um Rekonstruktionen, sondern kann sich auch nur noch um sprachlichmediale Konstruktion von Charisma handeln, deren Motivation und Logik im Diskurs selbst zu suchen ist. Für Jentges (2010, 89) ist Charismatisierung eine in Diskursen vorgenommene „positive oder negative Wirklichkeitsverzerrung“, wobei fraglich ist, welche ‚Wirklichkeit‘ dem Diskurs überhaupt zugrunde liegt. Grundsätzlich existiert eine Vielzahl von Diskursen, in denen Charisma als Schlüsselwort fungiert, das heißt diskursbestimmend, umstritten, polysem ist und das Selbstverständnis und die Ideale einer Gruppe oder einer Epoche ausdrückt (vgl. Liebert 2003, 59f.). Generell lässt sich feststellen, dass der Ausdruck in den Medien überwiegend in folgenden Handlungssphären zur Konstruktion einer mit besonderen Fähigkeiten ausgestatteten personalen Identität verwendet wird: − in der christlich-religiösen Handlungssphäre zur Beschreibung von Qualitäten der Gemeindemitglieder sowie als Amtscharisma, z. B. des Papstes und anderer kirchlicher Würdenträger, sowie im Zusammenhang mit Personen aus religiösen oder pseudoreligiösen Gruppierungen; − in der politischen Sphäre überwiegend für männliche Politiker oder Diktatoren (vgl. Herbst 2010; Hacke 2005); − in der ökonomischen Sphäre ebenfalls vor allem für männliche Unternehmer, für Produkte und Ideen (vgl. Kraemer 2008); − in der kulturellen Handlungssphäre für männliche und weibliche Stars (vgl. Bechdolf 2001) sowie für fiktionale Figuren.

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Die Verwendungsweisen sind vielfältig. So sind Charismen auch die göttlichen Fähigkeiten von Charakteren im Computer-Rollenspiel Guild Wars 2 (Q2). Charisma war der Eigenname einer Tanzformation (vgl. Mannheimer Morgen, 18.1.1991), diverser Pferde (vgl. Nürnberger Nachrichten, 7.9.1994) und ist der Name eines Friseursalons (vgl. St. Galler Tagblatt, 11.1.2013) (Deutsches Referenzkorpus). Für die Bezeichnung des Charismaträgers eröffnet sich ein reiches semantisches Feld, das ebenso traditionell religiöse Ausdrücke wie Heilsbringer und Messias beinhaltet wie auch Neologismen mit Bezug auf konkrete Personen, etwa iGod für Steve Jobs, oder Übertragungen aus anderen Kontexten, z. B. Der Mann ohne Eigenschaften als Periphrase für das Fehlen von Charisma. Im Regelfall werden das Substantiv Charisma und das Adjektiv charismatisch als die Einstellung von Rezipienten beeinflussende „Hochwertwörter“ (vgl. Burkhardt 1998) verwendet. Auffällig ist, dass die Verwendung des Adjektivs charismatisch im deutschen Referenzkorpus (im Zeitraum von 1985 bis 2013) von 2009 bis 2011 einen enormen Anstieg erfährt, nämlich von unter 1.000 Verwendungen auf bis zu ca. 2.400, und dann innerhalb von zwei Jahren wieder stark abfällt auf unter 500 Verwendungen im Jahr 2013. Massenmediale Ereignisse wie die Wahl Barack Obamas zum Präsidenten der Vereinigten Staaten (2009) oder der kometenhafte Aufstieg Karl Theodor zu Guttenbergs als Bundesverteidigungsminister (2009–2011) auf nationaler Ebene sind für einen solchen ‚peak‘ im Referenzkorpus u. a. mutmaßlich verantwortlich zu machen. Wie der Verlauf dieser Zuschreibungen sprachlich-medial erfolgte, müsste im Rahmen einer größeren Studie intra- und intertextuell rekonstruiert werden. An die theoretischen Überlegungen zu Charisma schließen nun exemplarische Analysen sprachlicher Zuschreibungen im medialen Diskurs – sowohl in der religiösen als auch in der profanen Handlungssphäre – an. Diese sind eine erste Bestandsaufnahme und haben somit zunächst nur Schlaglicht-Charakter.

2.2 Religiöse Handlungssphäre: Einfalt vs. Vielfalt In der religiösen Handlungssphäre wird der Ausdruck Charisma im Singular und im Plural verwendet. Mit der Plural-Verwendung werden zumeist die Kräfte der Laien in der Kirche hervorgehoben und vom Amtscharisma als singulärer Gnadengabe unterschieden. Grundsätzlich können damit zwei große Sinn-Komplexe ausgemacht werden, in denen der Ausdruck Charismen/Charisma als Schlüsselwort verwendet wird: 1. für die einzelnen hervorstechenden Charismen kirchlicher Würdenträger; 2. für die Vielfalt der Charismen der Laien und Gläubigen. In beiden Sinnkomplexen nehmen die Aussagen explizit oder implizit auf den gesellschaftlichen Wandel Bezug, auf die Zahl der Kirchenaustritte bzw. auf die schwindende Zahl der Kirchgänger. Unter dem Begriff Charisma subsumieren sich Möglichkeiten, Kirche wieder attraktiv zu machen bzw. als attraktiv darzustellen.

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Im ersten Sinn-Komplex werden mit dem Herausstellen des Charismas einzelner Würdenträger diese im Hinblick auf ihr Amt und die damit erwarteten Leistungen definiert. So ist das Charisma von Benedikt XVI. nach seinem Rücktritt 2013 zwar immer noch groß, aber inadäquat für die Aufgaben eines Papstes: (1) Eine solche Weltkirche zu leiten, ist unglaublich schwer. Benedikts großes Charisma liegt eher im Ergründen des Glaubens. Die Leitungsverantwortung war eine Last für ihn. (Mannheimer Morgen, 27.2.2013)

Benedikts Identität, insbesondere sein Versagen als Papst, wird über sein Charisma bestimmt. Als Papst reicht es nicht aus, großes Charisma zu haben, man muss das richtige haben. Das päpstliche Charisma wird damit explizit nicht als Zuschreibung durch andere konstruiert, sondern als ein persönlicher Besitz, der, obwohl von Gott gegeben, hinderlich für das Amt sein kann. Über die Konstruktion von Charisma kann daher das Handeln des Papstes gleichermaßen begründet, gerechtfertigt oder angeklagt werden. Im letzteren Fall wird die Bedeutung von „Charisma“ als Hochwertwort eingeschränkt oder gar revidiert. Nicht nur die Art des Charismas wird festgelegt, sondern auch seine aktive Umsetzung: (2) Das Charisma, Menschen anzusprechen, scheint Franziskus zu besitzen. Er sollte es zum Dialog nutzen. Auch wenn er mit 76 nicht der Jüngste ist, kann er viel anstoßen. (Mannheimer Morgen, 14.3.2013)

Wie auch bei Benedikt wird das Charisma seines Nachfolgers Franziskus sprachlich konkret bestimmt. Auch hier bemisst sich der Erfolg oder Misserfolg des Papstes an der Art des Charismas in Relation zu den konstruierten Pflichten des Amtes. Franziskus’ Charisma ist zwar für das Papstamt adäquat, es muss aber auch in einer bestimmten Weise eingesetzt werden. Die durch das Modalverb sollen als deontisch zu betrachtende Aussage (vgl. Hermanns 1989, 74) nimmt ein mögliches Scheitern vorweg, wenn Franziskus eben nicht seinem Charisma gemäß handelt. Dialog ist im Weiteren nicht als synonym mit Menschen ansprechen gemeint, sondern dies ist im Sinne von viel anstoßen eine Forderung nach einem Verändern der von Benedikt hinterlassenen Strukturen in der katholischen Kirche hin zu einer offeneren, toleranteren. Der Charisma-Begriff mit seiner christlich-religiösen Bedeutung wird für eine gesellschaftspolitische Forderung instrumentalisiert, indem er mit Handlungsverpflichtungen verknüpft wird. Eine dritte Möglichkeit, Charisma zu konstruieren, ist die unbestimmte Verwendung des Ausdrucks oder die Verwendung des Adjektivs „charismatisch“: (3) Die Schotten dicht, die Heilige Römische und Apostolische Kirche wird er abzuschließen versuchen vor der modernen Welt – das Ganze ohne das Charisma und die Mitmenschlichkeit, die Johannes Paul II. auszeichnete. (Taz.de, 20.4.2005)

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(4) Mit Charisma hat der Pole in 26 Jahren das Papsttum wie kein anderer zelebriert und erheblich zur Erosion des Ostblocks beigetragen. (Süddeutsche.de, 5.7.2013) (5) Selbstbewusst und charismatisch nutzt der Pontifex Massenmedien und öffentliche Auftritte um für die Kirche (und sich) zu werben. (Süddeutsche.de, 5.7.2013)

Diese Art der Konstruktion ist typisch für das Charisma von Papst Johannes Paul II. In Beispiel (3) wird die Identität Benedikts XVI. über das Charisma von Johannes Paul II. konstruiert. Letzteres bleibt in seiner Eigenschaft unbestimmt, mit dem Definitartikel wird es jedoch allumfassend auf beide Persönlichkeiten bezogen. Der eine hat es, der andere hat es nicht. Dass es als rundweg positiv oder passend verstanden wird, zeigen kontrastiv die als negativ bewerteten erwarteten Handlungen Benedikts einerseits, und andererseits das über die Konjunktion verbundene Substantiv Mitmenschlichkeit, das auf das semantisch vage Substantiv Charisma gewissermaßen zurückwirkt und es mitbestimmt. Die Form der Aufzählung ist dabei nicht zufällig, sondern gehört zu den regelmäßigen syntaktischen Mustern. Häufige Kollokationen mit der Konjunktion und sind Talente und Charismen, Charismen und Fähigkeiten, Charismen und Begabungen, Berufungen und Charismen, Dienste und Charismen, Charismen und Kompetenzen. Es ist auffällig, dass die mitgenannten Substantive ähnliche Bedeutungskomponenten aufweisen. Außerdem besitzen sie keine transzendenten Denotate, sind daher konkret vorstellbar. Bei einem Wegfall des unkonkreten Substantivs Charismen würde sich die Satzbedeutung kaum ändern. Das legt den Schluss nahe, dass es sich bei der Bedeutung von Charismen um ein nicht explizit gemachtes Hyperonym zu Dienste, Fähigkeiten, Talente etc. handelt. Die Verwendung des Ausdrucks und die semantische Redundanz haben jedoch die Funktion, den Träger dieser profanen Dispositionen und Ausübungen mittels der Transzendenzbehauptung in Charismen aufzuwerten. Obwohl das Charisma in Beispiel (4) konkrete Auswirkungen für die Art des Papsttums (zelebriert) und die politischen Verhältnisse (Erosion des Ostblocks) hat, wird es primär auf die Person, nicht auf das Amt bezogen. Während also Franziskus sein konkretes Charisma für seine päpstlichen Aufgaben nutzen soll, Benedikt das falsche Amtscharisma und gar kein persönliches Charisma hat, wird Johannes Paul ein allumfassendes, persönliches Charisma zugeschrieben. Dass dieses als Gabe nicht religiös, sondern profan im Sinne von Ausstrahlung verstanden wird, wird in der Verwendung des Adjektivs im Kontext der massenmedialen Kompetenzen in Beispiel (5) besonders deutlich (vgl. Bergmann/Luckmann/Soeffner 1993). Der Papst macht nicht nur massenmedial Werbung für die Kirche, sondern auch für sich. Diese implizite Verschränkung der Handlungssphären über die Konstruktion von Charisma wird in den Medien auch ganz explizit vorgenommen. Nach dem Rücktritt von Benedikt, anlässlich der anstehenden Papstwahl, wird in einem Artikel von Zeit-Online danach gefragt, was ein Papst mit Popstar-Qualitäten bewirken würde. Konkret werden die Eigenschaften des künftigen Papstes mit denen von Barack Obama verglichen, bevor dieser US-Präsident wurde:

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(6) Was wäre eigentlich, wenn die Kardinäle in Rom einen solchen Mann in ihrer Mitte fänden und zum Papst machten? Ein Prediger als Nachfolger des Professors? Einer, der nicht am Kirchenvolk zweifelt, weil es der Lehre und der Tradition kaum noch zu folgen vermag. Sondern der ruft „Yes, we can!“ und damit einen Aufbruch der Katholiken bewirkt? (Zeit-Online, 1.3.2013)

Hier wird das profane Charisma eines Präsidentschaftsanwärters auf den sakralen Bereich, auf das päpstliche Amtscharisma, übertragen. Der Politiker Obama wird als Prediger bezeichnet; der Papst als Professor. Indem nun jemand wie Obama für das religiöse Amt gesucht wird, werden die Handlungssphären explizit verschränkt, damit die ihnen zugehörigen Arten von Charisma. Obamas Charisma wird pars pro toto anhand dessen rednerischer Fähigkeit konstruiert. Synonyme für einen derartigen Charismaträger werden in dem Artikel mit Hoffnungsträger, ein begnadeter Menschenfischer, ein Mensch, der etwas zu sagen hat, weil er an etwas glaubt, guter Hirte und Messias benannt, also mit Ausdrücken, mit denen traditionell auf Jesus Christus als Vorbild für alle Christen referiert wird. Das Urbild des Menschenfischers wird aber in dem Artikel nicht erwähnt, sondern auf den Politiker übertragen. Charismakonstruktionen sagen nicht nur etwas über den Charismaträger, sondern vor allem über deren Anhänger aus. Obamas Charisma als Prototyp für das päpstliche Charisma impliziert den unterstellten Wunsch der Gläubigen, durch einfache, eingängige kollektivierende Slogans á la Yes, we can! emotional mitgerissen zu werden. Das ist Charisma, das auf Eloquenz, statt auf Barmherzigkeit fußt und konstruiert somit eine fundamentale Wandlung in der Vorstellung von Kirche. Kirche wird populär (vgl. Knoblauch 2009). Während im ersten Sinnkomplex also Amtscharisma konstruiert wird, werden im zweiten Sinn-Komplex die Gläubigen nicht als Charisma-Anhänger, sondern selbst als Charismaträger betrachtet. Dem Einzelcharisma der Würdenträger stehen die Charismen der Vielen gegenüber. Aussagen wie die des Erzbischofs Braun anlässlich des Bamberger Pastoralgesprächs 1998 stellen exemplarisch dar, dass sich Kirchenvertreter in den Medien um eine Charismatisierung der Gläubigen bemühen: (7) Nach Meinung des Erzbischofs geht es darum, die Charismen, Begabungen und Stärken aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu fördern und für den gemeinsamen Auftrag fruchtbar zu machen. (Nürnberger Nachrichten, 6.11.1998)

Ganz im paulinischen Sinne wird das fachsprachliche Charismen von Kirchenvertretern als Schlüsselwort gebraucht in einem Diskurs über den heutigen Auftrag der Kirchen. Die zu Wort kommenden Kirchenvertreter bilden eine „voice“ (vgl. Blommaert 2007), das heißt eine bestimmte Position in einem Diskurs über den heutigen Auftrag der Kirchen hinsichtlich der Aufgabe der Mitarbeiter und Gläubigen. Diese werden analog zum Papstcharisma in einem zweistufigen Verfahren charismatisiert: 1. durch generelle Zuschreibung der Gnadengaben, 2. durch Forderung nach Verfügbarmachung dieser Gnadengaben für die Kirche.

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Sieht man sich einige Belegfälle im Deutschen Referenzkorpus genauer an, so fällt auf, dass das Wort häufig in der Verbindung mit Verben, substantivierten Verben, Verbalkonstruktionen des Aktivierens formuliert wird: (8) die Förderung der Charismen (Die Presse, 18.11.1991) / (9) Die Vielfalt der Charismen mache Kirche erst lebendig. Sie gelte es wahrzunehmen und zu fördern. (Rhein-Zeitung, 25.11.2002) / (10) Es braucht Leute, die helfen, Charismen zu entdecken (Die Südostschweiz, 20.2.2006) / (11) Talente und Charismen in diesen Menschen zu entdecken (Tiroler Tageszeitung, 13.11.1999) / (12) die Weckung von Charismen (Niederösterreichische Nachrichten, 10.1.2013) / (13) Charismen lebendig werden lassen (Salzburger Nachrichten, 12.4.1996) / (14) die Charismen der Laien entfaltet werden (Salzburger Nachrichten, 25.4.1996) / (15) Die Charismen zum Funkeln bringen. (Rhein-Zeitung, 6.6.2008)

Charismen werden als etwas im Menschen Verborgenes verstanden, das durch andere aktiviert werden muss. Die Aussagen bleiben vage, lassen sich nur metaphorisch deuten, wenn ‚schlafende‘ Charismen geweckt oder ‚unlebendige‘ lebendig (13), ‚verborgene‘ entdeckt werden, ‚zusammengeklappte‘ sich entfalten (14), ‚stumpfe‘ funkeln (15). Dieser metaphorisierte Teil der Aussage als „Fokus“ (vgl. Spitzmüller 2005, 198; Black 1996, 58) trifft mit einem durch den Ausdruck Charismen bestimmten ‚Rahmen‘ zusammen, der seinerseits vage ist. Dadurch wird ein sprachlicher Schleier des Geheimnisses über die handfeste Forderung gelegt, alltägliche Gemeindearbeit zu leisten. Die metaphorische Sprache trägt so zu einer Euphemisierung bzw. Verklärung dieser alltäglichen Dienste bei, die hin und wieder auch genauer bestimmt werden: (16) Es sind die Charismen, eine Vielfalt von Fähigkeiten, in der Kraft des Heiligen Geistes Gutes zu tun. Es braucht dies nicht jeden Tag etwas Sensationelles zu sein. Aber zum Beispiel dies: Andern gut zuhören, zu einer freundlichen Atmosphäre beitragen zu Hause, am Arbeitsplatz, in der Schule, die Fähigkeiten anderer entdecken und fördern, andere mit der eigenen Fröhlichkeit anstecken. (St. Galler Tagblatt, 15.5.1999)

Die alltäglichen Fähigkeiten werden sensationell, wenn sie in der Kraft des Heiligen Geistes geschehen. Durch die Präpositionalphrase wird das nachstehende alltägliche Tun transzendiert, werden Fähigkeiten zu Gnadengaben, die nach der Aktivierung (im zweiten Schritt) allen zur Verfügung gestellt werden sollen: (17) Charismen in die Seelsorge einbringen (Rhein-Zeitung, 10.2.1996) / (18) so müssen die Charismen aller Menschen [...] Ausdruck finden können (Salzburger Nachrichten, 13.12.1999) / (19) Also auch Begabungen, Charismen und Stärken von Einzelnen oder von Gruppen möglichst vielen Katholiken zugänglich zu machen. (Nürnberger Nachrichten, 18.3.2003) / (20) die Charismen im Volk Gottes besser zur Geltung kommen zu lassen (Mannheimer Morgen, 16.5.2012).

Die häufigen Forderungen nach Ausübung der Charismen zeigen ihren empfundenen Mangel auf: Charismen werden nicht eingebracht (17), finden nicht in ihrem eigentlichen Umfang Ausdruck (18), werden den Gläubigen nicht zugänglich ge-

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macht (19), kommen nicht zur Geltung (20). An den Charismen wird der schwindende Einfluss der Kirchen aufgehängt. Was auf der einen Seite wie eine Stärkung der Gemeindemitglieder gegenüber dem Charisma eines Würdenträgers aussieht – (21) denn Charismen haben alle (St. Galler Tagblatt, 4.1.1999) / (22) Vielfalt gegen Einfalt (Rhein-Zeitung, 10.10.2003)

– kann auf der anderen Seite als Begründung, gar als Schuldzuweisung dafür verstanden werden, weshalb Kirche in ihrer traditionellen Form nicht mehr populär ist: (23) Bei der Vigil, einer liturgischen Gebetswache, forderte Benedikt junge Christen dazu auf, „glühende Heilige“ zu werden und sich Gott hinzugeben. „Der Schaden der Kirche kommt nicht von ihren Gegnern, sondern von den lauen Christen. (Süddeutsche.de, 25.9.2011)

Die lauen Christen, die ihre Charismen nicht einbringen, werden für den Schaden der Kirche verantwortlich gemacht. In den Medien sind vorerst zumindest zwei Perspektiven auf Charisma auszumachen, die beide eng mit der Entwicklung der katholischen Kirche zusammenhängen: Zum einen wird diese mit dem konkreten Charisma des Papstes begründet, wodurch einer einzelnen Fähigkeit sehr großer gesellschaftlicher Einfluss zugeschrieben wird. So kann das inadäquate Charisma eines Papstes auch zum ‚Un-Heil‘ für die Gesellschaft werden. Zum anderen werden die Charismen der Gläubigen von Kirchenvertretern als prinzipiell vorhanden, aber durch diese selbst zurückgehalten konstruiert, wodurch der generelle Einfluss der Kirche gefährdet ist. Die Ursache von Charisma als von Gott gegebene Gabe muss zwar selbst als Teil des „Asyls der Unwissenheit“ (Spinoza) unhinterfragbar bleiben und wird auch nicht in Frage gestellt. Diesbezüglich darf das Wissen an seine Grenzen kommen. Die Unwissenheit über das Vorhandensein der eigenen Charismen oder deren Auswirkungen ist jedoch nicht geduldet.

2.3 Profane Handlungssphäre: Exposition vs. Ex-Kommunikation Sind Besitz und Ausübung von Charisma/Charismen in der religiösen Handlungssphäre sowohl für Amtsträger als auch für Gläubige Allgemeingut und Pflicht, so exponiert Charisma in der profanen Handlungssphäre seinen Träger: Es gibt viele Politiker und Stars, aber nicht allen wird/kann/soll Charisma zugeschrieben werden, wenngleich ein inflationärer Gebrauch zu beobachten ist. Trivialisierung von Charisma in der profanen Handlungssphäre zeigt sich auch in einer noch stärkeren semantischen Inkonsistenz in der Verwendung des Ausdrucks. Die folgenden beispielhaften Diskursaussagen verdeutlichen Unstimmigkeiten und Willkür bei der Zuschreibung hinsichtlich der Frage, ob Personen oder Handlungen charismatisch, ob Handlungen Ursache oder Ausdruck von Charisma seien, ob Charisma eine feste

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oder veränderbare Eigenschaft sei, sowie allgemein trivial erscheinende Vorstellungen von dieser ‚göttlichen Gnadengabe‘. (24) Seine Stimme ist melodisch, weich, lyrisch, sein Auftritt kraftvoll, mitreißend und von jenem Charisma, mit dem man auch Politik machen kann. (Die Zeit, 13.9.1985) (25) Charismatisch sein kann Netzer mit einem Steilpass aus der Tiefe des Raumes, können die Tricks des Magiers David Copperfield wirken oder ein bestimmtes Lied von Herbert Grönemeyer, bei dem viele tausend Gläubige ihre Feuerzeuge hochhalten und den Sänger als begnadeten Menscheneinsammler verehren, dem zu folgen sie selbst nach Bochum bereit sind. (Süddeutsche Zeitung Magazin, Heft 23/2007)

Charisma wird als durch Performanz entfaltet dargestellt. Die charismatische Wirkung wird aus Sicht des die Rezension verfassenden Medienakteurs, der selbst dabei war und die Stimme des Sängers hört, postuliert (24), oder über eine dritte Instanz (25), über die anderen, die Netzers Schuss beobachten, sich von Copperfields Tricks beirren lassen, durch Grönemeyers Lied als Gläubige kollektiviert werden. Charismatisch sind nicht die Personen, sondern deren Fähigkeiten, bzw. die Personen im Demonstrieren der Fähigkeiten: Netzer ist charismatisch nur im Akt des Steilpasses, charismatisch sind die Tricks, ist das Lied. Damit ähneln diese Fähigkeiten der paulinischen Vorstellung von auf die Menschen verteilten Charismen als Einzelbegabungen. Solche außergewöhnliche Leistungen können mittels Charisma dazu konstruiert werden, um den Glauben an eine Person als Ganzes zu legitimieren (26). Beobachter einzelner Leistungen können konstruiert werden, um eine ganzheitliche personale Charismazuschreibung zu legitimieren (27). (26) Neues geschaffen, Gutes wie Schlechtes, hat auch Julian Assange. Der WikiLeaks-Gründer ist zur charismatischen, die Menschen bewegenden Figur geworden. (Zeit Online, 25.12.2010) (27) Sie war damals schon recht bekannt und sprach öfters vor großem Zuhörerkreis. Nach diesen Stunden fing man an, ihr Charisma zuzuschreiben. (Die Zeit, 13.9.1985, über die Psychologin Ruth Cohn)

In beiden Fällen erscheint die Zuschreibung von Charisma zwingend, weil sie auf einer intersubjektiven Meinung, einer empirisch nachweisbaren Performanz bzw. nachweisbaren Fakten beruht. Sind es bei (26) und (27) die sozialen Handlungen, die jemanden charismatisch machen, so resultieren im folgenden Beispiel die außergewöhnlichen Handlungen aus dem Charisma als Ursache: (28) Ich habe erlebt, wie Guttenberg nach einer Wahlkampfrede in einer Gaststätte im heimischen Franken auf die Menschen zuging. Wie er jedem Einzelnen, der mit ihm sprach – und sei es auch nur für eine Minute – das Gefühl gab, der wichtigste Mensch der Welt zu sein. (...) Guttenberg hat das, was die alten Griechen „Charisma“ nannten. Eine gottgegebene Gabe, die Menschen für sich zu gewinnen. (Bild.de, 29.10.2010)

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Durch die Ich-Perspektive des teilnehmenden Autors wird eine Authentisierung des Erzählten erreicht. Diese überträgt sich auf die Charisma-Behauptung. Charisma wird als Wahrheit präsentiert, die sich aus der Beobachtung als zwingende Schlussfolgerung ergibt. Der Beweis, dass es Charisma gibt, wird über die Angabe der Wortherkunft scheinbar mitgeliefert. Einmal erfolgte Charismazuschreibungen können jedoch auch zurückgenommen werden. Charisma, obwohl als persönliche Gabe dargestellt, ist keine bleibende Gabe: (29) Clinton hatte es, Blair hatte es, Obama hat es (Bild.de, 29.10.2010)

„Bleibt die Bewährung dauernd aus, zeigt sich der charismatische Begnadete von seinem Gott oder seiner magischen Heldenkraft verlassen“, dann, so Weber (1929/1980, 140), schwindet seine Autorität. Die Medien schreiben das Charisma ab. Dieses Abschreiben muss nicht synchron erfolgen und geschieht ebenso wenig aufgrund empirischer Tatsachen wie die Zuschreibung, vielmehr ist auch diese ein sprachliches Machtinstrument, das im Diskurs selbst begründet ist. (30) Da stand ein grundvernünftiger Mann vor der Welt, selbstbewusst, klug, konzentriert. Weder Messias noch Hoffnungsapostel und nur ein bisschen sentimental. (Stern.de, 10.12.2009)

Dass Obamas Charisma abgewertet wird (30), wird nur durch die für Charismatiker verwendeten diskursiven Synonyme deutlich, wobei das Grundwort -apostel im Kompositum Hoffnungsapostel den negativ besetzten Moralapostel assoziiert. Obamas einst hochgelobte Fähigkeit, zu emotionalisieren, wird anhand des Skalierungsausdrucks nur ein bisschen in Kombination mit dem Adjektiv sentimental, das ‚emotional‘, aber auch negativ bewertet ‚rührselig‘ bedeuten kann, kritisiert. Die Adjektive grundvernünftig, selbstbewusst, klug, konzentriert sind irdisch-rational und stehen absichtlich im Kontrast zu einem früheren, durch die Medien konstruierten, eloquenten Hoffnungsträger, dessen ehemalige große Reden nun als transzendentes ‚Theater‘ (um-)konstruiert werden. Während sich die sukzessive Charismaabschreibung eines zuvor zugeschriebenen Charismas asynchron vollziehen kann, erfolgt das explizite Zuschreiben eines fehlenden Charismas nach ersten Beobachtungen weitgehend medienübergreifendsynchron und ist kaum reversibel: Einmal ohne Charisma, immer ohne Charisma. (31) Wulff mag persönlich nett und voller guter Absichten sein, er bleibt ein Mann ohne Charisma. (Süddeutsche.de, 5.1.2012) (32) Christian Wulff hatte weder mächtige Verwandte, die ihn gestützt hatten, noch war er durch besonderes Charisma in sein Amt gekommen. (Cicero, 17.2.2012)

Das Aufrufen des Fehlens von Charisma fungiert als ‚Totschlagargument‘, im wahrsten Sinne des Wortes. Zum einen verbirgt sich dahinter das deontische Argu-

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ment, der Politiker/Unternehmer/Star müsse Charisma haben, um erfolgreich zu sein oder ein bestimmtes Amt erst bekleiden zu dürfen. Zum anderen wird vielen Personen Charisma nicht explizit zugeschrieben, dennoch sind sie erfolgreich. Aus dieser Diskurslogik ergibt sich: Charisma ist für die jeweilige Aufgabe zwar keine notwendige Bedingung, wenn es aber einmal als fehlend benannt wird, ist es eine notwendige Bedingung für das Scheitern der Person. Aus dieser Logik spricht scheinbar ein Verlangen der Menschen nach Charisma. Die unhinterfragte Annahme, es gebe Charisma, analog zur religiösen Handlungssphäre, dient jedoch zunächst als unwiderlegbares Grundargument, wenn es darum geht, den Erfolg oder den Misserfolg einer Person zu rechtfertigen bzw. erst sprachlich zu konstituieren. Explizite oder implizite (De-)Charismatisierungen etablieren einen NotwendigkeitsTopos und sind Teil argumentativer Themenentfaltungen, mit denen Medienakteure ihre Positionen stärken, nicht etwa Wirklichkeit erklären. Macht durch Charismakonstruktion wird zudem durch die Beliebigkeit der Zuund Abschreibung nicht unterminiert, sondern gestärkt: (33) Es geht auch ohne Charisma: Robert Pattinson verführt als „Bel Ami“ die Frauen reihenweise. Dafür genügt ihm das Zusammenziehen seiner Augenbrauen. (Welt.de, 3.5.2012) (34) Robert Pattinson punktet vor allem mit Charisma. (Klatsch-tratsch.de, 26.6.2012)

Zwei Medien, zwei Autoren, zwei Rezensionen, zwei Filme – ein Schauspieler, eine Textsorte. Je nachdem, ob der Film in der Rezension verrissen oder angepriesen werden soll, kann Charisma als objektiv konstruierte Tatsache zum handlungsleitenden Argument werden, einen Film zu sehen oder nicht zu sehen – Konsumsteuerung ist ein machtvolles Instrument in einer ökonomisierten Welt. Die Trivialisierung des Charismas durch die Medien lässt sich semantisch betrachtet auch an dem Variantenreichtum der in den Diskursen realisierten Konstruktionen ablesen. Da hat eine Person, abgesehen von den spezifischen Einzelcharismata wie erotisches Charisma oder rednerisches Charisma generell ein charismatisches Wesen oder persönliches Charisma. Charisma kann auch ganz gewöhnlich sein, dann hat jemand zwar Charisma, aber kein besonderes Charisma. Charisma, verstanden als Gottesgabe und Wesensbestandteil des Menschen, ist ein Nomen continuativum, im Diskurs aber wird es quantifizierbar und portionierbar dargestellt: so wenig Charisma, viel Charisma oder auch eine gehörige Portion Charisma. Zudem ist Charisma aktiv veränderbar. Wer es nicht geerbt hat, der hat es erlernt, danach kann es ausgebaut werden, was impliziert, dass Charisma-Mangel auf ein Selbstverschulden zurückführbar ist. Charisma ist zudem steigerbar, z. B. in der Aussage „Er [sc. Karl Schleinzer aus der ÖVP] hatte das beste Charisma“ (Q3). Der Superlativ ist dabei nicht der Gipfel der Trivialisierung in einer von Charisma getränkten Welt. Die charismatische Charisma Carpenter zeigt, dass das Adjektiv als reines Stilmittel für die wohlklingende Alliteration in Verbindung mit den Nomina propria eingesetzt wird. Wenn schließlich vom Charisma eines Wunderkindes oder

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dem Charisma einer Schlafmütze die Rede ist, zeigt sich, dass sich Charisma einerseits in vorgefertigte Formen pressen lässt, andererseits der Hochwert des Ausdrucks im Zuge der Ironie mitironisiert wird. Die Vermutung liegt daher nahe, dass Charisma zu einem großen Teil als „leerer Signifikant“ (Laclau 1999, 36ff.) verwendet wird. (35) Charisma trifft zu auf einen genialen Verkäufer, der auf dem Hamburger Fischmarkt jeden Sonntagmorgen mehr Bananen an den Mann bringt als andere. (Süddeutsche Zeitung Magazin, Heft 23/2007)

Jeder kann charismatisch sein. Man muss ihm nur Charisma zuschreiben. Argumente dafür braucht es kaum. Charisma ist das Argument.

3 Triviale Transzendenz? Ausblick und Desiderata Brubaker/Cooper (2000, 20) befinden zur Verwendung des Begriffs „Identität“: „If identity is everywhere, it is nowhere.“ Gleiches gilt für den Charisma-Begriff, der einen Aspekt menschlicher Identität beschreibt. Charisma ist zu einem Modebegriff geworden. Jeder hat das Potenzial, charismatisch zu sein, es muss sich nur jemand finden, der dies behauptet. Selbstzuschreibungen sind verdächtig, Fremdzuschreibungen nicht, vor allem dann nicht, wenn sie durch die Medien als allgemein akzeptierte Wahrheit vervielfältigt werden. Die allgemeine Gewöhnung an die Begriffsverwendung gepaart mit dem Anschein der Objektivität lassen den religiösen Ursprung des Begriffs zwar nicht vergessen, aber doch gerade so weit zurücktreten, dass er nicht hinterfragt wird. Dass Charisma eine Gnadengabe Gottes sein soll, wird in der profanen Handlungssphäre eher selten explizit gesagt, sondern über die Polysemie des Ausdrucks das semantische Merkmal der Transzendenz stillschweigend inferiert und auf diese Weise Identität mystifiziert. Wo die Herkunft des Wortes benannt wird, wird nicht etwa der Zweifel an diese transzendente Verbindung offengelegt, sondern es werden Gewährsleute für die Argumentation herangezogen, etwa die alten Griechen, die den Begriff auch schon kannten. Der diskursive CharismaBegriff ist strukturiert durch eine Ambivalenz aus der unterlassenen Notwendigkeit, die Besitz-Behauptung empirisch zu hinterfragen, gepaart mit einem sich an dem Mysterium Ergötzen wollen. Aus dieser Dialektik resultiert die Synthese, dass Transzendenz nicht durch Rationalität verschwindet, sondern ihre permanente Anwesenheit im Diskurs akzeptiert und damit trivialisiert wird. „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ (Wittgenstein 1918/1984, 85, § 6.522) Wenn mit Charisma das Unaussprechliche, Mystische bezeichnet wird, so wird noch im Akt des Bezeichnens die eigentliche Unmöglichkeit des Bezeichnens scheinbar suspendiert. So, wie das Mysterium begrifflich nur rein negativ bestimmt werden kann, denn was mit diesem Ausdruck

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positiv bestimmt wird, sind die Gefühle, die sich dazu im Menschen bilden (vgl. Otto 1920, 14), so sind auch die Intentionen für die Verwendung des Ausdrucks Charisma ausschließlich beim Zeichenbenutzer zu suchen. Der Akt des Aussprechens, der Performanz in Sprache fasst, ist kein reiner Akt der Beschreibung, sondern der Weltveränderung, indem er die Sicht auf die Welt beeinflusst. Sprachliche Ausdrücke wie Charisma, Mysterium, Gott machen bewusst, dass Sprache Welt nicht adäquat beschreiben kann. Während aber nicht angezweifelt wird, dass mit den Ausdrücken Mysterium oder Gott eine adäquate Beschreibung der Referenz unmöglich ist, wird Charisma im Diskurs vorwiegend als adäquater Ausdruck zur Beschreibung von Fakten verwendet. Die logische Folgerung „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“ (Wittgenstein 1918/1984, 85, §7) wird im Falle von Charisma zum Vorgeben eines höheren Wissens, das Deutungshoheit impliziert. Was heute unter Charisma zu verstehen ist, ist eine Frage danach, welcher Argumentation Charisma im Diskurs dient. Es zeigt sich, dass Charisma als polysemer Ausdruck die religiöse und profane Handlungssphäre verschränkt und sich diese Polysemie partiell auflöst. Charisma als sprachliches Phänomen kann damit gleichermaßen als Zeichen für eine religiöse Popkultur wie auch für eine populäre Religion verstanden werden. Welche Motive auch eine Trivialisierung von Charisma bewirken, die Motive selbst oder ihre Auswirkungen sind nicht trivial. Wenn es nicht mehr die außeralltäglichen, sondern vor allem die alltäglichen Krisen sind, die Charismatisierungen befördern, dann wird mit Charismatisierungen offenbar Kontingenz bewältigt. Nach Luhmann (1987, 152) ist etwas kontingent, „was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist.“ Die Wahl von Sinnalternativen wird dem Einzelnen mehr denn je zur Qual. Das moderne Subjekt muss mit einer Patchwork-Identität (vgl. Keupp et al. 1999) klar kommen, die durch funktionale Rollendifferenzierungen in unterschiedlichen Lebenswelten gekennzeichnet ist. Die verschiedenen funktionalen gesellschaftlichen Bereiche besitzen zwar für sich genommen Sinnhorizonte, diese sind aber „überhaupt nicht mehr auf die Sinnintegrationserfordernisse einer persönlichen Identität bezogen.“ (Luckmann 1991/2010, 144) Den für den Einzelnen abstrakten, anonymen Sinn-Bereichen, wie ökonomische und politische Institutionen, so Luckmann, steht die zunehmende Privatisierung des Lebens gegenüber, durch die das Individuum seiner Subjektivität überlassen wird (Luckmann 1991/2010, 145). Diese Subjektivität birgt die Verantwortung, selbst zwischen Sinnalternativen entscheiden zu müssen und die Konsequenzen zu tragen. Und Charisma, das ein Heilsversprechen in sich trägt, ist heute gleichsam frei zugänglich und an keine Institution mehr gebunden. Obwohl der in der medialen Öffentlichkeit verwendete Ausdruck „Charisma“ heute zu einem großen Teil in einem nicht-religiösen kommunikativen Zusammenhang gebraucht wird, bedeutet es nicht, dass er säkularisiert ist. Auch die ‚unerklärliche Ausstrahlung‘ ist eine behauptete Transzendenzerfahrung. Sie verweist auf eine wesensmäßige Abwesenheit, die als Ausdruck einer elementaren Religiosität

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(Luckmann 1991/2010) betrachtet werden kann. Schneider (2008), der in postmodernen Charismakonstruktionen eine Sinnproduktion durch Reflexionsanästhesie sieht, rückbezieht das Unbehagen, das dem Individuum durch Kontingenz entsteht, auf die menschliche Identität im Vergleich mit der Identität Gottes. Während sich menschliche Identität in sozialen Prozessen immer über das Andere definieren muss, ist Gott „absolute Identität“, die es nicht nötig hat, sich über Differenz abzusichern (Schneider 2008, 132). Charisma, das in einer wie auch immer gearteten Verbindung mit dem Göttlichen steht, erscheint dem Individuum als geheimnisvoll und wertvoll – Charismagläubigkeit, so Schneider, sei daher ein „probates Mittel der Entscheidungsausblendung“ (2008, 134) und damit ein Kontingenzreduzierer. „Charisma macht die Welt eindeutig und als solche notwendig [...]: Es vermittelt letztgültige und fraglose Identität – die Rückfahrkarte ins Paradies.“ (Schneider 2008, 134) Der Charismatiker wirkt zwar im Raum des Diesseitigen, bezieht seine außeralltäglichen Eigenschaften aber aus dem Raum des Transempirischen (vgl. Schneider 2008, 143). Auch Tänzler (2007, 122) betont bei Charismazuschreibungen „die Priesterfunktion des Politikers als Sinndeuter oder [...] Komplexitätsreduzierer“. Das „Gehäuse der Hörigkeit“ (Weber 1918) kommt damit heute als scheinbar harmloser Akt der Wiederverzauberung daher. Das eigentliche Paradoxe an der sprachlichen Verwendung des Ausdrucks Charisma ist, dass das damit Bezeichnete aufgrund seiner inhärenten Transzendenz im Grunde nicht kommunizierbar ist. Es sperrt sich kommunikativen Entschleierungsversuchen (vgl. Schneider 2008, 137) und muss dies auch tun, weil sonst nicht mehr von Charisma gesprochen werden kann. Die Diskursforschung muss deshalb hier ansetzen und danach fragen, mit welchen Implikationen und Funktionen dieser vage und polyseme Ausdruck dennoch oder gerade deshalb von Akteuren verwendet wird. Hierfür müssten etwa in einer größer angelegten Studie „spezifische Diskurskonstellationen im Sinne koexistierender Aussagen“ (Spitzmüller/Warnke 2011, 126) betrachtet werden. Es müsste genauer danach gefragt werden, in welchen spezifischen Diskursen Charisma konstruiert wird, welche diskursiven Ereignisse der Konstruktion zu Grunde liegen. So ist zum Beispiel gesellschaftspolitisch relevant, ob und wie sich sprachlich-mediale (De-)Charismatisierung oder die explizite Negation von Charisma auf politische Ämter auswirkt, welche Erwartungen an Charismatiker als Hoffnungsträger geknüpft werden, welche Ereignisse bewirken, dass sich etwa Charisma-Diskurse etablieren, die Zuschreibungsgründe selbstreferenziell zum Thema machen. Neben Medienanalysen sind weitere Konstruktionsfelder von Charisma als Gegenstand diskursforscherischer Analysen denkbar. Mit Hilfe narrativer Interviews in einer christlichen Gemeinde ließen sich die Einstellungen der Mitglieder zu den eigenen Gnadengaben im Verhältnis zu denen des Papstes erforschen. In TV-Talkshows, aber auch in privaten Lebenswelten könnte mit der Methode der linguistischen Gesprächsanalyse die verbale Herstellung und Reflexion von Charisma rekonstruiert werden, um somit, gleich einem Prisma, Aussagen über Charisma aus verschiede-

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nen Diskursrichtungen vergleichend zu bündeln. Ein weiterer Forschungsgegenstand könnte die direkte Charismabeziehung sein, indem Briefe oder E-Mails von Charisma-Anhängern an ihre Idole auf die Selbst- und Fremdkonstruktion von Identität hin ausgewertet werden. Dies wäre ein Versuch, die Mikroperspektive mit der ‚allgemeingültigen‘ öffentlichen Vorstellung von Charisma zu vergleichen. In allen Fällen gilt es jedoch, erstmals konsequent und empirisch Konstruktion von Charisma in den Blick zu nehmen, da diese nicht, wie Medien suggerieren, in der Performanz des Charismaträgers liegt, sondern im Auge – in der Sprache – des vermeintlichen Betrachters.

4 Literatur 4.1 Internetquellen Q1: Duden-Rechtschreibung, Lemma „Charisma“. Online verfügbar unter: http://www.duden.de/rechtschreibung/Charisma. Stand: 08.08.2017. Q2: Wikipedia, Artikel „Guild Wars 2“. Online verfügbar unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Guild_Wars_2. Stand: 08.08.2017. Q3: Posting des (mittlerweile gesperrten) Users stcorona mit Bezug auf Karl Schleinzer. Online verfügbar unter: http://www.boerse-express.com/cat/postings/thread/765493#post_765568, 24.01.2013. Stand: 25.07.2017.

4.2 Sekundärliteratur Bechdolf, Ute (2001): Weibliches Charisma? Marlene, Marilyn und Madonna als Heldinnen der Popkultur. In: Häusermann, 31–44. Berger, Peter A./Klaus Hock/Thomas Klie (Hg.) (2013): Religionshybride. Religion in posttraditionalen Kontexten. Wiesbaden. Bergmann, Jörg R./Thomas Luckmann/Hans-Georg Soeffner (1993): Erscheinungsformen von Charisma – Zwei Päpste. In: Gebhardt/Zingerle/Ebertz, 121–155. Bernard, Jutta/Günter Kehrer (1988): Charisma. In: Hans Waldenfels (Hg.): Lexikon der Religionen. Freiburg i. Br. u. a., 205–206. Black, Max (1996): Die Metapher. In: Anselm Haverkamp (Hg.): Theorie der Metapher. Studienausgabe. 2. Aufl. Darmstadt, 55–79. Bliesemann de Guevara, Berit/Tatjana Reiber (2011): Popstars der Macht. Charisma und Politik. In: Dies. (Hg.): Charisma und Herrschaft. Führung und Verführung in der Politik. Frankfurt a. M./New York, 15–52. Blommaert, Jan (2007): Discourse. A critical introduction. 4. Nachdruck, Cambridge, UK. Breuer, Stefan (1994): Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers. Darmstadt. Brubaker, Rogers/Frederick Cooper (2000): Beyond „identity“. In: Theory and Society 29, 1–47. Brunner, Otto (1968): Bemerkungen zu den Begriffen „Herrschaft“ und „Legitimität“. In: Ders.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Göttingen, 64–79. Burkhardt, Armin (1998): Deutsche Sprachgeschichte und politische Geschichte. In: Werner Besch/ Anne Betten/Oskar Reichmann (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der

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Helmut Ebert

13. Sprachspiel der Verkündigung Abstract: Dieser Beitrag beschreibt das Sprachspiel der (christlichen) Verkündigung aus einer kommunikativ-funktionalen und aus einer kognitiv-funktionalen Sicht: Welche kommunikativen Aufgaben erfüllt Verkündigung? Was leisten sprachliche Mittel und Verfahren, um das Wahrnehmen, Fühlen und Denken (im Vorfeld von Handeln und Gemeinschaftsbildung) zu steuern? Im Kern geht es um die Textart „Predigt“. Predigen heißt öffentlich, autorisiert und mündlich die Heilsbotschaft vermitteln. Eine genauere Betrachtung von Predigtauftrag, Akteurskonstellationen, Inhalten und Situationen sowie von Strategien der Glaubensbegründung zeigt, wie komplex die Zusammenhänge sind, die dem jeweiligen Sprachspiel seinen „Witz“ (Wittgenstein) verleihen. Am Beispiel von Deiktika und Tempus wird aufgezeigt, wie spezifische Verhaltenshintergründe erzeugt werden, die für die Rezipienten besondere (Sinn-)Erschließungssituationen schaffen. Exemplarische Analysen gelten Meister Eckhart und Martin Luther, deren Predigten die „Subjektwerdung des modernen Menschen“ (Gephart) entscheidend beförderten. Ein Blick auf die Verkündigung in der Gegenwart schließt den Beitrag ab. 1 2 3 4 5 6 7

Einführung Verkündigung Referentialität Erzeugung von (intrinsischer) Motivation Exemplarische Analysen Fazit und Ausblick Literatur

1 Einführung Im Folgenden soll das Sprachspiel der (christlichen) Verkündigung aus einer doppelten funktionalen Perspektive beschrieben und erklärt werden. Aus der kommunikativ-funktionalen Sicht wird gefragt, welche kommunikativen Aufgaben Verkündigung erfüllt, und aus der kognitiv-funktionalen Sicht wird gefragt, welche Leistungen sprachliche Mittel und Verfahren übernehmen, um innere Handlungen des Wahrnehmens, Fühlens und Denkens zu steuern, die das Handeln leiten. Diese doppelte Perspektive ist notwendig, da man dem Gegenstand der Verkündigung nicht gerecht werden kann, wenn man nur vom Wortschatz und von der Grammatik religiöser Texte ausgeht (vgl. Bayer 2004, 11). Für religiöse Texte ist nach Bayer „jeweils die Funktion und damit die Semantik und Pragmatik religiöser Texte“ (ebd.) entscheidend. Allerdings bleiben die Begriffe „Funktion“, „Semantik“ und „Pragmatik“ auf den Text bezogen, so wenn beispielsweise von „semantische[n] Beson-

DOI 10.1515/9783110296297-014

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derheiten religiöser Texte“ (ebd., 112) die Rede ist. Da wir Texte jedoch als Anweisungspotenziale für Verstehenshandlungen betrachten, geht es letztlich immer auch um die Frage, was solche ‚Besonderheiten‘ für eine Rolle bei der Bewältigung individueller und kollektiver Aufgaben und Probleme spielen, und um welche allgemeinen und spezifischen Funktionen es dabei geht. Bei der Bestimmung der allgemeinen Funktionen von Religion und religiösem Sprachgebrauch folgen wir weitgehend Latour (2011): − religiöse Kommunikation informiert nicht, sondern schafft und vertieft Beziehungen, − sie dient nicht dazu, irgendwelche Geheimnisse des Kosmos oder Jenseits zu erkunden, sondern sie zielt auf Transformation, darauf „Personen zum Vorschein zu bringen“ (ebd., 99), − die beabsichtigte Wirkung (Perlokution) ist bei der religiösen Rede nicht etwas, das einem Sprechakt folgt oder auch nicht, sondern sie ist im Sprechakt selbst, d. h. in dem, was kommunikativ Beziehung stiftet, angelegt und erfordert die Aufrichtigkeit des Sprechers, der bereit ist, in die Rolle des Hörers zu wechseln, so wie es bei einem (Liebes-)Gespräch der Fall ist. Eine solche ins Pragmatische gewendete Betrachtungsweise von Phänomenen der Sinnbildung bietet zugleich den Vorteil, dass der Schuster bei seinen Leisten bleibt, i. e. dass der Linguist nicht unversehens die Vorannahmen der Theologen übernimmt. Er hat genug damit zu tun, die eigenen blinden Flecke zu erkennen, die seine Herangehensweise beeinflussen. Jedenfalls muss den Linguisten nicht interessieren, was das Numinose oder Göttliche ist, oder ob es das gibt. Er kann studieren, wie Menschen über solche ‚Dinge‘ sprechen und was sich in deren (Normal-) Bewusstsein oder Wahn-Bewusstsein abspielt und was sie bezwecken und anrichten, wenn sie von „Sündern“, „Verdammten“, „Ungläubigen“, „Gotteskriegern“ oder „Soldaten Gottes“ (miles christi) sprechen. Die historisch-kritische (Bibel-) Forschung ist unverzichtbar, wenn es darum geht, die Seinsweise von Begriffen und Textaussagen richtig einzuschätzen: „Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben“ (Mt 1,22f.). An dieser Stelle kann man „nicht mehr von einer Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen durch Gott sprechen, sondern nur noch vom urchristlichen Glauben an diese Erfüllung“ (Luz 2002, 152, zit. n. Flasch 2013, 114), also reden wir hier über eine Vorstellung oder bewusstseinsmäßige Tatsache. Eine Beschreibung und Erklärung des Sprachspiels der Verkündigung muss also eine texttheoretische Komponente und eine bewusstseinstheoretische Komponente umfassen. Die erste Komponente berührt die Gestaltqualitäten und Instruktionspotenziale von Texten. Sie beschreibt und erklärt das Potenzial der Verstehens- und Erlebensanweisungen der grammatischen und lexikalischen Zeichen (vgl. Köller 1988, 325–381). Die zweite Komponente beschreibt und erklärt, wie Leser Textinformationen emotional verarbeiten, aus Vorverständnissen ein Gesamtverständnis aufbauen und Textinhalte

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immer wieder in Beziehung zu anderen Wissenselementen setzen, wobei Wissen in einem weiteren Bedeutungsumfang Meinungen, Erfahrungen, Vermutungen, Einstellungen etc. bedeutet. Die „Aktualgenese“ (Köller 1988, 327), d. h. die Verarbeitung von Textinformationen, also das ‚Übersetzen‘ linearer Zeichenketten in simultane Vorstellungsbilder, wird von bestimmten emotionalen Erlebnisqualitäten begleitet und beeinflusst.

2 Verkündigung Im Folgenden geht es um die katholische und protestantische Spielart der Verkündigung, wobei der Protestantismus der Predigt ein besonderes Gewicht beigemessen hat (vgl. dazu auch Kucharska-Dreiß in diesem Band). Die wesentlichen kommunikativen Formen der Verkündigung sind Lesung, Rezitation (der Bibel) und Predigt (Homilie) (vgl. Lasch 2011, 545). Es handelt sich hierbei um Werkzeuge eines funktionalen Diskurses, die ihren festen Platz im sozialen Leben der Gemeinde haben und dem Leben Struktur und Sinn geben (Wilburg 1990, 359). Im Hinblick auf die Predigt ist zu bedenken, dass sie eine Verkündigungsform darstellt, „die durch viele andere Weisen der Verkündigung innerhalb und außerhalb der sichtbaren Kirche ergänzt wird“ (Müller 2007, 61), also insbesondere auch durch ein christliches (Vor-)Leben (vgl. ebd.). Gegenstand der Verkündigung ist das Evangelium von Jesus Christus. Verkündigen heißt ‚Kunde bringen‘ und ‚feierlich kundtun‘. Lesung und Rezitation zielen auf die Vergegenwärtigung eines engelhaften oder prophetischen Ereignisses durch den die ‚heiligen‘ Worte lesenden oder rezitierenden Priester. Die Predigt verkörpert den narrativen Mythos als die wichtigste Hauptform religiöser Kommunikation neben dem Ritual (vgl. Bayer 2004, 26, zum Ritual vgl., freilich unter anderen Vorzeichen, Fix in diesem Band). Predigen heißt öffentlich, autorisiert und mündlich die Heilsbotschaft vermitteln, wobei davor zu warnen ist, das Vermittlungsgeschehen im Sinne eines Nachrichtenjournalismus misszuverstehen, dessen Neuigkeiten ja nicht auf das Selbst des Adressaten zielen, sondern auf eine Informationserwartung. Neben der mündlichen Predigt existieren schriftliche Ersatzformen wie z. B. Schriften von Heiligen, die abgelesene eigene Homilie oder der vorgelesene „Hirtenbrief“ (vgl. Werlen 1984, 218). Hier spricht der jeweilige Vorleser im Namen und auf Anordnung des Verfassers (Bischof, Bischofskonferenz). Autorisiert sein heißt, es gelten – auf der Basis kanonisierter Schriften – die jeweils institutionalisierten Prämissen der Glaubensbegründung und Glaubensvermittlung (s. u.). Vermitteln heißt, engagiert und bewertend Heils- und Weltgeschehen verknüpfen und auf einer tragfähigen Beziehung gemeinsam mit den Menschen Perspektiven zu Umkehr, Nachfolge und Gemeinschaft zu erarbeiten. Die Autorität des überlieferten Weltbildes führt oft dazu, dass religiöse Sprecher wie etwa Missions- und Bußprediger mit hoher Intensität reden und Zustimmung, Gehorsam und Glauben fordern

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(vgl. Bayer 2004, 39) und indem sie das tun, (Macht-)Beziehungen ausnutzen statt menschliche Beziehungen zu stiften oder zu erneuern. Da wir es bei der Predigt mit einer Textklasse zu tun haben, können ganz unterschiedliche Textsorten in die Predigt einfließen bzw. dieselbe konstituieren (vgl. Bayer 2004, 28). Im Barockzeitalter war z. B. die Grenze zwischen Predigt und Dichtung fließend. Die unterschiedlichsten literarischen Formen wie Lied, Gedicht, Fabel, Drama und Schauspiel wurden einbezogen, daneben aber auch Beispiele aus Geschichte und Natur sowie Nachrichten über Unglücksfälle und Verbrechen, die Aufmerksamkeit sicherten und eine höhere Wahrheit veranschaulichen sollten (vgl. Heymel 1994, 319). Die Predigt ist ein Exemplar der öffentlichen Rede neben anderen und bedient sich (idealiter) der klassischen Konzepte des docere, delectare und movere, um möglichst eindrücklich auf die Hörer einzuwirken (vgl. Paul 2010, 2258). Interessant ist die Textart „Predigt“ vor allem deshalb, weil sie dem Prediger Spielraum (vgl. dazu im Hinblick auf das Montagsgebet besonders Fix in diesem Band und generell Kucharska-Dreiß in diesem Band) lässt, „welcher Interpretation er das verkündete Wort Gottes zuführt und in Bezug zur gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Gegenwart setzt“ (Lasch 2011, 546). Die Predigtsprache muss sich aus Verständlichkeitsgründen der Alltagssprache annähern, aber gleichzeitig Wert darauf legen, als Sozialform sui generis wahrgenommen zu werden.

2.1 Auftrag und Akteure Die Verkündigung als kirchliches Handeln in der Öffentlichkeit folgt dem Öffentlichkeitsauftrag Jesu an seine Jünger: „Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“ (Mt 10,7) Dem Öffentlichkeitsauftrag entspricht der Sendungsauftrag des auferstandenen Jesu: 18 Und Jesus trat herzu, redete mit ihnen und sprach: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. 19 Darum gehet hin und lehret alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes 20 und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. (Mt 28,18–20)

Zur Umschreibung des allgemeinsten Zwecks dienen Begriffe wie „Heil“, „Rettung“, „Befreiung“, „Erlösung“, „Erfüllung“ oder „Vervollkommnung“, die auf den unerlösten, leidenden, schwachen, sündhaften Menschen verweisen. Als Verkündigungsakteure treten in Erscheinung: Gott als Gottvater, Gottsohn und Heiliger Geist, Jesus als Sohn Gottes und als Prophet, Engel, (inspirierte) Propheten. Dabei wird nicht „allein dem Propheten, sondern auch dem von ihm vermittelten Wort selbst zugesprochen, Verkünder zu sein“ (Lasch 2011, 545). Weitere Akteure sind die Kirche als Institution, die Heiligen und das hierarchisch organisierte Priestertum als Verwalter und Deuter des Gotteswortes. Während die Priester gleichsam als legitime „Verwalter“ prophetischer Worte erscheinen und diese als Verkünder und Ausleger beerben

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(vgl. Lasch 2011, 543), erscheinen die Propheten selbst als göttlich inspirierte Verkünder bzw. als „Sprachrohr“ Gottes (Lasch 2011, 541) bzw. seiner Engel (vgl. ebd., 544). Den Priestern (und Propheten) wird die Eigenschaft zugesprochen, näher an Gott zu stehen als andere, was als Zuteilwerden der Gnade Gottes begriffen wird (vgl. Lasch 2011, 541). Zugleich hat jede Epoche ihre eigene Vorstellung von der Rolle des Predigers, wobei eine aktuelle theologische Schrift von der Grundthese ausgeht „Predigt ist Zeugnis“ (Müller 2007, 113). Im Kern der Predigt-als-ZeugnisKonzeption geht es nach Müller darum, dass für das Zeugnis nicht nur der Vorgang der Weitergabe wesentlich ist, sondern dass ebenso die subjektive Adaption des Zeugnisinhaltes beim Zeugen durch das Moment der Erfahrung dazu gehört (ebd., 124).

Mit anderen Worten: Prediger sind glaubwürdiger, wenn ihre Botschaften nicht nur auf Wissen, sondern auch auf Erfahrungen beruhen. Mit der Aufzählung der Akteure und Rollen(-konzeptionen) ist die Verkündigungssituation noch nicht voll erfasst, denn es kann auch die Konstellation von Akteursrollen und ihre Beziehungen von Epoche zu Epoche unterschiedlich gedacht werden. Sieht sich ein Prediger als inspirierter Verkündiger und klammert die Autorität der Kirche aus, verlagert sich seine Rolle von einem beauftragten Verwalter hin zu einem charismatischen Propheten. Auch kann Gott oder das Göttliche – wie in Meister Eckharts Lehre vom Seelengrund – als Teil der menschlichen Seele aufgefasst werden, womit die orthodoxe Machtbalance ins Wanken gerät, und der Verkündigung neue Potenziale zugeführt werden konnten. Die Adressaten der Verkündigung sind als Glaubende (Bekennende) und Nicht-Glaubende (Nicht-Bekennende), Getaufte (Eingeschlossene) und Ungetaufte (Ausgeschlossene) gedacht – eine binäre Logik, die den Vorteil hat, die der Beobachtung nicht zugängliche Gedankenwelt messbar zu machen und den Menschen ein äußeres Zeichen für ihre Treue zur Institution abzuverlangen. Mit der Rolle des Gläubigen/Getauften sind Pflichten verbunden. So ist der Besuch der Sonntagsmesse verpflichtend, und es steht den Gläubigen nicht zu, das Verkündete abzulehnen. Im Gottesdienst sind Prediger und Zuhörer kopräsent, wobei der Prediger die kommunikative Macht über die Situation hat, denn Predigt ist grundsätzlich Monolog. Die Zuhörer sind anwesend Feiernde, wobei die Kategorie der Feier auch die Predigt rahmt und kommunikative Möglichkeiten ein- und ausschließt. Durch TV- oder Rundfunkübertragungen von Predigten entsteht eine neuer, und zwar ein vereinzelter und privater Rezeptionsraum für intentional Anwesende. Was fehlt, ist die Nähe zum Prediger als ein wichtiges Element der Beziehungsqualität der Verkündigung. Inszenierte Nähe kann bei Zuschauern Empathie-Reaktionen auslösen, die bis zu einer eingebildeten persönlichen Bekanntschaft gehen können. Der Zuschauer beginnt Zwiegespräche mit der TV-Person zu führen und nimmt im Vertrautheitsmodus Bezug auf die ihm persönlich nicht bekannte Person (z. B. der/die + Vorname).

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2.2 Texte, Inhalte und Funktionen Die Predigt beginnt theologisch gesehen mit der Verlesung des Evangeliums (vgl. Paul 2010, 2264), d. h. „christliche Verkündigung ist Verkündigung Jesu Christi (in seiner Einheit mit Gottvater und heiligem Geist)“ (Lasch 2011, 545). Im Zentrum christlicher Verkündigung steht das NT, daneben spezieller noch die Prophetien im AT, weiter die Archetypen des AT, die in der exegetischen Tradition kontrafaktisch Jesus Christus gegenübergestellt werden und dem Trinitätsgedanken gemäß prinzipiell auch das vollständige AT (Lasch 2011, 545, vgl. zur Predigt weiter Kucharska-Dreiß in diesem Band).

Den heiligen Texten wird die Qualität zugeschrieben, von Gott selbst geoffenbart zu sein. Primär ist die „Verkündigung“ und die Interpretation göttlichen Wortes und Wissens, das durch Wort und Handeln zur Anschauung gebracht wird, nicht jedoch […] dessen Sammlung und Archivierung. Das in den heiligen Texten archivierte Wort und Wissen ist Resultat der „Verkündigung“ und wird erst sekundär in der Tradition selbst zur „Verkündigung“ (Lasch 2011, 544).

Thematisch haben wir es bei Prophetie und Verkündigung mit einer „einheitliche[n], in sich geschlossene[n] Überzeugung vom Inhalt und Wesen des Lebens, seinen tiefsten Fundamenten und seinen höchsten Zielen“ (Bousset 1903, 107) zu tun. Die Predigt als Textart steht in einer Texttradition und kann unterschiedliche spezielle Textfunktionen wie Trost, Lehre, Ermutigung, Mahnung zum Ausdruck bringen und unterschiedliche religiöse und nicht-religiöse Textsorten enthalten (Psalm, Fabel, Gedicht, Nachricht etc.). Alle Teile bzw. Teiltexte einer Predigt werden im Lichte des tragenden Weltbildes gedeutet, woraus folgt, dass alle Sätze einer Predigt wertend und appellierend sind und auf die Person des Hörers und auf seine Beziehung zu Gott und den Mitmenschen zielen. Die Soziologen würden im Falle der Funktion von Verkündigung im Allgemeinen und der Predigt im Besonderen von einer Form der Kontingenzbewältigung sprechen, d. h. es geht darum, dem Leben trotz aller Zufälligkeiten und Unglücksfälle einen Sinn abzugewinnen.

2.3 Situationen Die Verkündigungssituation ist dadurch gekennzeichnet, dass eine autorisierte Person (Prediger) zu einer Gruppe spricht, die der Verkündigung zu ihrem Heil bedarf. Die Überzeugung, dass der Hörer heilsbedürftig sei, gehört zum Rollenrepertoire des Predigers. Allerdings ist festzuhalten, dass institutionelle Normierungen ihre Grenze in der kognitiven Autonomie des Predigers finden. Dieser ist dem Problem ausgesetzt, die eigene Innenwelt mit der institutionell vorgefertigten Weltdeutung in eine Balance zu bringen. Daher kann Verkündigung im Spannungsfeld zwischen Auftrag oder institutioneller Norm einerseits und kognitiver Autonomie

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andererseits individuell ganz unterschiedliche Grundlagen haben: persönliche Berufung (Charisma, siehe Steen in diesem Band), Pflichterfüllung, Liebe, Verantwortung für den anderen, Erwerbsabsicht, Dummheit oder krankhafte Obsession. Der Prediger nimmt eine Referenzsituation (Heilsgeschichte) zum Ausgangspunkt, kann dabei auf historische oder literarische Situationen Bezug nehmen, etwa durch Verweis auf einen Psalm, ein Gleichnis, ein Gebet oder Lied (vgl. Greule 2003, 86; vgl. auch Greule/Kiraga in diesem Band). Grundsätzlich gilt, dass heilsgeschichtliche Situationen und individualgeschichtliche Situationen aufeinander bezogen werden – mit dem Ziel die aktuelle Situation positiv zu verändern. Verkündigung kann prinzipiell an jedem Ort erfolgen. Traditionell ist sie in Form der Predigt eingefügt in eine feste Gottesdienstordnung und findet dann meist in einem institutionalisierten (heiligen) Ort (Sakralgebäude) und zu einer bestimmen (heiligen) Zeit statt. Im 17. und 18. Jahrhundert kümmerte sich der Staat selbst um den geregelten Kirchgang seiner Bürger, „denn nur ein ‚frommer‘, der Kirche und ihrer Predigt unterstellter Bürger ist auch ein zuverlässiger und als das, zuletzt ein Garant der öffentlichen Stabilität“ (Heymel 1994, 318). In der Gegenwart hat durch Rundfunk- und Fernsehübertragungen sowie neue Übertragungsmöglichkeiten in Sozialen Netzwerken eine Enträumlichung stattgefunden. Die Verkündigungssituationen können Standardsituationen sein wie der sonntägliche Gottesdienst mit festgelegten Themenpredigten. Es können gewöhnliche und außergewöhnliche Situationen Anlass einer Predigt sein (Hochzeits-, Trauer-, Dank-, Solidaritäts- u. a. Gottesdienste). Aus der Innensicht christlicher Verkündigung heraus werden klassisch die Missionspredigt (Bekehrung sog. Ungläubiger) und die Kultuspredigt (Glaubensfestigung) unterschieden (vgl. Kucharska-Dreiß in diesem Band). Zu bedenken ist, dass das Predigtwort über die unmittelbare Kommunikationssituation hinaus greifen muss, um glaubwürdig zu sein. In der „gelebten Diakonie […] muss sich als wahr erweisen, worüber in der Predigt gesprochen wird“ (Müller 2007, 49). Situationen werden also nicht einfach vorgefunden, sondern gedeutet. Fritz (2013, 72) verweist auf Kontextveränderungstheorien, die „vorwärtsorientiert“ sind, weil sie sprachliche Handlungen nicht (nur) unter dem Gesichtspunkt sehen, dass bestimmte Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sie kontextuell angemessen sind, sondern primär unter dem Gesichtspunkt, dass sich ein Kontext auf spezifische Weise verändert, wenn eine bestimmte sprachliche Handlung, z. B. eine Behauptung, gemacht wird.

Entsprechend gibt es nicht nur ein situationsangemessenes Sprechen, sondern auch ein situationsveränderndes Sprechen (vgl. Hoffmann 2010). So kann Verkündigung nicht nur Lebenssituationen erhellen, sondern Lebenssituationen umwandeln in die Erfahrung von Heil, z. B. wenn „alteingefahrene Perspektiven aufgebrochen und das Leben plötzlich in einem verheißungsvollen Licht erscheint“ (Müller 2007, 87). Wir haben es hier mit dem performativen Charakter religiöser Rede zu tun (vgl. Paul 2010, 2259), der häufig Vorrang vor der inhaltlichen Dimension hat. Die Welt wird nicht beschrieben, sondern verändert (vgl. Bayer 2004, 40 und 111). Verkündigungs-

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texte schaffen sich in hohem Maße ihren eigenen Kontext, sei es durch die Verwendung von Kollektivsymbolen („jeder nehme sein Kreuz auf sich“) oder durch die Verwendung von Vergleichen und Gleichsetzungen: „Hier [i. e. bei der Auferstehung, Zug der Israeliten durch das Rote Meer; H. E.] geschieht genau das, was uns in diesen Tagen persönlich […] geschieht.“ Die Verknüpfung von Heilsgeschichte und Weltgeschichte dient nicht nur der Erzeugung eines neuen Verhaltenshintergrundes, sondern umgekehrt muss auch die Heilsgeschichte als Verhaltenshintergrund stets neu aktuell gesetzt werden. Entsprechend haben „Verkündigungstexte teils sich in Stil und Inhalt profanen, etwa wissenschaftlichen, politischen oder alltäglichen Texten angeglichen“ (Bayer 2004, 32). Zur Einschätzung der Verkündigungssituation als Verkündigungssituation dient der Stil der Predigt, d. h. Stil ist ein sog. Kontextualisierungs-Cue (vgl. Selting 2008, 1042).

2.4 Strategien, Stile und Sprechereinstellungen Strategien der Glaubensbegründung und Verkündigung sind im Rahmen des Zusammenspiels unterschiedlicher Diskurse zu deuten. Während die heiligen Texte eine Art Konstante darstellen, erweisen sich die philosophischen „Vorbauten“ als historisch variabel: Seit dem 18. Jahrhundert veränderten sich die Lebensverhältnisse der Menschen ganz entscheidend. Neben dem medizinischen und industriellen Fortschritt veränderten zwei intellektuelle Entwicklungen ganz entscheidend das Selbstverständnis und die Wertewelt der Christen: Die Metaphysik Gottes und der Seele hörten auf, allgemeiner Wissensbesitz zu sein […] Man konnte noch an sie glauben, aber sie nicht mehr wissen. Damit verloren die Christen die argumentative Unterstützung durch die philosophischen Vorbauten des Glaubens, die Gottesund Unsterblichkeitsbeweise. […] Zweitens veränderte die historisch-kritische Methode das Bild ihrer geschichtlichen Grundlagen. Die Bibel und die Kirchengeschichte verloren ihre Legenden. (Flasch 2013, 81)

Und weiter: In dieser neuen Obdachlosigkeit entwickelten Christen neue intellektuelle Strategien der Glaubensbegründung wie: Gefühl, Erlebnis, Gestaltwahrnehmung, Entscheidung, Sprung, Abenteuer und Gnade. Alle außer der Gnadentheorie sind Nebenprodukte der nachkantischen Philosophie. Sie klangen fromm und bibelnah, aber sie stammten von Jacobi und Schleiermacher, Kierkegaard, Dilthey, Max Scheler, Heidegger, Wittgenstein, und manchmal auch von Ernst Bloch oder der Gestaltpsychologie. Keine von ihnen steht in der Bibel; alle sind sie abstrakte, moderne Reaktionen auf den Wegbruch der metaphysischen und der legendär-historischen Abstützungen. Sie sind nicht alte Glaubensinhalte, sondern Theologenhypothesen jüngeren Datums. (Flasch 2013, 82)

Mit dem Blick auf die Beantwortung der Frage, wie Religionen mit Veränderungen umgehen, hat Bergson (1932) eine statische und eine dynamische Religiosität unter-

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schieden. Erstere nimmt die „Welt, wie sie ist und verteidigt die etablierten Werte“, letztere ist „Protest gegen das Bestehende, Verdammung des Überkommenen“ (Stark 1987, 84), wobei die Ablehnung auch die religiöse Sprache betreffen kann. Während diese Konzeption nur ein Dafür oder Dagegen kennt, erlaubt die Theorie von Link (1997) einen genaueren Blick auf die Dynamik religiöser Institutionen. Nach Link (1997, 78) gibt es zwei Strategien zur Produktion von Normalitätsvorstellungen: die „protonormalistische Strategie“ gibt „stabile, starre Toleranzgrenzen“ vor, die „flexibel-normalistische Strategie“ definiert sich über „relativ weite, dynamische Toleranzgrenzen“. Die Risiken der protonormalistischen Strategie liegen im Hervorbringen einer Doppelmoral und in der „Blockierung des dynamischen Wachstums aufgrund seiner rigiden Grenzen“. Die flexibel-normalistische Strategie birgt das Risiko, dass Grenzen unscharf werden, was zu Denormalisierungseffekten führen kann. Die Erreichung eines optimalen Zustandes wäre daher nur durch den ständigen Wechsel beider Strategien möglich. Ein unbegrenzt flexibler Wechsel ist aber nicht durchführbar, da „die unterschiedlichen bzw. gegensätzlichen Strategien unterschiedliche bzw. gegensätzliche Subjektivitäten herausbilden, die nicht so ohne weiteres ausgewechselt werden können“ (ebd., 72). Verkündigungsstile prägen immer auch Wahrnehmungsgestalten und reflektieren sowohl Wissen über die eigene Identität als auch Vorstellungen über Rezeptionsgewohnheiten der Gläubigen – ein Grundgedanke dieses Handbuchs und der gesamten Handbuchreihe. Ein epideiktischer Stil zielt beispielsweise darauf ab, dass die Hörer die Predigt genießen und ihnen nicht gedroht wird. Genießen ist aber nur möglich, wenn die Predigt Wertvorstellungen und Grundüberzeugungen festigen will, die bereits akzeptiert werden (vgl. Wilbur 1990, 360). Ein Stil, der Identität zum Ausdruck bringen will, muss sich sowohl von konkurrierenden Kommunikationsangeboten absetzen als auch von den Wertvorstellungen anderer Gruppierungen unterscheiden. So muss beispielsweise deutlich werden, dass Verkündigung mit einer speziellen, d. h. innerhalb eines gewissen Rahmens willkürlichen Sicht auf die ‚ersten und letzten Dinge‘ menschlicher Existenz zu tun hat. Dabei gilt es, die Willkür der Setzung zu verbergen bzw. die Denkmöglichkeit alternativer Sinnentwürfe zu unterdrücken. Die ‚letzten Dinge‘ sind weder Dinge des Alltags noch Dinge weltlicher Herrschaft des Menschen über den Menschen. Der Alltag ist in weiten Teilen ein ebenfalls willkürlich und fremdbestimmt zugerichteter Alltag, dessen Perspektivierungen sich Spezialinteressen – z. B. denen der Profiteure der Globalisierung – verdanken, was notwendigerweise eine Perspektivierung der ‚Welt‘ durch die ‚Verlierer‘ nach sich ziehen wird. In diesem Sinne geht es bei der Betonung von Andersartigkeit immer auch um die Auseinandersetzung mit Herrschaftsformen und (konkurrierenden) Weltanschauungen oder – neutraler gesagt – um Spielformen des (scheinbaren oder tatsächlichen) Gewinnens und Verlierens. Entsprechend entschied sich das Christentum in Antike und Spätantike bewusst für den stilus humilis, d. h. für einen niederen, schlichten, demütigen und der mündlichen Volkssprache nahe stehenden Stil, teils um sich vom erhabenen Stil der imperialen Macht abzu-

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setzen und teils, weil man der kunstvollen Form als Ausdruck der Weltweisheit misstraute, wobei man es verstand, die Schlichtheit des Ausdrucks mit dem Gefühl der Leidenschaft und Begeisterung für das Evangelium zu verbinden. Nach Müller (2007, 112) ist die mit dem stilus humilis verbundene Haltung nicht falsche Bescheidenheit, sondern demütiges Selbstbewusstsein. Für die „moderne Predigt“ hat Paul (2010, 2268–2271) drei (Stil-)Typen ausgemacht. Die „Predigt als autoritäre Anrede“ geht auf Augustinus zurück. Sie kann agitatorisch genannt werden, denn es ist jedes Mittel recht, um die von vornherein feststehende Wahrheit weiterzuvermitteln. Die „Predigt als autoritative Anrede“ ist ein Konzept der dialektischen Theologie (Karl Barth): Predigen bedeutet hier weder autoritäre Belehrung noch bloße Vermittlung von Tatsachen, sondern die Ansprache des Predigers wird als ‚autoritative Anrede‘ aufgefasst, d. h. als Anrede des Wortes Gottes, das paradoxerweise durch einen Menschen gesprochen wird/werden kann (ebd., 2269).

Die Predigt soll offenbarungsgemäß, bekenntnisgemäß, kirchlich, amtsmäßig und gemeindemäßig sein (vgl. ebd., 2270), eine Forderung, bei der man die Angst der Institution vor Kontrollverlust förmlich zwischen jedem Buchstaben spürt. Der Prediger hat sich vor diesem Hintergrund nicht die technische Frage zu stellen („Wie macht man das?“), sondern „er hat seine Rolle im komplizierten Kommunikationsverhältnis zwischen Gott und den Gläubigen zu reflektieren (‚Wie kann man das?‘)“ (Paul 2010, 2270). Mit anderen Worten: das System delegiert die Lösung seiner Paradoxien an das Individuum, dessen Preis Alkoholismus und andere Mittel sein dürften, um das Bewusstsein auszuschalten. Mit dem Argument, den drohenden Wirkungsverlust der Amtskirche aufzuhalten, wird „Predigt als Diskurs“ konzipiert (ebd.). Predigt wird nicht länger als ein exklusives oder singuläres Redeereignis gesehen, sondern sie wird unter dem Aspekt ihrer Wirksamkeit mit anderen massenmedialen Veranstaltungen verglichen und in der Gottesdienstpraxis entsprechend interpretiert (Paul 2010, 2270).

Unangemessenes Pathos der Verkündigung wird kritisiert und an sog. „Zerrformen“ festgemacht: der salbungsvolle oder exaltierte Ton, die pathetischen Stilisierungen, die gravitätische Haltung (Geißner 1966, zit. n. Paul 2010, 2265). Jenseits der Typen der autoritären, autoritativen und diskursiven Predigt erwähnt Paul (2010, 2271f.) noch die sog. „charismatische Predigt“, wobei man besser von einer charismatischtotalitären Predigt sprechen sollte. Dieser Predigttypus eröffnet der Gemeinde ein kalkuliertes „Maximum an Beteiligungsmöglichkeiten“, zugleich aber „verlangt der Ritualleiter bedingungslose Hingabe an die Autorität des Wortes“ (ebd., 2272), eine vornehme Umschreibung für Techniken der Gehirnwäsche. Einstellungen beziehen sich auf die Texte, die Person des Verkünders sowie auf die Urheber und Vermittler. Katholiken wie Protestanten lehrten, „Gott habe […]

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jeden Satz der Bibel inspiriert; das Buch sei heilig und irrtumslos“ (Flasch 2013, 53), weshalb der Inhalt der Verkündigung unter den Prämissen eines objektivistischen Wahrheitsverständnisses als nicht anzweifelbar vorgestellt wurde. Wer entsprechend die Kanonbildung als Werk des Heiligen Geistes reklamiert und folgert, jede einzelne Schrift und jede einzelne Aussage sei nach dem Ganzen der Bibel auszulegen, wird die Hebräische Bibel im Licht des Neuen Testaments lesen, sei sie doch das einheitliche Buch der von Gott in der Wahrheit gehaltenen Kirche. Aber diese Einheitlichkeit hat in einer bestimmten kirchenpolitischen Konstellation eine dominierende Gruppe erst festgesetzt. Wer sie heute als maßgebend auszeichnet, bedient heutiges Gruppeninteresse (ebd., 56).

Mit der Einstellung zu den heiligen Texten waren und sind immer auch unterschiedliche Wahrheitskonzepte verbunden, die sich historisch, regional, nach Schulen und Talenten differenziert und kompliziert entwickelt haben (vgl. Flasch 2013, 87). Zur „Wahrheits-Religion“ (Flasch 2013, 93) wurde das Christentum spätestens mit Augustins Schrift De vera religione. Es „trieb Mission und schloss Fremddenkende aus“ (Flasch 2013, 93). Man kann auch sagen, dass sich nach dem Sieg des Christentums die Spielregeln der Verkündigung radikal änderten (vgl. ebd.). Und bis heute wollen Vertreter der Offenbarungsreligionen ihr „universalistisches, realistisches und objektivistisches Wahrheitsdenken nicht korrigieren“ (Flasch 2013, 108). So gibt man sich z. B. alle Mühe, die Jungfrauengeburt als eine Tatsächlichkeit hinzustellen, ohne den geringsten Beweis liefern zu können. Beweisbar wäre immerhin, dass Christen vor dem Jahr 100 an die Jungfrauengeburt tatsächlich geglaubt haben. Für deren Wahrheitskonzept und die Ergebnisse historisch-kritischer Forschung interessiert man sich aber weniger als für die Durchsetzung des eigenen Wahrheitsverständnisses (vgl. Flasch 2013, 106). Dabei könnte man aus der eigenen Geschichte lernen, denn die „Geschichte des Christentums der Neuzeit ist eine Geschichte erzwungener Rückzüge aus den Realien“ (Flasch 2013, 86). Nachdem der erwartete Weltuntergang ausblieb, verlagerte sich der theologische Schwerpunkt von Gottes mächtiger Umgestaltung der Welt auf die Unsterblichkeit der Seele, auf Lohn und Strafe im Jenseits. Das war ein erster Gesamtumbau des christlichen Selbstverständnisses. Dann erschütterte Augustin die Überzeugung, alle Getauften würden errettet […] Das Koordinatensystem verschob sich erneut durch die Rezeption der griechischen und arabischen Wissenschaften im 13. Jahrhundert. Ein anderer Neubeginn fand im 16. Jahrhundert und dann wieder im Lauf des 18. Jahrhunderts statt. Die Perennität ist Schein. (Flasch 2013, 87)

Sie wird aber beansprucht, um auf unredliche Weise eine Kontinuität auf eben jenen Feldern der Religion zu behaupten, die so weder gegeben noch historisch notwendig war.

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3 Referentialität Die nachfolgenden Hinweise können die Problematik nicht in der ganzen Komplexität der diachronen und synchronen Variabilität behandeln. Sie sollen lediglich die hier vorgeschlagene Idee veranschaulichen, das Sprachspiel der Verkündigung handlungs- und bewusstseinstheoretisch zu beschreiben und zu erklären. Dabei kann nur angedeutet werden, wie feste Elemente (Bewusstseinsprozesse), halbfeste Elemente (institutioneller Rahmen, Machtstrukturen, Dogmen, theologische Konzepte, Mentalitäten, Textkonventionen, Rezeptionsroutinen, Sprache) und variable Prozesse (Sprachgebrauch, Erwartungen, Erfahrungen) interagieren und eine Zeit lang in einem (labilen) Gleichgewicht gehalten werden.

3.1 Deiktika Für die Erzeugung eines Verhaltenshintergrundes typisch ist die Konstellation der Du-Ich-Achse, wobei das Du zu inneren oder äußeren Handlungen veranlasst werden soll, und das Ich oftmals ein bekennendes, bezeugendes, fragendes oder zweifelndes Ich ist, das sich aber bei Bezugnahmen auf Normalerwartungen oder Appellen in das Wir einschließt: „Jedes Jahr neu erwarten wir die Geburt dieses Kindes“, „Wir lassen uns leiten von dem Stern, der auf die Krippe Jesu weist […] lasst uns diesem Licht folgen!“ (vgl. zum Heterotopos, den Stern und Krippe etablieren, Lasch in diesem Band). Die Du-Ich-Achse signalisiert die besondere Bedeutung der Beziehung zwischen Prediger und Hörern für das Zustandekommen von Textwirkungen – ähnlich einem pädagogischen Dialog, aber unähnlich einem mündlichen Bericht oder einer Reportage. Aufforderungs- und Fragesätze (vgl. Ebert 1986) prägen den Grundton der Predigt, die auf diese Weise einen quasi-dialogischen Charakter bekommt. Eine weitere Achse ist die Damals-Jetzt-Achse, die der Situationsverschränkung (s. u.) dient und sich auch semantisch niederschlägt, so wenn Weihnachten nicht wie die Erinnerung an die Geburt Christi sondern als Feier der Neu-Geburt wie in der Weihnachtspredigt von Margot Käßmann (2000) inszeniert wird: Jedes Jahr neu erwarten wir die Geburt dieses Kindes […]. Bei Christus feiern wir die Geburt neu, jedes Jahr […]; Von der Krippe in Bethlehem aus zieht sich die Spur des christlichen Glaubens bis heute hinein in unsere Gesellschaft (Q1).

Auf den Wechsel der Bezugswelt des Dekalogs weist Polenz (2008, 119) in Bezug auf Ex 20,2f. („Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“) hin: Wenn ein Geistlicher heute seiner Gemeinde die in diesem Text vorhandenen Begriffe ‚Gott‘ und ‚du‘ erläutern will, muß er erklären, daß die Bezugsausdrücke „ich“, „Gott“ bzw. „dein“, „dich“ in 2 und 3 einer anderen Bezugswelt angehören (das antike Volk Israel und sein vor-

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christlicher Gott Jahwe/Jehova) als die Bezugsausdrücke „du“, „dein“ in den noch heute als Verpflichtung aufgefaßten und vorgetragenen Stellen 4 und 5 des gleichen Textes: 4, Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren […] 5, Du sollst nicht töten.“ (ebd.).

Eine phantasmatische Referenz steht im Dienste der Erzeugung einer Supernormalität, d. h. es werden übernatürliche Größen in das Spiel eingeführt, mit denen fest zu rechnen ist: Gott, Heiliger Geist, Teufel, Himmel, Hölle, Engel, Jüngstes Gericht usw. (vgl. den Begriff der „Referenzfalle“ bei Latour 2011, 171). Zur phantasmatischen Referenz zähle ich auch Hypostasierungen von Gefühlen: „Unsere Sehnsucht wartet Jahr für Jahr in dieser Heiligen Nacht auf Erfüllung“; „Gott fängt neu an“; „Welt ging verloren“; „Jesus hinterließ uns seine Mutter als unsere Mutter“. Hierbei geht es meist um das Erzeugen von Referenzkonzepten für das (kognitive) Bewältigen von Problemen und das Erzeugen von Handlungsimpulsen. Gott wird hier zu einer „Kontingenzformel […], dessen Wissen und Wollen unerkennbar bleibt“ (Luhmann 1999, 156). Metaphern haben bei diesem Spiel nicht allein kognitive, Wissen erschließende Funktion (vgl. Grözinger in diesem Band), sondern sie dienen dazu, interaktiv gemeinsames Wissen herzustellen, das dann ebenfalls als Verhaltenshintergrund fungiert (vgl. Conte 1991, 79; Schäffner 1991, 79). Evokative Metaphern und Modelle schaffen besondere Erschließungssituationen, die religiöse Einsichten auslösen und die Wahrnehmung für existenzielle Sachverhalte „weitab jeder Sinneswahrnehmung“ (Jäkel 2003, 262) und moralische Entscheidungen schärfen (vgl. ebd.).

3.2 Tempus Latour (2011, 167) spricht von einer Form ursprünglichen Sprechens, die von Gegenwart, von endgültiger Gegenwart redet, von Vollendung, von Erfüllung der Zeiten, und die, da sie in der Gegenwartsform davon redet, sich immerzu verlagern muß, um das unvermeidliche Versinken jeden Augenblicks in die Vergangenheit zu kompensieren; eine Form der Rede, deren einziges Kennzeichen darin bestünde, daß sie diejenigen, an die sie sich wendet, als einander nahe und gerettet konstituiert (vgl. ebd., 192f.).

Die Vorstellung von der Allgegenwart Gottes setzt zugleich „einen beständigen Untergrund des Unbeständigen voraus. Dies ist ein ähnlicher Zeitbegriff wie derjenige, der jeder Zeitmessung zugrunde liegt, denn Zeit wird gedacht als eine „reine Zeitfolge von Jetzt-Punkten“ (Tholen 2014, 1). Zum Verhaltenshintergrund tritt also neben die Erzeugung historischer Solidarität (Gemeinschaft der Gläubigen) die Erzeugung von Kontinuität. Der Konstruktion von Kontinuität kann eine fehlgesteuerte Rezeption entsprechen. Dies betrifft insbesondere das Gewaltpotenzial von Religionen (z. B. Hassprediger). Wenn sich Gewalttätige

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auf kanonische „Heilige Schriften“ beziehen, lesen sie diese in einer Hermeneutik der radikalen Gleichzeitigkeit, die den Unterschied von einst und jetzt zu überspringen und Unmittelbarkeit zum geoffenbarten Ursprung des eigenen Glaubens zu imaginieren erlaubt (Graf 2014).

Noch klarer wäre es zu sagen, die den eigenen Phantasien erlaubt, Realität zu werden. Noch ein anderer Aspekt der Zeitlichkeit von Verkündigung verdient Beachtung. Es drängt sich der Eindruck auf, dass Prediger als Texter zwar in der Zeit kommunizieren (Synchronie) aber in sprachlich-geistiger Hinsicht von der Zeit leben. D. h. die Wirkung der Verkündigungssprache beruht zu einem großen Teil darauf, dass ihr sprachliches Repertoire aus der Diachronie schöpft (vgl. Wilbur 1990).

4 Erzeugung von (intrinsischer) Motivation Religiöse Kommunikation ist als Erkenntnisform der ästhetischen Erkenntnisform vergleichbar, jedoch „mit der alltagsweltlichen oder wissenschaftlichen Erkenntnisform grundsätzlich nicht kompatibel“ (Paul 2010, 2258).

4.1 Schönheitserleben Als Exemplar der öffentlichen Rede bedient sich die Predigt der klassischen Konzepte des docere, delectare und movere. Das Erfreuen bzw. Empfinden von Schönheitserleben steht im Dienste der (Selbst-)Motivation. Poetische Strukturierung unterstreicht also nicht nur die Besonderheit der Botschaft, sondern erzeugt Schönheitserleben. Menschen brauchen Schönes, um sich zu motivieren. Sobald sie nicht mehr in der Lage sind, etwas schön zu finden, werden sie krank (vgl. Voigt 2005, 15). Poetische Sprache trägt dazu bei, Widersprüche zwischen Aussagen aufzuheben, entweder dadurch dass die Aussagen im Licht einer höheren Wahrheit gedeutet werden oder dadurch dass der Verstand ausgeschaltet wird. Schließlich unterstreicht poetische Sprache den Geheimnischarakter von Aussagen und steigert den ästhetischen Genuss, d. h. sie macht das Hören oder Lesen von Texten zu einem Spracherlebnis jenseits von Kriterien eines logisch-rationalen Diskurses. Flasch (2013, 103) hält sogar ein „quasi-poetisches Wahrheitskonzept“ auch für religiöse Aussagen für diskutierbar. Was seltener erkannt oder ausgesprochen wird, ist die Tatsache, dass schöne Texte auch hilfreich sein können, wenn es darum geht, unangenehme Botschaften zu verpacken. Das gilt nicht nur für Kritik an weltlichen Zuständen, sondern auch für Kritik an kirchlichen Zuständen (vgl. Evangelii Gaudium 2013). Ästhetik selbst kann sowohl „moralisch wertend als auch wertneutral sein […] Entscheidend ist letztlich nur die […] empathische[] Verbindung“ der Rezipienten mit den Mitmenschen (Voigt 2005, 138), was in unserem Zusammenhang bedeu-

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tet, dass Schönheitserleben sehr viel mit der Erzeugung von Gemeinschaft zu tun haben kann, aber auch mit der Art und Weise, wie mit Leiden umgegangen wird, „entweder horizontale oder vertikale Fluchten, entweder die verstärkte Suche nach abstrahierten Erklärungsmustern oder das Exil in den vagativ-ästhetischen Bereich“ (Voigt 2005, 151). Gibt es ein Zuviel oder Zuwenig an abstrahierendem Denken, entsteht ein Defizit an emotionalem Erleben bzw. ein Mangel an alltagskompetentem Handeln (vgl. ebd.). Leiden schafft den „Wunsch nach empathischer Verschmelzung der Gegensätze von Leiden und idealer Utopie, der Wunsch als Sehnsucht nach einer Wunscherfüllung“ (ebd.): Bei Christus feiern wir die Geburt neu […] Unsere Sehnsucht nach erfülltem Leben, nach Sinn, unsere Sehnsucht nach dem Geheimnis Gottes wartet Jahr für Jahr in dieser Heiligen Nacht auf Erfüllung (Käßmann in ihrer Weihnachtspredigt [Q1]).

Durch diese Art der gleichzeitigen Imagination von Ideal und gegenteiligem ‚Nicht-Ideal‘ wird das Bewusstsein für beide Aspekte erhöht und im besten Fall die nichtideale Realität durch den motivierenden Eigenwert der melancholisch-sehnsüchtigen Betrachtung relativiert. Ästhetisches ermöglicht so eine Art der (vorläufigen) Problembearbeitung (Voigt 2005, 151).

Eine Steigerungsform des ästhetischen Erlebens ist die christliche Versenkung, die bis zur Ekstase führen kann, ein Lieblingsthema mittelalterlich-christlicher Philosophen (vgl. Voigt 2005, 58). Das ekstatische „Erkennen einer Ordnung führt zu einem Lichtempfinden, wie dies schon bei Platon und Aristoteles beschrieben wurde“ (ebd., 59). Letztlich ist die Grundlage von Ekstase ein „thematische[s] Vagabundieren“ (Dörner 1999) oder eine „vertikale Flucht“ (s. o.). Beides definiert sich psychologisch „u. a. über ein nicht handlungsorientiertes Assoziieren ähnlicher Schemata durch einen erniedrigten Auflösungsgrad […]. In diesem Zustand ist […] klares Denken schwierig“ (Voigt 2005, 61f.). Die Kommunizierbarkeit der Botschaft nimmt ab, stattdessen sorgt aber eine „bis ins Chaotische steigerbare Vernetzung verschiedenster Denkinhalte“ (ebd.) für eine Intensivierung des Erlebnischarakters auf Seiten der Predigers und auf Seiten der Hörer, sofern diese sich auf den Sprecher einlassen. Bayer (2004, 94) zitiert eine freikirchliche Predigt, deren Argumentation er aus wissenschaftlich-rationaler Perspektive als „nicht akzeptabel“ beschreibt, was unserem Hinweis auf die abnehmende Kommunizierbarkeit entspricht. Leider verfehlt die wohlwollende und rational-linguistisierende Sicht von Bayer den Punkt, um den es geht: Der Prediger will gar nicht argumentieren. Er nutzt den Argumentationsstil lediglich als ‚Tarnkappe‘ oder ‚Tribut‘ an den rationalen Zeitgeist, um seine wahre Intention, die Unterwerfung der Gläubigen (Gutmütigen), zu verbergen. In Wahrheit geht es ihm um ein Ausleben seiner eigenen Gefühle und um Erlebnissteigerung durch ekstatische Stilisierung mit dem Ziel, sich selbst als erleuchtet zu präsentieren und das kognitive System der Hörer durch Überlastung auszuschalten:

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Das prophetische Wort ist ein Licht, das an einem dunklen Ort scheint. Die Welt ist ein dunkler Ort. Die Menschen sind verunsichert, orientierungslos und voller Ängste. Die Sünde ist der Leute Verderben. Weltweiter Terror. Gewalt, Kriminalität, sexuelle Ausbeutung von Frauen, Mißbrauch von Kindern, Hunger, Kriege, Korruption, Ehebruch, Perversion, Mißtrauen an allen Ecken und Enden. Wir leben wahrlich an einem dunklen Ort. Aber Petrus sagt: „Es gibt ein Licht. Das ist das prophetische Wort. Dieses Wort weist uns den Weg.“ (Q2)

Dieses Beispiel aus einer Predigt von Luise Stribrny de Estrada (2014) steht nicht für Kommunikation, sondern für die Einrede und demonstriert den Sog der Performanz. Der Stil zielt auf ästhetisches Erleben, aber auch auf Gemeinschaftsbildung und auf die Koordinierung des Denkens und Fühlens sowie evtl. auf schaurig-schöne Unterhaltung. All dies steht im Dienste der Verpflichtung auf die Glaubensbotschaft und die Verpflichtung auf die Treue zur Glaubensgemeinschaft. Härtestes Commitment und mitreißend schöne Melodie konnten und können in religiösen Texten schon immer Hand in Hand gehen, in der Predigt wie im Kirchenlied (vgl. das katholische Lied „Fest soll mein Taufbund immer steh’n“, Bayer 2004, 64).

4.2 Sinnerleben Biologisch sind alle Menschen miteinander verbunden, kommunikativ sind alle Menschen vereinzelt. Die Innen-Außen-Dichotomie kann grundsätzlich nicht überwunden werden, weshalb Kommunikation stets unter dem Risiko des Scheiterns erfolgt. Insofern Religion auf die Klärung von Sinnfragen und die „Erfahrung von Identität und Ganzheit“ (Bayer 2004, 42) abzielt, haben wir es bei religiösem Sprechen mit Sinnstrukturen höherer bzw. höchster Ordnung zu tun. Verkündigung im Dienste des Evangeliums zielt darauf ab, den Menschen einen „Horizont von Sinn und Leben“ (Papst Franziskus) zu eröffnen. Man kann auch sagen, dass es um viel mehr geht als um Belehrung und Ermahnung. Es geht darum „das Leben der Hörerinnen und Hörer vom Glauben her zu inspirieren“ (Müller 2007, 108). Es ist die Predigt gedacht als eine Kommunikationsform, die unter dem „Risiko eines existenziellen Aktes“ (ebd., 97) steht und deren Rezeption auf Primärerfahrung, nicht auf Sekundärerfahrung angelegt ist. In der theologischen Literatur der Gegenwart wird vom „Ernstfall der Verkündigung“ gesprochen und davon, dass es darum gehe, den Hörer in seiner „Ganzheit“ zu überzeugen (Müller 2007, 24). Mit Latour (2011) liegt nahe, hier an die Person (Selbst, Identitätskern) zu denken, die ergriffen und verändert wird. Dann greift Sinn weit über das im Predigttext Vorhandene hinaus, was erklären würde, dass kommunikative Erfolgskategorien wie „Verstehen“ und „Akzeptieren“ zu kurz greifen, wenn es darum geht, Mitmenschen oder „Personen zum Vorschein zu bringen“, „Abwesende in Anwesende“ zu transformieren (Latour 2011, 99) oder wie es Lützeler (1943, 5) formuliert hat, dem „umschaffende[n] Ruf Gottes“ zu folgen. So heißt es etwa in der Palmsonntagpredigt von Papst Franziskus (2014):

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Wir haben die Passion des Herrn gehört: Es wird uns gut tun, wenn wir uns nur eine Frage stellen: Wer bin ich? Wer bin ich vor meinem Herrn? […] Wir haben viele Namen gehört – viele Namen. Die Gruppe der führenden Persönlichkeiten, einige Priester, einige Pharisäer, einige Gesetzeslehrer, die entschieden hatten, ihn zu töten. Sie warteten auf die Gelegenheit, ihn zu fassen. Bin ich wie einer von ihnen? […] Bin ich wie jene Vorsteher, die in Eile zu Gericht sitzen und falsche Zeugen suchen: Bin ich wie sie? Und wenn ich so etwas tue – falls ich es tue –, glaube ich, dass ich damit das Volk rette? Bin ich wie Pilatus? Wenn ich sehe, dass die Situation schwierig ist, wasche ich mir dann die Hände, weiß ich dann meine Verantwortung nicht zu übernehmen und lasse Menschen verurteilen oder verurteile sie selber? […] (Q3).

Wenn Predigt Hörer in ihrer Ganzheit überzeugen möchte, wobei Ganzheit offensichtlich auf Identität und Selbst zielt, ist zu beachten, dass für das Zustandekommen von Identität gemeinsame Erfahrungen mit vertrauten Menschen wichtig sind. So wird ein Freund zu einem Teil von mir selbst. Genau deshalb ‚schmerzt‘ der Verlust eines Freundes: wer einen Freund verliert, verliert etwas von sich selbst (vgl. Moravcsic 2003). Religiöse Kommunikation zielt in einem weiteren Verständnis auf Gemeinschaftsbildung. Es geht darum, den Kreis der realen Freunde auszuweiten auf ‚virtuelle‘ Freunde (Jesus, Maria, Heilige, Verstorbene usw.) und mit diesen in ein Gespräch zu kommen: „Jungfrau und Mutter Maria […] hilf uns, unser „Ja“ zu sagen“ (Evangelii Gaudium). Auch diese Art der imaginierten Kommunikation (Gebet) mit Freunden oder Vertrauten schafft gemeinsame Erfahrungen und ist deshalb ebenfalls identitätsbildend und gruppenbildend. Eine weitere Form Beziehungen in den Dienst des Unterweisens und Ermunterns zu stellen, ist das Thematisieren von Vorbildern. Die wichtige Rolle der Vorbilder hat zu tun mit einer Art des instrumentellen Konditionierens, die jedem Menschen als Kind widerfährt, wenn ihm Dinge vorgemacht werden und es belohnt wird, wenn es das vorbildliche Verhalten imitiert. Als Verhaltenshintergrund wirken zusammengefasst die Konstruktion eines Sinn- und Lebenshintergrundes, das zur Selbstreflexion und Selbstgestaltung befähigte und Person wie Mitmensch gewordene Individuum, die das Individuum stützenden und mit ihm real und virtuell interagierenden vertrauten Personen und Gemeinschaften sowie Vorbilder.

5 Exemplarische Analysen 5.1 Meister Eckhart und Martin Luther Im Leben und Wirken von Meister Eckhart (um 1260–1328) ist das „Drama der Subjektwerdung des modernen Menschen in der Innenschau der Mystiker vorgezeichnet“ (Gephart 2009, 168). Es geht modern gesprochen, um die „Polarität zwischen einem Urzustand phantasmatischer Einheit und der Anerkennung von Realität als Anerkennung von Differenz“ (ebd., 169). Die Trennung erscheint bei Meister Eckhart

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als Preis der Individuation, weshalb Gelassenheit die angemessene Haltung gegenüber Trennungserfahrungen ist. Der gelassene Mensch, der ein äußeres Halteseil losgelassen hat, hat sein Zentrum in sich selbst gefunden […] Und weil er in einem Wagnis des Lassens zu sich selbst gefunden hat, weiß er darum, dass ihn der gesamte Kosmos trägt […] er steht, wie Eckhart es immer wieder formuliert, ledic und vrî, ledig und frei wie Gott selbst da (Gephart 2009, 170).

Diese Konzeption konnte auch, wenn man Wilbur (1990) folgt, das Bewusstsein einer werdenden Klasse prägen. Wilbur geht nämlich von der These aus, dass der große Erfolg der Predigten Meister Eckharts nicht auf die Lexik des Innenlebens („vocabulary of the inner life“) zurückzuführen sei, sondern darauf, dass seine Predigten in der Sprache des Volkes das innere Erleben einer Klasse im frühen 14. Jahrhundert ansprach, die im Begriff war, ein Bewusstsein für die eigene Lage herauszubilden: „This gives rise to autonomous individuals, freely participatory in the business of the guilds and syndicates“ (Wilbur 1990, 362). Es war die Zeit, in der die Stadt die ökonomische und administrative Funktion des Klosters übernahm und der Predigtstil eher darauf abzielte, akzeptierte Werte und Grundüberzeugungen zu festigen. Keinesfalls ging es Meister Eckhart nur um die unio mystica, die Vereinigung der Seele mit Gott. Ebenso wichtig war ihm das Thema der „Trennung“. Gephart (2009, 170) spricht vom „Wagnis der Trennung schlechthin, um ein Lassen als das Loslassen von Halt gebenden äußeren Strukturen“ und davon dass der Mensch „gleichsam erst dann auf seinen eigenen zwei Beinen“ steht, „wenn er den Halt in sich selbst gefunden hat“ (ebd.). Meister Eckharts Lehre vom göttlichen Seelengrund eines jeden Menschen sieht die Welt als einen klösterlichen Ort, an dem die Tätigkeiten der Produktion und des Handels den Anschein heiliger Arbeit bekamen: „the man who has direct experience of god makes the work holy“ (Willbur 1990, 362). D. h. Meister Eckhart sucht hier – und bleibt damit auf dem Entwicklungspfad des Christentums – die Abstraktionsleistung im Bereich der Heilsfaktoren (nicht: Heilszustände wie im Buddhismus; vgl. Luhmann 1999, 156). Die Predigt war einerseits Schriftauslegung und Erklärung des biblischen Textes und gleichzeitig – nach der mystischen Lehre – sprach Gott direkt durch den Prediger, ohne die Vermittlung der Kirche. Und die Predigtlehre bestätigte die vom Kleinbürgertum geschaffene soziale Nische. Das Ziel der Kirche war das ewige Heil, aber das städtische Kleinbürgertum wollte das Heil „here and now“ (Wilbur 1990, 363): Part of the educational scheme of the popular preachers was to overcome the apparent contradiction in Christian doctrine which holds forth as the final authority the written word of God in the Biblical texts and the fact that the content of this written world placed the final authority upon God’s speaking to us. Paradoxically, the mystic sermon provided both of these functions at once. […] In mystical doctrine he [i. e. god, H. E.] speaks directly without the intermediary of the Church. He does speak through his ministers, the preachers. […] What did they [i. e. petite bourgeois, H. E.] internalize? A doctrine that sanctifies the social niche that they are creating

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for themselves. Eternal salvation is the aim of the church. The petite bourgeois with his eye upon that aim also wants salvation here and now. This is the source of the work ethic (Wilbur 1990, 363).

Aus dieser Arbeitsethik erwuchs später der bürgerliche Ehrbegriff. Der Ehre („respectability“) korrespondierte eine Klassendisziplin, die so stringent war wie die Disziplin eines Mönchordens. Später wurde die Ehre zur erfolgreichsten Waffe des Bürgertums, und eines der wichtigsten Elemente im Arsenal wurde die Standardsprache. Die Pointe der Geschichte bestand also darin, dass ein hochgelehrter Dominikanerprediger – ein Außenseiter unter Häresieverdacht stehend – Anklang fand bei einer im Entstehen begriffenen neuen Klasse, die als solche weder sich selbst noch von den alten Eliten als solche verstanden worden war. Soziale und technische Innovation verbanden sich für einen historischen Augenblick: What was to be portentous for the future of Europe was the unnoticed rise of the petite bourgeoisie. This class was to become the dynamo of the European economy althouhg we know from literature that the class was despised and satirized (Wilburg 1990, 352).

Im Leben und Wirken von Martin Luther (1483–1546) setzt sich das ‚Drama‘ der Subjektwerdung fort. Es kommt zu einem weiteren Subjektivitätsschub (vgl. Soeffner 1989, 30f.). Für Luther sind nicht mehr die „civitates Augustins“ das „Schlachtfeld, auf dem die Heere Gottes und Satans aufeinandertreffen. Kriegsschauplatz ist nun der einzelne Mensch“. Und dieser „Kampf um den Menschen findet im Menschen statt“ (ebd., 30). Welchen Status hat dieses so konzipierte Subjekt, um das gekämpft wird? „Luthers Antwort: es existiert und handelt ex alterius arbitrio, ‚modern‘ gesprochen: fremdbestimmt“ (ebd.). Luther gehört zu den ersten großen Publizisten einer sich zum ersten Mal im deutschen Sprachraum formierenden öffentlichen Meinung (vgl. Erben 1985, 45). Nach Soeffner (1992, 31) schafft Luther Sinn („Sinnfigur“) durch die „Doppelstruktur aus Rückwendung zum ‚Alten‘ […] und Variation des ‚Alten‘ durch Interpretation.“ Aus seiner Glaubensentschiedenheit erwächst „ein neues Ethos, das in alle Bereiche des weltlichen Lebens hineinwirkt“ (P. Böckmann, zit. n. Erben 1985, 46). Für Luther war die „Klärung des Gemeinten“ ebenso wichtig, wie das Geschriebene und Konservierte als „lebendiges Wort Gottes hörbar zu machen“, was auf „eine Annäherung der Bibel an die Textart der Predigt“ (Erben 1985, 36) hinauslief. „Predigen“ gehört daher nicht zufällig neben „trösten“, „Trost“ und „Gnade“ zu den Schwerpunktwörtern der Lutherbibel (vgl. ebd., 37). Die von Luther oft verwendete Formulierung „lasst ... euch weisen“ ist ein auf Satzebene realisiertes Modell von Luthers Vorstellung über die für die Predigt konstitutiven Texthandlungen des Lehrens (doctrina) und Ermahnens (exhortatio) (vgl. Ebert 1986, 36f.). Der Imperativ „lasst (zu)“ verweist auf den vorausgesetzten freien Willen der Gläubigen. Das bedeutet zugleich, dass „jede Form einer […] intensiven Einwirkung und Einflußnahme ausgeschlossen [ist], die dem Betroffenen keine innere Entscheidung zuläßt“ (Nembach 1972, 55). Die Weisungsformel selbst spie-

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gelt die „auf die äußere Klarheit der Schrift beschränkte Predigt“ und findet so „ihre adäquate Konkretisierung im Lehren und Ermahnen“ (ebd.). Luthers volkssprachliche Predigt konzentrierte sich auf Buße und Rechtfertigung. Die Bibel erhielt den Vorrang vor jeder anderen Wahrheitsinstanz (vgl. Kaufmann 2009, 24). Der Prediger verfügte über keinen sakralen Status mehr (ebd., 29), und man bemühte sich um überdurchschnittlich gebildete Prediger, um den Erwartungen des städtischen Bürgertums gerecht zu werden (vgl. ebd., 24). In den Predigtstil hielt ein lehrhafter Ton Einzug, der mit den wachsenden Bildungsansprüchen zusammenhing. Aus dem Grundsatz „sola fide“ erwuchs eine Mitverantwortung und Inpflichtnahme der weltlichen Obrigkeit und einfachen Christen für die Reformation der Kirche (vgl. ebd., 300). Es entstand eine „Aktionsform der öffentlichen Laienpredigt außerhalb der Kirchenräume“ (ebd., 333), und die hohen Erwartungen, die Laien in die evangelischen Predigten setzten, „begründeten häufig ein neuartiges Vertrauensverhältnis zwischen Gemeindegliedern und Predigern“ (ebd., 415).

5.2 Verkündigung in der Gegenwart Seit den 1960er Jahren wird zunehmend das Kommunikationsverhalten der Kirche als Institution beobachtet. Die öffentliche Debatte um die theoretischen Bedingungen und die praktischen Möglichkeiten ‚herrschaftsfreier Kommunikation‘ (Habermas) ging an der Kirche nicht spurlos vorbei (Paul 2010, 2268).

Die Liturgiereform des II. Vatikanum (1962–1965) gilt als das bedeutendste Ereignis der (katholischen) Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts (vgl. Böntert 2013, 29). Damit verbunden war ein Signal des Aufbruchs aus dem hierarchischen Denken (vgl. ebd., 37). Auf thetische Verkündigung und Instruktion ausgelegte Veranstaltungsformen [wurden] durch Formate, Symbole und Handlungen ersetzt, die das „Dialogische“ und „Kommunikative“ von Kirche inszenierten (Mittmann 2013, 109).

„Während 1950 noch etwa die Hälfte aller Katholiken regelmäßig die Heilige Messe aufsuchte, sank diese Zahl bis 2009 auf etwa 13 Prozent“ (Funke 2013, 203). Auch die Predigt erreiche nicht mehr „das Ohr derer, die die Öffentlichkeit bestimmen“ und habe „keine die Öffentlichkeit bildende Macht mehr“ (Müller-Schwefe, zit. n. Funke 2013, 204). Der Bedeutungsverlust wurde „nicht zuletzt als Vermittlungs- und Kommunikationsproblem gedeutet“, was zu Versuchen der „Optimierung kirchlicher Kommunikation mit der ‚Welt‘“ (Mittmann 2013, 131) führte. Für die katholische Kirche forderte etwa der Theologe Norbert Greinacher auf dem Katholikentag 1968 in Essen, Kirche müsse „gerade in ihrer Verkündigung aus ihrer isolierten

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Sprach- und Denkwelt heraustreten und den Menschen den Glauben in einer Sprache und Denkweise verkünden, die ihnen vertraut sind“ (zit. n. Mittmann 2013, 131). Gesucht würden „einfache und heute übliche Formen der Selbstdarstellung“ (ebd. 133). Auch stellten Kirchentagsleitungen auf „Erlebniskommunikation“ um (ebd.), wobei genauer zu prüfen wäre, welchen „Sitz im Leben“ welche Erlebnisformen haben können oder sollen. Auffallend ist, wie sehr man beim Nachdenken über eine zeitgemäße Verkündigung über Formen des Sprechens, Denkens, Fühlens und Sichselbst-Darstellens nachdenkt, ganz so, also ob Inhalte und Beziehungen keine Rolle spielten und man mit soziotechnischen Tricks aus der Konsumgüterpsychologie (emotional design) das Vertrauen eines geliebten Menschen zurückgewinnen könne. Glaubwürdigkeit ist durch Marken-Kosmetik schneller verspielt als gewonnen, wenngleich Volksfrömmigkeit zu allen Zeiten das An- und Aufreizende braucht, was bewusstseinstheoretisch dadurch erklärt werden kann, dass auf Stufe 1 der Wirklichkeitsinterpretation die Variablen „Stress“ (S) und „Relevanz“ (R) mit -S („wenig Stress“) und +R („viel Relevanz“) bewertet werden, was „Interesse“ und „Faszination“ weckt (vgl. Voigt 2005, 189). Lützeler beschreibt dasselbe Phänomen mit Blick auf die Heiligenverehrung so: Freilich hat das Heiligenbild oft diesen Bezug zum Kern gottzugehörigen Daseins verloren. In seiner langen Geschichte hat es mehr unter der Liebe des Volkes als unter der Kühle oder dem Spott seiner Verächter zu leiden gehabt. Denn mit der Liebe des Volkes zu seinen Heiligen ist viel Krauses verknüpft. Häufig hat es aus den Darstellungen, die es den großen christlichen Männern und Frauen widmete, holde oder abenteuerliche Märchen, aufregende Romane, gruselige Marterszenen und grelle Wunderberichte gemacht. Dieser verfälschende Drang des Volkes zur spannenden Geschichte geht oft mit einer seichten Idealisierung der Heiligen zusammen (Lützeler 1943, 4).

Bestimmte Fragen, die den mittelalterlichen Menschen beschäftigten und ihm auch Höllenangst bereiteten, haben heute an Relevanz nachgelassen. Hierzu gehört z. B. die Frage, was nach dem Tod kommt. Auch gibt es heute eine große Skepsis gegen alle umfassenden Welterklärungen und eine Divergenz zwischen christlichem Glauben und dem postmodernen Lebensgefühl (vgl. Müller 2007, 19). Einen aufschlussreichen Befund u. a. über das, was aus Sicht der Befragten ein religiöses Thema ist, erbrachte die 5. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft „Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis“ (Q4). Thies Gundlach bewertet die Ergebnisse dahingehend, dass es vor allem die existenziellen Themen sind, wie die Frage nach Sinn, Leben und Tod u. a. M., die als spezifisch religiöse Themen wahrgenommen werden. Dagegen spielen gesellschaftspolitische Themen wie Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt eine geringere Bedeutung für die Identifikation religiöser Dimensionen und Kompetenzen der Kirche. Dieser Wahrnehmung entspricht die Lokalisierung der Kommunikation des Evangeliums im privaten Kreis: Ehepartner, Familienmitglieder und – bestenfalls – enge Freunde sind geeignet, religiöse Themen miteinander anzusprechen. Aber hat nicht die innerkirchliche intellektuelle und finanzielle Ressourcenverwendung eine andere Gewichtung? Sind nicht auch viele Äußerungen von Kirchen-

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leitungen thematisch anders fokussiert, nicht zuletzt aus der Sorge heraus, die Kirche könne ohne gesellschaftspolitische Relevanz ihrer Aussagen leichter ins Private abgedrängt werden? Ohne hier eine falsche Alternative aufzubauen, sollte der Frage nachgegangen werden, ob nicht eine gewisse Vernachlässigung typisch individueller Frömmigkeitsfragen im kirchlichen Diskurs zu konstatieren und also zu prüfen sei, was es bedeutet, wenn die Kirche für eine markante Mehrheit der eigenen Mitglieder Themen ‚bespielt‘, die an deren Erwartungen vorbeigehen? Hängt die Zukunft der Kirche daran, dass sie ihre Kompetenz in genuin religiösen Fragen stärker sichtbar macht? (Q4, 130).

6 Fazit und Ausblick Es wurde gezeigt, auf welche Weise sprachliche Mittel und Verfahren bei der Verkündigung der Heilsbotschaft dazu beitragen, kognitive und kommunikative Funktionen zu erfüllen, welche die menschliche Existenz und das Miteinander in tagesaktueller wie historischer Solidarität betreffen. Vieles spricht für die These Latours (2011), wonach religiöse Kommunikation nicht informiert, sondern Beziehungen schafft und vertieft sowie auf die Transformation von Menschen (Personwerdung und Gemeinschaftsbildung) abzielt. Am Beispiel der Verkündigung von Meister Eckhart und Martin Luther wurde deutlich, dass unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen religiöse Sprache das Potenzial hat zur Veränderung von kollektiven Bewusstseinslagen und gesellschaftlichen Strukturen im Sinne der Befreiung von Blockaden, (Selbst-)Zwängen oder Unterdrückung (vgl. auch Fix in diesem Band). Möglich ist das nicht zuletzt durch das Zusammenspiel tradierter und innovativer Sprechweisen, die zugleich neue Kontexte schaffen (z. B. durch neue Vorstellungen über die am Verkündigungsgeschehen mitwirkenden Akteure und ihr Verhältnis zueinander) und dennoch rückgebunden sind an den tradierten Identitätskern der Religionsgemeinschaft. Auf der kognitiven Ebene stellt die Sprache der Verkündigung z. B. zentrale mentale Modelle bereit und ermöglicht durch referentielle Mittel die Verschränkung und Transzendierung von Situationen. Auf der emotionalen Ebene dient die Sprache der Ermutigung und bereitet Handeln vor – z. B. durch Sprechhandlungen des Vorhersagens (Visionen), durch affirmative Sprechhandlungen, welche die (Heils-)Gewissheit vermitteln und Trost spenden sowie durch die Ermöglichung von Schönheits- und Sinnerleben. Auf der pragmatischen Ebene helfen bereitgestellte Rollenmodelle den Rezipienten, aus sich selbst herauszutreten und ihre Personalität zu entfalten, ferner werden gegenseitige Anerkennung und Unterstützung befördert (Gemeinschaftsbildung). Das Zusammenspiel der kognitiven, emotionalen und pragmatischen Ebene bewirkt Selbst- und Weltvertrauen und ermöglicht im Wissen um die nicht erfundene sondern erfahrene Wertvorstellung, dass der Mensch ein von Gott angenommener Mensch ist, ein Leben in Wahrhaftigkeit, d. h. in Übereinstimmung mit sich selbst und der Heilsbotschaft. Ein Herausforderung für die Forschung ist es, der Interaktion von Sprachspielen der

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Verkündigung mit anderen Sprachspielen – z. B. aus Politik und Soziologie, Kunst, Literatur und Alltag – mehr Aufmerksamkeit zu widmen, um die zum Teil noch verborgenen Ursachen für Erstarrung oder Erneuerung von Sprachspielen der Verkündigung aufzudecken. Oder, um es mit anderen Worten zu sagen: Die konfliktträchtige Spannung zwischen Authentizität (der Verkündigung) und Akzeptanz bietet – im Lichte von als problematisch empfundenen gesellschaftlichen Situationen – dem Verkündiger Spielräume, die systematischer als bislang geschehen erforscht werden sollten.

7 Literatur 7.1 Internetquellen Q1: Käßmann, Margot (2000): Weihnachtspredigt in der Marktkirche Hannover. Online verfügbar unter: https://www.ekd.de/predigten/kaessmann/kaessmann01.html. Stand: 08.08.2017. Q2: Stribrny de Estrada, Luise (2014): Predigt zu 2. Petrus 1,16–19. Online verfügbar unter: http://predigten6.rssing.com/browser.php?indx=10306930&item=212. Stand: 08.08.2017. Q3: Franziskus (2014): Palmsonntagspredigt. Online verfügbar unter: http://blog.radiovatikan.de/medination-zur-karwoche/. Stand: 08.08.2017. Q4: Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. Online verfügbar unter: https://www.ekd.de/download/ekd_v_kmu2014.pdf. Stand: 08.08.2017.

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Albrecht Greule/Sebastian Kiraga

14. Verehrung – die Messe als ritueller Handlungskomplex Abstract: In einer exemplarischen Analyse wird die Messe als ein religiöses Ritual, als eine Abfolge von zusammenhängenden, nach vorgegebenen Regeln zu vollziehenden feierlichen Handlungen unter zwei kommunikationstheoretischen Aspekten beschrieben: 1. theoretisch und virtuell auf der Grundlage des Messbuchs als Abfolge von Texten mit unterschiedlicher liturgischer Funktion (Abschnitt 2), 2. praktisch auf der Grundlage des Transkripts einer wirklich stattgefundenen Messfeier (Abschnitt 3). Die Beschreibung hat beide von Papst Benedikt XVI. als gültig unterschiedenen Formen der Messe, die „ordentliche“ (nachkonziliare) Form (Abschnitte 1–2) und die „außerordentliche“ (tridentinische) Form (Abschnitte 3) zum Gegenstand. 1 2 3 4 5

Vorbemerkungen Die kommunikativen Formen der Verehrung im Verlauf der Messe Exemplarische Analyse liturgischer Kommunikationssituationen Ausblick Literatur

1 Vorbemerkungen Verehrung wird hier in Anlehnung an Lasch (2011, 547–549) sowie Lasch/Liebert (2015) verstanden als rituell (etwa anhand von Rubriken u. Ä.) festgelegte Formen von an Gott (ggf. durch einen Vermittler) gerichtete, vertikale Kommunikation.

1.1 Gottesverehrung und Messfeier Kommunikative Formen der Gottesverehrung können besonders gut am Beispiel der Messliturgie (Heilige Messe), die seit bald zwei Jahrtausenden existiert, in der Christenheit unterschiedliche Formen annahm und immer wieder reformiert wurde, verdeutlicht werden. Beschreibungen frühester Formen der Messfeier liegen aus dem 2. und 3. Jahrhundert nach Christi Geburt vor. Bis ins 4. Jahrhundert war im Mittelmeerraum die Sprache der Liturgie das Koine-Griechische, während sich in der westlichen Kirche seit dem 2. Jahrhundert allmählich das Latein als Sprache des Gottesdienstes durchsetzte. Neben dem lateinischen Ritus, der auf die altkirchliche Liturgie der Stadt Rom zurückgeht, entwickelten sich bis ins Mittelalter – regional unterschiedlich – auch andere gottesdienstliche Ordnungen. Der römisch-

DOI 10.1515/9783110296297-015

Verehrung – die Messe als ritueller Handlungskomplex | 339

katholische Ritus ist im Missale Romanum (Römisches Messbuch) zuletzt durch Papst Benedikt XVI. im Jahr 2007 geregelt worden. Benedikt XVI. unterscheidet dabei die „ordentliche Form“ der nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962– 1965) reformierten Messfeier von der „außerordentlichen Form“ der tridentinischen Messe, deren Gestalt durch die Beschlüsse des Konzils von Trient (1545–1563) geprägt ist: Das von Paul VI. promulgierte Römische Messbuch ist die ordentliche Ausdrucksform der „Lex orandi“ [zu Deutsch etwa „Gesetz/Vorschrift, wie/dass zu beten ist“ – A. G.] der katholischen Kirche des lateinischen Ritus. Das vom heiligen Pius V. promulgierte und vom seligen Johannes XXIII. neu herausgegebene Römische Messbuch hat hingegen als außerordentliche Ausdrucksform derselben „Lex orandi“ der Kirche zu gelten; aufgrund seines verehrungswürdigen und alten Gebrauchs soll es sich der gebotenen Ehre erfreuen. Diese zwei Ausdrucksformen der „Lex orandi“ der Kirche werden aber keineswegs zu einer Spaltung der „Lex credendi“ [„Gesetz, wie zu glauben ist“, sinngemäß: Glaubenslehre – A. G.] der Kirche führen; denn sie sind zwei Anwendungsformen des einen Römischen Ritus. (Benedikt XVI. 2007, 11)

Auf die „ordentliche Form“ nimmt dieser erste Abschnitt Bezug, auf die „außerordentliche Form“ (die tridentinische Messe) Abschnitt 2. Von den möglichen kommunikativen Formen der Verehrung sind in der Messe besonders folgende ausgeprägt: Gesprochene Sprache in festgelegten Formen (Textsorten) und Gesang (in Form von Hymnen/Kirchenliedern). Gesten (z. B. Schlagen des Kreuzzeichens, Verneigungen, Friedenszeichen durch Händedruck), die im Zusammenhang mit gesprochener oder gesungener Sprache im Verlauf des Messritus vorkommen, stehen aber ebenso wenig im Vordergrund der Forschung wie die Anordnung von verehrenden Gläubigen im Raum mit ihren teils recht komplexen Choreographien. Der Tastsinn der Gläubigen wird etwa durch den Empfang der Kommunion oder durch Besprengung mit gesegnetem Wasser beim Taufgedächtnis; der Geruchssinn insbesondere durch die Verwendung von Weihrauch in besonders feierlich gestalteten Gottesdiensten aktiviert.

1.2 Forschungsstand zur Sprache der Messfeier Die in der Messe verwendete Sprache (bzw. verwendeten Sprachen) als inhalts- und ausdruckstärkste kommunikative Form der Gottesverehrung geriet – im deutschen Sprachraum – erst nach dem 2. Vatikanischen Konzil allmählich in das Interesse der linguistischen Forschung bis hin zur Konstituierung einer – seit neuestem Theolinguistik genannten – interdisziplinären und internationalen Forschungsrichtung (z. B. Greule/Kucharska-Dreiß 2011; Wagner 1999, 512) und der Diskussion des Anteils der Liturgiesprache an der (deutschen) Sprachkultur (Haunerland 2002; Greule 2012). Nicht berücksichtigt sind dabei die spätestens seit der Bibelübersetzung durch Martin Luther im deutschen Sprachraum bis heute andauernden sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzungen um die Übersetzung der Bibel in die Volks-

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sprachen (Stolze 2009), die einen Höhepunkt im Zusammenhang mit der Schaffung der deutschen Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift erreichte (Stolze 2009, 129– 132). Wichtige Beiträge zum Problem des Einsatzes der Volkssprache im Zusammenhang mit der Liturgiereform nach dem 2. Vatikanischen Konzil und der Schaffung einer deutschen Sakral-/Liturgiesprache sind – aus theolinguistischer Sicht – die Forschungen von Hug (1985), Schermann (1987), Haunerland (1992) und Simmler (2000); dann die als „Studien und Entwürfe zur Messfeier“ veröffentlichten Texte der Studienkommission für die Messliturgie und das Messbuch (Nagel 1995), die von 1988 bis 2000 im Auftrag des Liturgischen Instituts (Trier) intensiv an der Revision der Messbuchtexte arbeitete; ferner der Forschungsbericht zu neuen sakralsprachlichen Forschungen im deutsch-polnischen Vergleich (Greule/Kucharska-Dreiß/ Makuchowska 2005).

2 Die kommunikativen Formen der Verehrung im Verlauf der Messe 2.1 Aufbau der Messfeier Die Struktur der Messfeier wird in dem zu Beginn des Jahres 2014 in den deutschsprachigen Bistümern eingeführten neuen Gotteslob, dem katholischen Gebet- und Gesangbuch, unter dem Titel „Aufbau der sonntäglichen Messfeier“ (Gotteslob 2013, Nr. 581) bzw. unter dem Titel „Die Feier der Heiligen Messe“ (Gotteslob 2013, Nr. 582–591) wie folgt beschrieben. Im Verlauf der Liturgie folgen aufeinander die Teile: Eröffnung – Wortgottesdienst – Eucharistiefeier – Abschluss. Jeder der vier Teile gliedert sich seinerseits in verschiedene Formen gestischer und sprachlicher Gottesverehrung sowohl durch den Zelebranten (Priester) als auch durch die versammelte Gemeinde. Der Sinn dieses Tuns wird – außer in der Anerkennung von Schuld im Bußakt, im Hören auf Gotteswort im Wortgottesdienst und in den Fürbitten und der Sorge für die Armen – in der „Hingabe an Gott in Dank und Anbetung“ (Gotteslob 2013, Nr. 580, 3) gesehen. Sprachlichen Ausdruck finden die Formen der messliturgischen Verehrung im Allgemeinen Schuldbekenntnis, in Lobgesängen, in den Vorsteher- und allgemeinen Gebeten, in Lesungen, in der Homilie und im Glaubensbekenntnis und im Segen (s. u.).

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2.2 Die Texte und ihre Funktion im Verlauf des Rituals Messfeier 2.2.1 Pragmalinguistische Voraussetzungen Die Messfeier wird vereinzelt als Textsorte ‚sakramentaler Gottesdienst‘ (Simmler 2000, 683) bezeichnet; jedoch wird ihr die Charakterisierung als ritueller Handlungskomplex (Feier-, als ein aus einer Reihe von religiösen Ritualen bestehendes „Großritual“) (vgl. zur Adaptation ritualtheoretischer Ansätze im Bereich der Linguistik ausführlich Fix in diesem Band) besser gerecht, weil es sich um eine nach vorgegebenen Regeln ablaufende Folge (feierlicher) Handlungen mit hohem Symbolgehalt handelt. Die Kategorisierung der Messe als Ritual entspricht der kirchlichen Terminologie vom römischen Ritus oder anderen Riten (zu einem anderen Verständnis von Gottesdiensten aus linguistischer Sicht vgl. Kiraga 2011). In einem Ritual spielen neben Gesten besonders sprachliche Formeln eine Rolle. In der Messe dienen feste Redewendungen (Grußformeln, Gebetsaufforderungen, Schlussformeln) jedoch mehr der Gliederung des Rituals (Greule 2002, 237) und nehmen im Vergleich zu Texten, die den Symbolgehalt des Rituals unterstreichen und ausdeuten, eine untergeordnete Stellung ein. Folgende Kategorien sind für das Verständnis der Texte (in gesprochener oder gesungener Sprache) und ihrer Funktion im Verlauf des Mess-Rituals grundlegend (Greule 2002, 231–235): a) Ritualität, b) kommunikative Struktur, c) sprachliche Erscheinungsweisen. Der Charakter des „Großrituals“ kommt in der festgelegten Abfolge von Teilritualen (zu den Teilritualen der Messfeier s. o. 2.1) zum Ausdruck. Die Teilrituale sind ihrerseits in kleinere Ritualschritte gegliedert, die in einer Abfolge kürzerer und längerer, von Gesten begleiteter Textwiedergaben bestehen. Dabei sind sowohl die Gesten als auch die Texte bis auf wenige Ausnahmen (z. B. Homilie, Fürbitten) schriftlich im Messbuch fixiert. Es wird unterschieden zwischen den in jeder Messfeier zu sprechenden Texten und zu vollziehenden Gesten, dem Ordinarium, und dem Proprium, in dem die Texte vorgeschrieben sind, die je nach Festzeit und Lesejahr im Verlauf des Kirchenjahres andere sind. Am Beispiel des Teilrituals „Eucharistiefeier“ (Abendmahlsfeier) wird das Zusammenwirken von gesprochenen Texten und Gesten deutlich. Es folgen aufeinander: 1) die Gabenbereitung mit der Bereitung des Altars, eine Prozession, mit der Brot und Wein zum Altar gebracht werden, und das Gabengebet, 2) Das eucharistische Hochgebet des Priesters mit verschiedenen Gesten, 3) Die Kommunion mit Vaterunser, Friedensgruß, Brotbrechung und Kommunionspendung, der der Gang der Gläubigen zum Altar vorausgeht, Stille und Schlussgebet. Die Ausführung des Rituals Messe an einem festgelegten Ort und zu festgesetzter Zeit schafft eine konkrete sehr komplexe Kommunikationssituation, die nebst Ort und Zeit bestimmt wird durch die am Ritual beteiligten und handelnden Menschen (ausführlich zur Kommunikationssituation s. u. Abschnitt 3).

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Von den im Verlauf des Rituals möglichen Erscheinungsweisen der Sprache steht die gesprochene (teils kantillierte oder gesungene) Sprache im Vordergrund. Für die ordentliche Form der Messfeier kennzeichnend ist die Volkssprache und nicht mehr das Latein der römischen Liturgie. Da die zu sprechenden, vorzulesenden oder zu kantillierenden Texte im Messbuch schriftlich fixiert sind, kann erwartet werden, dass sie vom Vorsteher, den Lektoren und Kantoren auch gemäß deutscher Schriftsprache und der daraus abgeleiteten Orthoepie (und nicht etwa mundartlich) wiedergegeben werden (Greule 2002, 232f.).

2.2.2 Biblische Lesungen und Gesänge (Psalmen) Durch die Verkündigung der Heiligen Schrift wird das Heilswirken Gottes in der Geschichte seines Volkes gegenwärtig. Gott wendet sich den Menschen zu und spricht zu seiner Gemeinde. Die Gläubigen nehmen sein Wort auf, verweilen bei ihm und antworten darauf (Gotteslob 2013, Nr. 584)

Im Rahmen des Teilrituals „Wortgottesdienst“ folgen drei aus der Bibel genommene Lesungen aufeinander: Während die zweite Lesung aus einem apostolischen Brief stammt, ist die erste Lesung ein Abschnitt aus einem der Bücher des Alten Testaments (in der Osterzeit ein Abschnitt aus der Apostelgeschichte); zwischen beiden Lesungen werden Psalmverse (Antwortpsalm) rezitiert oder kantilliert (zu den biblischen Textsorten vgl. Simmler 2000, 677–681). Die dritte Lesung, eine Perikope aus einem der vier Evangelien, wird außer in der Österlichen Bußzeit durch den Gesang des Halleluja eingeleitet. Die Lesungen und der Antwortpsalm gehören zum Proprium der Messfeier.

2.2.3 Gebete Alle Teilrituale sowohl des Messordinariums als auch des Messpropriums sind durch längere und kürzere vorformulierte Gebete (Orationen), die der Vorsteher/Priester spricht, geprägt. Haben die biblischen Lesungen die Funktion des Verkündens, so erfüllen die Gebete eine appellative Funktion, indem der/die Betenden glaubend und vertrauend Gott anrufen und bitten. Tages-, Gaben- und Schlussgebet sind als Teile des Propriums aufeinander bezogen und folgen der Berakah-Struktur des jüdisch-christlichen Gebets: Gebetseinladung („Lasset uns beten“), Gottesanrede („Gott!“), Prädikation („du liebst deine Geschöpfe […]“), Bitte („Gib uns eine neues und reines Herz […]“), Schlussformel („Darum bitten wir durch Jesus Christus […]“) (Zitate aus Gotteslob 2013, Nr. 583, 3; zur Berakah-Struktur: Nagel 1995, 55– 62). Dabei findet jeweils in der Prädikation und in der doxologischen Schlussformel die Gottesverehrung ihren besonderen Ausdruck. Im Unterschied zu Tages-, Gaben-

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und Schlussgebet stellt das eucharistische Hochgebet in der Mitte der Messfeier einen eigenen rituellen Kosmos dar, der die Präfation (als Preis und Dank für das Werk der Erlösung in Jesus-Christus), die Heilig-Rufe, den Einsetzungsbericht, die Akklamation Geheimnis des Glaubens und das Memento umfasst. Dialogisch angelegt ist demgegenüber das Allgemeine Gebet (Fürbitten): Es wird vom Priester eingeleitet und abgeschlossen, einzelne Gläubige formulieren Fürbitten, die durch eine Formel (z. B. „Christus erhöre uns“) bekräftigt werden.

2.2.4 Bekenntnisse An zwei Stellen finden sich im Messordinarium Texte, deren Funktion das Bekennen ist, einerseits – im Allgemeinen Schuldbekenntnis – öffentlich Schuld einzugestehen, andererseits – im (apostolischen) Glaubensbekenntnis (Credo) – öffentlich Zeugnis für den Glauben abzulegen. Die Funktion des Schuldbekenntnisses im Verlauf des Eröffnungsrituals wird durch den Priester in Gestalt einer vorformulierten Aufforderung der Gemeinde benannt: „[…] damit wir die heiligen Geheimnisse in rechter Weise feiern können, wollen wir bekennen, dass wir gesündigt haben.“ Das Schuldbekenntnis endet in einer an Gott und die Mitfeiernden gerichteten Vergebungsbitte. Mit dem Glaubensbekenntnis (gesprochen als Großes Glaubensbekenntnis oder als das kürzere Apostolische Glaubensbekenntnis), das seinen Ursprung in der Taufliturgie hat, bekunden die Gläubigen ihre Zustimmung zu dem im Wortgottesdienst, in den Lesungen, dem Evangelium und der Predigt gehörten Wort Gottes, in dem sie sich zu den wesentlichen Glaubenswirklichkeiten bekennen (Adam/Haunerland 2012, 227).

2.2.5 Segen Den Schluss der Messfeier markiert eine besondere rituelle Kommunikationsform: Der Segen verbindet die sprachliche Form der Bitte um die Zusage der bleibenden Nähe Gottes („Es segne euch der allmächtige Gott…“) mit der Geste des Kreuzzeichens: Die Geste steht hier derart im Vordergrund, dass der ganze Kommunikationsakt, den der Priester der Gemeinde zugewandt ausführt, mit dem Namen der Geste selbst (Segen, entlehnt aus lat. signum ‚[Kreuz]zeichen‘) bezeichnet wird. Das Kreuzzeichen steht am Beginn und am Schluss der Messfeier.

2.2.6 Homilie (Predigt) In der Predigt, die zum Teilritual „Wortgottesdienst“ gehört, erschließt der Priester selbst die in den vorausgehenden Lesungen verkündete Botschaft des Glaubens und

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die ganze Feier der Liturgie. Die Funktion der Predigt ist demnach primär die der Unterweisung und Belehrung der Gemeinde in einer klassischen unilateralen Kommunikationssituation, in der der Prediger einen von ihm selbst verfassten, meist vorformulierten Text vorträgt und die Gemeinde schweigend zuhört. Zwar ist die Homilie das freieste Element im Verlauf des religiösen Rituals; sie soll aber keine Unterbrechung der Liturgie darstellen oder herbeiführen und vom zelebrierenden Priester selbst gehalten werden. Die heiligen Texte, die er dabei auslegt, können nicht nur die Texte der heiligen Schrift, sondern auch die liturgischen Texte der Messfeier (Proprium) sein. Einer nur formalen Funktion der Homilie als Teil der Liturgie beugt die pastorale Einführung in das Messlektionar inhaltlich vor, indem sie die innere Verknüpfung von Wortverkündigung und sakramentaler Feier herausstellt: In der Messfeier soll durch die Homilie die Verkündigung des Wortes Gottes zusammen mit der Feier der Eucharistie zur „Botschaft von den Wundertaten Gottes in der Geschichte des Heils, d. h. im Mysterium Christi“ werden. (zit. n. Bärsch 2015, 101)

2.2.7 Hymnen und geistliche Lieder Der aus dem Teilritual Eröffnung herausragende Text ist das Gloria („Ehre sei Gott in der Höhe“), ein Hymnus, der als besonderer Ausdruck der Gottesverehrung von der Gemeinde, die gleichsam in den Lobgesang der Engel (nach Lk 2,13f.) einstimmt, gesungen wird. Wegen seiner Nähe zum Gloria wird sowohl das dreimalige Kyrie eleison („Herr erbarme dich“) als auch das in der Eucharistiefeier korrespondierende dreimalige Agnus Dei („Lamm Gottes“) ebenso wie das Sanctus („Heilig, heilig, heilig“) mit volkssprachlichem Text von der Gemeinde gesungen. Die Praxis, Lieder mit volkssprachlichem Text anstelle der originalen (übersetzten) Psalmentexte oder anstelle von Kyrie-Gloria-Sanctus Agnus zu singen, hat im deutschsprachigen Raum eine lange Tradition. Als ältestes deutsches Kirchenlied gilt das althochdeutsche Petruslied; am Beginn der bis heute andauernden Tradition steht aber der Oster-Hymnus „Christ ist erstanden“ (überliefert seit dem 14. Jh.). Die großen deutschen Kirchenlieder werden sprachlich, musikalisch und theologisch im „Geistlichen Wunderhorn“ (Becker u. a. 2001) ausführlich dokumentiert und interpretiert (Greule 2009; Greule 2012, 151–230).

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3 Exemplarische Analyse liturgischer Kommunikationssituationen 3.1 Zum Untersuchungsgegenstand In diesem Teil des Beitrags sollen einige Faktoren vorgestellt werden, die bei der Beschreibung liturgischer Kommunikationssituationen zu berücksichtigen sind. Diese Faktoren werden anhand eines Beispiels aus der tridentinischen Messe, nämlich einem Teil des Stufengebets, illustriert. Als Material für die Untersuchung dient in erster Linie der Videomitschnitt einer missa cantata (gesungenes Hochamt) vom Dreifaltigkeitssonntag, dem 3. Juni 2012, in der Berliner Gemeinde St. Afra, die sich der tridentinischen Messe verschrieben hat (http://www.institut-philipp-neri.de, Stand: 15.03.2016). Daneben werden noch berücksichtigt: das Missale, Liedzettel, Vermeldungen, der Schott (dieses sog. Volksmessbuch enthält neben den lateinischen Texten der außerordentlichen Form auch immer deren deutsche Übersetzungen), liturgische Kommentare und Expertengespräche vor allem mit dem Pfarrer von St. Afra. Alle diese Quellen dienen dazu, für die tridentinische Messe, und zwar in der Weise, wie sie üblicherweise in der konkreten Berliner Gemeinde gefeiert wird, ein Skript zu erstellen. Aus diesem werden hier nur Teile des Stufengebets dargestellt. An anderen Stellen (Kiraga 2012 und 2016) findet sich eine vergleichende Analyse der Kommunikationssituation in der tridentinischen und der nachkonziliaren Messe. Im vorliegenden Beitrag werden einige der dort angestellten Überlegungen modifiziert und vertieft. Wichtige Hinweise speziell zur Kommunikationssituation im Gottesdienst finden sich auch in Aufsätzen von Franz Simmler (2000) und Albrecht Greule (z. B. 2002) oder in den Arbeiten von Iwar Werlen (1984), Josef Schermann (1987) und Michael B. Merz (1988), um nur einige wenige zu nennen.

3.2 Liturgische Kommunikationssituation Für den weiteren Verlauf ist zunächst zu klären, was hier unter liturgischer Kommunikationssituation verstanden wird. Um sich dieser zu nähern, kann man auf Ausführungen von Kirsten Adamzik zurückgreifen. Adamzik spricht in ihrer Einführung in die Textlinguistik (2004) von vier Dimensionen der Textbeschreibung: sprachliche Gestalt, Thema, Funktion und situativer Kontext. Diese vier Dimensionen sind natürlich nicht unabhängig voneinander, sondern stehen in gegenseitiger Wechselbeziehung (Adamzik 2004, 59):

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Abb. 1: Dimensionen der Textbeschreibung nach Adamzik (2004, 59).

Ausgehend von dieser Darstellung kann die spezielle liturgische Kommunikationssituation ex negativo definiert werden: Unter der liturgischen Kommunikationssituation werden hier solche Aspekte der Kommunikation erfasst, die nicht die Funktion, den Inhalt oder das eigentliche sprachliche Gebilde i. e. S. (Lexik, Morphologie und Syntax) betreffen, aber dennoch Einfluss auf den kommunikativen, rituellen Ablauf der Liturgie haben bzw. Bestandteil dieses Ablaufs sind. (Kiraga 2014, 92)

Der Hinweis „Aspekte, die Einfluss auf den Ablauf haben oder Bestandteil des Ablaufs sind“ bezieht sich auf Flüstern mit dem Banknachbarn, elterliche Ermahnungen, Niesen usw.

3.3 Relevante Faktoren für die Analyse der liturgischen Kommunikationssituation Die nachstehenden Ausführungen lehnen sich an merkmalsorientierte Ansätze zur Analyse der Kommunikationssituation an, wie sie etwa in Steger u. a. (1974) vorgeschlagen werden. Allgemein lässt sich in der textlinguistischen Literatur feststellen, dass es keinen Konsens hinsichtlich der Anzahl, der Terminologie und der Gewichtung von kommunikationssituativen Merkmalen gibt. Dennoch lassen sich, so zumindest Wolfgang Heinemann in einem Überblicksartikel zu „Aspekten der Textsortendifferenzierung“, in den meisten Modellen die folgenden vier Bereiche finden: räumliches und zeitliches Umfeld von Kommunikationsereignissen, die Partnerkonstellation, das Medium sowie die gesellschaftlich-kommunikativen Rahmenstrukturen (Heinemann 2000, 531f.).

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Vorwegzuschicken ist auch, dass verbale und nonverbale bzw. paraverbale Elemente berücksichtigt werden können, etwa das Kreuzzeichen, während „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ gesprochen wird. Die hier vorgeschlagene Analyse beschränkt sich allerdings auf den verbalen Bereich. Für die Beschäftigung mit der gottesdienstlichen Kommunikationssituation sind die folgenden Aspekte grundsätzlich erwähnens- und untersuchenswert: 1 2 3 4 5

6 7 8

9

Zeit Ort Öffentlichkeitsgrad Kommunikationsteilnehmer kommunikative Rollen 5.1 Sprecher 5.2 stellvertretender Sprecher 5.3 Angesprochener 5.4 Mit-Angesprochener 5.5 stellvertretend Angesprochener sprachlicher Code Textvorlagen Realisierungsmodus 8.1 Medium 8.2 Lautstärke 8.3 gesprochen/gesungen parallele Kommunikation

Die Messe wurde (1) am 3. Juni 2012 ab 10.30 Uhr für eine Stunde in der Kirche St. Afra Berlin (2) gefeiert und war der Öffentlichkeit zugänglich (3). Diese drei Faktoren sind von größerer Bedeutung für den Vergleich mehrerer Gottesdienste. Die Menschenweihehandlung der Christengemeinschaft wird beispielsweise nur im Laufe des Vormittags gefeiert (vgl. Kiraga 2009b, 138), für die byzantinische Tradition ist die Ikonostase charakteristisch, welche die beiden Bereiche von Kirchenschiff und Altarraum voneinander trennt (Oeldemann 2006, 164–166), und zu bestimmten Ritualen der Mormonen haben Außenstehende keinen Zutritt. Bei den Kommunkationsteilnehmern (4) ist zunächst zwischen solchen mit besonderen liturgischen und daher auch kommunikativen Aufgaben Betrauten (Priester, Ministranten, Schola) und den übrigen Versammelten, der Gemeinde, zu unterscheiden. Auf einer transzendenten Ebene kommen darüber hinaus Gott, Jesus, der Heilige Geist, Maria, Engel und Heilige hinzu. Entsprechend dem theolinguistischen Herangehen an die Messe sollen die angeführten Teilnehmer als Kommunikationsteilnehmer berücksichtigt und ernst genommen werden; im christlich-katholischen Kontext gelten sie als anwesend, so dass man sich im Gebet an sie wenden kann (Gerhards/Kranemann 2013, 128–132, Schermann 1987, 56–62, Werlen 1984, 154). Bei den kommunikativen Rollen (5) gibt es zunächst die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Sprecher (5.1) und Angesprochenem (5.3). In der tridentinischen Messe begegnen uns aber viele Stellen, in denen ein Einzelner stellvertretend

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und im Namen aller (irdisch) Anwesenden spricht (5.2). Dies gilt insbesondere für den Priester bei Gebeten in der ersten Person Plural. Hierzu gehören besonders die sogenannten Amtsgebete, wie etwa die Secreta (Stillgebet) für den Dreifaltigkeitssonntag: Sactifica, quæsumus, Domine, Deus noster, per tui sancti nominis invocationem, hujus oblationis hostiam […]/Herr, unser Gott, wir bitten Dich: heilige diese Opfergabe durch die Anrufung Deines heiligen Namens […] (Schott 2006, 597/Missale 1962, 372).

Neben dem ‚normalen‘ Angesprochenen kann es noch weitere Mit-Angesprochene (5.4) geben. Gemeint ist, dass mit einer Äußerung gegenüber verschiedenen Adressaten je eigene Sprechakte realisiert werden. Bei den erwähnten Amtsgebeten des Priesters haben wir, sofern sie laut gebetet werden, einen solchen Fall: Der Priester richtet das Gebet an Gott, während er gleichzeitig die anwesende Gemeinde darüber informiert, worum er auch in ihrem Namen bittet. Eine weitere Art, angesprochen zu werden, kann durch die Kategorie der „stellvertretend Angesprochenen“ (5.5) gefasst werden. Es gibt nämlich einige wenige Stellen in der tridentinischen Messe, in denen sich der Priester an die Ministranten wendet, die ihrerseits – so die theologische Interpretation (vgl. Art. Ministrant, Ministrantin. In: LThK 7 (1998), 271) – die Gemeinde vertreten. Was den sprachlichen Code (6) anbelangt, ist für die tridentinische Messe darauf zu schauen, ob Latein oder Deutsch verwendet wird. Gegebenenfalls kann auch berücksichtigt werden, ob etwa in der Predigt dialektale Einflüsse zu finden sind. Im hier untersuchten Teil der außerordentlichen Form steht freilich lediglich das Latein. Textvorlagen (7) sind das Missale sowie andere sogenannte Rollenbücher für Schola und Kantor, Gesangbücher, ausliegende Liederzettel, die Vermeldungen, aber auch die – sofern vorhanden – Vorlagen für die Predigt. Unter den Realisierungsmodus (8) fällt Verschiedenes. Die technischen Aspekte der Übertragung (8.1) sollen hier nicht interessieren, in Bezug auf die Lautstärke (8.2) jedoch wird es interessant: Lautlos sind vor allem private Gebete etwa nach der Kommunion, die, sozusagen ohne dass etwas zu hören ist oder überhaupt die Sprechwerkzeuge benutzt werden, realisiert werden. Leise sind etwa Äußerungen, die nur ‚unfällig‘ von nahe Dabeistehenden gehört werden können. So kann die Formel, die der Priester während der Handwaschung spricht, von Ministranten verstanden werden. Halblaut wären Teile, die von einer bestimmten Gruppe der Anwesenden verstanden werden sollen, von anderen hingegen nicht. Laut meint schließlich, dass etwas so laut produziert wird, dass es von allen Anwesenden gehört werden kann, also etwa alles Gesungene. Bei der Beschäftigung mit liturgischer Kommunikationssituation ist natürlich auch zu schauen, ob ein Text gesprochen oder gesungen (8.3) wird. Parallele Kommunikation (9) liegt dann vor, wenn zur gleichen Zeit mehrere Kommunikationsstränge verlaufen.

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3.4 Ein Beispiel – das Stufengebet Das Stufengebet (auch als Staffelgebet bezeichnet) ist ein Gebet, das zu Beginn der tridentinischen Messe gemeinsam vom Priester und den Ministranten an den Stufen zum Altar gesprochen wird. Wichtige Bestandteile sind der Ps 43 Iudica me/„Schaffe Recht mir“ und das Confiteor, das Schuldbekenntnis, das zunächst vom Priester, danach von den Ministranten gebetet wird (der Text ist in Schott 2006, 444–448/ Missale 1962, 216f. zu finden). Während des Stufengebets singen Schola und Gemeinde den Introitus (Eingangslied, für den Dreifaltigkeitssonntag vgl. Schott 2006, 596/Missale 1962, 372). In die ordentliche, nachkonziliare Form der heiligen Messe hat das Stufengebet keinen Eingang gefunden; stattdessen vollziehen alle Anwesenden gemeinsam den sogenannten Bußakt (vgl. Art. Stufengebet. In: LThK 9 (2000), 1056f.). Die tabellarische Darstellung (siehe folgende Seite) beschränkt sich auf den Anfang des Stufengebets bis zu den Schuldbekenntnissen. Der Ps 43 wurde gekürzt. Einige der oben erwähnten Faktoren wurden nicht in die Tabelle aufgenommen: Zeit (1), Ort (2), Öffentlichkeitsgrad (3), der sprachliche Code (6) und das Medium (8.1). In der gewählten Stelle der tridentinischen Messe wird ausschließlich das Latein verwendet, es gibt keine Möglichkeit zum freien Formulieren. Was die Textvorlage (7) anbelangt, so ist der Introitus in Schott 2006, 596/Missale 1962, 372, der restliche Text in Schott 2006, 444–447/Missale 1962, 216f. zu finden. Da es hier nicht möglich ist, eine erschöpfende Analyse des dargestellten Ausschnitts durchzuführen, mögen einige wenige Punkte genügen: 1) Während des gesamten Stufengebets ist die Kommunikation parallel: Schola und Gläubige singen laut den Introitus, der Priester hingegen spricht mit den Ministranten im Wechsel halblaut verschiedene Gebete. Bemerkenswert ist aus kommunikationssituativer Perspektive, dass durch die Parallelität die Gläubigen permanent in zweifacher Weise kommunizieren: zum einen stellvertreten durch Priester und Ministranten, zum anderen – ebenfalls stellvertreten – durch die Schola. Und noch ein weiterer Aspekt der geteilten Kommunikation ist einer Bemerkung wert: Liturgisch gesehen hat für den gültigen Vollzug der Messe lediglich das Gewicht, was der Priester, ggf. zusammen mit den Ministranten, betet: Daß auch im Hochamt die Gesangtexte vom Priester (zusammen mit seiner Assistenz) mitgelesen werden mußten, finden wir für den Introitus und für die von ihm selbst angestimmten Gesänge Gloria, Credo, Sanctus und Agnus Dei ein erstes Mal um 1140, allgemein erst um die Mitte des 13. Jahrhunderts ausdrücklich angeordnet, während ein gleiches bei den Lesungen auch hier noch nicht vorgesehen ist. Es liegt in diese Annäherung an die stille Messe eine empfindliche Lockerung des liturgischen Gefüges vor, die allerdings den zentrifugalen Tendenzen des gotischen Zeitalters durchaus entspricht. Der Priester macht sich gewissermaßen unabhängig vom Sängerchor. Was dieser leistet, wird am Altar nicht mehr als vollwertiger Beitrag zur gemeinsamen Feier betrachtet. (Jungmann 2003, I, 140, vgl. auch Gerhards/Kranemann 2008, 17f.)

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Abb. 2: Strukturelle Darstellung des Stufengebets.

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Diese erforderliche Doppelung wirkt im dargestellten Ausschnitt umso befremdlicher, als dass der Introitus erst später vom Priester leise gebetet wird. 2) Die Schola singt den Introitus stellvertretend für alle Gläubigen; daher sind diese neben den in erster Linie Angesprochenen, nämlich Gott, Jesus und Heiligem Geist, Mit-Angesprochene. Priester und Ministranten beten den Ps 43 im Namen aller Versammelten. Spricht im Altarraum der Priester, so werden die Ministranten mit-angesprochen; sprechen hingegen die Ministranten, wird entsprechend der Priester mitangesprochen. Die Gläubigen mitsamt der Schola sind hierbei in gewisser Weise ausgeschlossen – sie können von dem leise Gesprochenen nichts hören. 3) Beim ersten, dem priesterlichen Schuldbekenntnis, wendet sich der Priester nicht nur direkt an Gott, Maria, die Engel und Heiligen, sondern auch an die Gläubigen, allerdings vertreten durch die Ministranten. Die Ministranten vertreten wenig später wiederum alle versammelten Gläubigen, wenn sie ihrerseits das Confiteor sprechen. 4) Gewisse Interpretationsschwierigkeiten bieten die Textteile Misereatur vestri omnipotens Deus/„Der allmächtige Gott erbarme sich eurer“ und Indulgentiam, absolutionem et remissionem/„Nachlaß, Vergebung und Verzeihung“. Diese Formeln können entweder und in Entsprechung zu der vergleichbaren Äußerung der Ministranten nach dem priesterlichen Confiteor als Bitte des Priesters aufgefasst werden oder aber als Zuspruch der Vergebung, so dass hier Gott als Sprecher und der Priester als stellvertretender Sprecher zu sehen wäre. Für diese zweite Lesart spricht zunächst die vorangehende Rubrik im Missale: Postea sacerdos, iunctis manibus, facit absolutionem, dicens [...] (Missale 1962, 217, zu Deutsch etwa „Hiernach erteilt der Priester mit gefalteten Händen die Absolution, indem er betet […]“). Der Begriff der Absolution umfasst zunächst zweierlei: Verabschiedungsformen können als Absolutionen bezeichnet werden, z. B. in der tridentinischen Messe Ite missa est/„Gehet hin, ihr seid entlassen“ (Schott 2006, 475/Missale 1962, 323). Daneben gibt es den Zusammenhang mit der Vergebung von Sünden, wobei zu unterscheiden ist zwischen indikativen Formeln, in denen Vergebung zugesprochen wird (z. B. am Ende des Bußsakraments „So spreche ich dich los von deinen Sünden“, Feier der Buße 1975, 33), und optativen Formeln, die eine Bitte zum Ausdruck bringen (vgl. Art. Absolution. In: LThK 1 (1993), 82–84 und Jungmann 1932, 201–206). In beiden Fällen von Misereatur und Indulgentiam handelt es sich um optative Absolutionen: Nach dem Sündenbekenntnis des Priesters und des Volkes wird im Misereatur Gottes Barmherzigkeit angerufen, um das gemeinsame Ziel, das ewige Leben, zu erlangen. […] Die Häufung der synonymen Ausdrücke indulgentiam, absolutionem, remissionem peccatorum will nur die Dringlichkeit der Bitte um Sündenvergebung erkennen lassen. (Eisenhofer 1932–1933, II: 76; Herv. i. Orig. durch Sperrdruck; vgl. Jungmann 2003, I: 398, dort auch zur Entwicklung des Confiteor 386–402)

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Sprachlich wird die optative Funktion durch Formen im Konjunktiv Präsens – misereatur, perducat und tribuat – bzw. im Konjunktiv I – „er erbarme, er führe, er schenke“ – ausgedrückt.

4 Ausblick Während die Erforschung kommunikativer Formen der Verehrung bereits weit fortgeschritten ist, gibt es bislang nur wenige theolinguistische Arbeiten, die sich konkret mit Fragen der liturgischen Kommunikationssituation auseinandersetzen. Der hier dargestellte, kurze Ausschnitt aus der tridentinischen Messe lässt bereits deutlich werden, dass eine tabellarische Darstellung von Gottesdiensten und überhaupt die Analyse der liturgischen Kommunikationssituation ungemein komplex sind. Hinzu kommt, dass sich die hier vorgeschlagene Darstellung zum einen auf das verbale Geschehen beschränkt hat und es sich zum anderen bei der tridentinischen Messe um einen stark ritualisierten und damit verhältnismäßig einfach darstellbaren Gottesdienst handelt. Die Liste an kommunikationssituativen Faktoren erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern ist je nach untersuchtem Gottesdienst anzupassen. Die stellvertretende Empfängerschaft etwa begegnet so nicht in einem evangelisch-lutherischen Predigtgottesdienst und Gottesdienste z. B. der Adventisten oder Zeugen Jehovas beinhalten auch das gemeinsame Lesen von Zeitschriften und das Nachschlagen von Textstellen in der Bibel (zur Kommunikationssituation im sogenannten Wachtturm-Studium der Zeugen Jehovas vgl. Kiraga 2009a, 20–23). Ausgespart wurde hier das Foucault’sche Prinzip der Heterotopien, verstanden als Orte, die vollkommen anders sind als die übrigen Orte, die sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen. Es sind gleichsam Gegenräume. (Foucault 2013, 10, vgl. auch Lasch 2011 und Lasch/Liebert 2015)

In diesem Sinne könnte zunächst die Kirche, d. h. der Raum, in dem die Messe vollzogen wird, als ein solcher Gegenraum aufgefasst werden. Ferner würde der Altarraum eine Art Heterotop im Heterotop darstellen, die sich auch in der Art, wie die rituelle Kommunikation gestaltet wird, manifestiert: durch die angesprochenen Aspekte des leisen Betens von Priester und Ministranten, des parallelen Gesanges der Gemeinde und der Doppelungen von Gebeten, die erst durch das priesterliche Realisieren Gültigkeit haben.

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5 Literatur 5.1 Textausgaben Feier der Buße (1975) = Liturgische Institute des internationalen deutschen Sprachgebietes (Hg.): Die Feier der Buße nach dem neuen Rituale Romanum. Studienausgabe. Leipzig. Gotteslob (2013) = Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch. Hg. von den (Erz-)Bischöfen Deutschlands und Österreichs und dem Bischof von Bozen-Brixen. Regensburg. Messbuch (1988) = Meßbuch für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch. Kleinausgabe. Das Meßbuch deutsch für alle Tage des Jahres. 2. Aufl. Freiburg i. Br./Basel. Missale (1962) = Missale Romanum ex decreto SS. Concilii Tridentini restitutum summorum pontificum cura recognitum, edytio typica. Online verfügbar unter: http://sanctamissa.org/en/resources/books-1962/missale-romanum-1962.pdf. Stand: 15.03.2016. Schott (2006) = Das vollständige Römische Meßbuch. Lateinisch und deutsch mit allgemeinen und besonderen Einführungen im Anschluß an das Meßbuch von Anselm Schott O. S. B. Hg. von den Benediktinern der Erzabtei Beuron. Opfenbach-Wigratzbad, 2006 (Nachdruck der Ausgabe von 1962).

5.2 Forschung Adam, Adolf/Winfried Haunerland (2012): Grundriss Liturgie. Neuausg., 9., völlig neu bearb. und erw. Aufl. Freiburg i. Br. Adamzik, Kirsten (2004): Textlinguistik. Eine einführende Darstellung. Tübingen (Germanistische Arbeitshefte, 40). Bärsch, Jürgen (2015) „… die Gemeinschaft der Gläubigen zur tätigen Mitfeier der Eucharistie hinführen“ (PEM 24). Gedanken zur Homilie als liturgischer Vollzug der Messfeier. In: Stefan Böntert (Hg.): Gemeinschaft im Danken. Regensburg, 97–112. Becker, Hansjakob u. a. (Hg.) (2000): Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder. München. Benedikt XVI. (2007): Apostolisches Schreiben Summorum Pontificum. Bonn (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, 178). Eisenhofer, Ludwig (1932–1933): Handbuch der katholischen Liturgik. 2 Bd. Freiburg i. Br. Foucault, Michel (2013): Die Heterotopien – Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Frankfurt a. M. Gerhards, Albert/Benedikt Kranemann (2008). Einführung in die Liturgiewissenschaft. 2. durchges. Aufl. Darmstadt. Greule, Albrecht (2002): Liturgische Text- und Redesorten. In: heiliger dienst 56, 231–239. Greule, Albrecht (2009): Geistliche Lieder/Kirchenlieder. In: Alexander Schwarz/Franz Simmler/Claudia Wich-Reif (Hg.): Literarische und religiöse Textsorten und Textallianzen um 1500. Berlin (Berliner Sprachwissenschaftliche Studien, 20), 773–780. Greule, Albrecht (2012): Sakralität. Studien zu Sprachkultur und religiöser Sprache. Herausgegeben von Sandra Reimann und Paul Rössler. Tübingen (Mainzer Hymnologische Studien, 15). Greule, Albrecht/Elżbieta Kucharska-Dreiß (2011): Theolingustik: Gegenstand – Terminologie – Methoden. In: Dies. (Hg): Theolinguistik: Bestandaufnahme – Tendenzen – Impulse. Insingen (Theolinguistica, 4), 11–18.

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Haunerland, Winfried (1998): Lingua vernacula. Zur Sprache der Liturgie nach dem II. Vatikanum. In: Liturgisches Jahrbuch 42, 219–238. Haunerland, Winfried (2002): Sprachkultivierung und Gottesdienst. Zur praktischen Relevanz einer liturgischen Textsortenlehre. In: heiliger dienst 56, 240–248. Heinemann, Wolfgang (2000): Aspekte der Textsortendifferenzierung. In: Klaus Brinker u. a. (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Halbbd. 1. Berlin/New York (HSK, 16.1), 523–546. Hug, Elisabeth (1985): Reden zu Gott. Überlegungen zur deutschen liturgischen Gebetssprache. Zürich. Jungmann, Josef Andreas (1932): Die lateinischen Bußriten in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Innsbruck (Forschungen zur Geschichte des innerkirchlichen Lebens, 3/4). Jungmann, Josef Andreas (1962): Missarum sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe. 2 Bd. 5., verb. Aufl. Freiburg i. Br./Basel/Wien (Reprographischer Nachdruck der Ausgabe von 1962). Kiraga, Sebastian (2009a): Persuasive Mittel in Texten der Zeugen Jehovas. Analysiert an polnischem und deutschem Material. Regensburg (Theolinguistica, 2). Kiraga, Sebastian (2009b): Sprache in der Menschenweihehandlung – eine Annäherung. In: Iwona Bartoszewicz u. a. (Hg.): Germanistische Linguistik extra muros – Aufgaben. Wrocław/Dresden (Linguistische Treffen in Wrocław, 4), 137–143. Kiraga, Sebastian (2011): Liturgische Textsorte(n)? – Zum linguistischen Herangehen an den Gottesdienst und seine Teile. In: Iwona Bartoszewicz/Joanna Szczęk/Artur Tworek (Hg.): Germanistische Linguistik im interdisziplinären Gefüge II. Wrocław/Dresden (Linguistische Treffen in Wrocław, 7), 217–225. Kiraga, Sebastian (2013): Überlegungen zur Beschreibung der Kommunikationssituation in Gottesdiensten anhand der tridentinischen und der erneuerten Heiligen Messe. In: Albrecht Greule/Elżbieta Kucharska-Dreiß (Hg.): Dimensionen des Religiösen und die Sprache. Analysen und Projektberichte. Insingen (Theolinguistica, 7), 175–189. Kiraga, Sebastian (2014): Theolinguistische Faktoren zur Untersuchung liturgischer Kommunikationssitationen (am Beispiel der tridentinischen Messe). In: Manuela Schöneberger u. a. (Hg.): Dialekte, Konzepte, Kontakte. Ergebnisse des Arbeitstreffens der Gesellschaft für Sprache und Sprachen, GeSuS e. V., 31. Mai-1. Juni 2013 in Freiburg/Breisgau. Gelsenkirchen, 90–102. Kiraga, Sebastian (2016): Liturgische Kommunikationssituation. Ein Vergleich der tridentinischen und der nachkonziliaren katholischen Messe. Insingen (Theolinguistica, 8). Lasch, Alexander (2011): Texte im Handlungsbereich der Religion. In: Stephan Habscheid (Hg.): Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen. Linguistische Typologien der Kommunikation. Berlin/Boston, 536–555. Lasch, Alexander/Wolf-Andreas Liebert (2015): Sprache und Religion. In: Ekkehard Felder/Andreas Gardt (Hg.): Handbuch Sprache und Wissen. Berlin/Boston (HSW, 1), 475–492. Merz, Michael B. (1988): Liturgisches Gebet als Geschehen – liturgiewissenschaftlich-linguistische Studie anhand der Gebetsgattung eucharistisches Hochgebet. Münster/Westfalen (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, 70). Nagel, Eduard (Hg.) (1995): Studien und Entwürfe zur Meßfeier. Freiburg, Basel, Wien (Texte der Studienkommission für die Messliturgie und das Messbuch der Internationalen Arbeitsgemeinschaft der Liturgischen Kommission im Deutschen Sprachgebiet, 1). Oeldemann, Johannes (2006): Die Kirchen des christlichen Ostens. Orthodoxe, orientalische und mit Rom unierte Kirchen. Regensburg (Topos-plus-Taschenbücher, 577). Schermann, Josef (1987): Die Sprache im Gottesdienst. Innsbruck/Wien (Innsbrucker theologische Studien, 18).

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Simmler, Franz (2000): Textsorten des religiösen und kirchlichen Bereichs. In: Klaus Brinker u. a. (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Halbbd. 1. Berlin/New York (HSK, 16.1), 676–690. Steger, Hugo u. a. (1974): Redekonstellation, Redekonstellationstyp, Textexemplar, Textsorte im Rahmen eines Sprachverhaltensmodells. Begründung einer Forschungshypothese. In: Gesprochenes Deutsch. Jahrbuch 1972. Düsseldorf, 39–97. Stolze, Radegundis (2009): Die Sprachform nachreformatorischer Bibelübersetzungen. In: Uwe Gerber/Rudolf Hoberg (Hg.): Sprache und Religion. Darmstadt, 117–164. Wagner, Andreas (1999): Theolinguistik? – Theolinguistik! In: Hans Otto Spillmann/Ingo Warnke (Hg.): Internationale Tendenzen der Syntaktik, Semantik und Pragmatik. Frankfurt a. M., 507– 512. Werlen, Iwar (1984): Ritual und Sprache. Zum Verhältnis von Sprechen und Handeln in Ritualen. Tübingen.

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15. Vergegenwärtigung Abstract: Mediale Vergegenwärtigung ist der zentrale Skopus menschlicher Teilhabe an dem, was sich dem unmittelbaren Zugriff entzieht, was absent ist und mit Wort, Bild, Ton und/oder Handlung präsent gemacht werden muss. Das gilt für religiöse und ästhetische Kommunikation gleichermaßen, da sie sich auf Transzendenz bzw. das Imaginäre beziehen und sich daher in Phänomenologie und analytischer Theorie oft der gleichen Verfahren, Effekte, Begriffe und Sinngebungsstrukturen bedienen. Darin unterscheiden sie sich – einer allgemeinen Annahme folgend – von alltagsweltlichen und wissenschaftlichen Erkenntnisformen. Der Beitrag beschäftigt sich mit der aktuellen Debatte um die Begriffe „Vergegenwärtigung“ und „Präsenz“ aus Perspektive unterschiedlicher Disziplinen (Philosophie, Literaturwissenschaft, Medientheorie, Religionswissenschaft, Kulturkritik) im Spannungsfeld von „Präsenz“- und „Sinnkultur“ (Gumbrecht 2004a). Weisen der Vergegenwärtigung repräsentieren und erinnern das Transzendente nicht bloß mittelbar, sondern generieren im Ereignis des Erscheinens und Sich-Entbergens die unmittelbare, körperliche erfahrbare Präsenz im Zusammenfall von Bezeichnendem und Bezeichnetem. An einer Reihe vormoderner Beispiele soll gezeigt werden, dass und wie Präsenz- und Sinneffekte als solcherart Oszillationsphänomene zu beschreiben sind und dass unter dem Einfluss der Neuen Medien sowie der aktuellen Theoriediskussion zur Rolle der Präsenz in unserer heutigen Weltwahrnehmung die Diskrepanz zwischen Religion/Kunst und Alltagswelt/Wissenschaft mindestens dynamischer wird. 1 2 3

Darstellung des Gegenstands Präsenz- und Sinneffekte. Phänomene der Oszillation Literatur

1 Darstellung des Gegenstands In sehr allgemeiner Hinsicht bedeutet Vergegenwärtigung zunächst eine erkennende Betrachtung von etwas, das abwesend ist. Vergegenwärtigung ist dabei nicht bloß als Anwesenheit im Sinne von historischer Gegenwart zu verstehen, sondern etwas Abwesendes wird anwesend gemacht, um es vom Beobachterstandpunkt der Gegenwart aus im Akt der Erkenntnis (bzw. des Wiedererkennens) zu reflektieren. Erfasst werden soll alles, was ‚jetzt’ ist, alle Erscheinungen, Erinnerungen, Assoziationen und Artefakte, die auf bestimmte Weise miteinander zusammenhängen. Gegenwart wird so also nicht als Zeitform, sondern als räumliche Formation verstanden (Mertens 2009, 9).

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Dieses Modell eines modernen Historikers, der die von kausalen Zusammenhängen geprägte und teleologisch konzipierte Geschichte überwindet, um seine eigene „Jetztzeit als Konstellation zur vergangenen Epoche zu erfassen “ (Benjamin 1977b, These XIV), geht seit dem 20. Jahrhundert in intensiven Auseinandersetzungen verschiedener Disziplinen auf, die um holistische Entwürfe jener räumlichen Gegenwart bemüht sind. Denn während seit dem frühen 19. Jahrhundert dem ‚historischen Denken‘ die Gegenwart als äußerst kurzer Moment des Übergangs galt, „wo das Subjekt – Erfahrungen aus Vergangenheit an Gegenwart und Zukunft anpassend – aus den von der Zukunft gebotenen Möglichkeiten auswählte“ (Gumbrecht 2010, 15) als Voraussetzung des Handelns, prägen heute Begriffe wie „absolutes Präsens“ (Bohrer 1994) oder „breite Gegenwart“ (Gumbrecht 2010) die Auseinandersetzung mit dem Historischen in den Geisteswissenschaften. Bleibt etwa auch unter dem Einfluss schier uneingeschränkter elektronischer Gedächtnisleistung die Vergangenheit in ihrer ganzen Fülle gegenwärtig, erscheint die Zukunft auch nicht mehr als Möglichkeitshorizont, sondern als zunehmend unkalkulierbare Bedrohung. Der Effekt ist eine Gegenwart, die „zu einer sich verbreiternden Dimension der Simultaneitäten geworden“ ist (Gumbrecht 2010, 16). Unter diesem Eindruck des Verlusts linearer Zeitkonstruktion, der die Analyse aktueller Kulturphänomene hinterlässt (wozu auch der enorme Bedeutungszuwachs religiöser Gemeinschaften zählt, vgl. dazu u. a. Stark/Bainbridge 1985; Flasche 1996; Pollak 2003; Graf 2004), ist die Sehnsucht nach einer „stärker Körper- und mithin Raum-orientierte[n] Figur der Selbstreferenz“ (Gumbrecht 2010, 17) entstanden, deren zentraler Begriff der der ‚Präsenz‘ ist. Aktuelle Theorien, die sich mit Weisen der Vergegenwärtigung und der Präsenz als solcher auseinandersetzen, nehmen von dort ihren Anfang. Beide Begriffe haben sich innerhalb zweier zentraler Groß-Diskurse menschlicher Kultur entwickelt, die geistesgeschichtlich im Wesentlichen denselben Ursprung haben und deren phänomenologischer Ausdruck wie Beschreibungsinventar bis (und besonders wieder) heute in hohem Maße diffundieren: Kunst und Religion.

1.1 Vergegenwärtigung und Präsenz in Kunst und Religion Vergegenwärtigung steht begriffsgeschichtlich mit der Repräsentation in Verbindung, also ‚etwas steht für etwas anderes‘, bzw. ein Abwesendes wird durch etwas anderes anwesend gemacht. Thomas von Aquin verwendet Repräsentation daher gleichbedeutend mit Zeichen (signa). Das zeichenhafte Abbild/Nachbild, das ein Bild/Vorbild (imago) mimetisch repräsentiert, ist mit diesem durch Ähnlichkeit verbunden. Während der griechische von Platon und Aristoteles herkommende Mimesis-Begriff Mögliches und Wahrscheinliches erzeugt, nicht aber Wirkliches nachahmt (imitatio), verlagert sich in der Renaissance der Akzent auf die nicht nur strukturelle, sondern in allen Details geltende Ähnlichkeit bis hin zur verschönernden Korrektur der Realität. In der Kunsttheorie ist dies das Modell der Imitation bzw.

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Nachahmung, die Vergegenwärtigung des Imaginären, deren ästhetische Qualität in der romantischen Theorie vom Maß der Ähnlichkeit zur Natur abhängt. Dabei handelt es sich nicht um eine möglichst exakte Kopie, sondern die Nachahmung (im Gegensatz zur ‚Nachmachung‘) generiert einen ästhetischen Überschuss, welche die Kunst von der Natur wesentlich unterscheidet und das Verhältnis von Kunst, Künstler und Rezipienten bestimmt. Dahinter steht die Idee, die Kunst könne die Unzulänglichkeiten und Defekte der Natur gewissermaßen korrigieren, wodurch sich neben Ähnlichkeiten auch Unähnlichkeiten ergeben, welche das Kunstwerk mittels der Einbildungskraft des Künstlers schließlich perfekter als die Natur werden ließe (Schlegel). Vergegenwärtigung bleibt jedoch ontologisch geprägt in dem Sinne, als dass sie selbst als Modell des Schönen aufgefasst wird, da die Welt als göttliche Schöpfung ihrerseits den Gott vollkommen vergegenwärtige. Selbst als sich im romantischen Ideal Repräsentation bzw. Mimesis-Nachahmung ganz hin zur Imagination (Vorstellungskraft) verschiebt, verliert jenes Konzept von Vergegenwärtigung seine ontologische Begründung nicht. Schließlich sind es speziell die Romantiker, welche die Intensität und Wirkmacht säkularer Literatur geradezu exzessiv mit religiösen Metaphern beschreiben, das Lesen gleich religiöser Meditation und Gebet inszenieren und praktizieren, das Sichaneignen von Texten dem geistlichen Ritus anverwandeln usw. (vgl. Suhrkamp 1960). Vorbereitet durch den Individualitätsbegriff in Bezug auf die zu repräsentierenden Einzelvorstellungen in der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts, der schließlich das ontologisch geprägte Mimesis-Modell weitestgehend ersetzt (vgl. grundsätzlich schon Baumgarten 1983), waren bildende Kunst und Literatur als Medien sinnlicher Vergegenwärtigung (Einbildung/Imagination) von abwesender Präsenz spätestens in der Moderne obsolet geworden, bzw. sollten nur noch als ihr eigenes Dementi vorkommen. Auffassungen wie die von der Genie- und Kunstreligion als moderne Versionen der Menschwerdung Gottes im 19. Jahrhundert (II, 695, 701), des Katholizismus als notwendiges Element moderner Poesie und Mythologie bei Friedrich Wilhelm Schelling (IV, 328) oder die Re-Sakralisierung der Kunst und die romantische Liebesreligion bei Friedrich Schlegel und Novalis (I, 451–453, II, 323) zielen ebenso auf das intrikate Verhältnis von Kunst und Religion, wie die Anstrengungen um die Dissoziation von Religion und Kunst etwa bei Friedrich Hegel und Søren Kirkegaard (II, 369 du VII, 53) oder die Forderung nach der unbedingten Ablösung des Ästhetischen vom magischen Ritual und der Religion überhaupt marxistisch geprägter Literaturwissenschaft (vgl. Lukacs, III, 747) (vgl. zu diesem Zusammenhang auch Jacobs in diesem Band). Die ästhetische Dimension des festlichen (v. a. religiösen bzw. kultischen) Rituals speziell im Hinblick auf seine vergegenwärtigende Wirkfunktion pointieren schließlich wieder Ethnologen, Soziologen und Anthropologen wie Marcel Mauss, George Bataille oder Johan Huizinga, später Clifford Geertz mit enormem Einfluss auf die gesamte Kulturtheorie des 20. Jahrhunderts. Und so bleibt noch (bzw. wieder) für Martin Heidegger ästhetische Mimesis in jedem Fall einer onto-theologischen Metaphysik verhaftet (Heidegger 1994).

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Aus diesem inneren Zusammenhang von Kunst und Religion und ihren Mechanismen von Vergegenwärtigung durch Sprache, Bild und Handlung lässt sich unter anderem die Faszination an Präsenzeffekten, Performativität und Gegenwärtigkeit in den jüngeren wissenschaftlichen Beschäftigungen mit der Kunst und Literatur speziell der christlich-abendländischen Vormoderne erklären (vgl. u. a. Czerwinski 1993; Kiening 2003; ders./Stercken 2008; Bynum 1991, 2007, 2011; Belting 2011; Strohschneider 2013; Wenzel 1997; Lechtermann 2005), sowie den implizit davon abgeleiteten kulturwissenschaftlichen Untersuchungen zu aktuellen Applikationen religiöser Sprache und Handlung in Politik und Gesellschaft (u. a. Fix 1998; Gumbrecht 2005, 2010; Ernst/Paul 2013; Horn/Warstat 2003; Warstat 2005; Raupach 2010; Otto 2010), oder gar deren Austauschbarkeit (etwa im Bereich des Sports u. a. Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz 1990; Ulrichs 1998; Leißer 2004) im Sinne der Wiedergewinnung einer verlorengegangenen „Beziehung zu manchen Phänomenen unserer Gegenwartkultur, die jetzt außerhalb der Reichweite der Geisteswissenschaften zu liegen scheinen“ (Gumbrecht 2004a, 17). Der historische Verlust von Vergegenwärtigung hat mit der Sehnsucht nach Unmittelbarkeit in der modernen Kultur (vgl. dazu auch Hero in diesem Band) und ihrer wissenschaftlichen Beschreibung nicht Schluss gemacht, schlägt vielmehr seit einigen Jahrzehnten erneut in ihr Gegenteil um und zeitigt unter dem Einfluss der Neuen Medien expandierende Dimensionen.

1.2 Forschungsperspektiven: Körper und Sinn im ästhetischen Feld Zweifellos gehen die wichtigsten Beiträge für die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung zur Theoretisierung und Prozessen von Vergegenwärtigung auf Hans-Ulrich Gumbrecht zurück (Gumbrecht 2004a; 2012a und b u. a.), den man mit gutem Recht den Begründer der aktuellen Präsenzdebatte nennen darf. Sein Begriff von ‚Präsenz‘ und ‚Präsenzproduktion‘ hat die zeitgenössische Forschung von Philologen, Philosophen und Kulturwissenschaftlern entscheidend geprägt und darüber hinaus zu fruchtbarer Kritik, Weiterentwicklung und Anwendung angeregt. Gumbrecht fasst ‚Präsenz‘ als „ein räumliches Verhältnis zur Welt und deren Gegenständen“ (2004, 11), die den menschlichen Körper unmittelbar betrifft im Sinne von lat. praeesse. Unmittelbarkeit steht in Opposition zu zeichenhafter Vermittlung; sie ist „‚direkt‘, […] ‚ohne Vermittlung durch ein Anderes‘ und bezeichnet den Gegensatz zu ‚indirekt‘ und ‚vermittelt‘“ (Arndt 2004, 7, vgl. auch Kiening 2007, 21). „Produktion von Präsenz“ bewirke und intensiviere die „Wirkung ‚präsenter‘ Gegenstände auf menschliche Körper“ (Gumbrecht 2004a, 11). Der Präsenz gilt Sinn (bzw. Bedeutung) zwar als ein Gegenbegriff, da Gumbrecht allerdings nicht primär von religiösen Phänomenen her denkt, bezieht sich die metaphysische Dimension seiner Präsenztheorie, eher unbeeindruckt von theologischen Prämissen, allgemein auf

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eine „Weltsicht, die stets in einen Bereich ‚jenseits‘ des ‚Physischen‘ (oder ‚darunter‘) vorstoßen will“ (ebd.) (vgl. zum Begriff des Transzendenten in diesem Sinne Lasch in diesem Band). Während der Ansatz sich zwar als Kritik an der „Zentralstellung der Interpretation“ (Gumbrecht 2004a, 12) der Geisteswissenschaften versteht, geht es um die Beschreibung komplexer Oszillation und Interferenz von Sinn- und Präsenzeffekten, anstatt den Sinn zugunsten der Präsenz aufzugeben und die Hermeneutik an der Gegenwärtigkeit scheitern zu lassen (vgl. Czerwinski 1993). Gumbrechts Präsenztheorie geht aus früheren Überlegungen zur „Materialität der Kommunikation“ (Gumbrecht/Pfeiffer 1988; Pfeiffer/Berensmeyer 2009) hervor, d. h. den „nicht sinnhaften Voraussetzungen […] der Sinn-Genese“, die u. a. an die kunstund medientheoretischen Arbeiten Walter Benjamins (1972, 1977a) und seine Unterscheidung von Aura und Spur, die Theorien Siegfried Kracauers zum Film (1985) oder Roland Barthes zur Photographie (1989), Edmund Husserls Phänomenologie, Jacques Derridas Anti-Logozentrismus-Programm (u. a. 1983), Martin Heideggers substantielles „in-der-Welt-Sein“ (1984) sowie Jean-François Lyotards Immaterialisierung im Zeitalter elektronischer Medien (1985) ebenso anknüpfen, wie sie mit den frühen systemtheoretischen Schriften Niklas Luhmanns, Friedrich Kittlers „PsychoPhysik“ der Artefakte (2011) und Paul Zumthors epochemachender körperzentrierter Phänomenologie von Stimme und Schrift (u. a. 1990) in Zusammenhang stehen. Im historischen Bezug auf die metaphysische Weltsicht geht Gumbrecht von einem Bruch im Selbstbezug des Menschen aus, der gegenüber dem christlichen Mittelalter (‚Präsenzkultur‘) eine exzentrische Beobachterposition etabliere, welche das Subjekt als körperloses, einzig kognitiv operierendes Wesen denkt (vgl. Lieberts Beiträge in Bezug auf Plessner in diesem Band), während das Materielle nur noch auf der Seite der Beobachtungsobjekte vorkommen sollte (Subjekt/Objekt-Paradigma), welches qua Interpretation durchdrungen werden muss, um den geistigen Sinn des Objekts zu erkennen (‚Sinnkultur‘/‚Subjektkultur‘). Präsente Materie, d. h. Körperoberflächen, repräsentierten lediglich Sinn. Die aktive Sinnzuschreibung und Produktion von Wissen durch das Subjekt in der Neuzeit stehe der mittelalterlichen Vorstellung der irreversiblen göttlichen Schöpfung, der Offenbarung der daraus resultierenden Dichotomie von Wahrheit und Lüge fundamental entgegen (Gumbrecht 2004a, 100–102). Die Diskussion um den Begriff des Fiktionalen für die Vormoderne bewegt sich in eben diesem Spannungsfeld. Präsenz ist demnach primär als eine Kategorie des Materiellen und des physischen Raumes verstanden worden. Was präsent ist, beansprucht Raum. Das religiöse Ritual der katholischen Eucharistiefeier (vgl. Greule/Kiraga in diesem Band) mache Christi Leib und Blut in einer primären Operation wirklich präsent, d. h. lasse es substantiell anwesend werden. Der zeitliche Abstand zwischen Ereignis und Messe, d. h. die historischen Implikationen des Eucharistiegeschehens, werde dadurch unsichtbar. Demgegenüber beziehe sich das protestantische Abendmahl auf die Sinnebene des heilsgeschichtlichen Ereignisses und vergegenwärtige dieses lediglich zeichenhaft in einem Gedenkakt, indem es seine historische Dimension akzen-

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tuiert. Brot und Wein repräsentieren den geistlichen Sinn, während Fleisch und Blut substantiell abwesend bleiben – Gumbrecht (2004a, 47f.) verkürzt typischerweise, jedoch unzulässig, auf eine schematische Gegenüberstellung von lutherischem und reformiertem Verständnis auf der einen und römisch-katholischem auf der anderen Seite zugunsten einer Emphase des binären Codes (vgl. die Erläuterung weiter unten sowie Lasch in diesem Band). Raum (und sein Verhältnis zum Körper) und Zeit (und ihr Verhältnis zum Bewusstsein) entsprechen nach Gumbrecht auf Grundlage dieser Unterscheidung am konkreten Beispiel ‚Eucharistie‘ der Dualität von ‚Präsenz-‘ und ‚Sinnkultur‘ (Gumbrecht 2004a, 103). Dort, wo Zeitlichkeit im Zusammenhang mit Phänomenen der Präsenz (bzw. des Nicht-Sinnhaften) prononciert wird, werde sie in eigenständigen Kategorien des Zeitlichen (Ereignis), etwa als ‚extreme Zeitlichkeit‘, einer sich selbst gleichzeitig hervorbringenden und auslöschenden Emergenz (Nancy 1993) bzw. ‚Plötzlichkeit‘ (Bohrer 1981, 1994, 2003) im Sinne einer ephemeren Qualität (und Crux ästhetischer Erfahrung überhaupt) aufgefasst. Diese unter dem zeitlichen Aspekt perspektivierte Neubestimmung des metaphysischen Begriffs akzentuiert Präsenz, da sie sich zuallererst auf das Kunstwerk bzw. ästhetische Verfahren generell bezieht, als ein permanentes Entstehen und fokussiert die Unmöglichkeit ihrer (permanenten) Erfüllung. Während Innovation, Überraschung, Fiktion oder Spiel als Interaktionen der ‚Sinnkultur‘ die Ereigniskategorie prägten, sei die Kosmologie der ‚Präsenzkultur‘ von Festlegungen determiniert, die nur unter Ausnahmebedingungen außer Kraft gesetzt werden können (Bachtin 1969, 1995). Dem interpretierenden und kommunikativen Verhältnis zwischen Subjekt und Welt in der ‚Sinnkultur‘ stünden in der ‚Präsenzkultur‘ u. a. Verzehren/Verschlingen, Eindringen/Penetration und Mystik/Mystizismus als Weisen der Weltaneignung gegenüber (Gumbrecht 2004a, 106–110). Gegen diese Binarismen wendet sich explizit Dieter Mersch, der seine Theorie des Erscheinens (2010) ganz gezielt auf Grundlage einer kritischen Re-Lektüre von Derridas Schrifttheorie (u. a. 1983, 1995, 2003, 2010) entwirft. Dieser hatte gegen den Logozentrismus/Phonozentrismus der europäischen Metaphysik durch die Totalisierung der différance (d. h. Schrift, Spur, Wiederholung, Nachträglichkeit) mit dem absoluten Primat der Schrift jedes Denken einer Präsenz, der Gegenwärtigkeit einer Gegenwart für nichtig erklärt. Er kehrt dafür das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem, von Präsenz und Präsentation um, so dass Gegenwärtigkeit nunmehr als Derivat der Schrift erscheint. Präsenz und Ereignis sind der Schrift nachgeordnet, bzw. Nicht-Gegenwärtigkeit und Gegenwärtigkeit sind identisch, da Zeichen nur auf Zeichen referierten und nicht auf außersprachliche Realitäten. Die antihermeneutische Schrift-Zentriertheit Derridas vernachlässige jedoch entschieden die Materialität des Zeichens, begründe sich auf einen metaphysischen Präsenzbegriff, wodurch dem angeprangerten Logozentrismus nicht zu entrinnen sei. Merschs Modell des Posthermeneutischen, das sich explizit gegen Gumbrechts ‚Präsenz‘ als Gegenbegriff zur Hermeneutik und seine Binarismen wendet, stellt dagegen die Singularität des Ereignisses in den Mittelpunkt und behandelt das Verhältnis von

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Sprache und Präsenz, Medialität und Sinn. Anstelle wie Gumbrecht und Czerwinski mit Binarismen und Typologien arbeitet Mersch mit chiastischen Verflechtungen, wie die „Unsagbarkeit des Sagbaren“ und die „Undarstellbarkeit des Darstellbaren“ (2010, 209 pass.). Die Präsenz wird bestimmt als ein Paradox der Gleichzeitigkeit von Unbestimmbarkeit und Unverneinbarkeit, so dass sie weder über Begriffe erfasst (Gumbrecht) noch überwunden (Derrida) werden kann. Die Präsenz sei das „stets schon Voraus-zu-setzende“ (2010, 23). Das Mediale (resp. die Sprache) sei nach Mersch das gleichzeitig Vermittelte und Vermittelnde der Vergegenwärtigung von Präsenz, das in-Erscheinung-Bringen des sich Zeigenden, ohne dass das Medium selbst als solches aufscheinen würde. Da der Sinn bzw. seine Zuschreibung dem Ereignis nachgeordnet sei (eine Inversion von Derridas Ereignis-Begriff), entziehe sich das Zeigen zwar grundsätzlich dem Sagen, zeige sich aber insofern immer mit, da das Äußern eines Satzes selbst ein Ereignis sei, das selbst undarstellbar ist (vgl. dazu Lyotard 1984). Dies hat auch Konsequenzen für das Paradigma der Performativität und ihren Aufführungscharakter, welche Mersch den „‚Augen-Blick‘ des In-ErscheinungTretens“ (2010, 239) nennt und ein Geschehen bezeichnet, bei dem es nicht auf das aktive Handeln von Subjekten (im Sinne etwa der Sprechakttheorie Searles), sondern auf den Vollzug als Ereignis des Aufscheinens ankommt. Sprache ist entsprechend als ein „Wiederfahrnis“ zu fassen, welches undarstellbar und „unverständlich“ bleibt. Auch bei Martin Seel, der sich strikt gegen eine Trennung von Kunst und ästhetischer Wahrnehmung wendet, geht es „den Subjekten der ästhetischen Wahrnehmung um ein Verspüren der eigenen Gegenwart im Vernehmen der Gegenwart von etwas anderem. In der sinnlichen Präsenz des Gegenstandes werden wir eines Augenblickes unserer eigenen Gegenwart inne“ (2003, 62). Das Subjekt erlebt das Erscheinen in seiner phänomenalen Unbestimmbarkeit. Literarische Sätze bieten etwas nur dar, indem sie sich darbieten. Sie bieten nur dem etwas dar, der sie als eine individuelle (durch keine andere Kombination von Elementen ersetzbare) Konstellation von Erscheinungen wahrnimmt. Diese Wahrnehmung ist auf die Simultaneität eines Zusammenseins oder Zusammen-sich-Ereignens von Erscheinungen gerichtet. […] Ihre Weltpräsentation vollzieht sich als Selbstpräsentation (Seel 2003, 183).

Sinn existiere schließlich nur als nachträgliche Zuschreibung. Die Sprache als Praxis überschreite daher die Hermeneutik stets, da ihre szenische Ereignishaftigkeit – Mersch denkt dies immer schon im Paradigma ritueller und ästhetischer Aufführung sowie von einem Bühnenarrangement her – Elemente, wie Stimme, Gesten, Handlungen usw. einbeziehe. Der Sprache eignet als Stimme eine substanzielle Präsenz, die das nichtsouveräne Subjekt von außen berührt, noch bevor sie Sinn stiftet. Sprechen ist daher als Reaktion auf das Anrufen eines Anderen gedacht (Mersch 2010, 250ff.), was Mersch zu einer Ethik des „im sozialen Geschehen“-Sein (ebd., 285) weiterdenkt. Ein

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wesentlicher Zug der Merschʼschen Medien- und Präsenztheorie, der für die linguistische Untersuchung von religiösen Diskursen und speziell ihrer Adaption in nichtreligiöse kulturelle Systeme und Kommunikationsformen fruchtbar gemacht werden kann, liegt in der primären Konzentration auf die kulturellen Praktiken anstelle hermeneutischer Sinnsuche. „Unverständlichkeit“ (Mersch 2010, 186; vgl. u. a. Menninghaus 1995; Braun 2012) und Undarstellbarkeit (vgl. Gülich 2005) sind ihren Gegenbegriffen jeweils inhärent und formen das Kulturelle (Mersch vermeidet den Begriff ‚Kultur‘) in gleicher Weise und ließen sich entsprechend mit Sinn aufladen. Die Beobachtung von kulturellen Praktiken (mit der Betonung auf ‚Praxis‘) und ihrer Medien solle die Hermeneutik ersetzen auf die Weise, dass wissenschaftliche Beschreibung, als sprachliches Handeln selbst der Ereignishaftigkeit unterworfen, ihrerseits als kulturelle Praktik begreifbar wird. Der oft irritierend autobiographische Erörterungsstil Gumbrechts, den er zu einer allgemeinen Idee eines modernen Wissenschaftsstils ausformuliert (vgl. etwa auch zur besonderen Darstellungsform bei Czerwinski 1993 Strohschneider 2006; Kiening 1997), führt dieses selbstreflexive Verständnis von einer „präsentischen Wissenschaft“ in actu vor. Eine speziell für den problematischen Praxisbezug der Theoriedebatte interessante wie provokante und demzufolge von der Forschungsgemeinschaft kontrovers diskutierte Arbeit verfasste der germanistische Mediävist Peter Czerwinski (1993). Er entwirft seine ‚Präsenzkultur‘ (in seinem Sprachgebrauch die nicht-bürgerliche gegenüber der modernen bürgerlichen Welt) etwa zeitgleich zu Gumbrecht und, sich auf dessen frühere Arbeiten berufend, in einer radikalsten nur denkbaren Alterität, an deren unvermittelter Präsenz und Referenzlosigkeit die arbiträren Zeichenordnungen jedes Wissenschaftssystems scheitern müssen. So führt er – wie Gumbrecht, jedoch radikaler – im eigenen Schreiben nicht nur aus, sondern vor, wie sich die logozentrische Rede an den fremden Gegenständen abarbeitet, indem sie sich fortlaufend selbst in Frage stellt und die Konventionen literaturwissenschaftlicher Sprechhandlungen unterläuft: Wir haben methodisch gar keine andere Wahl, als den Text, das Bild exakt so zu nehmen, wie sie dastehen; die tempozentrischen Verdikte „Metapher“, „Symbol“, selbst schon „Idealisierung“, gar „Technik, Manier, Stil“ […]

gingen als Paradigmen der bürgerlichen Wissenschaft an der „geschichtliche[n] Fremdartigkeit und Besonderheit ihres Gegenstandes“ vollkommen vorbei (ebd., 79f.). Auch Czerwinski organisiert seinen Mittelalterentwurf im Wesentlichen binär in Dimensionen von Raum und Zeit: Linearität versus Zyklik, Sukzessivität versus Simultaneität, System versus Aggregat. Die Welten und ihre (nicht-)systematischen Ordnungen sind jedoch nicht über geistesgeschichtliche Entwicklungen miteinander verknüpft, sondern bei Czerwinski kommt es zu einem geradezu schockartigen „Einbruch eines symbolischen Systems in die Unmittelbarkeit des noch ganz im Sein versenkten Bewußtseins“ (ebd., 311). Für die Vermittlung zwischen beiden und

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als Bewegung zwischen den mittelalterlichen anisotropischen Räumen (ebd., 89ff.) wie simultanen Zeitkontinuen dient ihm daher die Metapher des ‚Sprungs‘ (vgl. dazu unter anderen Vorzeichen Liebert in diesem Band, „Unsagbares“). Problematisch an Czerwinskis Ansatz ist im Wesentlichen seine Radikalität, in der die Kulturen getrennt voneinander gedacht werden, ohne gleitende Übergänge und Phasen von „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Strohschneider 2000, 4) anzunehmen, in denen die Paradigmen beider Ordnungen vermischt und/oder alternativ nebeneinander bzw. einander ergänzend erkennbar wären. Selbst im Hinblick auf die Heilsgeschichte und ihre narrativen Repräsentationen in der Literatur herrsche ein „nicht-lineares Zeitdenken“ (ebd., 255) vor, das als Ewigkeit im Sinne reiner Gegenwärtigkeit zu fassen sei. Problematisch ist insbesondere vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Sprache und Gegenwärtigkeit/Präsenz bzw. Vergegenwärtigung das Verhältnis von Text/Bild mit dem Dargestellten in einer Welt ohne Zeichendifferenz. Als Artefakte der ‚Präsenzkultur‘ ginge jede Sinnzuschreibung fehl; die Texte und Bilder seien schließlich „exakt so zu nehmen, wie sie dastehen“ (ebd., 79). Es wäre daher aber auch unmöglich vom auf diese Weise Überlieferten auf eine historische Realität zu schließen, die selbst unmittelbare Präsenz sei und nicht medial (sprachlich/bildhaft) produzierter Effekt solcher Präsenz (vgl. Strohschneider 2000, 7), wenn Texte und Bilder ihrerseits nicht zeichenhaft sind. Das zweifelsohne insbesondere im religiösen Diskurs feststellbare schier unerschöpfliche Bedürfnis nach medialer Darstellung, also sprachlicher/bildlicher Vergegenwärtigung des an-sich ewig Gegenwärtigen, lässt sich auf diese Weise nur schwer begründen.

2 Präsenz- und Sinneffekte. Phänomene der Oszillation Die Inkompatibilität religiöser Erkenntnisform mit der alltagsweltlichen oder wissenschaftlichen Erkenntnisform ist deshalb mit der ästhetischen vergleichbar, weshalb sie sich in großen Teilen ähnlicher sprachlicher Ausdrücke und Ausdrucksformen bedienen, da sich göttliche wie poetische Wirklichkeit von der sonstigen geistigen und materiellen Wirklichkeit kategorial unterscheiden (Lasch/Liebert 2015). Es handelt sich im Falle des Religiösen vielmehr um eine verborgene und vor dem unmittelbaren menschlichen Zugriff sich verbergende Wirklichkeit (Transzendenz, vgl. Lasch in diesem Band), im Falle des Ästhetischen um das Imaginäre (vgl. Jacobs in diesem Band). Strukturell vergleichbar lässt sich dies an der Unvereinbarkeit des mythischen Denkens mit den Abstraktionen symbolischer Formen der Wissenschaft (Cassirer 2001/2, 2003; Lauschke 2007) illustrieren. Seit der Antike changiert der Mythos in den theoretischen wie phänomenologischen Auseinandersetzungen zwischen Präsenz/Unmittelbarkeit und narrativer Repräsentation

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(Mayer/Gebert 2013), Schellings ontologische Mythosvorstellung richtet sich gegen ein hermeneutisches Konzept (1859), Mythos sei „wahrhafte Gegenwart“ (MerleauPonty 1966, 337) und verbinde poetische Fiktion mit der Verhüllung geheimen Wissens. In diesem Zusammenhang erscheint Vergegenwärtigung oft als Gegenbegriff zur Präsenz, da das mythologische Paradigma in der Regel die Überwindung von Zeit und Geschichtlichkeit intendiert. Ist Mythos allerdings differenziert als ein europäisches „Diskursphänomen“ (von Graevenitz 1987, IX) zu denken, das in literarischen Formen das repräsentiert und kulturell bearbeitet, das als bedrohliche Präsenzerfahrungen in Ritualen wahrgenommen wird (Blumenberg 1979), gestalten Mythos und Kunst auf die gleiche Weise die „Fülle des Lebens“ (Cassirer 2003, 311), wie sie sie für das Subjekt unmittelbar erfahrbar machen (vgl. zur Ausbeutung dieser Ressourcen auch Fix in diesem Band). Weisen der Vergegenwärtigung entbergen das Abwesende und erzeugen Präsenz, von der im ästhetischen wie religiösen Erlebnis das Subjekt er- und angegriffen wird. Das, was bei dem Oszillieren zwischen Sinn- und Präsenzeffekten als letzte Resonanz von Sinnlichkeit und Materialität den Sinn überschießt, das letztlich „Undarstellbare“ (Mersch), die Unmittelbarkeit des bloßen Daseins, ist die Crux ästhetischer wie religiöser Erfahrung (Lauster 2012, 8). Religiöse wie ästhetische Inhalte zeigen sich in einem Ereignis der Selbstentbergung, einer Offenbarung. Die religiöse Aufladung der Präsenz des Abwesenden bzw. des Transzendenten von Seite der ästhetischen Theorie als einen Zustand ekstatischer „Erlösung“ (Gumbrecht 2004a, 159), Epiphanie (ebd., 78f.), des Taumels (ebd., 160), der „Gelassenheit“ (Heidegger), hat als literarisches Konzept seit 1800 seine Tradition (vgl. Erne/Schütz 2010; Meier/Costazza/Laudin 2011). Ästhetisches und religiöses Erlebnis im Hinblick auf seine Phänomenologie sind bisweilen schwer zu differenzieren, Vergegenwärtigung vereint bereits in ihrem geistesgeschichtlichen Ursprung eine religiöse und eine ästhetische Dimension, so dass die Felder von Religion und (Kunst-)Sprache miteinander verbunden sind. Formen und Verfahren von Vergegenwärtigung des Transzendenten und des Imaginären operieren und funktionieren im Wesentlichen vor dem Hintergrund des Oszillierens zwischen Sinn- und Präsenzeffekten, können zu keiner Seite hin aufgelöst werden, sondern beinhalten jeweils die Resonanz des anderen (vgl. Lasch in diesem Band). Besonders die Mittelalterphilologien hatten sich ja von Gumbrechts Ansatz enorm affizieren lassen, da die Bestimmung einer Präsenzkultur ‚Mittelalter‘ zunächst ein praktikables Argument für die Alterität ihrer in jedem Fall in irgendeiner Weise religiös determinierten Gegenstände darstellte. In vielen Fällen galt daher das Sakrament der Eucharistie quasi als die Urszene präsenzkultureller Praxis überhaupt und diente als strukturelles Analogon für alle möglichen literarischen Formen der Vergegenwärtigung (u. a. Strohschneider 2004; Haug 2000; Belting 2011; Hörisch 2004). Inzwischen hat sich in der Mediävistik jedoch vielfältig erweisen lassen, dass es eine unzulässige Verkürzung darstellt, die Zeichenpraxis vormodernen Weltverständnisses allein in „der Re-Präsentation, der Nicht-Differenz von Signifikat und Signifikant, und dies bedeu-

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te der Präsenz, der Vergegenwärtigung, der Pratizipation“ (Peters 2007, 72) zu bestimmen und dass sich daraus im Wesentlichen ihre Alterität gegenüber moderner Weltinterpretation ableite (Philipowski 2013).

2.1 Eucharistie: Urszene präsenzkultureller Praxis? Eingedenk der des öfteren von philosophischer und literaturwissenschaftlicher Seite unternommenen Emphase gegenüber mittelalterlicher Ritualität im allgemeinen, muss indes betont werden, dass die Bedeutung des mittelalterlich-römischen Abendmahls sich nicht in der räumlichen, sinnlichen und materialen Realpräsenz Christi erschöpft, sondern es zum Wesentlichen des religiösen Ritus gehört, diesen auch theoretisch zu legitimieren und entsprechend in hohem Maße diskursiv aufzuladen (Kiening 2006; Aris 2007; Lauster 2012): Die Geburt der europäischen Universität wurde durch die Scholastik veranlasst, unaufhörliche Warnungen der monastischen Theologen und Prediger mit trockenster Hermeneutik vor allzu sinnlicher Rezeption der Verkündung, die Limitierung der Sakramentsspende auf ein Minimum bei gleichzeitiger Aufwertung der Beichte als Medium persönlicher reflexiver Gewissenserforschung mit jeweils knallharten Argumenten ontologischer Sakramentstheologie im IV. Laterankonzil (1215) betonen die rationalen Sinneffekte mittelalterlicher religiöser Praktiken. Auf der anderen Seite sind der liturgische Gesang, der Kathedralenbau und die Malerei, aber auch die mystische Vision und ihre Schrift-Texte als Elemente christlicher Religionskultur [zu betrachten], in denen Transzendenz nicht durch Sinnzuschreibung, sondern vorrangig durch die sinnliche Wahrnehmung, durch die bloße Materialität an der Oberfläche der Dinge als ein Überschuss in und nicht hinter den Dingen aufleuchtet (Lauster 2012, 12).

Während also in den einschlägigen Präsenztheorien zumeist die Realpräsenz Christie im Eucharistiegeschehen allein betont wird, bemühen sich Theologen auch den sinnstiftenden Effekt des Sakraments im Hinblick auf seine symbolhafte kommemorative Funktion für den liturgischen Vollzug (Betz 1955, XXIV) hin zu perspektivieren: „Als Abbild des historischen Heilswerkes ist die Eucharistie zugleich dessen Vergegenwärtigung (re-praesentatio) und Zuwendung (applicatio) an die Glaubenden, kommemorative Aktualpräsenz.“ (Betz 1959, 1155) So lässt sich etwa qua differenzierter Binnenunterscheidungen das Gumbrechtʼsche Oszillieren zwischen Präsenz- und Sinneffekten im Spezialfall der Eucharistie ansprechen und gleichzeitig der historische Charakter der Offenbarung abbilden: 1) prinzipale Aktualpräsenz (Wirkgegenwart Christi als principalis agens im Sakramentsvollzug), 2) memoriale Aktualpräsenz (anamnetische Gegenwart des einmaligen Heilsgeschehens), 3) Realpräsenz (substantiale Gegenwart der leibhaften Person Christi) (Betz 1973, 267).

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Dass die Verwicklungen weit komplexer waren und der Kampf um Konsens hinsichtlich der realen und symbolischen Präsenz Christi im Mahl hart gekämpft wurde, zeigen der erste und zweite Abendmahlstreit (Leppin 2012, 102–107). Nicht trotz der Dogmatisierung der Transsubstantiation der Eucharistie im IV. Laterankonzil, sondern in ihrem Zuge ist bereits die Theologie des Hochmittelalters ständig darauf bedacht, sowohl die reale Materialisierung des Erlösers in der Hostie glaubhaft zu machen und gleichzeitig, weil Christus der Erlöser ist, die Geschichtlichkeit des vergangenen Ereignisses, das kommemorative Moment, seine Zeichenhaftigkeit und die Differenz von Substanz und Akzidenz in den sakramentalen Gaben zu repräsentieren (vgl. später auch Gumbrecht 2004b, 15; für die Quellen Macy 1984, 1999). Starke Unterschiede in den Ansichten über die Bedeutung und Wirkmacht der Eucharistie kennzeichnen Theologie (und in ihr Monastik und Scholastik) und praktische Frömmigkeit, im Zuge derer etwa die Vollzugsgewalt der sakramentalen Spende durch den Priester entscheidend gestärkt wurde, während auf Seiten des Religiosentums vermehrt Legenden wundertätiger Hostien hervortraten, die das stärker werdende Bedürfnis nach realem Kontakt für jeden einzelnen Gläubigen befriedigte (Angenendt 2005). Die Abendmahlstheologie Martin Luthers, die mit der Auseinandersetzung mit den mystischen Schriften Johannes Taulers ihren Anfang nimmt, beruht auf dem Gedanken, dass das Abendmahl ausschließlich ein Gnadenhandeln Gottes und in keinen Teilen ein menschliches Werk sein kann, womit eine Funktion des Priesters für den Akt der Spende auf eine lediglich vermittelnde beschränkt wird. Außerdem lehnte Luther, wie alle Reformatoren, den Opfercharakter des Abendmahls ab. Unter diesen Voraussetzungen sollten gleichzeitig die volle Existenz von Brot und Wein sowie die unmittelbare Christusgegenwart in gnadenhafter Zuwendung wirksam sein. Luther stellte also die Realpräsenz Christi, anders als etwa Zwingli, in den Elementen nicht in Frage (vgl. weiter oben die Kritik am binären Code von ‚Präsenz‘und ‚Sinnkultur‘ bei Gumbrecht in Bezug auf das lutherische und reformierte Abendmahlsverständnis). Die distinkte Formulierung der biblischen Einsetzungsworte als Verheißungswort (promissio) verbindet sich mit dem äußerlich sichtbaren Zeichen, woraus sich gemeinsam der Sakramentscharakter ergibt (Leppin 2005, 115– 129). Im Zusammenhang mit Luthers Eucharistiemodell steht die „Wortförmigkeit des Glaubens“, mit dem der homo audiens auf Gottes Anrede antwortet. Dies ist der zentrale Aspekt seiner Theologie, auf dessen Grundlage Ernst Fuchs den Gedanken vom „Sprachereignis“ entwickelt. Dieses bewirke einen Situationswechsel vom Nichtsein zum Sein in der Existenz Gottes. Wie das poetische Wort im ästhetischen Erlebnis bleibt das Subjekt zunächst selbst passiv, das Wort offenbart/vergegenwärtigt sich ohne sein Zutun. Das Sprachereignis (im Gegensatz zum das Seiende bezeichnende Sprechen) macht das Sein unmittelbar anwesend im Zustand der „Stille“ (Fuchs 1960, 425; 1968, 242), wie bei der Verkündigung Jesu oder dem Ostergeschehen. Karl Barth wollte der Selbstentbergung der Offenbarung im Sprachereignis zwar keinen exegetischen oder dogmatischen Erkenntniswert zugestehen,

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vertrat statt dessen eine radikale Entsinnlichung im reinen Wortgeschehen, sah die wortförmige Vergegenwärtigung jedoch im Schnittpunkt von Gottes Anrede und menschlichem Glauben (Barth 1962, 141f.). In der praktischen Theologie wird somit die Wirkung des Wortgeschehens in der Rezeption durch die Gemeinde betont, die im Spektrum von fascinans und tremendum verschiedene emotive und kognitive Haltungen durch das Ergriffensein des Numinosen hervorrufen können (Otto 1997). Auch hier gestaltet sich das Vergegenwärtigungserlebnis als ein Oszillieren zwischen präsentischer Selbstentbergung und dem Versuch einer sekundären begrifflichen Rationalisierung (Lauster 2012, 11).

2.2 Projektionen: Magie, Performanz, Offenbarung, mystische Einheit Obwohl die Präsenztheorien und Weisen von Vergegenwärtigung v. a. in den Literaturwissenschaften entwickelt, diskutiert und praktisch erprobt werden, ist es ungleich schwieriger beim Wort, der Sprache und dem kommunikativen Aspekt der Vergegenwärtigung des Transzendenten und Imaginären mehr noch als bei an-sich räumlich-materiellen Objekten, wie Bildern, (sakralen) Gegenständen, Reliquien, Gesten, Tanz usw., von der Beobachtung hermeneutisch-symbolischer Bedeutungseffekte auf passives Ergriffensein umzustellen, da es eine Grundannahme ist, dass sich Sprache allgemein eher zur Darstellung zeitlicher oder abstrakter Zusammenhänge eignet [während] dem Bild ein besonderes Potential bei der Darstellung räumlicher Beziehungen oder konkreter äußerer Charakteristika von Objekten zu[kommt] (Klug in diesem Band, vgl. Walton 1990, 353ff.).

Zudem ist es methodisch in hohem Maße diffizil, am konkreten Beispiel mündlicher oder schriftlicher Texte – und das gilt nicht nur im historischen Abstand – die Produktion von Präsenzeffekten nachzuweisen, ohne auf den Gefühlshaushalt der Rezipienten zurückgreifen zu können oder auch nur zu wollen (kritisch hat sich daher die Religionswissenschaft zum religiösen Gefühl etwa bei Otto 1997 verhalten). Ähnlich distanziert verhält sich die aktuelle Debatte gegenüber der im Zuge der kulturwissenschaftlichen Neuorientierung der Philologien (Bachmann-Medick 2006) hervorgegangenen emotionsgeschichtlichen und neurowissenschaftlichen Interpretation (vgl. das Resümee der Forschung bei Hitzer 2011) insbesondere vormoderner literarischer Gegenstände und im engeren Sinne historischer Quellen etwa in den Bereichen der höfischen Machtrepräsentation und Minnekommunikation (u. a. Haferland 2000; Emig 2006), politischer Ritualität (u. a. Althoff 2000, 2013; Fried 2004; Herding/Stumpfhausen 2004), literarischer Darstellung von Affekten wie Trauer, Wut, Scham etc. (u. a. Kasten 2002; Koch 2006) oder Ergriffensein, Vision, Epiphanie, Ekstase in der religiösen Sphäre.

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Die zentrale Unterscheidung von bildenden Künsten und Literatur im Hinblick auf die Vergegenwärtigung liegt darin, dass während das bildlich Dargestellte visuell (on the surface, Walton 1990, 138) wahrnehmbare Ähnlichkeiten (mimesis) mit dem Vergegenwärtigten aufweist, arbiträre sprachliche Zeichen dies nicht tun (vgl. in diesem Zusammenhang den Streit um das Kölner Domfenster bei Lasch in diesem Band). Wenn dies auch für die moderne Malerei vielfältig nicht ohne weiteres zutrifft, wie auch die Dichtung (Stichwort: Konkrete Poesie) visuelle Versuche mimetischer Repräsentation unternommen hat (etwa Jandl 1968; Döhl 1965; Walton 1990, 353, spricht von „depictions but not usually reflexive ones“), wird eine wesentliche Differenz von visuellen und sprachlichen Medien in Bezug auf den repräsentativen Zusammenhang zwischen Signifikant und Signifikat angesprochen, die für die Vergegenwärtigung im kirchlichen/religiösen Ritual eine wesentliche ist. Anders als in der Literatur, bei der die mediale Verfasstheit (schriftlich/mündlich) dafür verantwortlich ist, auf welche Weise kontextuelle Aspekte einzubeziehen sind, ist die Vergegenwärtigung religiöser Glaubensinhalte und deren sakrale Wirksamkeit im kirchlichen oder privaten Ritual in den meisten Fällen nicht auf Sprache beschränkt. So darf auch ihre wissenschaftliche Erforschung nicht ohne weiteres abgelöst werden von den institutionellen Voraussetzungen der Amtsweihe, den sakralen Gegenständen und den gestischen und proxemischen Handlungen, welche die propositionalen Gehalte religiöser Sprechakte überhaupt erst mit der Macht von Präsenzstiftung ausstatten und Vergegenwärtigung des Heils bewirken (vgl. dazu exemplarisch Greule/Kiraga in diesem Band). Umgekehrt interpretieren und kommentieren die Sprechakte die symbolhaften Handlungen und implementieren ihnen religiöse Bedeutung, welche das rituelle Handeln als Bezugnahme auf das Transzendente im Sinne eines Antwortens auf Gottes Zuwendung verständlich macht. 1) Schriftmagie: Tatsächlich lassen sich sehr komplexe Verschaltungen aufgrund von strukturellen Analogien zwischen Objekten und Texten (etwa von Text und Heiligenreliquie, vgl. Strohschneider 2002, 2004) beobachten. Die sakrale Schriftpraxis des Mittelalters beispielsweise, die religiöse Bücher auch unabhängig ihrer eigentlichen textuellen Zeichenhaftigkeit während des Messrituals als magische Buchobjekte inszeniert, bleibt deshalb keineswegs unreflektiert, -diskutiert, -kommentiert und -kritisiert. Die Wirksamkeit vergegenwärtigender Präsenz und diskursiven Sinns des in und durch die Texte (re)präsentierten Mysteriums steht dabei im engen Zusammenhang mit den Deutungskompetenzen von litteraten Klerikern und illiteraten Laien, entfällt jedoch nicht schlicht auf die eine oder andere Seite. Vielmehr wird ein Spannungsverhältnis generiert, wie es die Funktion religiöser (und ästhetischer) Kommunikation gegenüber der Alltagskommunikation grundsätzlich prägt, um sakrale (bzw. ästhetische) Geltung zu beanspruchen. Bücher, wie Psalterien, Sakramentare, Missale und Breviere werden als heilige, ja magische, Objekte in Prozessionen herumgetragen, erhöht präsentiert und illuminiert, berührt und geküsst, sie werden mit schier exorbitant kostbarer Materialität ausgestattet. Sie werden damit gleichwertig auratisch aufgeladen, wie die Hostie selbst,

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die Reliquien der Heiligen oder das Kruzifix im Sakralraum. Dieselben auf diese Weise rituell verehrten religiösen Schriften werden jedoch gleichzeitig massiven theologischen Prüfungen und aufwendigen Kanonisierungsprozessen unterzogen, ihr Inhalt, die Möglichkeiten des Verstehens und der kognitiven Aneignung diskutiert, vielfältig erprobt, korrigiert und kritisch verworfen (vgl. die zahlreichen Beispiele beider Dimensionen im historischen Abriss Kiening/Stercken 2008). 2) Aufführung von Heilsgeschichte: Das Geistliche Theater des späten Mittelalters oszilliert auf ähnlich spannungsreiche Weise zwischen Präsenz- und Sinneffekten sowohl in der Art und Weise ihrer Aufführung als auch in der theologischen Reflexion. Einerseits ist es offensichtlich, wie etwa die Passionsspiele auf die materiale Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens im zur Schau gestellten, blutenden Körper Christi abheben (dass die ‚Schauspieler‘ dabei in der Regel mit Amtscharisma ausgestattete Kleriker sind, unterstreicht diesen Eindruck) und damit mithin auch auf das voyeuristisch-ästhetische Bedürfnis am Grauen und am Ekel der Gewalt fernab jeder erlösungstheologischen Hermeneutik antworten mögen (Müller 1997). Als Mittel der Vergegenwärtigung gilt das Spiel als Konkretisierung dessen also, was abstrakt unter Auferstehung als Erlösung zu verstehen war, [wobei] zumindest bei einige Spielen eine Verlagerung der Erlösung ins Präsens einher[geht], eine rituelle Sicherstellung des szenisch Vergegenwärtigten. Sichtbarmachung dient dem Zweck des Begreifens, des unmittelbaren Habhaftwerdens (Quast 2005, 34).

Gleichzeitig ist es mnemotechnisches Mittel zur nicht-identischen Wiederholbarkeit des liturgischen Ritus und versteht sich somit sowohl als Medium religionspraktisch geforderter compassio (Warning 1974, 1997) als auch der didaktischen Vermittlung christlicher Glaubensinhalte und elementarer Kenntnisse über die heilsgeschichtliche Vergangenheit, auf denen sich die gemeinsame Religion begründet. Sprachlich äußert sich das etwa durch wiederholte Einschübe von für die Epik typischen allegorischen Exegesen, die kommemorative Bedeutung kommentierenden Passagen, Einsprengseln lateinischer Zitate aus der Bibel oder den Kirchenvätern usw. Dass dieses spannungsreiche Oszillieren zwischen Präsenz- und Sinneffekten in der Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts bisweilen zu höchst irritierenden Ununterscheidungen gerät, zeigen etwa die jährlichen Kreuzigungen, die Gläubige bis heute auf den Philippinen während der Karfreitagsfestlichkeiten am eigenen Körper über sich ergehen lassen. 3) Mündliche Offenbarung: Religiöse Kommunikation ist nicht nur Medium der Bezugnahme auf die Existenz eines Transzendenten sowie Expression, Konfirmation und Evokation religiöser Überzeugungen (Lasch/Liebert 2015), sondern dient gleichzeitig als Mittel der Vergegenwärtigung dessen, worauf diese Überzeugungen beruhen: die christliche Offenbarung (ebd., 483ff.). Für die im festlichen Ritus religiöser Gemeinschaften fest verankerten Textsorten wie die Predigt, das Lied, das Gebet, das Bekenntnis, die Beichte, der Segen, die Kommunion mit ihren Einsetzungsworten etc. ist nicht das sprachliche Zeichen als kleinste Einheit verbaler

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Kommunikation anzusehen, sondern dessen Hervorbringung in einem Sprechakt. Fokussiert man den Handlungsaspekt religiöser Kommunikation, gilt entsprechend, dass „[d]ie Präsenz Gottes in der Kommunikation […] sein Fehlen in der Wahrnehmung [ersetzt]“ (Hahn 1998, 331). In der Performanz unter Anwesenden, „in deren unmittelbarem Wahrnehmungsfeld, erscheint den Beteiligten Wahrnehmung oft als Kommunikation und Kommunikation als Wahrnehmung“ (Hahn 1998, 327). Auf diese Weise kann Gott, obwohl er faktisch abwesend ist, wahrnehmbar gemacht und, weil er wahrgenommen wird, über ihn kommuniziert werden. Die präsentische Wahrnehmbarkeit Gottes wird also mittels Kommunikation gestiftet. Das Aussprechen des Textes, bzw. der Sprechakt, konstituiert die Wirklichkeit der Wahrnehmung durch den augenblicklichen Erfahrungsvollzug und der sinnlichen Partizipation in der aktuellen kommunikativen Interaktion (Iser 1979, 232f.). In der religiösen Kommunikation wird das Wort Gottes (verbum) präsent, vergegenwärtigt durch die Stimme des Sprechers, die den Hörer unmittelbar, sinnlich und selbst noch nichtsinnhaft, berührt. Dies bedeutet also „die gesteigerte Präsenz dessen, was nie wirklich abwesend ist“ (Gumbrecht 2004a, 334), dass unter immanenten Faktoren von Raum und Zeit Christi Anwesenheit behauptet wird. Das Sprechen über Gott und das Aussprechen von Gottes Wort ist Christusgegenwart, denn „[…] dem sichtbaren oder fühlbaren Lautkörper wohnt eine ontologische Nennkraft inne, […] eignet der Charakter einer Spur, die das Abgebildete, obwohl abwesend, anwesend machen kann“ (Kiening 2003, 13). Diese Vergegenwärtigung mittels Sprache/Sprechen ist gegenüber dem Modell der Eucharistiefeier defizitär. Sie präsentiert zwar das Gotteswort in strukturanalogischen Entsprechungen zum Sakrament, die religiösen Texte sind aber von den in der rituellen Mahlfeier geschaffenen Heilstatsachen kategorial unterschieden. Religiöse Kommunikation inszeniert sich auf diese Weise, da sie Transzendenzunterstellungen als Wirklichkeit behauptet, indem sie sich mit einer „Aura der Faktizität“ (Geertz 1987, 48; Benjamin 1972) umgibt. Dennoch sind religiöse Texte angewiesen auf ihre kommunikative Funktion und auf ihre diskursive Dimension (vgl. etwa am Beispiel Johannes Taulers Hasebrink 2011), „da nur solche kommunikativen Beiträge eine Chance [haben], anschlußfähig zu bleiben, die unmittelbar durchs ‚Nadelöhr‘ der direkten Interaktion passen“ (Hahn 1998, 344). Die Ebenen von Sinn und Präsenz sind auf diese Weise aufeinander angewiesen, die sinnliche Vergegenwärtigung christlicher Offenbarung und die Präsenz des Heiligen von der Sinnhaftigkeit für die Religionsgemeinschaft nicht abzulösen (Stridde 2009, 38f.). 4) Poetizität und mystische Einheit: Für die Poetizität von Lyrik und Prosa diskutiert die Literaturwissenschaft derzeit erneut ambitioniert das Verhältnis von Diskursivität und Präsenz im Hinblick auf Sinn- und Klangdimension poetischer Sprache (zur Unmittelbarkeit und Ontologie des Lyrischen schon Staiger 1959) und bemüht sich mit teilweise unterschiedlichen systematischen Perspektivierungen um neue begriffliche Orientierung (u. a. Schönert/Hühn 2002, 2010 zum Narratologischen der Lyrik, dagegen Bleumer 2010, 2011 zum Lyrischen des Narrativen, integra-

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tiv eher Kragl 2011; Braun 2013; Köbele 2013; Stridde im Druck). Der Kategorie der Stimme kommt dabei als Medium der Entzeitlichung und des räumlichen Kontakts gegenüber der Geschichtlichkeit von Narration eine wesentliche Rolle zu. Im Klang würde Geschichtlichkeit transzendiert und die Sprache als Abfolge von Zeichen im unmittelbaren Durchgriff auf den Sinn der Worte zurückgelassen (Wachinger 1984/85, 8). Im Zusammenfall von Wortklang und -sinn könne die Sukzessivität des sprachlichen Zeichens überwunden werden, indem Sinn im Klang sinnlich wahrnehmbar würde. Diese ‚lyrische Emergenz‘ sei der literarische Effekt einer vollkommenen Gegenwärtigkeit, die auf etwas zeitlich Vorhergehendem beruht, die aber dieses Vorhergehende zugleich in einer neuartigen Weise derart übersteigt, dass die Differenz von alt und neu selbst aufgehoben ist (Bleumer 2011, 22).

Phänomene von Präsenz, Unmittelbarkeit, Euphorisierung im Klang können also auf die Diskursebene durchschlagen und umgekehrt, ästhetische Sprache kann sich gleichzeitig von Semantik entlasten, ohne dass sie asemantisch würde. Vielmehr ließe sich gar im Sinne der Oszillation zwischen Sinn (Semantik) und Klang (Stimme) von Rätselstrukturen sprechen (Köbele 2013; Stridde 2012). Die Übertragbarkeit solcher Befunde auf Grundlage der Theorien zur Präsenz und Vergegenwärtigung auf religiöse Kommunikation, die sich nicht etwa auf den iubilus beschränken (Hasebrink 2011; grundsätzlich Fuhrmann 2004, 174–177), sondern auch primär diskursive Texte einschließen können, liegt auf der Hand. Das gilt für den Sonderfall mystischer Rede und Vision (z. B. Mechthilds von Magdeburg, Margarete Ebners, Hadewijchs, Heinrich Seuses, Jacob Böhmes u. a.) im Spezifischen. Ihr gehört die totale Abstandslosigkeit und Entzeitlichung des Lyrischen ebenso zu, wie die Diskursivität und Geschichtlichkeit des Epischen, da der mystische Text als Ausdruck seines mystagogischen Anspruchs zugleich ein „narratives Bedürfnis“ (Linden 2011, 363) verfolgt, von der zeitlich zurückliegenden oder antizipierten Einheitserfahrung sinngebend zu erzählen. Das Charakteristische des mystischen Textes besteht schließlich mithin darin, dass er nicht nur von der Präsenzerfahrung (d. h. im Fall von ‚Unio‘ mit und in der Transzendenz) erzählt, sondern sich oft gleichzeitig als Objekt der Erfahrung (ähnlich der beschriebenen schriftmagischen Praktiken) inszeniert oder jedenfalls das Verhältnis von Erfahrung und Erzählung mit den sie jeweils beschreibenden temporalen, lokalen und personalen Parametern auf eine Weise in die Schwebe bringt, dass er zwischen unterschiedlichen Konstellationen, und das heißt Präsenz- und Sinneffekten hin- und herwechselt (Stridde 2015). Dahinter verbirgt sich letztlich „die historisch folgenreiche Vorstellung einer Sprache, die sich Gott ohne Differenz angliche, also hinter die Zweischichtigkeit von Zeichen und Bezeichnetem, hinter analoge Teilhabe und zeitliche Stufung zurückgriffe“ (Köbele 2004, 121). Ein wesentliches Mittel, der Spannung zwischen narrativem Bestreben und lyrischem Präsenzversprechen sprachliche Gestalt zu geben, ist der Dialog. Als Kontaktmedium zwischen gläubiger

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Seele und transzendentem Heiligen verbindet er grammatische Differenz und pragmatische Identität von Raum, Zeit und Person zu einer Kippfigur, welche die mystische Einheit ‚unmittelbar re-präsentiert‘ (vgl. Stridde 2009, 124–134). Der Dialog befindet sich dadurch gewissermaßen in der Schwebe zwischen der Unmittelbarkeit lyrischer Ich-Rede und narrativer Sequentialität, in denen sowohl die spezifische Dynamik des Aufeinander-zu-Bewegens von Ich und Du als auch den Zustand der Distanzlosigkeit entfaltet werden kann. Nicht nur der mystische Dialog in der narrativen Inszenierung, wie er etwa für Mechthild von Magdeburg typisch ist, ist auf einen solchen Vergegenwärtigungseffekt hin angelegt, sondern ebenso das (private und liturgische) Gebet, insofern es als „Zukehr zu affektiv entzündbaren Gegenständen der Heilsgeschichte“ (Frank 1984, 66) verstanden wird, und der Messgesang (Responsorien, Antiphone, Akklamation und Kanons) als wesentliche Bestandteile gottesdienstlicher Kommunikation und Strukturen einer dialogischen Liturgie im Wechselspiel von Wort und Antwort, die sowohl spontane wie rituelle Formen einschließen können (Cornehl 1986, 80).

2.3 Neue Medien: (Sehn-)Sucht nach Selbst-Vergegenwärtigung Spätestens seit den 1930er Jahren wurde der Verlust des Privilegs auf Vergegenwärtigung der Kunst beklagt (Benjamin, Kracauer u. a.), der sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die intensive Quantifizierung von technischen Verbreitungsund Aktualisierungsmöglichkeiten insbesondere durch die Photographie als Massenmedium (Stichwort: Entwicklung des Negativ-Positiv-Verfahrens) und des Films eingestellt hatte. Dadurch entstand eine Lücke, die des „Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet“ (Benjamin 1963, 11). Originalität und Autorität von Zeit und Ort, materielle Dauer und geschichtliche Zeugenschaft, kurz die Echtheit des Kunstwerks, sind entwertet, seine Aura beschädigt (ebd., 13). Durch seine massenweise technische Reproduzierbarkeit verliert das auratische Objekt also nicht nur seine „einmalige Erscheinung“ (ebd., 15), sondern auch seine Historizität (ebd., 13). Die einzige Möglichkeit, dieser kulturellen Entwicklung zu begegnen, bestand darin, das Andere zu betonen und Präsenz stark zu machen, um exklusive Sinnhaftigkeit wiederzugewinnen, und sei es um den Preis ihrer Unzugänglichkeit. Das führte dann einerseits zu den Gegenreden, die das Präsentische der Massenmedien betonten, ihre Überwältigungsstrategien, ihre hypnotischen und manipulativen Effekte, ihre imperialistischen Qualitäten. Andererseits entstanden die Fürsprachen, die das assoziative und emergente Potential hervorhoben, die Befreiung von einengenden Vorgaben, das Emanzipative und Utopische dieser neuen Umgebungen. „Intertextualität“, „Intermedialität“, „Performativität“, „Hypertextualität“ heißen die Kulturprinzipien, mit denen geisteswissenschaftlich auf diese Krise geantwortet werden konnte und versucht wurde, die Deutungshoheit über das, was anwesend ist, wiederzugewinnen. (Mertens 2010, 10)

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Diese Ambivalenz stimmt mit dem Befund Benjamins überein, dass die Massen genau das gleiche Bedürfnis nach „Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit“ hätten, wie sich die Dinge „räumlich und menschlich ‚näherzubringen‘“ und ihrer „habhaft zu werden“ (Benjamin 1963, 15). Innerhalb der neuen breiten Gegenwart streben also schon immer zwei Dynamiken auseinander und treten zugleich in Spannung. Auf der einen Seite die Insistenz auf Konkretheit, Körperlichkeit und Präsenz des menschlichen Lebens, in denen der Nachhall von Kulturkritik und Wirkungen des neuen Chronotops zusammenkommen. Diese Insistenz widerdersetzt sich der radikalen Spiritualisierung als Reduktion von Raum, Körper und sinnlichem Kontakt mit den Dingen der Welt, wie sie als „Entzauberung“ zum „Prozeß der Moderne“ gehört. (Gumbrecht 2010, 17)

Es gibt zahllose aktuelle Beispiele, wie sich in Neuen Medien und vor allem unter dem Einfluss des global agierenden Internets (interaktive TV-Formate und realityTV, Social Networks, Co-Op Gaming, Webblogging, Foren, Selfie-Photographie, Online-Dating-Plattformen, Reenactments etc.) jenes Spannungsverhältnis zwischen einmaliger, auratischer Vergegenwärtigung und identischer Wiederholung in Phänomenen von Präsenzerzeugungen durch mediale Repräsentation (Vergegenwärtigung von Vergegenwärtigung, vgl. Mertens 2011), zwischen Versinnlichung und Rationalisierung, Spiritualisierung und Säkularisierung, magischer Präsenz und Entzauberung der Welt, in Erscheinung tritt. Sogenannte virtual memorials beispielsweise begründen ihr Authentizitätsversprechen mit der Entkopplung von in Jahrhunderte altem zwanghaftem Kulturverhalten in realen (zumeist kirchlichen) Trauer- und Beerdigungsritualen und ermöglichen eine quasi unbegrenzte Fortsetzung von individueller Trauerarbeit (vgl. zum Absatz im Kontext der „Selbstermächtigung“ auch Hero in diesem Band). Der Tote soll über alle Zeiten hinweg medial greifbare Präsenz behalten, wobei der „wesentliche[] Aspekt der körperlichen Vergänglichkeit“ unsichtbar bzw. verleugnet wird (Schwibbe/Spieker 1999, 239). Während der reale Friedhof und das Grab des Toten als einmaliger Ort des Abschieds, der Erinnerung und des Vergessens gilt, in dessen physische Struktur sich die Zeit einschreibt und in Spuren von vergangener Geschichte materialisiert, sind virtual memorials global und jederzeit zugänglich. Sie versprechen Unvergänglichkeit und Unveränderbarkeit, sie sind ein „Ort der Gegenwart und der Möglichkeit ständiger Begegnung“. Die „Toten sind in diesem Sinne nicht tot, sondern – in einer Form der Zwischenexistenz – zu virtuell Lebenden mutiert“ (ebd.). Dies lässt sich als „Rationalisierung der Lebensführung“ und Ausdruck von „Säkularisierungstendenzen“ interpretieren (Schmidt 2008, 291 im Anschluss an Geser 1998), aber auch als Antwort auf das Bedürfnis der modernen Gesellschaft nach einem Entkommen aus institutionell geordneten, traditionellen Sinnzuschreibungen, nach unreglementierter sinnlicher Wahrnehmung des Absenten. Und unseres Selbst: Exemplarisch wird dies etwa im Urteilsspruch der Jury der TV-Show Germany’s next Topmodel, einem Format, das es jungen Frauen

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durch ein mehrwöchiges Auswahlverfahren ermöglichen soll, eine Modelkarriere zu beginnen: „Hier ist dein Photo“ bzw. „Ich habe heute leider kein Photo für dich“. Nicht die individuelle Entwicklungsgeschichte des einzelnen Mädchens bzw. die steigende oder fallende Qualität des photographischen Produkts der geleisteten Arbeit entscheiden über die mediale Präsenz der Kandidatin, sondern ob ein photographisches Bild überhaupt existiert, in dem sich das Subjekt materialisiert oder nicht. Das Photo ist nicht bloß stellvertretendes Zeugnis, ein Repräsentant von Subjekt und Geschichte, sondern das Subjekt wird im Photo selbst gegenwärtig (oder eben nicht), ohne dass das Medium als solches noch reflektiert würde (vgl. dazu Ebmeier 2014). In dem Photo kulminiert der neue Lebensentwurf, dessen mediale Darstellung durch Emotionalisierung, Personalisierung, Intimisierung und Authentizität für die Zuschauer ebenso greifbar werden soll, wie für das „Arbeitssubjekt“ selbst (Gültekin 2010, 146). Zugespitzt bedeutet der Juryspruch also „Das bist Du“ bzw. „Du existierst nicht“. Qua dieses Sprechakts kommt es zur Subjektwerdung oder -vernichtung; jedenfalls für eine weitere Woche (vgl. zu Konstruktionen des Selbst im TV Bublitz 2010). Im Internet hat Vergegenwärtigung als mediale Erzeugung totaler Präsenz eine neue Dimension erlangt, eine Dimension, in der sich das Subjekt in Wort, Bild, Ton und Video in Echtzeit in Szene setzt (oder in Szene setzen lässt), sich unterbrechungslos als Individuum präsent macht (Becker/Paetau 1997; Willems/Jurga 1998; Becker 2004; Fischer-Lichte/Pflug 2000), während „sich der Alltag der meisten Zeitgenossen in einer Fusion von Bewußtsein und Software vollzieht“ (Gumbrecht 2010, 13). Diese Selbst-Vergegenwärtigung des Subjekts erreicht eine Permanenz, welche – auch wenn uns dies erst im Zusammenhang mit der Vorratsdatenspeicherung von Regierungen, Geheimdiensten oder Medienkonzernen wie Google oder Facebook eher langsam bewusst wird – über die mit unseren bisherigen Vorstellungen kompatiblen Konstruktionen von Zeit und Raum in für Mensch und Technik unüberschaubarem Maße hinausreicht, ohne dabei jedoch eigentlich geschichtliche Konsistenz und Kohärenz zu erzeugen. Dieser Befund der aktuellen Kulturkritik deckt sich mit dem, was Gumbrecht mit „unserer breiten Gegenwart“ bezeichnet (Gumbrecht 2010). In der breiten Gegenwart gibt es dann auch kein Oszillieren mehr zwischen tatsächlicher Re-Präsentation und Erinnern des Absenten, zwischen Ergriffensein und Erkennen des Subjekts, zwischen Präsenz- und Sinneffekten. Die Selbst-Vergegenwärtigung des Subjekts zu einer medialen Präsenz ist somit nicht als mittelbare Repräsentation im Sinne des medial Anwesend-Machens (im globalen WorldWideWeb) von etwas Abwesendem zu verstehen, sondern als unmittelbare Gegenwart dessen, was präsent wird, „das stets schon Voraus-zu-setzende“ (Mersch), d. h. „die vollkommene Inanspruchnahme des Subjekts, dabei, sich bis in die Miniregungen der Subjekte zu verwirklichen“ (Ortheil 2011, 28). Die lückenlose Dokumentation aller ‚Miniregungen‘ durch elektronische Daten drückt sich in vollkommen unverderblichen, räumlich-sinnlich erfahrbaren Photos, Tönen, bewegten Bildern und Schrift aus, in Spuren von Ereignissen, Momentaufnahmen, Augenbli-

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cken, in Erscheinungen, in dem was-sich-zeigt, wobei die (auto-)biographische Großerzählung als Geschichte ebensowenig sichtbar wird, wie die Datenhaftigkeit medialer Objekte. Die dokumentarische Echtzeit dokumentiert daher auch nicht eigentlich, das mediale Objekt bezeugt nichts, was außerhalb seiner selbst der Fall ist, es vergegenwärtigt nichts Abwesendes, es bezieht sich nur noch auf seine eigene Präsenz.

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| Teil IV: Repräsentationsformen religiöser Wissensbestände in ausgewählten Darstellungsmodi und -medien

Elżbieta Kucharska-Dreiß

16. Predigt als Kommunikationsgeschehen Abstract: Der Beitrag befasst sich zentral mit der Verkündigungsform Predigt, so wie sie in der (römisch-)katholischen und in der evangelischen Tradition praktiziert und gepflegt wird. Daher werden zuerst die grundlegenden praktisch-theologischen (genauer: homiletischen) Charakteristika der Predigt thematisiert. Eingegangen wird u. a. auf die terminologische Unterscheidung zwischen Predigt und Homilie, auf exemplarische Typologien von Predigten, auf die theologischen Erkenntnisse über das Verhältnis von Gottes- und Menschenwort in der Verkündigung sowie auf das katholische und das evangelische Profil der Predigt. In einem nächsten Schritt werden die Erkenntnisse einiger weiterer wissenschaftlicher (Sub-)Disziplinen herausgestellt (der Rhetorik, der Linguistik, der Psychologie und der Kommunikationswissenschaft), die eine tiefergehende Erforschung der Predigt möglich machen und daher von der Homiletik zu großen Teilen schnell rezipiert worden sind. Vor diesem Hintergrund wird auf die neueren Forschungsansätze eingegangen, die noch mehr als die älteren auf Interdisziplinarität setzen, da sie über die Predigt nicht nur als Rede, Textsorte, Sprechakt etc., sondern v. a. als ein komplexes Kommunikationsgeschehen reflektieren. Somit wird Predigt nicht nur als Forschungsgegenstand der betreffenden Wissenschaften herausgestellt, sondern es wird auch auf Synergieeffekte hingewiesen, die sich aus dem Zusammenwirken von Predigtlehre und z. B. Sprachwissenschaft, Entwicklungspsychologie, Soziologie, Theaterwissenschaft und Rezeptionsforschung ergeben. Der Überblick über die verschiedenen Forschungsansätze soll als Einladung an die (Germanistische) Linguistik verstanden werden, sich in dem interdisziplinären Gefüge zu positionieren und nicht nur deskriptiv tätig zu werden, sondern auch im Sinne einer angewandten Wissenschaft die Bemühungen der Homiletik um eine angemessene Sprache der Verkündigung in der pluralistischen Gesellschaft zu unterstützen. 1 2 3 4 5 6

Einführung Predigt homiletisch Predigt im Fokus anderer Disziplinen, andere Disziplinen im Fokus der Homiletik Neuere Ansätze zur Predigttheorie, -praxis und -forschung Predigt als Kommunikationsgeschehen – Ausblick & Desiderata Literatur

1 Einführung Würde man Vertreter verschiedener Disziplinen befragen, was Predigt sei, würde man mit ziemlicher Sicherheit Antworten erhalten, die verschiedene Facetten dieses Phänomens in den Vordergrund rücken. Die folgende Aufzählung, die allerdings

DOI 10.1515/9783110296297-017

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keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, möge das breite Spektrum der möglichen Antworten andeuten: – Predigt ist eine Verkündigungseinheit, – Predigt ist die Auslegung eines biblischen Textes, – Predigt ist Gotteswort im Menschenwort, – Predigt ist ein Bestandteil des Gottesdienstes/der Liturgie, – Predigt ist eine Rede bzw. ein Monolog, – Predigt ist ein Gespräch bzw. ein Dialog, – Predigt ist ein Text, – Predigt ist eine Textsorte, – Predigt ist ein Sprechakt, – Predigt ist eine Handlung, – Predigt ist eine Begegnung u. a. m. Selbstverständlich sind diese jeweils auf ein Minimum reduzierten Aussagen keine vollständigen Definitionen der Predigt; sie bedürfen daher dringend einer Fortführung (Präzisierung, Ergänzung etc.), z. B. ist Predigt „die Auslegung eines biblischen Textes durch den Amtsträger in der gottesdienstlichen Gemeindeversammlung“ (Zerfaß 1992, 14). Trotz ihrer Knappheit lassen die obigen Aussagen aber – gerade durch eine erste, primäre Identifikation der Predigt als Verkündigungseinheit, als Gotteswort im Menschenwort, als Rede, als Text, als Handlung, als Begegnung usw. – die zahlreichen Perspektiven erkennen, aus denen auf die Predigt wissenschaftlich geschaut wurde und wird, allen voran die theologische (v. a. die praktisch-theologische und im Rahmen der Praktischen Theologie insbesondere die homiletische), aber auch die rhetorische, die linguistische (die textlinguistische, die wort- und satzsemantische sowie die pragmalinguistische), die psychologische und die kommunikationswissenschaftliche. Betrachtet man die Predigt (vgl. Ebert in diesem Band) ausschließlich aus einer dieser Perspektiven, wozu die Wissenschaftler auf Grund ihrer (meist engen) Spezialisierung verständlicherweise neigen, erkennt man nur einen Bruchteil von dem, was das Phänomen Predigt (als Ganzes) ausmacht. Daher versteht sich dieser Beitrag als ein Plädoyer für eine – nach Möglichkeit – holistische Betrachtungsweise der Predigt, die im großen Stil bei dem heutigen Stand der Wissenschaft freilich nicht mehr von einzelnen Forschern, sondern fast ausschließlich nur noch von multidisziplinär zusammengesetzten Expertenteams geboten werden kann. Beim integralen Hinsehen wird u. a. plausibel, dass die Predigt nicht entweder ein Monolog oder ein Dialog, nicht entweder ein Text oder eine Handlung ist etc., sondern dass sie sowohl das jeweils eine als auch das jeweils andere sein kann oder sogar sein muss. Um das Potenzial eines solchen holistischen Ansatzes zu verdeutlichen, wird der vorliegende Beitrag unter die Überschrift „Predigt als Kommunikationsgeschehen“ gestellt, weil sich in dieser Formulierung neben den verschiedenen Perspekti-

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ven auch verschiedene Dimensionen miteinander vereinen oder zumindest teilweise verbinden lassen: die des Bewussten und die des Unterbewussten, die des Greifbaren und die des weniger Greifbaren, die des gezielt Ausgearbeiteten und die des Spontanen, die des eher Statischen und die des eher Dynamischen. Anschließend sollen einige der Perspektiven punktuell beleuchtet werden: zum einen um das spezifische Interesse der jeweiligen Disziplin an der Predigt stärker herauszustellen, zum anderen um auf den unumstrittenen Gewinn hinzuweisen, den der Predigttheorie und -praxis die interdisziplinär orientierten Forschungsansätze bereits beschert haben und künftig noch bescheren könnten.

2 Predigt homiletisch 2.1 Predigt und Homilie Homiletik (anders: Predigtlehre) ist eine Subdisziplin der Praktischen Theologie (vgl. Engemann 2011, XXI–XXVI), die sich mit der Theorie und Praxis der Predigt beschäftigt. Die Erforschung der Geschichte der Predigt fällt genauso in ihren Zuständigkeitsbereich wie die Entwicklung neuer homiletischer Ansätze und die Beschäftigung mit der Didaktik der Predigt. Schon allein die Tatsache, dass Homiletik mit Predigtlehre übersetzt werden kann, verleitet dazu, Homilie und Predigt als synonyme Bezeichnungen für das gleiche Phänomen aufzufassen. Und in der Tat werden diese beiden Wörter in vielen homiletischen (aber auch linguistischen u. a.) Publikationen synonym verwendet. Unter terminologischen Gesichtspunkten erweist sich dieses Vorgehen jedoch nicht immer als präzise bzw. korrekt, es kann daher beim Leser gewisse Irritationen hervorrufen. Unter anderem auch deshalb ist, was den Gebrauch von Predigt und Homilie betrifft, bei der Lektüre der einschlägigen Literatur grundsätzlich auf das Erscheinungsjahr, die behandelte Zeitspanne und auf die konfessionellen Nuancen zu achten. Hierzu einige Hintergrundinformationen, die allerdings nur als Schlaglichter zu sehen sind, da sie nicht die gesamte Entwicklung von Predigt und Homilie wiedergeben können: – In der Neuzeit gilt Predigt als Oberbegriff für alle Formen der kirchlich autorisierten Verkündigung, einschließlich der Ketzerpredigt, der Kreuzzugspredigt, der Laienpredigt und der Missionspredigt (vgl. Zerfaß 2006). – Im aktuellen deutschen Sprachgebrauch beziehen sich das Wort und der Terminus Predigt ausschließlich auf die Verkündigung im gottesdienstlichen Rahmen, und das sowohl im katholischen als auch im evangelischen Gottesdienst (vgl. Zerfaß 2006). – Neben Predigt kennen beide Konfessionen auch das Wort und den Terminus Homilie, und zwar in der folgenden Bedeutung: „Bei der Homilie handelt es sich

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um eine der ältesten Predigtweisen. Homilie, das bedeutet: Satz für Satz, gar Wort für Wort der biblischen Vorgabe nachgehen. Philo und Origenes praktizierten die Homilie im alten Alexandria, Luther in Wittenberg, Karl Barth an seinen verschiedenen Wirkungsstätten in Deutschland und in der Schweiz – um nur einige zu nennen. In der neueren Homiletik hat immerhin Rudolf Bohren ihr ein Loblied gesungen“ (Nicol/Deeg 2013, 85). Versteht man Homilie als „Auslegungspredigt“, d. h. als Textpredigt, so steht sie in einer gewissen Opposition zur Themapredigt, die in erster Linie die Thematik eines Textes aufgreift und daher weniger schriftgebunden ist (vgl. auch Schmidt 1964, 17). Übersetzt man Homilie mit Textpredigt, so muss Predigt als übergeordneter Terminus sowohl für die Text- als auch für die Themapredigt gelten. Neue Akzente für die katholische Verkündigung setzt das II. Vatikanische Konzil. Die vorkonziliare Praxis hat in der Predigt lediglich eine Vorbereitung auf die Eucharistie (d. h. auf den eigentlichen Gottesdienst) gesehen. Deshalb wurden Predigten im Pronaus (d. h. im Vorspann zur Eucharistiefeier) gehalten. Alternativ hat man für die Predigt den eigentlichen Gottesdienst nach der Verlesung des Evangeliums unterbrochen. In Folge des II. Vatikanischen Konzils wird die Gemeindepredigt fest im liturgischen Kontext verankert, d. h. sie wird zum integralen Bestandteil der Eucharistiefeier, der Wortgottesfeier, des Stundengebets sowie der Liturgie der Sakramente und der Sakramentalien (vgl. SC [Q1], 52). Damit wird sie zu einer liturgischen Handlung, die nach dem Glauben und der Lehre der Kirche von Christus durch den Priester vollzogen wird (vgl. SC [Q1], 7). Genau diese Verkündigungsform bekommt jetzt den Namen Homilie. Demnach müsste also jede Verkündigung, die im liturgischen Rahmen stattfindet, konsequent als Homilie, die Verkündigung in einer Andacht dagegen, z. B. in einer Novene oder in einer Rosenkranzandacht, als Predigt bezeichnet werden. Gemessen an dem früheren Verständnis von Homilie als Auslegung eines biblischen Textes lockert das II. Vatikanische Konzil den Bezug der Homilie zu den Lesungen und zum Tagesevangelium; jetzt können auch andere Bestandteile der Liturgie die Grundlage für eine Homilie bilden: „Unter ‚Homilie über einen heiligen Text‘ wird verstanden: die Erklärung der Schriftlesungen unter einem bestimmten Gesichtspunkt oder die Erklärung eines anderen Textes aus dem Ordinarium (die gleichbleibenden Elemente der hl. Messe, z. B. das Gebet „Vater unser“) oder dem Proprium (die im Kirchenjahr bzw. nach Anlass wechselnden Elemente der hl. Messe, z. B. die Präfation) der Tagesmesse. Dabei kann das Gewicht liegen entweder auf dem Mysterium, das gefeiert wird, oder auf besonderen Bedürfnissen der Hörer“ (IOe, 54). So gesehen ist sowohl eine exegetische (dem Text entlanggehende) als auch eine thematische Homilie denkbar.

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Da der vorliegende Beitrag gleichermaßen die katholische wie die evangelische Predigttheorie und -praxis fokussiert, wird im Weiteren ausschließlich der im deutschen Sprachgebrauch geläufigere Terminus Predigt verwendet, der sich trotz einer gewissen Unschärfe und einiger Abstriche (s. o.) doch gut auf die gottesdienstliche Verkündigung in beiden Traditionen anwenden lässt. Im Register dieses Bandes bilden Predigt und Homilie aber separate Einträge, die entsprechend aufeinander verweisen.

2.2 Typologien von Predigten In der homiletischen Literatur wird zwischen zahlreichen Typen von Predigten unterschieden; einige von ihnen wurden bereits angedeutet. Bezeichnet werden die einzelnen Typen meistens durch Komposita mit der Basis -predigt (z. B. Sonntagspredigt, Jugendpredigt, Wunderpredigt), seltener durch Nominalphrasen mit dem Kopf Predigt, der durch voran- oder nachgestellte Attribute erweitert wird (z. B. die eschatologische Predigt, Predigt zur Urgeschichte). Die Anwendung von verschiedenen Kriterien führt zu mehreren Typologien; die geläufigsten von ihnen werden anschließend kurz vorgestellt. Legt man als Kriterium die Quelle des Predigttextes (= der Bibelstelle, zu der gepredigt wird) an, so lassen sich die Predigten grundsätzlich in alttestamentliche (vgl. z. B. Peisker 1965) und neutestamentliche (vgl. z. B. Schmidt 1965) einteilen. Je nachdem, aus welchem biblischen Buch der jeweilige Predigttext stammt bzw. welcher Textgruppe (der Form oder dem Inhalt nach) er angehört, können sowohl alttestamentliche als auch neutestamentliche Predigten weiter unterteilt werden. So ordnet Peisker (1965) die ausgesuchten Predigtbeispiele folgenden Untertypen zu: Predigten zur Urgeschichte, zu den Vätergeschichten, zu der Herausführung aus Ägypten, zu der Sinai-Geschichte, zur Landnahme, zu den Königen Israels, zu den Propheten, zu den Psalmen, zu eschatologischen Texten. Für die neutestamentlichen Predigten führt Schmidt (1965) die folgende Unterscheidung durch: die Evangelien-Predigt, die Epistel-Predigt, die Einzelwort-Predigt, die eschatologische Predigt, die Gleichnis-Predigt, die Wunder-Predigt und die ethische Predigt. Neben dem Kriterium Textgruppe wenden Peisker (1965) und Schmidt (1965) das Kriterium Abfolge der Feste und (Fest-)Zeiten im Kirchenjahr an. So erhalten sie folgende Predigttypen: die Advents-Predigt, die Weihnachts-Predigt, die PassionsPredigt, die Auferstehungs-Predigt, die Himmelfahrts-Predigt, die Pfingst-Predigt und die Trinitatis-Predigt. Schmidt (1964) nennt noch zahlreiche weitere Predigttypen, thematisiert aber kaum die Kriterien, die diese Predigttypen ausmachen lassen. So folgen in seiner Predigttypologie direkt nacheinander: der Grund-Typ der Gemeindepredigt, die Lehr-Predigt, die evangelistische (der Evangelisation dienende) Predigt, die (anlassbezogene) Kasual-Predigt, die Dialog-Predigt (Beispielpredigten für zwei und

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drei Sprecher in Schmidt 1964, 220–243), die Laien-Predigt (von einem gläubigen Laien gehalten), die Leser-Predigt (für den Druck aufbereitet bzw. eigens für den Druck geschrieben), die Hörfunk-Predigt, die Fernseh-Predigt und die KinderPredigt. Dabei ist z. B. offensichtlich, dass die Leser-, die Hörfunk- und die FernsehPredigt nur dann unterschieden werden können, wenn das Kriterium Kommunikationskanal angelegt wird. Bei der Unterscheidung der Lehr-Predigt steht dagegen das Kriterium Predigtziel im Vordergrund, doch werden in Schmidt (1964) Predigttypen, die andere Predigtziele verfolgen, gar nicht berücksichtigt. Des Weiteren wurde zwar die Kinder-Predigt als Predigttyp unterschieden (Kriterium Zielgruppen nach Alter), nicht aber die Jugend-Predigt oder die Erwachsenen-Predigt. Andererseits werden dem Grund-Typ der Gemeindepredigt Beispielpredigten zugeordnet, die sich an eine Männergemeinde, eine Frauengemeinde, eine Erziehergemeinde, eine Urlaubergemeinde oder an eine Akademiegemeinde richten, obwohl es sich bei den aufgezählten Gemeinden um eher spezielle Zielgruppen handelt. Selbstverständlich erheben die in Anlehnung an Peisker (1965) und Schmidt (1964 und 1965) vorgestellten Typologien keinen Anspruch auf Vollständigkeit; sie dienen ausschließlich einer ersten Orientierung. Schnell lassen sich nämlich noch weitere Kriterien finden und anwenden, z. B. der Länge des Predigttextes nach kann zwischen der Text-Predigt (zu einer biblischen Perikope) und der Spruch-Predigt (zu einem Aphorismus etc.) unterschieden werden (vgl. Zerfaß 1992 und 1995; Schreibweise mit Bindestrich analog zu Peisker 1965 sowie Schmidt 1964 und 1965); ausbaufähig wären auf jeden Fall noch die Kriterien Zielgruppe (Stand, Milieu, Berufsgruppe etc.) und Inhalt der Predigt (biblische, dogmatische, historische, katechetische u. a. Predigten, wobei jeder Typ noch weiter differenziert werden könnte) (vgl. u. a. Twardy 1994). Außerdem fällt – wie bei den meisten sonstigen – auch bei Predigttypologien auf, dass es zwischen den einzelnen Predigttypen sehr wohl Überschneidungen gibt (z. B. eschatologische Predigten gibt es sowohl zu Stellen aus dem Alten als auch aus dem Neuen Testament) und dass eine Predigt mehreren Predigttypen zugeordnet werden kann (z. B. eine Wunder-Predigt kann gleichzeitig eine Kinder-Predigt sein).

2.3 Gotteswort im Menschenwort Christliche Konfessionen (vgl. Grözinger in diesem Band) teilen die Auffassung, dass sich „in den Heiligen Schriften das Gotteswort in Menschenworten birgt“ (Mödl 2006, 131). Genauer kann diese Relation wie folgt beschrieben werden: Die geschriebenen Worte sind zwar literarisch gesehen Menschenworte, in ihnen aber kommt uns Gottes Offenbarung zu. Menschen haben die Texte verfaßt, und sie haben dies mit ihren menschlichen Fähigkeiten und als menschliche Literaten getan. Aber in ihnen spricht sich die göttliche Wirklichkeit aus. Das hat zur Folge, daß für das Verstehen dieser in anderer Zeit und

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in anderem Kontext verfaßten Worte oftmals ein vermittelndes menschliches Wort nötig ist (Mödl 2006, 131).

Weil die Predigt aber aus theologischer Sicht nicht nur als vermittelndes, deutendes und auslegendes Menschenwort zu verstehen ist, sondern auch – oder sogar vor allem – als Ort der (Selbst-)Vergegenwärtigung Christi, wird auch sie als Gotteswort im Menschenwort gewertet (vgl. Stridde in diesem Band). Allerdings gibt es in der Theologie mehrere Vorstellungen darüber, wie sich Gotteswort und Menschenwort zueinander verhalten. Grözinger (1991, 222–235) stellt drei diesbezügliche Modelle vor, die er bei Karl Barth vorfindet: das Modell der Diastase, das Modell der Subsumtion und das Modell der Entsprechung. In Barths Schriften lösen diese Modelle einander ab. Das Modell der Diastase geht von einer tiefen Kluft aus, die zwischen dem Gotteswort und dem Menschenwort schlichtweg bestehen muss: Das Wort Gottes wird in diesem Modell als ewig, absolut, wahr, nicht versagend und nicht hinfällig charakterisiert, das Menschenwort dagegen als dessen genauer Gegensatz (ein Ding unter anderen, Lüge, versagend und hinfällig). Dem Modell der Subsumtion liegt Bohrens Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes zugrunde. In diesem Modell bilden das geoffenbarte Wort Gottes, das geschriebene Wort Gottes und das verkündigte Wort Gottes eine Art Hierarchie, in der sie sich gegenseitig bestimmen. Im letzten Modell wird die menschliche Sprache als eine freie Antwort auf das Wort Gottes (Gottes Offenbarung in der Geschichte Israels) aufgefasst; demnach würde das Menschenwort dem Gotteswort entsprechen, auch wenn es mit diesem nicht identisch ist.

2.4 Funktionen der Predigt Als das im Menschenwort verkündete Wort Gottes erfüllt die Predigt verschiedene Funktionen. Zum einen sind es solche, die für die Sprache im Allgemeinen gelten (also die Darstellungsfunktion, die Ausdrucksfunktion, die Appellfunktion, die phatische Funktion, die metasprachliche Funktion und die poetische Funktion), die aber theologisch interpretiert werden können: So hat es [das Wort Gottes] z. B. eine informative Funktion, insofern Gott die Wahrheit über sich selbst mitteilt; eine Ausdrucksfunktion, indem Gott seine Art zu denken, zu lieben und zu handeln erkennen lässt; eine appellative Funktion, da Gott uns anspricht, zum Hören ruft und eine Antwort des Glaubens erwartet (Lineamenta [Q2], 10f.; vgl. auch Przyczyna 2014, 147–150).

Zum anderen sind das Funktionen, die sich ausschließlich aus der theologischen Sicht auf die Predigt erschließen lassen: die – wichtigste – aktualisierende (1), die mystagogische (2), die anamnetische (3) und die liturgische (anabatische und kata-

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batische) Funktion (4). Im Einzelnen bedeutet das, dass sich die Anwesenheit Christi in der Kirche (u. a.) durch die Predigt aktualisiert; in der Predigt ist Christus auf zweifache Weise gegenwärtig – als Subjekt und Objekt der Predigt (Funktion 1); dass die Predigt die Hörer in das Mysterium der Anwesenheit Christi in der Kirche einführt und für die Teilnehmer an der liturgischen Versammlung zu einem Ort wird, an dem sie Gott intensiver erfahren können (2); dass in der Predigt die in der Bibel beschriebenen Ereignisse aus der Heilsgeschichte in Erinnerung gerufen und sowohl auf die Gegenwart als auch auf die Zukunft bezogen werden (3) und dass die Predigt ein Ort ist, an dem sowohl die Katabasis (das zum Menschen herabsteigende Handeln Gottes) als auch die Anabasis (das zu Gott aufsteigende antwortende Handeln des Menschen) stattfinden: Zum einen teilt sich Gott dem Menschen mit und er lädt ihn zur Umkehr ein, zum anderen gibt sich der Mensch ein Stück weit Gott und anderen Menschen hin (4) (vgl. Przyczyna 2014, 150–154, dort weitere Literaturhinweise).

2.5 Katholische versus evangelische Predigt Sowohl bei der katholischen als auch bei der evangelischen Predigt handelt es sich um eine christliche Predigt, doch mit dem jeweils eigenen Profil. Liturgisch gesehen lässt sich der wichtigste Unterschied wie folgt auf den Punkt bringen: Die katholische Predigt erwächst aus der Liturgie, weil sie eine Brückenfunktion zwischen dem „Tisch des Wortes“ und dem „Tisch des Mahles“ wahrnimmt. Die Predigt ist das Scharnier zwischen der Gegenwart Christi in den Lesungen und in der Eucharistie. Demgegenüber konstituiert [beide Hervorhebungen im Original] die evangelische Predigt die Liturgie, weil hier das Sprechen mit dem sich im Wort vergegenwärtigenden Herrn am stärksten (wenn auch nicht ausschließlich) zu greifen ist (Meyer-Blanck 2006, 150).

Einem Nicht-Theologen erschließt sich diese Aussage wahrscheinlich erst über die genaueren Informationen zur jeweiligen Positionierung der Predigt im liturgischen Ablauf und zum jeweiligen Ort, von dem aus sie gehalten wird: Während die Wortverkündigung den Höhepunkt des evangelischen Gottesdienstes bildet und die Predigt als dessen Kern nicht weglassbar ist, befindet sich die katholische Predigt zwischen zwei liturgischen Höhepunkten: zwischen feierlich inszenierter Evangeliumsverlesung und noch feierlicher inszenierter Gabenbereitung; zwischen [...] Weihrauch zur Lesung und noch mehr Weihrauch zur Eucharistiefeier; zwischen assistierenden Kerzenträgern am Ambo und assistierenden Gabenträgern am Altar, zwischen [...] Kuss des [...] Evangeliars und Verehrung des Altars (Roth 2006, 19).

Zwar ist die katholische Predigt seit dem II. Vatikanischen Konzil zum integralen Bestandteil der Liturgie erhoben worden, doch sie ist nicht ihr Zentrum und als solche unter bestimmten Umständen auch weglassbar.

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Die evangelische Predigt wird von der Kanzel aus gehalten, wodurch der Prediger eine herausragende Position bekommt und der Gemeinde als Amtsträger gegenübertritt (vgl. Albrecht 2006, 16). Die Begründung für dieses gezielt erzeugte Gefälle zwischen dem Prediger und dem Hörer lautet: Man kann sich das Evangelium nicht selbst sagen. Die Heilige Schrift kommt ‚von außen‘ und soll von einer Gegenüber-Position der Gemeinde zugesprochen und in Form einer öffentlichen Rede gedeutet und bezeugt werden (Albrecht 2006, 16).

Die katholische Predigt wird vom Ambo aus gehalten, einem Lesepult in Altarnähe, an dem auch Lesungen und Fürbitten vorgetragen werden (vgl. Roth 2006, 19). Die Nähe zum Altar hat den Zweck, die vormalige Distanz zwischen den Orten der Wortverkündigung und des [...] Altarsakraments zu verringern und so die Einheit von Wortgottesdienst und Eucharistiefeier wiederherzustellen (Roth 2006, 19).

Interessant für den interkonfessionellen Vergleich ist zudem ein kurzer Blick auf die Personen, die jeweils als Prediger auftreten. In der evangelischen Tradition wird in der Regel vom „liturgischen Hauptakteur“ (Albrecht 2006, 17) gepredigt, wobei die Gottesdienstleitung sowohl von Männern als auch von Frauen übernommen werden kann. In der katholischen Tradition wird die Predigt häufiger nicht von dem vorstehenden Priester gehalten, sondern von einem anderen Geistlichen (manchmal auch von einem Pastoralreferenten oder einer Pastoralreferentin), der nicht einmal von Anfang an im Kirchenraum anwesend sein muss, sondern diesen nur zur Predigt betreten kann (vgl. Roth 2006, 20). Im Hinblick auf weitere Unterschiede (u. a. in der Schriftbezogenheit und -auslegung, in der Predigtform und -weise) gilt generell, dass sie in vergangenen Jahrhunderten viel größer waren als heute. Zum Beispiel hat das II. Vatikanische Konzil deutlich die Stellung der Schriftpredigt gestärkt, die traditionell ein Charakteristikum der reformatorischen „Kirche des Wortes“ war. Außerdem wurde auf beiden Seiten viel Neues ausprobiert, so dass mittlerweile sowohl für die evangelische als auch für die katholische Predigt eine große formale wie materielle Vielfalt verzeichnet werden kann; für Näheres zur katholischen und protestantischen Predigtkultur siehe Garhammer/Roth/Schöttler (2006).

2.6 Predigen als Ehre, Last und Lust Bereits aus dem theologischen Verständnis der Predigt heraus, aber auch angesichts der Erwartungen und Ansprüche, die Kirchen an ihre Prediger, Gemeindemitglieder an ihre Pfarrer und nicht zuletzt die mit der Verkündigung Beauftragten an sich selbst und ihre Predigten haben bzw. stellen, muss das Predigen nicht nur als eine

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(große) Aufgabe, sondern auch als eine (große) Herausforderung erscheinen (vgl. Greule/Kiraga in diesem Band). Nicht ohne Grund begegnet man in der homiletischen Literatur Aussagen über „die Last, von Gott sprechen zu müssen, und die Ehre, von ihm sprechen zu dürfen“ (Friemel 1991, 14). Als Prediger der grundlegenden Aufgabe der Kirche nachzugehen, es immer aufs neue [zu] versuchen [...], in immer neuer Bemühung die irdische Begrenztheit auf das unendliche Geheimnis, die menschliche Schuld auf die Gnade und die Enge unseres Denkens auf die Weite des Dreifaltigen Gottes hin zu öffnen (Friemel 1991, 14),

kann nämlich sehr wohl beides sein: Ehre und Last. Genauso wie „Gott so zu Wort kommen zu lassen, daß sich etwas ändern kann“ (Zerfaß 1995, 14) oder „durchlässig für Gott“ zu sein, damit „Gottes heilendes Wesen durch [den Prediger] ‚vorkommen‘ kann“ (Zerfaß 1995, 19f.). Und die Last wird nicht kleiner, wenn man dieser Aufgabe in pluralistisch (durchaus auch säkular) geprägten Gesellschaften und unter sich wandelnden politischen, sozialen, ökonomischen, kulturellen etc. Bedingungen nachgehen muss. Nicht ohne Grund versucht die Homiletik deshalb auch – sowohl durch die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Ansätze als auch in der pastoralen Aus- und Weiterbildung – die Lust der Prediger auf die Predigtvorbereitung und das Predigen zu wecken, aufrechtzuerhalten bzw. zu stärken. Ein beeindruckendes Beispiel für diese Versuche sind die modernen homiletischen Hand-, Lehr- und Praxisbücher wie die von Müller (1994), Grözinger (2008), Engemann (2011) oder Nicol/Deeg (2013), um nur einige Beispiele zu nennen. Auffallend ist bei der Sichtung der deutschsprachigen homiletischen Literatur zudem, wie schnell neuere Methoden und Erkenntnisse aus anderen Disziplinen rezipiert werden und wie gerne man sie für die homiletische Theorie und Praxis nutzbar macht. Engemann (2011, 363–402), der u. a. die Methoden der Predigtanalyse systematisiert, unterscheidet zwischen: – den Ansätzen, die sich stärker auf die Textgestalt der Predigt beziehen (der contentanalytische Ansatz, der sprechakttheoretische Ansatz, der rhetorische Ansatz, der semantische Ansatz, der ideologiekritische Ansatz), – den Ansätzen, die sich stärker auf die Interaktion zwischen Prediger und Hörer beziehen, wobei einige von ihnen den Prediger (der tiefenpsychologische Ansatz bei den Grundimpulsen und Grundängsten des Predigers, der kommunikationspsychologische Ansatz bei den Transaktionen und Spielen des Predigers), andere wiederum den Hörer (der pastoralpsychologische Ansatz bei der Inhaltsund Beziehungsebene des Predigtgeschehens, der empirische Ansatz bei der systematischen Befragung von Hörerinnen und Hörern) im Fokus haben, und – dem Predigtnachgespräch mit der Gemeinde.

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Vor diesem – durchaus interdisziplinären – Hintergrund soll die Predigt nun als Forschungsgegenstand einiger nicht-theologischen (Sub-)Disziplinen herausgestellt und der Ertrag der ‚disziplinfremden‘ Erkenntnisse für die Homiletik präsentiert werden.

3 Predigt im Fokus anderer Disziplinen, andere Disziplinen im Fokus der Homiletik 3.1 Predigt rhetorisch 3.1.1 Homiletik und Rhetorik – eine Hinführung Die lange gemeinsame Geschichte, auf die Homiletik und Rhetorik heute zurückblicken können, ist voll von Spannungen, die hauptsächlich auf zwei Missverständnissen beruhen: 1) die Beachtung der Rhetorik würde zur Überschätzung der Form führen und 2) die Rhetorik wäre nichts weiter als die Kunst der Manipulation und damit schon in ihren Ansätzen unredlich (vgl. z. B. Knape 2010, 31, 35 und 37; dort auch weitere Literaturangaben). Diese Missverständnisse trugen entscheidend dazu bei, dass im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Homileten mit der Rhetorik gehadert, diese immer wieder kritisiert und sogar abgelehnt haben. Auch die Unterscheidung in die (gute) „kritische Rhetorik“ und die (böse) „instrumentelle Rhetorik“ (vgl. Zerfaß 1995, 34–41) erweist sich nach Knappe (2010, 46) als unzureichend bzw. irreführend, da rhetorische Techniken vorerst als ein neutrales Instrument anzusehen sind, das – wie jedes andere Instrument – zum Guten aber auch zum Schlechten gebraucht werden kann. Freilich bietet die Geschichte der Predigt genügend Beispiele dafür, „wie sich eine im leeren Formalismus erstarrte Rhetorik auf die Predigt auswirken kann“ (Otto 1987, 40). Auf der anderen Seite hat man u. a. aber auch erkannt, daß die protestantische Predigt in dem Maße, in dem sie sich nach der Aufklärung aus der Beziehung zur Rhetorik gelöst hat, an Gewicht und öffentlicher Relevanz verloren hat (Otto 1987, 40).

Nachdem die Frage, wie viel Rhetorik die Predigt braucht, im 20. Jh. vielseitig und kontrovers diskutiert wurde, scheint der künftigen fruchtbaren „Kooperation zwischen der Eloquentia ecclesiastica oder divina und der Eloquentia saecularis“ (Knape 2010, 51) nichts mehr im Wege zu stehen. Moderne Homiletiken wissen die Leistung der Rhetorik für die Predigtpraxis durchaus zu schätzen, weisen allerdings ausdrücklich darauf hin, dass die Verantwortung für den ethischen Umgang mit dem rhetorischen Instrumentarium ganz bei dem Prediger liegt (vgl. Müller 1994 und

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Grözinger 2008). Auch die Stellung der Rhetorik innerhalb der Predigerausbildung ist heute unbestritten (vgl. Thiele 2008, 191). Weil in dem vorliegenden Beitrag nicht detailliert auf die homiletische Diskussion um die Rhetorik eingegangen werden kann (vgl. Thiele 2008 und 2009 sowie Meyer-Blanck/Seip/Spielberg 2010), soll an dieser Stelle exemplarisch ein zeitgenössischer Rhetoriker zu Wort kommen, der noch bis vor Kurzem gerade in der Predigerausbildung tätig war und eine klare Position für die Rhetorik bezieht: Wenn Kirchenväter die Rhetorik ablehnen, so handeln sie gegen das Evangelium. Denn – dies ist meine Begründung – das Evangelium nutzt die Rhetorik und ihre Mittel wie selbstverständlich, und das in Fülle. Dies möchte ich anhand der Bergpredigt genau aufzeigen. Allein die Untersuchung der neun Seligpreisungen zeigt, daß Matthäus die Rede Jesu rhetorisch durchkomponiert. Insofern bleibt mir die Ablehnung der rhetorischen Stilmittel letztlich völlig unverständlich. Meyer-Blanck und Weyel haben eine „berechtigte theologische Skepsis gegenüber der Rhetorik.“ [Gemeint ist Meyer-Blanck/Weyel 1999, 64.] Ich halte sie für ausgesprochen unberechtigt. Mir erscheinen diese Vorbehalte als obsolet, da sie auf einem unreflektierten Verständnis von Rhetorik fußen. Denn das Evangelium denkt anders. Es zeigt deutlich rhetorische Anstrengung auf. Das Evangelium denkt und spricht rhetorisch (Thiele 2008, 101).

Der begeisterte Rhetoriker Thiele hebt aber auch hervor, dass sich der Redner ständig Rechenschaft darüber abgeben sollte, was er gerade tut: „Das, was ich [als Prediger] sage und wie ich es sage, muß gegenüber dem Zuhörer verantwortbar sein“ (Thiele 2008, 61): Wenn ich mich jeweils an allen Stellen des [homiletischen] Dreiecks [Prediger – Predigt – Predigthörer; unten Abb. 1] frage, ob das, was sich dort jeweils abspielt, verantwortbar ist, ethisch bestehen kann, transparent genug ist, um erkannt zu werden – so unterlaufe ich Manipulation –, dann ist meine Rhetorik moralisch okay. Dann gibt sich meine Rhetorik keine Blöße. Dann bringt sie keine Gefahren. Dann zeigt sie Potenz. Dann zeigt sie Stärke (Thiele 2008, 62).

3.1.2 Predigt als Rede Die Rhetorik sieht in der Predigt v. a. eine Rede, und zwar eine öffentliche, christlich-religiöse Überzeugungsrede, die den Hörer „in seiner erkenntnisheischenden (kognitiven), gefühlsmäßigen (emotiven) und vor allem verhaltensorientierten (konativen) Dimension“ fokussiert (Thiele 2008, 58). Thiele, dessen Monographie Öffentliche Rede im kirchlichen Raum (2008) aus den Vorlesungen hervorgegangen ist, die er als Experte für Rhetorik in den Jahren 2001, 2003, 2005 und 2007 im Rahmen der praktisch-theologischen Ausbildung am Fachbereich Evangelische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt gehalten hat, formuliert es an einer anderen Stelle aber auch ein Stück weit provokativ bzw. überraschend – gerade vor dem Hintergrund der in der Theologie gängigen Auffassung, Predigt sei Gotteswort im Menschenwort:

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Predigt ist nicht Gottes Wort, sie ist das Wort eines von uns. Sie ist menschliche Rede, kein Sakrament, keine Sakramentalie. [...] Wenn Predigt primär als Rede verstanden wird, lassen sich Erkenntnisse, die an ihr zu gewinnen sind, auf andere Reden übertragen. So gesehen wird sie innerhalb einer allgemeinen Rhetorik wichtig (Thiele 2008, 14).

Damit betont er nicht nur, dass die Predigt (bzw. das von ihr, was sich für einen Rhetoriker, Linguisten etc. als „greifbar“ darstellt) Menschenwort ist, sondern er stellt auch heraus, dass „Predigt inzwischen als Prototyp von Rede“ gelten kann, da in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens kaum noch Reden gehalten werden (Thiele 2008, 14). Ein weiteres Mal überrascht Thiele womöglich, als er sein Verständnis von Rede präsentiert: Rede verstehe ich nicht als Frontalverkündigung, sondern als Gespräch mit der Zuhörerschaft – selbst wenn diese stumm bleibt. Jede gute Ambo- oder Kanzelrede ist virtueller Dialog. Denn Predigt fällt unter die Kategorie der Geselligkeit; so bestimmt sie schon der Altvater der Praktischen Theologie Friedrich Schleiermacher. (Griech.) Homilia ist in ihrer Grundbedeutung Zusammensein mit dem Partner. Da darin durchaus erotische Anteile enthalten sind, kann man Predigen und Zuhören sehr wohl als Lust und Genuß begreifen: der zündende Funke muß überspringen (Thiele 2008, 15f.).

In der oben genannten Monographie, in der es Thiele v. a. um das „Handwerkszeug“ der religiösen Rhetorik geht, findet der Leser fundiertes Wissen u. a. über das Verhältnis von Form und Inhalt (darunter über das homiletische Dreieck), über die rhetorischen Figuren und Tropen, über die rhetorischen Qualitäten der in der Bergpredigt enthaltenen Seligpreisungen (Mt 5,3–12), über die lexikalische, die syntaktische, die phonetische, die morphologische und die pragmatische Amphibolie, über die Redegattungen (genera orationis) im Allgemeinen und die Arten der Predigt (genera praedicationis) im Besonderen. In die Kapitel über die kommunikative Kompetenz, über die Predigtebenen – nach dem Kommunikationsquadrat von Schulz von Thun (1989) – sowie über die für die einzelnen Ebenen typischen Sprechakte integriert Thiele (2008, 132–151) wie selbstverständlich auch die Erkenntnisse der Kommunikationswissenschaft und der Sprechakttheorie. Nicht unerwähnt bleiben sollen an dieser Stelle – neben einer weiteren Monographie von Thiele (Predigt als wahre Rede, 2009) – auch zwei Publikationen zu rhetorisch wichtigen Einzelaspekten der Predigt: Predigt als metaphorische GottRede. Zum Ertrag der Metaphernforschung für die Homiletik (Luksch 1988) und Językowe środki perswazji w kazaniu (Zdunkiewicz-Jedynak 1996). Dass hier auf den zuletzt genannten Titel – über die sprachlichen Mittel der Persuasion in der Predigt – hingewiesen wird, obwohl er ausschließlich in der polnischen Sprache vorliegt und im deutschen Sprachraum daher am ehesten nur von den Slawisten rezipiert werden kann, hat den folgenden Grund: Bei den von Zdunkiewicz-Jedynak analysierten Texten handelt es sich um eine Auswahl von 100 Predigten, die in den Jahren 1981–1983 gehalten wurden, also in der für Polen politisch höchst brisanten

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Zeit. In dem untersuchten Korpus befinden sich u. a. Predigten vom Papst Johannes Paul II., vom Kardinal Józef Glemp (dem damaligen Primas von Polen) und von Jerzy Popiełuszko, einem Priester, der die Solidarność-Bewegung unterstützt hat und 1984 von den Offizieren des polnischen Sicherheitsdienstes ermordet wurde. Die Analyse dokumentiert somit einen Sprachgebrauch, der für die Zeit der politischen Unterdrückung typisch war und erst der jüngsten Vergangenheit angehört.

3.2 Predigt linguistisch 3.2.1 Predigt als Textsorte In der (Text-)Linguistik wird die Predigt – neben der Werbeanzeige, dem Propagandatext, der Arbeitsanleitung, dem Gesetzestext, dem Gesuch etc. – zu den Textsorten mit appellativer Grundfunktion gerechnet (vgl. Brinker 2010, 102). Die Appellfunktion wird bekanntlich realisiert, wenn der Emittent dem Rezipienten zu verstehen gibt, dass er ihn dazu bewegen will, eine bestimmte Einstellung einer Sache gegenüber einzunehmen (Meinungsbeeinflussung) und/oder eine bestimmte Handlung zu vollziehen (Verhaltensbeeiflussung) (Brinker 2010, 101).

In der Predigt besteht dieses „appellative Moment“ typischerweise darin, die Zuhörer von der Relevanz des christlichen Glaubens für die eigene Lebensführung zu überzeugen und sie durch die in der Predigt bekundete religiöse Haltung möglichst selbst zu Glaubenszeugen aufzurufen, sie zumindest aber zur Selbstreflexion und Nachdenklichkeit zu bewegen (Brinker 2010, 117).

An welchen konkreten Indikatoren diese Textfunktion in der Predigt festgemacht werden kann, zeigt Brinker anhand einer Rundfunkpredigt (Brinker 2010, 116–118), die er zuvor auch im Hinblick auf ihre Textstruktur untersucht (Brinker 2010, 63– 65). Gleichzeitig betont er den Zusammenhang von Textfunktion und Textstruktur, dessen Regelhaftigkeit er als unumstritten, die Erforschung aber als unzureichend ansieht. Allerdings ist die Charakteristik der Textsorte Predigt mit der Bestimmung ihrer Grundfunktion alles andere als abgeschlossen. Und wenn komplexe Untersuchungen zu diesem Thema nach wie vor ausstehen dürften (dazu bereits Simmler 2000, 684f.), so gibt es mittlerweile doch einige nennenswerte Publikationen, die sich auf die Erfassung und die Identifizierung der für diese Textsorte typischen Merkmale konzentrieren. Mit Pfefferkorn (2005a und 2005b) liegt beispielsweise eine Untersuchung der wichtigsten Textsorten der protestantischen Erbauungsliteratur des 16. und des 17. Jahrhunderts vor: der Predigt, der Andacht und des Gebets.

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Für seine Arbeit bevorzugt Pfefferkorn den historisch-empirischen Textsortenbegriff; zudem versteht er Textsorten als offene, dynamische Klassen mit Kernbereichen und Randzonen, welche fließende Übergänge zwischen den Textsorten zulassen. Demnach besitzen nicht alle Vertreter einer Textsorte den gleichen Prototypizitätsgrad und müssen sich nicht – wie etwa im aristotelischen Kategorienmodell – durch eine bestimmte Anzahl gemeinsamer Eigenschaften auszeichnen, um einer bestimmten Textsorte anzugehören (vgl. Pfefferkorn 2005a, 378). Die von Pfefferkorn gebotene Textsortenbeschreibung, die sich als Beitrag zur Sprachgeschichte im Sinne einer Textsortengeschichte versteht, basiert auf der Rekonstruktion der historischen Kommunikationssituation, welche die Entstehung der Erbauungsliteratur begünstigte oder gar möglich machte. Pfefferkorn weist in diesem Zusammenhang auf „die Bedeutung der Religion für das alltägliche Leben in der frühen Neuzeit, das Verhältnis von Staat und Kirche im Zeitalter der lutherischen Orthodoxie und die sog. Krise des 17. Jahrhunderts“ hin (Pfefferkorn 2005a, 378). Aus der Perspektive der Textproduktion sucht er nach Textgestaltungsprinzipien, die sich für die Textsorten mit der erbaulichen Funktion als konstitutiv erweisen, d. h. in ihrer Kombination nicht in anderen Kommunikationsbereichen der frühen Neuzeit nachweisbar sind. Gleichzeitig sollen sie in den einzelnen Textsorten des behandelten Bereichs auf jeweils spezifische Weise ausgeprägt sein, so dass sie eine weitere Differenzierung der jeweiligen Textsorte erlauben (vgl. Pfefferkorn 2005a, 381). Folgende Textgestaltungsprinzipien erfüllen diese beiden Bedingungen und werden von Pfefferkorn für die Analyse des Textkorpus eingesetzt: Rhetorik, Polyfunktionalität und Mehrfachadressierung, Intertextualität, Meditation und Mystik (Pfefferkorn 2005a, 379). Im Hinblick auf die Textsorte Predigt ergeben sich aus Pfefferkorns Analyse die nachstehend zusammengefassten Erkenntnisse: – Im untersuchten Zeitraum wird die prototypische Grundstruktur der Predigt (die Abfolge der Textteile und der Sprachhandlungen) von einer eigenen Rhetorik geprägt: Auf das exordium (Überleitung von der biblischen Perikope zum Thema der Predigt) folgen: die propositio (Darstellung des Inhalts und der Gliederung der Predigt), die paraphrasis (Nacherzählung und Auslegung des Perikopentextes), die doctrina oder die tractatio (Ausarbeitung der zentralen Lehrpunkte), die applicatio oder der usus (Aufforderung zur Anwendung der Lehre auf die Lebenspraxis) und die conclusio oder der epilogus. In den Predigtteilen exordium, propositio, paraphrasis und doctrina überwiegen informative, in der applicatio und im Predigtschluss dagegen direktive Sprachhandlungen (vgl. Pfefferkorn 2005a, 382f.). Die prototypische Predigt gehört der niederen bis mittleren Stilschicht an, was mit ihrer rationalen Ausrichtung korreliert (vgl. Pfefferkorn 2005a, 384). – Während sich die vorgetragenen Predigten an die gesamte Gemeinde richten und der Erbauung dieser Gemeinde dienen, zeichnen sich die gedruckten Predigtsammlungen durch Mehrfachadressierung und Polyfunktionalität aus: Sie

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richten sich sowohl an die Laien als auch an die Geistlichen. Für die Geistlichen sind sie v. a. als Sammlungen von Beispiel- und Musterpredigten interessant, an die man sich in der eigenen Predigertätigkeit anlehnen bzw. aus denen man schöpfen kann. Von den Laien können die Texte sowohl als Predigten als auch als Andachten rezipiert werden, je nachdem, wie stark sie bei der Lektüre subjektiviert und verinnerlicht werden (vgl. Pfefferkorn 2005a, 385f.). Die Intertextualität ist für die Predigt von zentraler Bedeutung. Im Vordergrund steht zwar immer der Bezug zu der auszulegenden Bibelstelle, es lassen sich aber auch weitere Intertextualitätsrelationen nachweisen: zu anderen Bibelstellen, zu den Schriften der Kirchenväter, zu zeitgenössischen Bibelkommentaren und -auslegungen (vgl. Pfefferkorn 2005a, 386). Auf meditative Techniken greift die Predigt nur gelegentlich zurück (vgl. Pfefferkorn 2005a, 384). Die Anlehnung an die Sprache der Mystik bzw. an die mystisch geprägte Auslegungstradition der biblischen Perikopen konnte nur in bestimmten Predigten beobachtet werden: in den Passionspredigten, in den Predigten über das Hohelied und in den Psalter-Predigten (vgl. Pfefferkorn 2005a, 387).

Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle vermerkt, dass zur Geschichte der Textsorte Predigt nicht nur linguistische, sondern auch literaturwissenschaftlich bzw. mediävistisch ausgerichtete Beiträge vorliegen (vgl. z. B. Schiewer 2002, dort auch weitere Literaturangaben). Trotzdem beklagt auch Schiewer (2002, 286f.) für die einschlägige Literatur in seinem Forschungsbereich, dass der Texttyp Predigt gar nicht beschrieben wird, geschweige denn, dass Definitionen aus der Theologie oder Geschichtswissenschaft berücksichtigt werden.

3.2.2 Sprache der Predigt Wie bei der Erforschung der Textsorte Predigt ist das Interesse der Germanistischen Linguistik (im Gegensatz zu dem der polnischen Polonistik) an der Erforschung der Sprache der Predigt alles andere als groß. Demzufolge lassen sich im deutschsprachigen Raum bis jetzt nur wenige systematische und korpusbasierte Studien zu diesem Forschungsgegenstand nachweisen. Eine der Ausnahmen bildet die Abhandlung Sprache der Verkündigung in den Konfessionen (Funk 1991), in der sich der Autor drei Fragenkomplexen zuwendet: den Besonderheiten, der konfessionellen Prägung und den zeitlichen Veränderungen der religiösen Sprache, die er an der Verkündigungssprache der christlichen Kirchen festzumachen versucht (vgl. Funk 1991, 11f.). Zu diesem Zweck arbeitet er mit drei zeitlich definierten Korpora, die sich zu gleichen Teilen aus katholischen und evangelischen Weihnachtspredigten zusammensetzen. Zwei Teilkorpora (mit je 25 katholischen und evangelischen Texten) umfassen Predigten aus dem 20. Jahr-

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hundert (aus den Zeiträumen 1945–1960 und 1971–1983) und ein weiteres kleineres Vergleichskorpus (mit je 10 katholischen und evangelischen Texten) enthält Predigten aus dem 19. Jahrhundert. Für seine Analyse wählt Funk den wortsemantischen und den satzsemantischen Zugang, d. h. er untersucht zum einen die Frequenz der Wörter, die er zuvor „mit Hilfe von Wörterbüchern, Lexika und einschlägigen Wortregistern [...] sowie durch Befragung kompetenter Sprecher“ (Funk 1991, 60) als ‚religiös‘ festlegt, und zum anderen das Vorkommen der Prädikationen (auch der negierten Prädikationen) über Gott und der Prädikationen über das (positive und negative) Verhältnis des Menschen zu Gott. Eine vollständige Zusammenstellung der ermittelten Prädikationen (gegliedert nach Kategorien und versehen mit Angaben zur Frequenz) findet sich bei Funk (1991, 245–349). Den Ertrag seiner Untersuchung fasst Funk wie folgt zusammen: Es gibt einen anhaltenden Rückgang religiöser Sprachverwendung. Traditionell-religiöse Sprachelemente werden in religiösen Texten der Gegenwart weniger verwendet als in Texten der Vergangenheit. Dabei ist nicht zu erkennen, daß sie in vergleichbarem Umfang durch eine einheitliche „neue“ religiöse Sprache substituiert würden (Funk 1991, 226). Konfessionsspezifische Verwendungsvarianten sind nur begrenzt nachweisbar; traditionelle Varianten werden zunehmend nivelliert (Funk 1991, 227).

Während Funk (1991) einen interkonfessionellen (und teilweise auch diachronen) Vergleich anstrebt, konzentriert sich Kucharska(-Dreiß) ausschließlich auf die katholischen Predigten der Gegenwart. In mehreren kleineren Pilotstudien vergleicht sie die deutsche und die polnische Predigtpraxis, indem sie Predigten bzw. Predigtvorlagen heranzieht, die in den überregionalen deutschen und polnischen homiletischen Zeitschriften erschienen sind (v. a. in „Gottes Wort im Kirchenjahr“, „Der Prediger und Katechet“, „Współczesna Ambona“ und „Materiały Homiletyczne“). Die Analyse der Predigten im Hinblick auf die vermittelten (sprachlichen) Gottesund Menschenbilder (Kucharska-Dreiß 2003, 2005, 2008), die verwendeten kulturellen Schlüsselwörter (Kucharska-Dreiß 2011), den Gebrauch solcher grundlegenden Lexeme wie Liebe/miłość und Sünde/grzech (Kucharska-Dreiß 2007) sowie im Hinblick auf den Umgang des Predigers mit der biblischen Vorlage (Kucharska 1999) lässt die Autorin u. a. den folgenden aussagekräftigen Rückschluss auf die in beiden Ländern (d. h. in zwei lokalen Kirchen innerhalb der einen Römisch-Katholischen Kirche) als typisch aufzufassenden Verkündigungsmodelle formulieren: [In] den polnischen Predigten [wird] der Mensch als Sünder und zumindest als potenzieller Versager dargestellt [...], der zur Gewissenserforschung angehalten und ununterbrochen diszipliniert werden muss. Zwar hat er – dank der unendlichen Liebe und Barmherzigkeit Gottes die Chance, an Freude und Heil Anteil zu nehmen, doch der Weg dorthin ist steil und wird von den Predigern vielleicht noch um einiges steiler gemacht als nötig. Alles unter der Annahme: Gott ist eben anspruchsvoll. In den deutschen Predigten hat es der Mensch, möchte man fast sagen, um einiges leichter: Er wird nicht der Schwarz-Weiß-Malerei ausgesetzt, wird mit seinen Problemen vom Prediger dort abgeholt, wo er sich gerade im Leben befindet, wird mit zahlrei-

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chen Verboten und Aufforderungen nicht unter Druck gesetzt, sondern vielmehr ermuntert und an Gott zartfühlend herangeführt. An Gott, der nicht in erster Linie Forderungen stellt, sondern uns Menschen mit seinem unerschöpflichen Leben beschenkt. Darüber hinaus wird deutlich, dass der polnische Prediger (vom Typ her eher Lehrer bzw. Erzieher) stark zu kritischen, moralisierenden, unterweisenden Aussagen neigt. Er spricht sehr oft theologisch-abstrakt, in Zitaten, die er sehr gerne anstelle von Argumenten gebraucht, ohne auf sie näher einzugehen. Der deutsche Prediger (vom Typ her eher Zeuge und Mitbekenner) äußert sich insgesamt vorsichtiger, fröhlicher, mit einer erkennbaren Realitätsnähe (Kucharska-Dreiß 2008, 69f., vgl. auch bereits Kucharska 1999, 239).

Der obige Hinweis auf das Vorkommen von Verboten, Aufforderungen, Ermunterungen und weiteren Sprechakten in der Predigt macht einmal mehr deutlich (vgl. 3.1.2, „Predigt als Rede“), dass neben der Wort- und Satzsemantik u. a. auch die Pragmatik einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Sprache der Predigt leistet bzw. leisten kann. Es ist bemerkenswert, dass die ersten Versuche, die Sprechakttheorie für die Homiletik (im deutschsprachigen Raum) fruchtbar zu machen, bereits aus den 70er Jahren stammen und nicht von den Linguisten, sondern von den Praktischen Theologen unternommen worden sind. Grundlegende und systematisierende Überlegungen zur Pragmatik des Predigens kommen von Henning Luther (1983), der in der Predigt sowohl ein eigener Sprechakt als auch einen Komplex von Sprechakten sieht. Ein eigener Sprechakt ist die Predigt dann, wenn sie als Verkündigung des Wortes Gottes und somit als ein proklamativer Akt aufgefasst wird: Im Vollzug der Predigt wird etwas (Evangelium, Wort Gottes) oder ein anderer (Gott, Jesus Christus) angekündigt [Herv. i. Orig.]. Der Akt der Proklamation unterscheidet sich von Sprachhandlungen wie Lehren, Unterweisen, Diskutieren, Trösten, Ermahnen, Auffordern etc. Es geht um die Eröffnung einer Entscheidungssituation, in der der Hörer durch die Ankündigung zur je subjektiven existenziellen Entscheidung herausgefordert werden soll (Luther 1983, 228).

Ein Komplex von Sprechakten ist die Predigt insofern, als sie jedes Mal durch „eine [neue] Kombination verschiedener Einzelsprechakte wie Trost-Zusprechen, Ratschlagen, Auffordern usw.“ realisiert wird (Luther 1983, 228). Ein plausibles Beispiel für die praktische Umsetzung der Sprechakttheorie für die Untersuchung der Predigt und der Kommunikation zwischen Predigern und Hörern findet sich bei Daiber u. a. (1980 und 1983). Beide Publikationen sind aus einer homiletisch-pastoralsoziologischen Feldstudie hervorgegangen, die 1974 in Gemeinden der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers gestartet wurde. Die in den Predigten realisierten Sprechakte dienen dem Autorenteam zum einen dazu, den „persönlich-dialogischen“ und den „dogmatisch-bezeugenden“ Predigttyp genauer zu charakterisieren sowie die Unterschiede zwischen den beiden einmal mehr herauszustellen: So bewegen sich die Predigten des Typs I [persönlich-dialogisch] übereinstimmend stark im Bereich der Repräsentativa. Konstativa, Kommunikativa und Regulativa treten in den einzelnen Predigten unterschiedlich stark hervor. Im Predigttyp II [dogmatisch-bezeugend] ist eine

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einheitliche Dominanz der Konstativa festzustellen. Daneben treten in einzelnen Predigten verstärkt Kommunikativa und Regulativa auf, während die Repräsentativa sehr zurücktreten (Daiber u. a. 1980, 123; vgl. auch Daiber u. a. 1983, 246–270).

Zum anderen macht es die Verwendung der Sprechakttheorie möglich, konkrete Zusammenhänge aufzuzeigen, die zwischen dem Bildungsniveau der Hörer, ihrer Bindung an die Kirche und ihrer Zustimmung zu wahrgenommenen perlokutiven Sprechhandlungen bestehen. Hierzu einige Ergebnisse aus dem auswertenden Teil der Studie: Insgesamt läßt sich sagen, daß Hörer mit niedrigeren Bildungsabschlüssen eher wahrgenommenen Sprechhandlungen des Dankens und des Rates zustimmen. Im Unterschied zu Hörern mit höheren Bildungsabschlüssen sind sie dagegen kritischer gegenüber Behauptungen, Aufforderungen, Zweifeln und Warnungen. [...] Die „sehr“ mit der Kirche Verbundenen stimmen den perzipierten Sprechhandlungen eher in dogmatisch-bezeugenden Predigten zu, die „weniger“ mit der Kirche Verbundenen eher in persönlich-dialogischen und die mit der Kirche Unverbundenen wiederum wie die „sehr“ Verbundenen eher in Predigten des dogmatisch-bezeugenden Typs. Die „sehr“ Verbundenen sind gegenüber Sprechhandlungen der Behauptung besonders kritisch eingestellt. Das trifft auch für die Hörer mit niedrigen Bildungsabschlüssen zu. Die mit der Kirche „unverbundenen“ Hörer können geäußerte Zweifel generell weniger verstehen. Insgesamt werden Aufforderungen und Sprechhandlungen des Ratens von den Hörern am häufigsten aus den Predigten herausgehört (Daiber u. a. 1983, 333f.).

3.3 Predigt psychologisch In der psychologischen Sicht auf die Predigt rücken der Prediger und der Hörer als Persönlichkeiten in den Vordergrund. Einen Überblick darüber, inwiefern sich mit den Erkenntnissen der Gedächtnispsychologie, der Einstellungsforschung und der Tiefenpsychologie die Wirkung einer Predigt bestimmen lässt, bietet von Kriegstein (1979), indem er diese Erkenntnisse den Beispielen „aus einer heilen homiletischen Welt“ (Kriegstein 1979, 11) gegenüberstellt. Unter anderem macht von Kriegstein darauf aufmerksam, dass beim Hörer Wahrnehmungs- und Erinnerungsverzerrungen auftreten sowie Abwehrkräfte aktiviert werden, welche den Hörer die Intention der Predigt verändert aufnehmen lassen. Der Hörer tendiert nämlich dazu, bestehende Bedürfnisspannungen zu reduzieren und eventuell drohende Bedürfnisspannungen zu vermeiden (gedächtnispsychologischer Aspekt) (vgl. von Kriegstein 1979, 39–41). Des Weiteren kann die Predigt nur unter bestimmten Voraussetzungen Einstellungen des Hörers ändern. Jeder Hörer verfügt beispielsweise über ein individuelles Bezugssystem und orientiert sich an einer Vielzahl von Bezugsgruppen. Daher selegiert er die vom Prediger kommunizierten Inhalte, um seine Grundüberzeugungen bestätigt zu bekommen und die Konformität mit den für die Bezugsgruppe gelten-

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den Einstellungen nicht zu gefährden. Grundsätzlich strebt der Hörer ein seelisches und kognitives Gleichgewicht an, er blockiert deshalb Informationen, die Dissonanzen herbeiführen könnten (einstellungstheoretischer Aspekt) (vgl. von Kriegstein 1979, 42–45). Dazu kommt, dass es auch „eine verdeckte Kommunikation zwischen Prediger und Hörern gibt, die von den jeweiligen grundlegenden Persönlichkeitsstrukturen und -konflikten abhängt“ (von Kriegstein 1979, 52). Sowohl Hörer als auch Prediger lassen sich einem der Grundtypen der Persönlichkeit zuordnen: dem schizoiden, dem depressiven, dem zwanghaften oder dem hysterischen (tiefenpsychologischer Aspekt) (vgl. von Kriegstein 1979, 48f.). Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die beispielhaften Predigtanalysen aus den Kursen der Klinischen Seelsorgeausbildung, die in Piper (1976) veröffentlicht worden sind und gerade die Persönlichkeitsstruktur des Predigers als Schwerpunkt haben. Sie umfassen jeweils den (niedergeschriebenen) Text der Predigt, in der Regel eine Stellungnahme des Predigers, anschließend das Feedback der Hörer und einen Kommentar, der auf dem Predigtnachgespräch zwischen den Hörern und dem Prediger basiert. Der Prediger hält in seiner Stellungnahme fest, was für eine Botschaft und welche Befindlichkeiten er vermitteln wollte und wie er sich selbst während der Predigt erlebt hat. Die Hörer beantworten ihrerseits die Fragen danach, was für eine Botschaft der Prediger ihnen übermittelt hat und wie sie die Predigt und den Prediger erlebt haben. Jede Analyse wird unter eine Überschrift gestellt, die das psychische Muster des festgestellten homiletischen Fehlverhaltens deutlich erkennen lässt: Der geängstigte Prediger, Der hoffnungslose Prediger, Der dankbare Prediger, Der fordernde Prediger, Der sprachlose Prediger, Der gehorsame Prediger, Der enttäuschte Prediger, Der ausladende Prediger, Der „fertige“ Prediger, Der überlastete Prediger, Der distanzierte Prediger, Der rhetorische Prediger, Der deprimierte Prediger, Der zudeckende Prediger, Der optimistische Prediger und Der mißtrauische Prediger. Beispielsweise wird die Kommunikation zwischen Prediger und Hörer maßgeblich gestört, wenn der Prediger eine so starke Angst vorm Scheitern verspürt, dass er diese auf die Hörer überträgt, obwohl er ihnen eigentlich Zuversicht vermitteln wollte; der (geängstigte) Prediger versucht nicht, seine Angst zu verarbeiten, sondern er verdrängt und verurteilt sie, indem er Glauben als das Gegenteil von Angst darstellt (vgl. Piper 1976, 20–28). Der dankbare Prediger kann wiederum nicht spontan dankbar sein, so dass er das Danken als eine Art Übung begreift und diese sich selbst und seinen Hörern als Mittel zur Krisen- bzw. Angstbewältigung auferlegt. Diese Forderung, dankbar zu sein bzw. sich in Dankbarkeit zu üben, nehmen die Hörer dem Prediger aber nicht ab; manche wehren so stark ab, dass sie nicht einmal eine Botschaft der Predigt formulieren können (vgl. Piper 1976, 36–40). Auch der ausladende Prediger bewirkt bei seinen Hörern das Gegenteil von dem, was er bewirken wollte. Übermitteln wollte der Prediger Gottes Einladung zum

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Leben in Freude, das „hier“ entdeckt werden kann. Da er aber selber große Schwierigkeiten damit hat, Einladungen anzunehmen und auszusprechen sowie Feste mitzufeiern, lädt er seine Gemeinde vielmehr aus als ein. Die Einladung, die Gott ohne jede Bedingung an alle richtet, knüpft der Prediger an Bedingungen, die seinen Hörern in Wirklichkeit den Zutritt zum Fest verwehren (vgl. Piper 1976, 65–73). Die von Piper durchgeführten Predigtanalysen zeigen auf, dass ein „Problem der Predigt [...] in der Regel auf ein Problem in dem Prediger hin[weist]“ (Piper 1976, 17), so dass die Krise der Predigt durchaus als die Krise des (isolierten) Predigers aufgefasst werden kann (vgl. Piper 1976, 9, 13). Von Kriegstein stimmt Piper vollkommen zu, wenn dieser das Predigen als einen Lernprozess auffasst, bei dem der Prediger vom Hörer aktiv (d. h. in einem Predigtnachgespräch) begleitet werden muss (vgl. von Kriegstein 1979, 63f.): Der Prediger ist auf das Echo, auf die Reaktion, auf das Feedback des Hörers angewiesen. Sonst verstummt sein Predigen in der Abgeschlossenheit seiner Isolation – und gebrauche er noch so viele Worte, mit denen er seine Einsamkeit übertönen möchte! (Piper 1976, 136).

Aus dieser Überlegung und aus der Notwendigkeit heraus, mit der Gemeinde zu lernen, entwickelt von Kriegstein das Konzept der Gesprächsgottesdienste, das er auch im kleineren Rahmen (alternativ zum traditionellen Gottesdienst) praktiziert; für Näheres dazu siehe von Kriegstein 1979, 65–124.

3.4 Predigt kommunikationswissenschaftlich In den Versuchen, sich der Predigt als Kommunikationseinheit bzw. als Kommunikationsprozess zu nähern, laufen viele Ansätze anderer Disziplinen zusammen, die sich dann – je nachdem, wie komplex der jeweilige kommunikationswissenschaftliche Zugang ist – unterschiedlich stark verdichten. Hierzu einige Beispiele. Das homiletische (im aristotelischen begründete) Dreieck ist eine sehr übersichtliche Darstellung der für die Predigt als religiöse Überzeugungsrede konstitutiven Elemente (Prediger, Text/Thema und Hörer). Diese sind nach Auffassung von Thiele (2008, 59) alle gleichberechtigt, weswegen in der Graphik ein gleichschenkliges Dreieck zu sehen ist. Um die Gleichberechtigung von Prediger, Text/Thema und Hörer zusätzlich zu betonen, folgt Thiele nicht der homiletischen Konvention und setzt den (biblischen) Text nicht an die obere Spitze des Dreiecks.

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Abb. 1: Das homiletische Rededreieck (aus Thiele 2008, 59; nachgezeichnet E. K.-D.).

Engemann, der die Predigt als Spezialfall der Semiose und die Homiletik als Spezialfall der Semiotik versteht (1993, 40), zeichnet detailliert den Weg von der Quelle (dem Bezugstext) zu der Botschaft (dem Manuskript der Predigt) und von der Botschaft (der gehaltenen Predigt) zum Auredit (dem vom Empfänger als „SimultanInterpretation“ Vernommenen) nach. Dabei stellt er die Rolle der Codes und der Interpretionssysteme beim Codieren und Decodieren der Botschaft heraus (vgl. Engemann 1993, 64–92).

Abb. 2: Die Elemente im menschlichen Signifikations- und Kommunikationsprozess in ihrem homiletischen Bezug (aus Engemann 1993, 93; nachgezeichnet E. K.-D.).

Grzegorski (1999, 134–138, unter Berufung auf Howe 1967) exponiert dagegen – ganz im Sinne der kontextuellen Theologie – die prägenden soziokulturellen Le-

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bensräume des Predigers und des Hörers (auch die Spannung zwischen Tradition und Moderne, der Prediger und Hörer ausgesetzt sind) sowie den liturgischen Kontext, in dem gepredigt wird. In diesem Sinne ist die Predigt eine Begegnung, die verschiedene mitgebrachte Erfahrungen, Lebenseinstellungen und -haltungen der Beteiligten mit einschließt und so die Verkündigung des Wortes Gottes (durch den Prediger in der gottesdienstlichen Versammlung, aber dann auch durch die Hörer in ihren Milieus) erst möglich macht.

Abb. 3: Verkündigung als Begegnung von Lebenshaltungen im liturgischen Kontext nach Reuel L. Howe; zusammengestellt nach Grzegorski (1999, 135, 137f.); übers., modifiziert und nachgezeichnet von E. K.-D. (in dieser Form auch schon in Kucharska-Dreiß 2014, 41).

Nicht zuletzt wurde die Predigt auch aus kommunikationspsychologischer Sicht beschrieben, und zwar nach dem Modell von Schulz von Thun, das als Kommunikationsquadrat, mittlerweile auch als Nachrichtenquadrat und Vier-Ohren-Modell (Q3) bekannt wurde. Demnach ist die Predigt eine Äußerung, die – wie jede andere Äußerung auch – vier „Botschaften“ enthält: eine Sachinformation (hier: Daten, Fakten, Sachverhalte, über die der Prediger spricht), eine Selbstkundgabe (was der Prediger von sich zu erkennen gibt: seine Gefühle, Eigenarten, Bedürfnisse etc.), einen Beziehungshinweis (darauf, was der Prediger von dem Hörer hält und wie er zu ihm steht) und einen Apell (was der Prediger bei den Hörern erreichen möchte). „Die Äußerung entstammt dabei den ‚vier Schnäbeln‘ des Senders und trifft auf die ‚vier Ohren‘ des Empfängers“ (Q3). Welche Implikationen und Konsequenzen dieses

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für die homiletische Praxis hat, führen Schulz von Thun (1989) und Chaim (1994) aus.

Abb. 4: Das Kommunikationsquadrat nach Schulz von Thun (Q3); vereinfacht nachgezeichnet von E. K.-D.

4 Neuere Ansätze zur Predigttheorie, -praxis und -forschung Wie bereits gezeigt, ist der Grundstein für die Interdisziplinarität in der Predigttheorie, -praxis und -forschung bereits mit den früheren Arbeiten (hauptsächlich in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts) gelegt worden. Kennzeichnend für viele neuere Ansätze ist jedoch, dass sie gleichzeitig auf Methoden und/oder Erkenntnisse mehrerer (Sub-)Disziplinen zurückgreifen oder das Potenzial haben, dies in absehbarer Zeit stärker zu tun. Dies soll anschließend an zwei Beispielen veranschaulicht werden. Das erste Beispiel ist die Programmschrift zur dramaturgischen Homiletik von Nicol (2013), die bereits 2002 in der ersten Auflage erschienen ist. Nicol lässt sich von der nordamerikanischen „New Homiletic“ begeistern, deren wichtigste Impulse vom schwarzamerikanischen Predigen (African American Preaching) ausgehen: Das ritualisierte Zusammenspiel von Prediger und Gemeinde, die Mündlichkeit solcher Predigt, ihre Ereignishaftigkeit, ihre spezifische Musikalität im Kontext der gottesdienstlichen Feier [...], der lebensnahe Gebrauch der Bibel – mit alledem ist mitten in den europäischen Mustern der „weißen“ Predigtkultur eine Predigtweise mit ganz anderen Ursprüngen präsent. Inspiriert durch African American Preaching zeigte New Homiletic schon sehr bald Merkmale einer interkulturellen Homiletik (Nicol 2013, 24).

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Das erneuerte – induktive – Predigen, in dem es darum geht, die „Erfahrungen des Glaubens zu teilen“, versteht sich als eine Alternative zu dem deduktiven (diskursiven) Predigen, das darauf ausgerichtet ist, die „Wahrheit des Glaubens zu erklären“ (Nicol 2013, 25): Nicht mehr darum geht es, den Hörenden eine Wahrheit mitzuteilen, sondern sie in eine Bewegung hineinzunehmen, in der sie selbst Erfahrungen machen und Einsichten gewinnen können. Paradigma der Predigt ist nicht länger die akademische Vorlesung mit Thesen und Argumenten, sondern der Film mit seinen bewegten Bildern (Nicol 2013, 25).

Daher sucht die dramaturgische Homiletik die Nähe der aufführenden Künste und sie arbeitet mit solchen Begrifflichkeiten wie „Scenario“, „Moves & Structure“ oder „Performance“. Indem sie auf das dramaturgische Potenzial der Bibel hinweist (das es zu erkunden und zu erschließen gilt) und in jeder Predigt eine neue „Aufführung“ sehen möchte, setzt sich die erneuerte Homiletik vehement für die schon länger postulierte Einheit von Form und Inhalt der Predigt (die einander bedingen) ein; zur praktischen Umsetzung des Konzepts vgl. Nicol/Deeg (2013). Allerdings findet Roth (2010), „dass sich das von Martin Nicol empfohlene Paradigma der Filmkunst für das Verständnis der Predigt gerade nicht eignet“. Ihr Argument lautet: „Gerade der Film ist schließlich ein von der Live-Situation unabhängiges Medium. Filme werden vorgeführt, nicht aufgeführt“. Und die Predigt „ist ein Live-Ereignis, das die leibliche Ko-Präsenz aller – Predigerin wie Predigthörer – voraussetzt und das allererst im synchronen Zusammenspiel von Redenden und Hörenden entsteht“ (Roth 2010, 107). Neben der energetischen und der intentionalen Homiletik, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann (für einen ersten Überblick dazu vgl. Fechtner 2010), gehört die dramaturgische Homiletik zu diesen Ansätzen, die für den performative turn der modernen Homiletik stehen und eine (jeweils unterschiedlich starke) Affinität zu Rhetorik, Sprachpragmatik, Produktions- und Rezeptionsästhetik, Film- und Theaterwissenschaften etc. aufweisen. Die Predigt, die nun „inszeniert“ und „aufgeführt“ wird, wird zu einem Ereignis bzw. Geschehen. Der performative turn ist jedoch nicht als ein eindeutiger Bruch mit den bisherigen homiletischen Ansätzen aufzufassen, sondern vielmehr als deren (kritisch reflektierte) Wiederaufnahme und profilierte Fortführung, auch wenn diese ihren Anfang oft in einer Gegenüberstellung haben. Das zweite Beispiel ist keine programmatische Schrift sondern eine predigtanalytische Studie, in die linguistische, entwicklungs- und religionspsychologische sowie theologische Erkenntnisse einfließen: Der gepredigte Gott, linguistisch gesehen. Gottesbilder im Vergleich von Kucharska-Dreiß (2014). Vor dem Hintergrund der Theorie der zyklisch auftauchenden Existenzebenen (Emergent Cyclical Levels of Existence Theory, ECLET) von Clare W. Graves (weiterentwickelt durch Don Edward Beck und Christopher C. Cowan einerseits sowie durch Marion Küstenmacher, Tilmann Haberer und Werner Tiki Küstenmacher andererseits) wirft die Autorin einen

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neuen Blick auf die Predigt, die sie u. a. aus dem folgenden Grund als ein kommunikatives Ereignis bezeichnet: In der Predigt werden die biblischen (sprachlichen) Gottesbilder aufgegriffen, entfaltet, ausgelegt, auf ihre Aktualität geprüft, dem zeitgenössischen Hörer erlebbar gemacht, in Beziehung zu anderen Gottesbildern (aber auch generell zu Menschen- und Weltbildern) gesetzt und fortgeschrieben; mitunter werden auch neue Gottesbilder erfunden (Kucharska-Dreiß 2014, 82).

Auch wenn es in der Predigt nicht nur um Gottesbilder geht, räumt die Autorin ein, so sind sie doch von enormer Bedeutung, weil sie „das Verhältnis eines Menschen zum Sacrum und zur Religion, zu anderen Menschen, zur Umwelt und nicht zuletzt zu sich selbst maßgeblich prägen“ (Kucharska-Dreiß 2014, 15). Das herangezogene psychologische Modell (ECLET) unterscheidet neun Ebenen (Entwicklungsstufen des menschlichen Bewusstseins), von denen sich bis heute sieben vollständig herausgebildet haben. Von Stufe zu Stufe ändern sich nach bestimmten Mustern nicht nur die Formen des menschlichen Zusammenlebens oder die dominanten Werte etc., sondern auch die Vorstellungen, die Menschen über Gott haben: von den mythischen (Stufen 1–4) bis zu den mystischen (Stufe 7). Jeder dieser sieben (komplexen) Gottesvorstellungen wird in der Studie ein eigenes Kapitel gewidmet, dessen Kern die Analyse eines Predigttextes mit dem betreffenden (sprachlichen) Gottesbild und der ihn entfaltenden Predigt bildet. Um die einzelnen Gottesbilder in den Predigttexten und Predigten zu identifizieren nutzt Kucharska-Dreiß – wenn auch nicht systematisch, sondern nach der zu erwartenden Effizienz – verschiedene linguistische Zugänge: die Semantik der Wörter, Phrasen und Sätze, die Theorie der semantischen Felder, die frame- und scriptTheorie, die Metaphernforschung und die Sprechakttheorie. Freilich interessiert die Autorin nicht nur das bloße Vorkommen der einzelnen Gottesbilder, sondern auch die Häufigkeit, mit der sie auftreten, und die Intensität, mit der sie einander ablösen, um später vielleicht erneut aufgenommen zu werden. Bereits die wenigen Beispielanalysen zeigen, dass die Prediger mit den durch die biblische Perikope gewissermaßen vorgegebenen Gottesbildern unterschiedlich umgehen: Die Predigt kann sich auf der gleichen Stufe bewegen wie der Predigttext, sie kann – der Perikope entsprechend – wie ein Gespräch zweier Bewusstseinsstufen angelegt sein, sie kann aber auch zu einem fulminanten (und anspruchsvollen) Feuerwerk verschiedener Gottesbilder werden, die auf eine natürliche Art einander ergänzen. Deutlich wird aber auch, dass die verwendeten Gottesbilder dem Hörer den Zugang zum Text erleichtern, erschweren oder aber auch vollkommen versperren können, je nachdem, wie stark sie mit seiner (spirituellen) Entwicklung korrespondieren und wie sehr sie diese fördern. Die beiden Ansätze – Nicol (2013) und Kucharska-Dreiß (2014) – sind zugegebenermaßen sehr unterschiedlich, doch sie stellen jeweils ein umfangreiches, interdisziplinäres Konzept bzw. Modell in den Dienst der Predigtarbeit. Zudem eröffnen sie Forschungsperspektiven und verdienen daher diskutiert, weiterentwickelt, ggf.

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theoretisch noch mehr fundiert und auf jeden Fall praktisch ausprobiert und empirisch überprüft zu werden.

5 Predigt als Kommunikationsgeschehen – Ausblick & Desiderata Voranstellen möchte ich dem abschließenden Teil des vorliegenden Beitrags zwei Aussagen, von denen die erste von einem evangelischen und die zweiten von einem katholischen Theologen stammt: Predigt ist ein fragiles, je nach Annäherungsrichtung ganz anders beleuchtetes [...], von (religions-)kulturellen Bedingungen präfiguriertes [...], in einem sozial komplexen, gottesdienstlich-ritualisierten Setting verortetes [...] Geschehen (Meyer 2014, 362). Jede Predigt ist ein Ereignis. Ereignisse geschehen nicht nur einfach. Sie gehen vielmehr aus Ursachen hervor, sind an bestimmte Raum-Zeit-Punkte gebunden, gehorchen wesensimmanenten Strukturgesetzen, erzeugen bestimmte Konsequenzen. Im Fall von Ereignissen, die – wie die Predigt – Handlungen sind, ist überdies deren Subjekt zu bedenken. Jeder dieser Faktoren nimmt Einfluß auf Entstehung, Inhalt, Form und Vorgang der Predigt. Dabei treten diese Vorgaben auf mehreren Ebenen zugleich auf: der Mikroebene des konkreten Zeitpunktes, da eine Predigt erarbeitet oder gehalten wird, der Makroebene unserer durchschnittlichen Lebenswelt, in der wir uns bewegen, und der Makroebene der Epoche, in die wir hineingestellt sind (Müller 1994, 26).

Ohne jetzt entscheiden zu wollen, ob Predigt ein (Kommunikations-)Geschehen oder ein (Kommunikations-)Ereignis ist, möchte ich auf den interkonfessionellen Konsens hinweisen, in der Predigt ein komplexes und vielseitig zu reflektierendes Phänomen zu sehen. Davon, dass die (deutschsprachige) Homiletik das nicht nur postuliert, sondern auch praktiziert, zeugen die in vorausgegangenen Abschnitten vorgestellten Arbeiten, von denen sich die meisten an der Schnittstelle von Homiletik und Rhetorik, Homiletik und Sprachwissenschaft, Homiletik und Psychologie, Homiletik und Kommunikationswissenschaft etc. bewegen. Auffallend ist dabei, dass die Impulse, neue, disziplinfremde Methoden und Erkenntnisse auf die Predigt anzuwenden, in der Regel von der Homiletik und nicht von den anderen Disziplinen ausgehen. Das ist insofern (selbst-)verständlich, als das Interesse der Homiletik an der Predigt als Verkündigungseinheit (an ihrem Inhalt, ihrer Gestalt, ihrer Wirkung etc.) schon, sozusagen von Natur aus, ein essentielles ist. Das bedeutet aber nicht, dass die religiöse Kommunikation im Allgemeinen und die hier behandelte Predigt im Besonderen nicht – parallel – zum Forschungsgegenstand anderer Disziplinen (mit der ihnen jeweils eigenen Schwerpunktsetzung) werden können oder sollen. Genauso wenig bedeutet das, dass die Impulse für gemeinsame Forschungsprojekte nicht von anderen Disziplinen an die Theologie bzw.

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Homiletik gerichtet werden können. Zum Beispiel fasst Pfefferkorn (2005a) seine Vorgehensweise bei der Untersuchung der Textsorten der protestantischen Erbauungsliteratur (Predigt und Andacht) wie folgt zusammen: Den methodischen Ausgangs- und Bezugspunkt der Analysen bildete eine pragmatisch ausgerichtete historische Textlinguistik. Darüber hinaus wurden die Texte aus unterschiedlichen Perspektiven und mit einem entsprechenden Methodenpluralismus untersucht, um ihre historische Spezifik, ihren ‚Sitz im Leben‘ zu erfassen: so aus literaturgeschichtlicher, kirchengeschichtlicher, sozialgeschichtlicher, gelegentlich aus volkskundlicher Sicht. Diese interdisziplinäre Vorgehensweise trägt der Einsicht Rechnung, dass sich die Spezifik einer als ‚Erbauungsliteratur‘ ausgegrenzter Textgruppe weniger sprachsystematisch als vielmehr über die spezifische Kommunikationssituation bestimmen lässt (Pfefferkorn 2005a, 377).

Eine solche Vorgehensweise setzt aber voraus, dass in der Linguistik Ansätze anderer Disziplinen rezipiert werden; zugeschnitten auf den Forschungsgegenstand Predigt würde das u. a. bedeuten, dass in der Linguistik zumindest ein elementarer Transfer des theologischen Wissens, darunter die Rezeption der homiletischen Ansätze, stattfinden müsste. Zum Letzteren bietet der vorliegende Beitrag einen ersten Einstieg. Umgekehrt haben es die Theologie – und als ihre Subdisziplin die Homiletik – schon längst erkannt, dass für sie die Reflexion über die Sprache nicht nur eminent wichtig, sondern schlicht unverzichtbar ist. Eines der markanten Beispiele dafür ist Die Sprache des Menschen. Ein Handbuch. Grundwissen für Theologinnen und Theologen (Grözinger 1991). Darin informiert der Autor seine Zielgruppe über die wichtigsten Bereiche der Sprachphilosophie, der Linguistik und der Rhetorik. Wäre es nicht an der Zeit, dass die (Germanistische) Linguistik erkennt, dass die religiöse Kommunikation ein relevanter Bereich der menschlichen Kommunikation ist und für die Erforschung der religiösen Sprache (darunter der Predigt), die Reflexion über die Religion und Theologie (im Falle der Predigt insbesondere über die Homiletik) von Vorteil wäre? Es ist selbstverständlich möglich, die Texte der religiösen Kommunikation nur mit linguistischem Instrumentarium zu untersuchen, aber man kommt viel weiter, wenn man diese Texte nicht isoliert, sondern in ihrem natürlichen kommunikativen Kontext betrachtet (im Falle der Predigt wäre das eben der Gottesdienst mit seinen religionswissenschaftlichen und theologischen Charakteristika). Und man kommt sehr viel weiter, wenn man z. B. die aus einer korpuslinguistischen Untersuchung gewonnenen Belege nicht nur unter linguistischen, sondern auch unter theologischen (im Falle der Predigt insbesondere homiletischen) Gesichtspunkten auswerten kann. Wäre somit die Zeit nicht für ein Pendant zu Grözinger (1991) reif, und zwar für ein theologisches Kompendium für (Theo-) Linguistinnen und (Theo-)Linguisten? Der angemahnte Wissenstransfer würde es der (Germanistischen) Linguistik sicherlich erleichtern, sich im skizzierten interdisziplinären Gefüge besser zu verorten und ihren Beitrag zur Erforschung der religiösen Kommunikation neu zu bestimmen.

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Vor der (Theo-)Linguistik sehe ich heute und auch für die nächste Zukunft drei große Betätigungsfelder: – repräsentative Korpora aufzubauen bzw. bei deren Aufbau mitzuwirken; für die Erforschung der Predigt als komplexes Phänomen wären dabei nicht nur Textkorpora notwendig, sondern auch Video-Aufnahmen von Gottesdiensten, in welchen gepredigt wird: die Kommunikation im Gottesdienst wird bekanntlich sowohl von den einzelnen Bestandteilen der Liturgie als auch durch die Ausstattung des Kirchenraumes mit beeinflusst, – Akte der religiösen Kommunikation (diachron, synchron, vergleichend) zu untersuchen, und zwar mit dem Bewusstsein, dass es u. U. nicht immer (nur) darum gehen muss, mit linguistischem Instrumentarium der rein linguistischen Erkenntnis wegen zu beschreiben, zu analysieren etc., sondern auch darum, dieses Instrumentarium in den Dienst anderer Disziplinen zu stellen und somit auch anders (z. B. im Falle der Predigt homiletisch) gewichtete Erkenntnisse zu ermöglichen, – stärker interdisziplinäre Projekte anzuregen und sich stärker in interdisziplinäre Projekte einzubringen, d. h. eine immer noch zu vernehmende Distanz dem Forschungsgegenstand religiöse Kommunikation gegenüber abzulegen und sich so von offensichtlichen Berührungsängsten zu befreien, die z. B. in der linguistischen Erforschung der politischen Diskurse gar nicht erst aufgekommen sind. Sollte ich nun einige Forschungsbereiche genauer umreißen, so würden – bezogen auf die Predigt – folgende Vorhaben ganz oben auf meiner Prioritätenliste stehen: – systematische (nicht nur punktuelle) und vielschichtige Untersuchungen der katholischen und der evangelischen Predigten, so dass zum einen die Geschichte der Textsorte entsteht, aber – zum anderen – auch mehrere Vergleiche gezogen werden können, z. B. ein interkonfessioneller Vergleich, der viel weiter als Funk (1991) gehen würde, ein Vergleich zwischen verschiedenen Predigerschulen und Predigttypen, ein Vergleich der von Männern und der von Frauen gehaltenen Predigten, – Fortführung der in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts initiierten empirischen Studien, wie derer von Daiber u. a. (1980 und 1983) und von Piper (1976), die jetzt – natürlich ergänzt um weitere Fragestellungen und unter Einsatz neuer Methoden – einmal mehr speziell die Predigtproduktion und -rezeption unter die Lupe nehmen würden – wie z. B. Schwier/Gall (2008) oder wie in Kucharska-Dreiß (2014, 226) angeregt. Diese Liste ließe sich selbstverständlich schnell erweitern und viel detaillierter gestalten. Es irrt also, wer meint, was eine Predigt ist – und vor allem: wie sie ist bzw. wie sie sein soll –, wäre nur allzu klar (vgl. Zerfaß 1992, 14). Und: Eigentlich ist jeder Kommunikationsakt ein Ereignis bzw. ein Geschehen und verdient es, holistisch betrachtet und untersucht zu werden. Insofern könnte man künftig die bei der Er-

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forschung der Predigt gewonnenen Erfahrungen auch auf die Untersuchung anderer Kommunikationseinheiten anwenden, unabhängig davon, ob sie dem religiösen oder dem säkularen Diskurs angehören.

6 Literatur 6.1 Internetquellen SC (Q1): Konstitution über die heilige Liturgie „Sacrosanctum concilium“. Online verfügbar unter: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vatii_const_19631204_sacrosanctum-concilium_ge.html. Stand: 20.12.2015. Lineamenta (Q2): Bischofssynode, XII. Ordentliche Generalversammlung. Das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche. Lineamenta. Vatikan 2007. Online verfügbar unter: http://www.vatican.va/roman_curia/synod/documents/rc_synod_doc_20070427_lineamenta -xii-assembly_ge.html. Stand: 22.03.2016. Q3: Das Kommunikationsquadrat. Online verfügbar unter: http://www.schulz-von-thun.de/ index.php?article_id=71&clang=0. Stand: 08.08.2017.

6.2 Forschung Albrecht, Erwin (2006): Predigt, protestantisch. In: Garhammer/Roth/Schöttler, 16–18. Brinker, Klaus (2010): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 7., durchges. Aufl. Berlin (Grundlagen der Germanistik, 29). Chaim, Władysław (1994): Kazanie jako komunikat. In: Wiesław Przyczyna (Hg.): Fenomen kazania. Kraków (Redemptoris Missio, VI), 98–135. Daiber, Karl-Fritz u. a. (1980): Predigen & Hören. Ergebnisse einer Gottesdienstbefragung. Bd. 1: Predigten. Analysen und Grundauswertung. München. Daiber, Karl-Fritz u. a. (1983): Predigen & Hören. Ergebnisse einer Gottesdienstbefragung. Bd. 2: Kommunikation zwischen Predigern und Hörern. Sozialwissenschaftliche Untersuchungen. München. Engemann, Wilfried (1993): Semiotische Homiletik. Prämissen – Analysen – Konsequenzen. Tübingen/Basel. Engemann, Wilfried (2011): Einführung in die Homiletik. 2., vollst. überarb. und erw. Aufl. Tübingen. Fechtner, Kristian (2010): Performative Homiletik in rhetorischer Perspektive. Eine Ortsbestimmung der zeitgenössischen Predigttheorie. In: Meyer-Blanck/Seip/Spielberg, 87–100. Friemel, Franz Georg (Hg.) (1991): Von Gott sprechen. Aufsätze und Texte zur Gottesfrage. Leipzig (Pastoral-katechetische Hefte, 54). Funk, Tobias (1991): Sprache der Verkündigung in den Konfessionen. Tendenzen religiöser Sprache und konfessionsspezifische Varianten in deutschsprachigen Predigten der Gegenwart. Frankfurt a. M. u. a. (Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, 1245). Garhammer, Erich/Ursula Roth/Heinz-Günther Schöttler (Hg.) (2006): Kontrapunkte. Katholische und Protestantische Predigtkultur. München (Ökumenische Studien zur Predigt, 5). Grözinger, Albrecht (1991): Die Sprache des Menschen. Ein Handbuch. Grundwissen für Theologinnen und Theologen. München.

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Nina-Maria Klug

17. Bibelillustration als intermodale Form christlicher Exegese und Verkündigung Abstract: Dieser Beitrag betrachtet Formen intermodaler, d. h. über das einzelne Zeichensystem hinausreichender Bezugnahme auf vorgängige Texte anderer Modalität im Rahmen christlicher Religion. Obgleich es sich beim Christentum – wie auch bei Judentum und Islam – um eine Schriftreligion handelt, die sich stets mit dem Verbot der Gottesdarstellung auseinanderzusetzen hat, ist die Visualisierung, die Illustration schon früh zum festen Bestandteil christlichen Umgangs mit der Heiligen Schrift geworden. Formen, Funktionen und Begründungen der Bibelillustration in ihrer direkten Konfrontation mit dem biblischen Text werden in diesem Beitrag nachgezeichnet. Es wird beschrieben, wie und in welcher Weise mit dem Bild auf die Bibel Bezug genommen, sie mit seinen semiotischen Mitteln exegetisch auszulegen (Informationsfunktion, Abschnitt 4.1), kerygmatisch zu bezeugen bzw. weiterzutragen (Deklarationsfunktion, Abschnitt 4.2) und damit den Umgang mit dem biblischen Text als Wort Gottes in einer ganz bestimmten Weise zu steuern versucht wird. 1 2 3 4 5 6

Einführung Zum Konzept der christlichen Bibelillustration Chronologische Eckpunkte christlicher Bibelillustration Formen und Funktionen christlicher Bibelillustration Fazit und Ausblick Literatur

1 Einführung „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“ (Joh 1,1). Das Wort steht im Zentrum christlicher Religionspraxen. Als Offenbarung Gottes findet es in der Bibel seinen Ausdruck und im christlichen Theologumenon von der Menschwerdung des Wortes (gr. logos) in und durch Jesus Christus seinen tiefsten theologischen Grund und seine Mitte. Das Christentum ist eine Wort- bzw. Schriftreligion und dieses Wort (die Schrift/Bibel) bedarf stets der Aneignung durch den Gläubigen. Diese Aneignung geschieht nie voraussetzungslos. Der christliche Zugang zum Wort Gottes, seine Auslegung (Exegese) und Verkündigung ist immer in ganz bestimmte kulturelle Kontexte eingebunden (Conzelmann/Lindemann 2004), sein Verstehen ist nur vor dem Hintergrund kultureller, zeit- und raumgebundener Wissens- bzw. Verstehensrahmen und auf der Basis bestimmter hermeneutischer Grundannahmen derjenigen möglich, die an die Schrift herantreten; sie

DOI 10.1515/9783110296297-018

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sich anzueignen und weiterzugeben suchen. Man kann also sagen: Das Wort Gottes verlangt immer einer Übersetzung oder, um ein Konzept Ludwig Jägers (z. B. 2002) aufzugreifen, dessen Wortgebrauch weniger stark auf Translationen einer Ausgangssprache A in eine Zielsprache B festgelegt ist: einer Transkription in und für unterschiedliche Situationen, Kontexte und Kulturen (im Sinne der Gesamtheit des jeweiligen kollektiven Denkens, Fühlens, Wollens und Sollens einer Gemeinschaft, also deren Wissens und dessen materialisierten Repräsentationen). Es kann stets nur vor dem Hintergrund seiner aktualisierenden Vergegenwärtigung, einer Kontextualisierung verstanden werden und wirken (Kahl 2000; Busse 2000). Der Sprache kommt bei der exegetischen Transkription biblischer Texte, d. h. bei der Darstellung ihrer Aussagen und ihrer Absicht durch Paraphrase, Erläuterung oder Explikation, durch Übersetzung (in andere Varietäten oder Einzelsprachen) und Kommentierung (zu konkreten Formen des Kommentars Raible 1995) sowie bei der Vergegenwärtigung und Aktualisierung des Wortes Gottes, seiner Verkündigung als Wort Gottes, ohne Frage eine zentrale Rolle zu (Jäger 2002, 29, 37; Lasch/Liebert 2015, 483ff.). Da menschliche Kommunikation aber nicht ausschließlich sprachlich vollzogen wird, gesellschaftliches Wissen nicht allein in und durch Sprache entwickelt und erschlossen wird, sondern ganz usuell durch den symbiotischen Gebrauch unterschiedlicher Zeichenmodalitäten (neben Sprache z. B. durch die Verwendung der Zeichensysteme Bild und Ton, vgl. zum Begriff der Zeichenmodalität Klug/Stöckl 2015), ist auch der Einfluss anderer Zeichen- bzw. Kommunikationssysteme (v. a. des Bildes) im Rahmen von Exegese und Verkündigung höchst relevant. Jede der unterschiedlichen Zeichenmodalitäten erfüllt im Rahmen der Kommunikation, im Rahmen der Konstitution und Repräsentation von Wissen ganz bestimmte Aufgaben. Sie entsprechen i. d. R. den semiotischen Stärken und Schwächen, dem „semiotischen Potenzial“ (Sachs-Hombach 2001, 2003) bzw. „reach of mode“ (Kress 2009, 57) der einzelnen Zeichensysteme. Während sich Sprache z. B. ideal zur Darstellung zeitlicher oder abstrakter Zusammenhänge eignet, kommt dem Bild ein besonderes Potential bei der Darstellung räumlicher Beziehungen oder konkreter äußerer Charakteristika von Objekten zu. Definiert man Multimodalität in diesem Sinne als Verwendung unterschiedlicher Zeichenressourcen im Rahmen der Kommunikation, kann festgehalten werden: Kommunikation ist grundsätzlich multimodal (Kress/van Leeuwen 1998, 186). Religiöse Kommunikation stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Die multimodale Verfasstheit kommunikativer Praxen gilt selbst für eine Schriftreligion wie das Christentum, die sich einem Bilderverbot (z. B. Ex 20,1–5) gegenübersieht, das sie stets zu reflektieren und auszulegen verpflichtet ist. Vor dem Hintergrund von Verständnissen ‚erlaubter‘ neben ‚verbotenen‘ Bildern, z. B. deren Inhalte (umfasst das Darstellungsverbot Gottes auch Darstellungen Jesu und der Heiligen?) oder Funktionen betreffend (verbotene Verehrung vs. erlaubte Belehrung oder Bezeugung), lässt sich selbst der transkriptive Umgang mit einem religiösen Referenztext wie der

Bibelillustration als intermodale Form christlicher Exegese und Verkündigung | 419

Bibel als multimodal charakterisieren (vgl. Abschnitt 4). Auch sie wird ebenso intramodal durch Sprache (und damit durch Zeichen derselben Modalität) kommentiert, ausgelegt, erklärt und verkündigt, wie auch intermodal, indem „mindestens ein zweites [...] Kommunikationssystem zur Kommentierung, Erläuterung, Explikation und Übersetzung (der Semantik) eines ersten Systems“ herangezogen wird (Jäger 2002, 29, dort in anderer Terminologie). Sogar christlich-religiöses Wissen (und mit ihm das kollektive Denken, Glauben, Fühlen, Wollen und Sollen christlicher Gemeinschaft(en)) wird nicht allein durch Sprache, sondern ebenso durch Modalitäten wie das Bild geprägt und verfasst. In diesem Sinne bedient sich z. B. die Lutherbibel (z. B. die 1534er Ausgabe) sowohl dem Verfahren der intra- wie dem der intermodalen Transkription. Beide Verfahren dienen „in unterschiedlichen Hinsichten dem Lesbarmachen des jeweils thematisierten symbolischen Systems bzw. der in ihm in Frage stehenden Ausschnitte“ (Jäger 2002, 29). Das bedeutet hier konkret: Der ursprünglich hebräische bzw. griechische (in der autorisierten Vulgata-Version lateinische) Text der Bibel wird nicht nur intramodal durch die sprachliche Übersetzung in die deutsche Volkssprache, die Eingliederung bucheinleitender, kommentierender Vorreden und eine umfassende begriffserläuternde Randglossierug transkribiert, d. h. verstehbar gemacht, sondern ebenso durch eine Vielzahl von (materiellen) Bildern, die in den biblischen Text eingefügt werden und sich in unterschiedlicher Weise auf diesen beziehen (vgl. dazu ausführlicher Abschnitt 4 dieses Beitrags). Das Ziel des vorliegenden Beitrags liegt darin, verschiedene Arten dieser intermodalen Bezugnahme von Bildern auf den biblischen Text am Beispiel von Bibelillustrationen exemplarisch zu beschreiben und ihre Bedeutung für Exegese und Verkündigung herauszustellen.

2 Zum Konzept der christlichen Bibelillustration Als Bibelillustrationen werden im Rahmen dieses Beitrags also visuelle Transkriptionen des Geschehens der kanonischen (z. T. aber auch apokryphen) Bücher der christlichen Bibel verstanden. Während ein weiter Begriff von Bibelillustration im Grunde jede bildliche Aufnahme und Verarbeitung biblischen Stoffes umfasst, wie sie in völlig unterschiedlichen Textsorten einen Ausdruck finden kann, beschränkt sich ein enger Begriff der Bibelillustration auf statische Bebilderungen bzw. visuelle Transkriptionen biblischer Texte, die zur „Lesbarmachung“ (Bedeutungserschließung/-bildung, zum Terminus Jäger 2002, 29) in diese Texte, d. h. in die Bibel selbst eingefügt werden. Diesem Beitrag wird der Handhabbar- und Darstellbarkeit ein solch enges Konzept von Bibelillustration, jedoch ein weiteres Konzept von Bibel zu Grunde gelegt. Das bedeutet: Neben den kanonischen und apokryphen Büchern werden auch Abbreviaturen (wie z. B. Evangeliare, Plenarien, Psalterien, Apokalyp-

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sen, Stundenbücher, Armenbibeln, Historienbibeln oder Schulbibeln) mit in die Überlegungen einbezogen. Bewegte Bilder im Film oder statische Bilder an Kirchenportalen, auf Kirchenfenstern und -wänden, auf Altartafeln, Kirchengerät etc. sowie solche in nichtbiblischen Textmedien wie Flugblatt oder Flugschrift, die sich intermodal auf biblische Stoffe beziehen, werden hingegen nicht betrachtet.

3 Chronologische Eckpunkte christlicher Bibelillustration Die Illustration biblischer Texte mit Bildern ist keine moderne Entwicklung. Sie ist – durch unterschiedliche Auslegungen des mosaischen Bilderverbots autorisiert oder verworfen – von Beginn an fester Bestandteil christlichen Umgangs mit dem biblischen Text.

3.1 Bibelhandschrift und -blockbuch Die frühesten Zeugnisse christlicher Buchmalerei lassen sich bereits auf die Entstehungszeit der ersten gebundenen Pergamentcodices im römischen Reich – und damit auf die Zeit zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert – datieren (vgl. z. B. Haussherr 1998, 466f.). Bei diesen frühen bildlichen Transkriptionen biblischen Stoffes handelt es sich noch nicht um die Illustration von Vollbibeln (als älteste erhaltene Bibel[teil]bebilderungen können die um 400 vermutl. in Rom geschaffenen 14 Bilder zu Sam, 1 Reg/Kön der Quedlinburger Itala-Fragmente gelten; Staatsbibl. Berlin, Ms. Theol. Lat. fol 485). Stattdessen beschränken sich die Bebilderungen, bei denen es sich i. d. R. um narrative Darstellungen biblischer Erzählungen handelt (vgl. dazu Abschnitt 4.1.1 dieses Beitrags), auf einzelne Bücher, vorrangig auf solche von Pentateuch bis Oktateuch. Vor allem das Sechstagewerk (vor Gen) und der Exodus (Ex) gehören zu den am häufigsten visualisierten Motiven der Zeit. Die frühchristlich-antike Tradition der visuellen Bezugnahme v. a. auf alttestamentliche Inhalte (und damit auf Erzählungen der vergangenen Menschheitsgeschichte) setzt sich in den folgenden Jahrhunderten sowohl im lateinischen Westen wie auch im griechischen Osten bis zum Untergang des byzantinischen Reichs fort (vgl. Knappe 1980, 132; Hausherr 1998, 1467). Die Art der Illustration reicht hier von der Ausgestaltung bucheinleitender Initialen bis zur Beigabe ganzseitiger Bilder (wie z. B. in der Moutier-Grandval-Bibel, einer um 840 unter den Nachfolgern Alkuins in Tours entstandenen karolingischen Vollbibel-Handschrift, vgl. Abb. 1) oder gar mehrseitiger Bilderzyklen, wie sie sich vom 11. bis 14. Jh. v. a. im angelsächsischen Raum finden (vgl. z. B. das Holkham

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Bible Picture Book, England zwischen 1320 und 1330; British Library, London, MS. 47682).

Abb. 1: Schöpfung, Moutier-Grandval-Bibel, um 840 Tours (British Library, London, MS. 10546).

Mit Blick auf das Neue Testament beschränken sich die Illustrationen in Antike und (Früh-/Hoch-)Mittelalter zumeist auf Autorenbilder der Evangelisten oder der Verfasser von Apostelbriefen sowie auf Darstellungen aus der Johannesoffenbarung. Eine Ausnahme stellt hier eine Form spätmittelalterlicher Bilderhandschriften (später Blockbücher) typologischer Art dar, die eine Vielfalt ntl. Szenen bzw. Antitypen (sub gratia) atl. Typen zyklisch gegenüberstellt (i. d. R. je ein atl. Ereignis vor und nach dem mosaischen Gesetz – ante legem/sub lege). Wichtigstes Beispiel für diese Form monastischer Bibelabbreviation für Predigtzwecke ist die sogenannte Armen-

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bibel (Biblia pauperum), die seit 1300 als gekürzte, stark bebilderte, z. T. paraphrasierte und kommentierte Bibelhandschrift (ab ca. 1430 als Blockbuch) weite Verbreitung innerhalb kaufkräftiger monastischer Kreise erfährt.

3.2 Bibeldruck 3.2.1 Inkunabelzeit Durch die Entwicklung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern setzt um die Mitte des 15. Jahrhunderts eine starke Produktion und Verbreitung illustrierter, v. a. volkssprachlicher Bibeln ein, wenn auch der Buchdruck mit Holzschnitten die aufwändige Praxis der Miniaturmalerei nicht sofort verdrängt hat: Vor dem Hintergrund des weiterhin bestehenden Handschriften-Ideals wurden selbst die Bibeldrucke, die Holzschnitte nutzten, noch lange per Hand – z. T. serienmäßig – illuminiert (vgl. dazu z. B. den Verweis auf Kolorationen der 1483 gedruckten Nürnberger Koberger-Bibeln bei Knappe 1980). Fast alle gedruckten Bibeln der Inkunabelzeit hatten noch das äußere Erscheinungsbild von Handschriften. Ebenso wenig wie die Armenbibel können diese Prachtbibeln schon als erschwingliche Volksbücher begriffen werden. Der Zugang zur Bibelillustration blieb weiterhin kaufkräftigen Lesern vorbehalten. In der Zeit zwischen 1466 und 1522 entstehen 18 deutschsprachige Bibelausgaben, 14 oberdeutsche und vier niederdeutsche, von denen nur die ersten beiden (Mentelin-Bibel 1466 und Eggestein-Bibel, vor 1470, beide Straßburg) unbebilderte Textausgaben waren. Hier unterscheiden sich die volkssprachlichen Bibeln deutlich von den lateinischen Vulgata-Ausgaben der Zeit, die nur selten mit Bildern versehen waren (vgl. Schramm 1922b, 20). Während sich die Abbildungen in den lateinischen Ausgaben vorrangig auf Schmuckinitialen oder florale Elemente wie Zierranken oder -blüten beschränken (vgl. z. B. die Gutenberg-Bibel, gedruckt 1452– 1454 in Mainz), sind bereits für die dritte deutsche Print-Bibel, die 1475/1577 in Augsburg gedruckte Zainer-Bibel, solche Initialen charakteristisch, die sich inhaltlich auf das Buch beziehen, das sie einleiten. Auch Darstellungen, die die Breite einer Kolumne oder gar des ganzen Satzspiegels einnehmen, finden sich immer häufiger serienmäßig. Als prototypisches Beispiel für diese Art der umfangreichen transkriptiven, d. h. explizit auf den biblischen Text bezugnehmenden Bibelillustration lassen sich die niederrheinischen und niedersächsischen Ausgaben der um 1478/1479 bei Heinrich Quentell/Bartholomäus von Unckel gedruckten Kölner Bibel anführen, deren Illustrationen einen großen Einfluss auf Illustrationen der folgenden einhundert Jahre ausübte. Intertextuelle/interbildliche Abhängigkeiten zu den Darstellungen der Kölner Bibel lassen sich u. a. in den Darstellungen der Nürnberger Koberger-Bibel 1483, der Straßburger Grüniger-Bibel 1585, der Augsburger Schönsperger-Bibel 1487 und selbst noch in den atl. Darstellungen der Luther-Bibel

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ausmachen (zum Bildmaterial der Frühdrucke und der Lutherbibel vgl. im Detail: Schramm 1923; Netter 1943; Reitz 1959).

Abb. 2: Die apokalyptischen Reiter (Offb 6), Kölner Bibel 1478/1479. Abbildung nach Landgraf/Wendland 2005, 51.

An der Tatsache, dass sich Bibelillustrationen hauptsächlich auf atl. Erzähltexte und Darstellungen zur Johannesoffenbarung beziehen (vgl. Abb. 2), ändert sich auch in diesen Jahren nichts. Diese Praxis der Bebilderung zeugt immernoch deutlich vom antiken/mittelalterlichen Konzept der Bibel als Historienbuch, das die vergangene (AT) und zukünftige (NT: Offb) Menschheitsgeschichte dokumentiert. Sie illustriert das Wissen der Zeit. Ntl. Themen werden seit dem Spätmittelalter jedoch zunehmend außerhalb der Bibelillustration in selbstständigen Zyklen bearbeitet, wie z. B. in den Holzschnittserien Albrecht Dürers: Große Passion (1496–1510), Apokalypse (1498), Marienleben (um 1501–1511), Kleine Passion (1509–1511) oder seiner Kupferstichpassion (1507– 1513).

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3.2.2 Reformationszeit Trotz der reformatorischen Hinwendung zum Bibeltext unter der Prämisse des sola scriptura lassen sich auch im Laufe des 16. Jahrhunderts keine Veränderungen in der Praxis der Bibelillustration feststellen, die auf den ersten Blick signifikant erscheinen (vgl. in diesem Sinne Knappe 1980, 149). Zwar wird von reformatorischer Seite ein großes Augenmerk darauf gelegt, dem biblischen Text durch Transkription (intramodal: durch sinngemäße Übersetzung in die Volkssprache, intermodal: v. a. durch Formen veranschaulichender Bibelillustrationen, vgl. dazu im Einzelnen Abschnitt 4 des vorliegenden Beitrags) bestmöglich zu entsprechen, jedoch sind die Illustrationen weiterhin – und das scheint dem reformatorischen Grundsatz solus christus zunächst zu widersprechen – auf solche des Alten Testaments und der Johnannesoffenbarung fokussiert. Die übrigen ntl. Bücher werden traditionsgemäß nur durch bucheinleitende Darstellungen von Evangelisten und Briefaposteln illustriert. Betrachtet man diejenigen atl. Bücher, die illustriert werden, allerdings genauer, so lassen sich dann doch recht wichtige Unterschiede zu den Gegenständen früherer, vorreformatorischer Bibelillustrationen feststellen. Sie verweisen deutlich auf den „reformatorische[n] Geist, der allenthalben Christum suchte.“ (Schmidt 1935, 236) Während antike bis spätmittelalterliche Bibelillustrationen v. a. atl. Bücher transkribieren, die von der Menschheitsgeschichte berichten, bezieht Luther darüber hinaus Illustrationen der Prophetenbücher mit in die Ausgaben seiner Bibel ein. Im lutherischen Prophetenbild wird die Predigt der Propheten typologisch auf das Christusereignis hin gedeutet (vgl. Abb. 10; vgl. auch Abschnitt 4.1.2). Sie geben damit einen Ausblick auf das Kerygma, die frohe Botschaft, das Evangelium – und das entspricht dem solus christus-Prinzip vollständig. Die ebenfalls typologisch strukturierte Armenbibel nimmt die Propheten in anderer Funktion, z. B. als Zeugen des Exodus und damit wiederum der Menschheitsgeschichte, auf und ist deshalb nicht als Vorläufer der lutherischen Prophetenbilder zu sehen (vgl. dazu im Detail z. B. Netter 1943). Das Neue Testament selbst begreift Luther – anders als die atl. Texte, die auf Geschichte (Gesetz) und Christum (Evangelium) verweisen – als aus sich selbst heraus klar und verständlich. Das NT als zentraler Gegenstand christlichen Glaubens wird als viva vox bzw. „lebendige stym“ (Luther in: WA 10/I 1,625,20) verstanden, die durch ihre innere Klarheit nicht der visuellen Auslegung bzw. Transkription bedarf. Im NT (exklusive der ‚verworrenen‘ und deshalb erklärungsbedürftigen Visionen der Offb; vgl. Abb. 4 und Abb. 5) soll und kann allein das Wort wirken, dem Bild wird hier kein hermeneutischer/exegetischer Mehrwert zugesprochen. Auf transkriptive visuelle Bezugnahmen wird deshalb weitestgehend verzichtet. Die katholische Illustration volkssprachlicher Bibelübersetzungen der Reformationszeit unterscheidet sich nur unwesentlich von der lutherischen. Das liegt vor allem daran, dass sich katholische Bibeln (vgl. z. B. Hieronymus Emsers Neues Tes-

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tament, Dresden 1527 mit Schnitten von Anton Woensam) sowohl sprachlich, d. h. mit Blick auf ihre volkssprachliche Übersetzung, wie auch bildlich stark auf die lutherische Vorlage beziehen. Die Abbildungen gehen zum großen Teil auf lutherische Holzstöcke bzw. auf deren Nachschnitte zurück. Getilgt wird in der katholischen Bibelillustration lediglich die antirömische Polemik, die die Illustrationen zur Lutherbibel prägt (v. a. diejenigen zur Offb, vgl. hier: Abb. 5; vgl. dazu erneut auch Abschnitt 4.1.2).

3.2.3 Neuzeit Bereits seit Ende des 15. Jahrhunderts entstehen selbstständige Seriengraphiken zur Bibel (15. Jh. u. a.: Albrecht Dürers Offenbarung des Johannes [1498] oder Große Passion Christi [1496–1498]; 16. Jh.: Virgil Solis Passio vnsers Herren Jhesu Christi [1553]), die ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunehmend zur Bibelillustration, immer häufiger auch zur Illustration ntl. Texte, übernommen werden. Z. B. werden Schnitte von Solis in die von Sigmund Feyerabend 1560 in Frankfurt a. M. verlegte Lutherbibel eingearbeitet. Diese Praxis wird im Barock fortgesetzt und ausgebaut. In dieser Zeit entsteht eine große Zahl weiterer umfangreicher Bilderserien zur (Voll-) Bibel. Wohl am bekanntesten sind heute die 1625–1627 publizierten Icones Biblicae Matthäus Merians d. Ä., die schon 1630 in eine von Lazarus Zetzners Erben publizierte Straßburger Merian-Bibel – mit Luthertext – eingearbeitet werden und über einhundert Jahre lang zentraler Orientierungspunkt für Illustrationen zur Bibel bleiben. Externe Bildserien (Bilderbibeln) und ihre nachträgliche Aufnahme zur Bebilderung von Voll- oder Teilbibelausgaben sowie von Abbreviaturen (z. B. von Familienbibeln, Schulbibeln) bestimmen bis heute die Bibelillustration. Berühmte Beispiele jüngerer Zeit sind u. a. die wiederholt zur Bibelillustration genutzten Bildserien von Max Beckmann, Marc Chagall, Salvadore Dali oder Emil Nolde (zu Nolde vgl. Abb. 9). Das Neue Testament wird nicht mehr länger aus der Bibelillustration ausgeklammert. Mit der Aufnahme von Bildern externer Bilderserien zur Bibel, in denen schon seit dem Spätmittelalter auch ntl. Szenen zunehmende Beachtung fanden und die deshalb einen mittlerweile reichen Fundus ntl. Bildtranskriptionen stellten, werden AT und NT immer häufiger gleichermaßen dicht illustriert. Neben dem archäologischen Aspekt von Abbildungen, die vor oder nach dem biblischen Text in neuzeitliche Bibelausgaben eingefügt werden (vgl. dazu Abschnitt 4.1.2), rückt seit dem Barock v. a. die künstlerische Qualität von Abbildungen, die zur Illustration in den biblischen Text eingefügt werden, in den Fokus der Beachtung. Die künstlerische Qualität wird zum relevanten Kriterium der Auswahl von Bildwerken zur Bibelillustration. Richtet sich das Urteil im 17. und 18. Jahrhundert noch am Epochenstil aus, wird im 19. Jahrhundert der Individualstil, die subjektive Auseinandersetzung der individuellen Künstlerpersönlichkeit mit dem bibli-

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schen Text ausschlaggebend. Immer mehr Künstler-Bibeln kommen seit dieser Zeit auf den Markt. Die Bibelillustration der Gegenwart versammelt in sich die Summe des vorher Dagewesenen. Sie lässt sich durch eine große Pluralität von künstlerischen Stilen und Annäherungen an den biblischen Text charakterisieren. Neben der Aufnahme von Illustrationen zeitgenössischer Künstler oder solchen des vergangenen Jahrhunderts (vgl. zuletzt beispielsweise die Neuauflage einer großen Chagall-Bibel mit dem Text der Einheitsübersetzung, Stuttgart 2007) werden Bibelausgaben wiederholt auch mit Bildern ‚alter Meister‘ ausgestattet (z. B. Rembrandt-Bibel 1921, Evangelium im Bild, München 1954). Nicht selten werden gar Bilder unterschiedlicher Künstler, Epochen und verschiedenen Stils (u. a. Zeichnung, Photographie, Kupferstich, Lithographie) in einer einzigen Bibelausgabe – v. a. in Familien- und Schulbibeln – nebeneinander gestellt (vgl. hier z. B. die Württembergische Schulbibel, ev., Stuttgart 1964, hier: Abb. 9; die Neue Schulbibel, bearbeitet für den Unterricht an deutschen Schulen. Braunschweig 1973, hier: Abb. 7 und Abb. 8 oder die Katholische Schulbibel. Stuttgart 1998). Mit der Möglichkeit der Beigabe von CD-Roms/DVDs zu Printtextausgaben oder digitalen Bibelausgaben nimmt die Anzahl der Abbildungen im Text – der so nicht mehr an Umfangsbegrenzungen gebunden ist – stetig zu (vgl. zuletzt z. B. Glo, Die Bibel, CD-Rom/DVD-Rom, 4. Aufl. Wuppertal 2013 oder Deutsche Bibelübersetzungen auf DVD: Bibel multimedial, Stuttgart 2014).

4 Formen und Funktionen christlicher Bibelillustration Versucht man die individuellen Tokens christlicher Bibelillustration funktional zu typologisieren, so lassen sich vor allem zwei Funktionen benennen, die für den Gebrauch von materiellen Bildern im biblischen Text zentral erscheinen (vgl. zur Bildpragmatik allgemein z. B. Sachs-Hombach 2001, 2003; Muckenhaupt 1986; Klug 2012, 95ff.). Bei diesen dominanten Funktionen der hier beschriebenen transkriptiven Formen bildlicher Exegese und Verkündigung handelt es sich zum einen um Information (das Belehren), zum anderen um Deklaration (das Bezeugen/Kerygma). Beide Bildhandlungen, die im Folgenden an knappen Beispielen konkreter Bibelillustrationen unterschiedlicher Zeit veranschaulicht werden sollen, lassen sich im Rahmen christlich-religiöser Kommunikation freilich nicht strikt voneinander trennen. Die Grenzen der Zuordnung sind vielmehr fließend. Ebenso schließt die Zuweisung eines Bildes zu einer der beiden hier beschriebenen zentralen Funktionen von Bibelillustrationen nicht aus, dass − dem jeweiligen Bild neben der dominanten auch andere Funktionen zu Grunde liegen können – und das i. d. R. auch tun – (z. B. eine Appell- oder Kontaktfunk-

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tion), die der Bildfunktion untergeordnet sind und dieser dienen (vgl. dazu allgemein z. B. Rolf 2000, 423), es durchaus auch Bibelillustrationen gibt, deren dominante Funktion eine andere als die des Belehrens oder Bezeugens/Kerygmas ist (so begegnen mitunter Bibelillustrationen, die hauptsächlich dazu dienen, den Kontakt des angesprochenen Rezipienten zum biblischen Text herzustellen; vgl. dazu z. B. Abbildungen in neueren Schulbibeln wie der katholischen Meine Schulbibel, Ein Buch für Sieben- bis Zwölfjährige, Siegen 2003).

4.1 Informative Funktion (Belehrung) Die belehrende, wissenskonstituierende Funktion von Bildern wurde bereits früh zum Gegenstand von Reflexionen des Bildgebrauchs im christlichen Kontext. Die wohl berühmteste Rechtfertigung des Bildes im Rahmen christlicher Kommunikation findet sich im Wort Gregors des Großen an den Bischof von Marseille (Ep. IX, 13, Pl. 20.1128): Idcirco enim picture in ecclesiis adhibitur ut hi qui litteras nesciunt, saltem in parietibus vivendo legant, quae legere in codicibus non valent [In den Kirchen gebraucht man Bilder, damit die des Lesens Unkundigen zumindest an den Wänden sehend lesen, was sie in Büchern nicht lesen können].

Vor dem Hintergrund von Äußerungen wie dieser aber davon auszugehen, Bilder wären typischerweise als Schriftersatz für nicht-lesekundige Laien begriffen worden, die anstelle des sprachlichen Bibeltextes zu rezipieren gewesen wären, trifft nicht den Kern der Sache. Wie der Brief Gregors, aus dem das oben angegebene Zitat entnommen ist, an anderer Stelle betont, dass die Bildlektüre der nicht-lesekundigen Laien stets durch exegetische Erläuterungen Bibelkundiger anzuleiten sei, so gilt das umso mehr für Bildgebrauchsreflexionen, die sich auf Illustrationen des biblischen Textes selbst beziehen, also auf Einfügungen von Bildern in den biblischen Text, der das Zentrum und den primären Bezugspunkt der jeweiligen Textausgabe bildet. Exemplarisch sei hier ein bildgebrauchsreflexiver Ausschnitt aus der Vorrede der (mit 123 großformatigen Holzschnitten) besonders reich bebilderten Kölner Bibel 1478/1479 (2 Bde. Faksimile. Friedrich Wittig Verlag 1979) angezeigt, die lange Vorbild der Bibelillustration war: [...] Unde ouck ymme dat meere ghenoechde unde leefde kreghe dee mynsche dese werdige hyllighe schrifft tho lesen unde sin tyt der mede nuytlick thoe ghebruken: sint in etliken enden unde Capitulen figuren ghesat. Soe see van oldes ouck noch in veelen Kercken unn cloesteren ghemalet staen: welcke ock dat suluen de oghen er toenen unde meer erclaren: dat de text des Capitels dar man de figuren vindet ynne hefft.

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Wie andere Reflexionen des Bildgebrauchs zeigt auch dieses spätmittelalterliche Beispiel: Das materielle Bild dient nicht dazu, den biblischen Text zu ersetzen, an seine Stelle zu treten und einen heiligen Charakter anzunehmen, sondern dazu, ihn zu erklären, zu erläutern oder zu perspektivieren, kurz: dazu, ihn durch seinen Informationsbeitrag verständlicher zu machen. Die Bibelillustration zeigt bzw. veranschaulicht (=illustriert) etwas am biblischen Text, den sie der Lektüre als (expliziten/impliziten) Referenztext stets voraussetzt. Die Informationen, die die belehrende Bibelillustration im Rahmen des Verstehensprozesses/der Bedeutungsbildung am biblischen Text beisteuert, entfaltet diese typischerweise auf zwei Wegen.

4.1.1 Narrative Themenentfaltung Kennzeichnend für die antike und mittelalterliche Bibelillustration ist v. a. eine narrative Themenentfaltung. Sie versucht den zeitlich-linearen Verlauf der biblischen (Historien-)Erzählung, auf die sie sich bezieht, durch die Darstellungen verschiedener Teil-Szenen in einem Bild abzubilden, zu vermitteln. Wollte man das sprachbezogene Konzept der Übersetzung auf intermodale Transkriptionen wie die Bibelillustration übertragen, so könnte man sagen: Die narrative Illustration lässt sich am ehesten als Versuch der bildlichen Übersetzung eines sprachlichen Textes begreifen. Sie bemüht sich, den sprachlichen Text samt seinem linearen Handlungsverlauf im eigenen Zeichensystem nachzubilden. Von einer semantischen Äquivalenz des biblischen Textes und seiner bildlichen Transkription, welche die Option eines Entweder-Oder, d. h. einer Bild- oder Sprachtextlektüre bei gleichem Informationsgehalt ermöglichte, kann dabei zweifelsohne nicht gesprochen werden. Bild und Sprache unterscheiden sich in ihrem semiotischen Potenzial essenziell. Während sich Sprache mit ihrem linearen, nur sukzessiv in der Zeit erfassbaren Charakter ideal zur Darstellung von Zeiträumen und -verläufen (und damit zum Erzählen) eignet, kann das Bild, dem die Eigenschaft einer holistisch wahrnehmbaren Simultanität seiner zueinander in räumliche Beziehung gesetzten Zeichen zukommt, Aspekte der Zeit nur sehr schwer darstellen (vgl. dazu Nöth 2000a und b; Klug 2014). Gerade diese Zeitlichkeit spielt im Rahmen der sprachlichen Erzählung jedoch eine zentrale Rolle. Die dem sprachlichen Bezugstext folgende zeitliche Abfolge des bildlich – nur simultan und deshalb stets anachronistisch – Dargestellten (vgl. dazu Abb. 1 und Abb. 3) ist im Rahmen der Bildinterpretation nur dann als solche erfassbar, wenn man den Handlungsverlauf des sprachlichen – in diesem Fall: biblischen – Textes bereits kennt oder ihn zumindest parallel zur Bildbetrachtung rezipiert. Die Bildinterpretation hängt hier unlösbar von der Hinzunahme des sprachlichen Referenztextes ab. Um ein Beispiel zu geben: Dass die räumlich nebengeordneten Bildzeichen in Abb. 3 nicht in einem Verhältnis der Gleichzeitigkeit zueinander stehen, sondern die

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Anbetung der babylonischen Hure durch Klerus und weltliche Obrigkeit (links nach Offb 17) zeitlich vor dem Mühlsteinwurf des apokalyptischen Engels als Zeichen des Untergangs Babylons (Bildmitte nach Offb 18), jedoch deutlich nach dem Verweis auf den Beginn der eschatologischen Ernte und Weinlese (rechts nach Offb 14,14–20) einzuordnen sind, kann auf der alleinigen Basis einer Bildinterpretation nicht erschlossen werden. Das Bild weist hier eine große semantische Offenheit auf, die nur durch Informationen des sprachlichen Bezugstextes geschlossen werden kann. Der biblische Text ist seiner narrativen bildlichen Transkription in semantischer Hinsicht grundsätzlich überlegen.

Abb. 3: Die Offenbarung des Johannes, Simultandarstellung von Offb 3, 5, 14, 17f., 21f., Kölner Bibel 1478/1479 (Abbildung nach: Landgraf/Wendland 2005, 72).

Das Verhältnis der narrativen Illustration zum biblischen Text lässt sich deshalb nicht durch das Einbringen zusätzlicher Daten in die Bedeutungsbildung charakterisieren, die semantische Offenheitsstellen des biblischen Textes schließen. Vielmehr ist ihre zentrale Eigenschaft in der semantischen bzw. inhaltlichen Wiederholung von Informationen zu suchen, die der biblische Text selbst gibt oder bereits gegeben hat. Das Bild ,erzählt‘ den biblischen Text mit seinen eigenen (Bild-)Zeichen und seinen – in diesem Fall begrenzten – Möglichkeiten nach. Da es dabei nicht sämtliche Inhalte des biblischen Referenztextes aufgreift, sondern nur bestimmte, perspektiviert das narrative Bild den biblischen Text zugleich in einer ganz bestimmten Weise. Es lässt ausgewählte Aspekte der biblischen Erzählung durch visuelle Repe-

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tition salient erscheinen. In diesem Sinne perspektiviert die narrative Illustration der Grandval-Bibel (vgl. Abb. 1) die Schöpfungsgeschichte insofern, als sie erst bei der Schöpfung des Menschen am sechsten Tag beginnt, während sie die ersten fünf Schöpfungstage, ebenso wie die Stiftung des Sabbat am siebten Tag nicht bildlich erfasst. Damit stellt sie die zentrale Rolle des Menschen, die Fokussierung der Schöpfungsgeschichte als Menschheitsgeschichte heraus. Wissen – in diesem Fall religiöses – wird nicht allein sprachlich repräsentiert, sondern ebenso bildlich. In der Wiederholung zentraler Aspekte des biblischen Textes liegt zugleich der Mehrwert des Bildes gegenüber einer rein sprachbezogenen Bibellektüre. Durch die Wiederholung prägen sich die entsprechenden Inhalte besser ein, auf ihrer Basis sie leichter memoriert, Wissen konstituiert werden: repetitio est mater studiorum. Das gilt umso mehr, wenn es sich bei den Formen der wiederholenden Bezugnahme auf den biblischen Text um bildbasierte handelt. Die heute mit dem Schlagwort Bildüberlegenheitseffekt bezeichnete Feststellung, dass bildlich rezipierte Inhalte deutlich „leichter gelernt, behalten und wiedererkannt“ werden können als sprachlich erfasste (Holicki 1993, 75), ist keine moderne Einsicht. Bereits in antiken und mittelalterlichen Überlegungen zu den Abläufen von Wahrnehmung und Denken wird dem Bild eine besondere Stellung eingeräumt (vgl. u. a. Aristoteles de anima VII, 3, 469; Avicenna de generatione embryonis 1347). Sowohl der Verstand (ratio) wie auch die Erinnerung (memoria) werden in diesen zeitgenössischen Theorien als bildbasiert angenommen. Jeder über einen der fünf menschlichen Sinne wahrgenommene Inhalt kann im zeitgenössischen Verständnis nur in bildlicher Form in Verstand und Erinnerung gespeichert werden. Anders als die Sprache wurde das Bild deshalb als ideales ‚Vorbild‘ des mentalen ‚Abbilds‘ (und damit der memoria) verstanden, das anders als nicht bildhaft erfasste Sinneseindrücke nicht erst in eine bildliche Form ‚umgebildet‘ werden musste, bevor es verstanden und in die Erinnerung ,eingebildet‘ werden konnte (Klug 2012, 103f.).

4.1.2 Explikative Themenentfaltung Seit der Reformation werden zunehmend Formen darstellender, informativer Bibelillustration gebraucht, die ihre Gegenstände nicht auf narrative, nacherzählende, sondern auf explikative Weise entfalten. Damit nehmen diese Formen visueller Transkription eine ähnliche Funktion ein wie sprachliche Randglossierungen oder erläuternde Vorreden zu biblischen Büchern. Jede dieser intra- oder intermodalen Formen explikativer Bezugnahme auf den biblischen Text leistet ihren je individuellen Beitrag, um dem angesprochenen Rezipienten die zentralen Aussagen bzw. Inhalte des biblischen Textes zu verdeutlichen und zugänglich zu machen. Sie steuern einen zusätzlichen Beitrag an Information in die Bedeutungsbildung ein, versuchen so Leerstellen (Unklarheiten) des biblischen Textes mit konkreten Daten (Füllwerten) anzureichern. Dies geschieht

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auf zwei unterschiedlichen Wegen der Visualisierung. Zum einen durch Illustrationen exegetischer, zum anderen durch solche archäologischer Natur. Die Funktion explikativer Bilder exegetischen Charakters liegt vor allem darin, semantische Leerstellen des biblischen Textes zu füllen, sie für den zeitgenössischen Rezipienten inhaltlich zu konkretisieren. Um den Zusammenhang von biblischem Text sowie exegetischen sprachlichen und bildlichen Transkriptionen an einem typischen Beispiel aus der Lutherbibel (1534, Wittenberg: Hans Lufft), der Vision des ersten apokalyptischen Reiters (Offb 6,1f.) zu illustrieren: Vnd ich sahe/ das das Lamb der siegel eines auffthat/ Vnd ich höret der vier thierer eines sagen/ als mit einer donner stim/ Kom vnd sihe zu. Und ich sahe/ vnd sihe/ Ein weis pferd/ vnd der drauff sas/ hatte einen bogen/ vnd jm ward gegeben eine krone/ vnd er zog aus zu vberwinden/ vnd das er sieget. (Luther 1534, Offb 6,1f.)

Der biblische Text wird in der Luther-Bibel sowohl durch einen Absatz der bucheinleitenden Vorrede (vgl. Zitat unten) wie auch durch eine sprachliche Randglosse (s. u.) und eine dem Text vorangestellte Abbildung (Die Dritte Figur, vgl. Abb. 4) exegetisch erläutert. Bereits die intramodale Transkription der Vorrede füllt die semantischen Offenheitsstellen der apokalyptischen Vision durch eine konkretisierende Deutung: Im sechsten/ gehen an die künfftigen trübsaln/ Vnd erstlich/ die leiblichen trübsaln/ als da sind/ Verfolgung von der weltlichen oberkeit/ welche ist der gekrönte reuter mit dem bogen auff dem weissen ros.

Die neben den biblischen Text zu Offb 6,1f. positionierte Randglosse fasst den inhaltlichen Kern noch einmal in prägnanter Weise zusammen, fügt jedoch keine neuen Informationen hinzu, die über die exegetischen Angaben der Vorrede hinausgehen (sieht man von der stärkeren negativ-deontischen Bedeutung des Wortes Tyranen – im Vergleich zu weltliche oberkeit – einmal ab): Das ist der erste Plage/ die verfolgunge der Tyranen. Bereits diese sprachlich-exegetischen Erläuterungen des biblischen Textes verdeutlichen dem Rezipienten zwei zentrale Bedeutungsaspekte: Zum einen führen sie die Bedeutung der biblischen Vision vom ersten apokalyptischen Reiter sprachlich auf die Bedrohung durch weltliche Tyrannen eng, zum anderen bejaht die sprachliche Transkription die – vom biblischen Text in bestimmter Hinsicht offen gelassene – Frage, ob auch der erste der vier apokalyptischen Reiter – und das wird in der Exegese noch heute kontrovers diskutiert – als Plage zu verstehen sei (anders in Abb. 2: Kölner Bibel: hier wird dem ersten apk. Reiter die Krone als Zeichen des Sieges durch einen Engel aufgesetzt). Die bildliche Transkription konkretisiert die sprachliche Auslegung des ersten apk. Reiters als Verfolgung durch Tyrannen weiter. Sie steuert so ihren individuellen exegetischen Beitrag zur Interpretation des biblischen Textes bei, der durch sprachliche Transkriptionen nicht geleistet wird: Durch die visuellen Attribute der Klei-

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dung und eines Krummsäbels wird der erste, aus dem Höllenschlund entspringende apokalyptische Reiter – und damit die sprachlich nur recht allgemein als TyrannenBedrohung ausgelegte Bedeutung des biblischen Textes – bildlich auf eine ganz bestimmte, aktuelle Bedrohung der Zeit festgelegt: auf die sogenannte ‚Türkengefahr‘, die dem zeitgenössischen Rezipienten als Schreckbild der weltlichen Bedrohung des christlichen Abendlandes wohl allzu bekannt war. Durch die visuelle Aktualisierung der biblischen Vision, durch ihren kontextualisierenden Transfer in die erfahrene und erlebte Gegenwart des Rezipienten wird diese Gegenwart nun bildlich in die Nähe des eschatologischen Weltgerichts gerückt.

Abb. 4: Die vier apokalyptischen Reiter (Offb 6), Luther-Bibel 1534, Wittenberg: Hans Lufft.

Diese Art der aktualisierenden Engführung biblischer Ereignisse und Akteure auf die Gegenwart des 16. Jahrhunderts erscheint für die lutherische Bebilderung der Johannesoffenbarung essenziell: Sie schlägt sich u. a. auch in der interkonfessionell-polemischen Interpretation der Hure Babylon (Offb 17; vgl. Abb. 5) als Römische Kirche nieder (vgl. dazu die Abbildung der Hure, die durch das visuelle Attribut der Tiara unmissverständlich auf das Papsttum gedeutet wird; vgl. im Kontrast dazu die unspezifizierte Darstellung der Hure in Abb. 2) oder in der Darstellung des engelischen Mühlsteinwurfs als Zeichen des babylonischen Untergangs über einer Stadt,

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die eindeutig die Züge Roms trägt (vgl. Offb 18 Lutherbibel im Kontrast zum Mühlsteinwurf in Abb. 2).

Abb. 5: Hure Babylon (Offb 17), Luther-Bibel 1534, Wittenberg: Hans Lufft.

Das anders als im katholischen oder reformierten Verständnis weder als verboten noch als heilsnotwendig verstandene Bild (vgl. Luther. In: WA 56,493,32–494,17) erfüllt hier also eine ganz zentrale, konfessionell motivierte exegetische Funktion, die – legt man erneut das Beispiel der lutherischen Bibelübersetzung zu Grunde – nicht (ausschließlich) dem theologischen Laien überlassen wird (obwohl es in dieser Zeit noch üblich war, dass Illustrationen vom Verleger besorgt wurden, indem dieser auf bestehende/verfügbare Druckstöcke bzw. ihre Nachschnitte zurückgriff). Luther selbst überwachte die exegetische Korrektheit bei der Illustration seiner Bibel (im Folgenden Christoph Walther, Korrektor der Lufftʼschen Offizin in Wittenberg, 1563 in: Luther: WA Deutsche Bibel 6, LXXXVII zur Mitarbeit Luthers an der Illustration seiner Bibel): Luther hat die Figuren in den Wittenbergischen Biblia zum teil selber angegeben, wie man sie hat sollen reißen oder malen. Vnd hat befohlen, daß man auffs einfeltigst den inhalt des Texts solt abmalen vnd reißen, Vnd wolt nicht leiden, das man vberlei vnd unnütz ding, das zum Text nicht dienet solt dazu schmieren.

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Die Funktion explikativer archäologischer Abbildungen hingegen ist weniger in der theologischen Erklärung bzw. exegetischen Aktualisierung zentraler Inhalte biblischer Texte zu suchen als in der Veranschaulichung materieller Gegenstände, auf die der biblische Text Bezug nimmt und die dem angesprochenen Rezipienten durch den historischen und kulturellen Abstand zum biblischen Geschehen unbekannt sind oder die zumindest als ihm unbekannt angenommen werden. Die archäologische Illustration zeigt dem Leser, wie der historische Gegenstand, das kulturelle Phänomen, von dem der biblische Text berichtet, ausgesehen hat, wie man es sich vorzustellen hat. Sie erleichtern ihm damit das Textverständnis. Zu dieser Art der explikativen Bibelillustration lassen sich die Darstellungen atl. Tempelgeräts bei Luther (vgl. Abb. 6) ebenso zählen wie die seit der Aufklärung zum festen Bestandteil jeder Bibelausgabe gehörenden geographischen Karten des Heiligen Landes zu biblischer Zeit.

Abb. 6: Tempelgerät aus Ex 24, Luther-Bibel 1534. Wittenberg: Hans Lufft.

Auch aktuelle Schulbibeln greifen häufig auf diese Art der belehrenden explikativen Illustration zurück. Wie beispielsweise die Zeichnung eines geöffneten historischen Felsengrabs in der Neuen Schulbibel (Braunschweig 1973) dazu dient, die Ereignisse am Grab Jesu besser nachvollziehen zu können, das sich von Gräbern, wie wir sie

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heute kennen, deutlich unterscheidet (Abb. 7 nach Mk 16), so liegt die Funktion der photographischen Abbildung nahöstlicher Flachdächer darin (vgl. Abb. 8), die Bedeutung des Verses 2 Sam 11,2: Und es begab sich, dass David um den Abend aufstand von seinem Lager und sich auf dem Dach des Königshauses erging; da sah er vom Dach aus eine Frau sich waschen; und die Frau war von sehr schöner Gestalt.

erschließbar zu machen. Das Bild zeigt, wie man sich entsprechende Gebäude, auf deren Dächern man spazieren gehen kann bzw. konnte, vorzustellen hat.

Abb. 7: Felsengrab aus Mk 16 (die Frauen am Grab), Neue Schulbibel, bearbeitet für den Unterricht an deutschen Schulen. Braunschweig 1973, 249.

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Abb. 8: Nahöstliche Flachdächer aus 2 Sam 11 (David und Batseba), Neue Schulbibel 1973, 192.

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4.2 Deklaration (bezeugende/kerygmatische Funktion) Neben der Funktion des Belehrens (Information) steht vor allem die des Bezeugens/Kerygmas im Zentrum bibelillustrativer Transkriptionen. Bei christlichen Bibelillustrationen, die sich diesem funktionalen Typus zuordnen lassen, geht es anders als bei solchen belehrender Art nur am Rande um die Vermittlung von Information. Dieser Akt wird weitestgehend dem biblischen Text selbst überlassen. Die Bedeutung dieser Art von Bibelillustration liegt v. a. im Vorgang des Bezeugens, des Kerygmas. Diese Zeichenhandlung ist stets deklarativer Natur: Jesus wird im Bild als der Christus (als deus revelatus) gezeigt, bezeugt und verkündigt. Das Bild berichtet von der Gottesbegegnung, dem Evangelium, und zielt darauf ab, den Rezipienten zu einer ähnlichen Begegnung zu führen (vgl. Schwebel 1966). Es zeigt, wovon sich nicht angemessen sprechen lässt. Es indiziert eine (persönliche) Gotteserfahrung, die man nur schwer in Worten fassen kann (zum Unsagbarkeitstopos vgl. Liebert in diesem Band, „Unsagbares“; Lasch/Liebert 2015, 478f., im Folgenden 478): Dieser Topos erscheint zunächst in Situationen, in denen das Subjekt eine Erfahrung gemacht hat resp. vorgibt, sie gemacht zu haben, die so außergewöhnlich ist, dass es nicht mehr auf die gewohnten Kommunikationsroutinen zurückgreifen kann und dann ‚schwelgt‘, ‚stammelt‘, ‚verstummt‘, ‚weint‘ oder am ganzen Körper ‚zittert‘ (Kommerell 1962; Heimböckel 2003; Gülich 2005; Lasch 2005; Schiewer et al. 2010).

Der Akt, der mit Illustrationen dieses funktionalen Typs vollzogen wird, ist grundsätzlich ein doppelter, ein den Glauben bezeugender wie auch diesen hervorrufender, „durch welchen Gott selbst zu dem angesprochenen Menschen in eine heilvolle Beziehung tritt“ (Körtner 2005, 1025). Es handelt sich hier um Bildakte, bei denen das Verkündigte (vgl. Ebert in diesem Band) bereits „im Augenblick des Verkündigtwerdens in Kraft tritt“ (Körtner 2005, 1024). Dieser deklarativen Klasse von Bildhandlungen lassen sich vor allem selbstständig entstandene visuelle Transkriptionen des 20. und 21. Jahrhunderts subsumieren, die nachträglich zur Bibelillustration übernommen wurden. Oft handelt es sich dabei um künstlerische (häufig expressionistische bzw. als expressiv beurteilte) Bearbeitungen biblischen Stoffes, die von individuellen Gotteserfahrungen zeugen und diese weitergeben (vgl. Lasch in diesem Band). Als Beispiel für diese Form der Bibelillustration kann Emil Noldes Bildwerk mit dem Titel Jesus und die Schriftgelehrten aus dem Jahr 1951 gefasst werden, das u. a. 1964 zur Illustration des 2. Kapitels des Lukasevangeliums (Der Zwölfjährige Jesus im Tempel, Lk 2,41–52) in die Württembergische Schulbibel (Stuttgart 1964, mit vereinfachtem Luthertext) aufgenommen wurde. Das Konzept dieser Bibelabbreviation für den evangelischen Schulunterricht ist bereits bezeichnend für die bezeugende/kerygmatische Funktion ihrer Illustrationen:

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Alle Bilder in diesem Buch stammen von Künstlern, denen die biblischen Berichte und Erzählungen einen so tiefen Eindruck machten, daß sie ihm mit Pinsel und Griffel Gestalt gaben. Keiner von den Künstlern war dabei, als Jesus am Kreuz starb. Und doch haben sie Jesus gemalt und haben mit ihren Farben nacherzählt, was sie in den Bibelworten hörten. Ihre Liebe und Ehrfurcht haben sie in ihren Bildern zum Ausdruck gebracht. Darum können uns ihre Werke helfen, die Bibel besser zu verstehen. Diese sollen uns wie ein Fenster sein, durch das wir hindurchsehen können in die verborgene ‚Welt Gottes‘, die uns Jesus Christus mit seinem Wort öffnet. (Württembergische Schulbibel 1964, 462)

Das Bild Noldes zeigt Jesus als Knabe inmitten dreier Schriftgelehrter im Gespräch (vgl. Redegestus der Schriftgelehrten in Abb. 9). Die Bedeutung des Bildes ergibt sich kaum aus der visuellen Vermittlung von Inhalten der biblischen Erzählung um die Jugend Jesu. Vielmehr steht die Verkündigung des Dargestellten Jesus als Christus im Zentrum, die getragen ist von der parabildlichen Zeichenmodalität der Farbe: Hier wird ein Kontrast von hell leuchtendem Kind und dunkel gestalteten Schriftgelehrten etabliert, die vom ausstrahlenden Licht Jesu erfasst, angestrahlt und durch dieses erleuchtet werden. Die reduzierte Darstellung vom Beginn des Wirkens Jesu nach Lk 2 wird auf diese Weise kerygmatisch. Sie wird verbunden mit einem zentralen Motiv des Johannesevangeliums: „Ich bin als Licht in die Welt gekommen, auf dass, wer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe“ (Joh 12,46). Das Bild zeugt von diesem Glauben, trägt ihn in sich weiter.

Abb. 9: Jesus und die Schriftgelehrten, Emil Nolde 1951 (aus: Württembergische Schulbibel 1964, Abb. 26 ).

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Illustrationen dieser Funktionsklasse sind allerdings nicht ausschließlich auf solche der Neuzeit beschränkt. Bereits seit der Reformationszeit lassen sich immer wieder Illustrationen dieses Typs ausmachen. So können schon die Prophetenbilder Luthers dieser bezeugenden/kerygmatischen Art von Bibelillustrationen zugeordnet werden (hier am Beispiel der Illustration zu Hos):

Abb. 10: Prophetenbild Hosea, Luther-Bibel 1534. Wittenberg: Hans Lufft.

Denn: Auch diese narrative, in das Prophetenbuch einleitende Darstellung (vgl. zu dieser Art der Illustration erneut Kapitel 4.1.1), in deren Vordergrund der predigende Hosea dargestellt ist (vgl. Abb. 10), gibt – vorausweisend – den Ausblick auf Golgatha und den auferstandenen Christus frei, der den Tod besiegt. Wie in der ntl. Transkription Noldes verweist auch dieses atl. Bild auf die Erlösung, das Kerygma, das den Rezipienten über die Angaben des sprachlichen Bibeltextes an ensprechender Stelle hinausgehend „zur Hauptsache des Alten Testaments hin lenkte: zur Weissagung auf das Heil und zur Erfüllung im Neuen Testament“ (Schmidt 1935, 236).

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5 Fazit und Ausblick Im vorliegenden Beitrag wurden – nach einem knappen historischen Überblick – exemplarisch Tendenzen der bildlichen Bezugnahme auf den biblischen Text beschrieben, z. B. mit Blick auf die Frage, was in einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten religiösen Kontext zum Referenzgegenstand der Bibelillustration gemacht wurde oder wie bildlich auf den biblischen Text semantisierend Bezug genommen wurde. Während sich mit Blick auf das Was eine allmähliche, von theologischen Positionen getragene Verschiebung von der visuellen Bezugnahme auf atl. Texte hin zu ntl. feststellen lässt, so ist das Wie zunächst als belehrend-narrativ, dann als belehrend-explikativ und später zunehmend als bezeugend-kerygmatisch zu charakterisieren. Vor allem sollte mit dem vorliegenden Beitrag eine wichtige Eigenschaft religiöser Kommunikation in den Blick gerückt werden: Selbst in einer Schriftreligion wie der christlichen, in der sprachliche Texte – in diesem Fall die der Bibel – zentrale Orientierungs- und Bezugspunkte jedweder Auslegung (von Vorgängen des Verstehens und der Wissenskonstitution) sowie Verkündigung (von Zeugnis und Weitergabe) sind, werden gesellschaftlich relevante Prozesse der transkriptiven Bezugnahme auf diese Referenztexte, Versuche ihres Erklärens, ihres Verständlichmachens sowie der Glaubensbezeugung und -verbreitung nicht ausschließlich sprachlich vollzogen. Intermodale Prozesse der Transkription, d. h. der syntaktischen, semantischen und funktionalen Bezugnahme auf sprachliche Texte durch Transkripte anderer Zeichenmodalität(en) stellen auch mit Blick auf die Domäne der religiösen Kommunikation eine selbstverständliche Praxis des menschlichen Zeichenhandelns, des Umgangs mit Wissen bzw. Bedeutung in und von der Welt, der Erfahrung mit Gott dar. Sie illustrieren einen spannenden wie wichtigen Zugriffsbereich kulturorientierter sprachwissenschaftlicher Forschung, die danach fragt, wie kulturelle (hier speziell: religiöse) Bedeutungsstrukturen, d. h. Strukturen des kollektiven Wissens oder Glaubens kommunikativ konstituiert, etabliert und weiterentwickelt werden. Die christliche Bibelillustration ist nur ein Beispiel einer solchen veranschaulichenden (konkret: belehrenden oder bezeugend-kerygmatischen) Bezugnahme auf religiöse (hier: biblische) Referenztexte. Auch die Beschreibung weiterer Formen transkriptiver Prozesse (beispielsweise der Aufnahme und Verarbeitung religiöser Stoffe im Film oder in der Musik), deren Relevanz im Rahmen öffentlicher Wahrnehmung von Religion längst nicht mehr zu unterschätzen ist, bietet viel Potential für zukünftige Differenzierung und strukturierende Vertiefung und ist es wert, näher betrachtet zu werden.

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6 Literatur 6.1 Textausgaben Avicenna: De generatione embyonis. Manuskript CLM 527. Bayerische Staatsbibliothek München. Aristoteles: Über die Seele. De anima. Griechisch/Deutsch. Mit Einleitung. Übersetzt nach W. Theiler. Hrsg. Von Horst Seidl. Hamburg. Luther, Martin (1883–2009): D. Martin Luthers Werke. 120 Bde. Weimar (WA).

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Angelika Jacobs

18. Metamorphosen des absoluten Buches zwischen 1800 und 1900 Abstract: Zwischen dem Wissens- und Sprachoptimismus der Aufklärung und der Wissens- und Sprachskepsis des späten 19. Jahrhunderts entsteht der neue Mythos des absoluten Buches. Die Frühromantiker entwickeln aus den erkenntnistheoretischen Reflexionen über die Kluft zwischen sinnlicher Anschauung und diskursivem Verstand und der systemphilosophischen Pathosformel des Absoluten ein konstruktives Wissenskonzept, in dem Mathesis und Poiesis, Glauben, Wissen und Fiktion interagieren: Bibel, Enzyklopädie und Roman überlagern sich um 1800 in der Vorstellung eines Buches, das den Zugang zur Idee denk- und darstellbar macht und den Hiatus zwischen Erfahrung und Denken progressiv und approximativ überwindet. Das Konzept des absoluten Buches schließt an jüdische und christliche Auffassungen vom Buch und Buchstaben als Repräsentant, Schrift oder Gefäß des Logos an. Mit ihm rücken die Reflexion über die Funktionen und Grenzen von Sprache und das Denken in mathematisch-kombinatorischen Strukturen ins Zentrum einer aufklärungsdialektischen Epistemologie ein, die Offenbarung und Wissen, Wissen und Subjektivität durch wissenspoetische und kunstreligiöse Utopien vermitteln will, während die postromantischen Modelle diesen Anspruch in Frage stellen. Die Konzeptionen des absoluten Buches bei Novalis, Brentano, Kierkegaard und Mallarmé zeichnen sich durch ein hohes Bewusstsein bezüglich der produktiven Rolle des Lesers, der beteiligten Medien und der zugrundeliegenden Entzweiungsphänomene aus. In ihren Darstellungsverfahren für das Undenk- und Unsagbare werden die Funktionen begrifflicher, poetischer und mathematischer Sprach- und Zeichensysteme sowohl kombiniert als auch gattungs- und disziplinenübergreifend ausdifferenziert. Damit leistet die Denkfigur des absoluten Buches, die sich im 19. Jahrhundert mit dem Wandel von Glaubens-, Herrschafts- und Wissenskulturen sowie neuen analogen Aufschreibesystemen auseinanderzusetzen hat, ihren Beitrag zur modernen Umbesetzung des religiösen Buch-Mythos und der Sinnstiftungstechnik des Lesens. 1 2 3 4

Einleitung: Die Kulturtechnik des Lesens Metamorphosen des absoluten Buches nach Kant Ausblick: Das absolute Buch in der Moderne und Postmoderne Literatur

DOI 10.1515/9783110296297-019

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1 Einleitung: Die Kulturtechnik des Lesens Wollte man heuristisch ein kognitiv-metaphorisches Schema (Lakoff/Johnson 2011) des Lesens erstellen, so wäre dieses – unter Vernachlässigung der multiplen Formen und Medien des Lesens (Giesecke 2002, 232ff.) – als Prozess der Entschlüsselung und Aufnahme von Informationen zu beschreiben, durch den aus codierten Einzelelementen eine abstrakte Sinn-Einheit erstellt wird (Breidbach 2008). In linearen Schriftsystemen werden dabei aus einer Reihe diskreter Elemente, den Buchstaben, Wörter und aus Wörtern wiederum Sätze generiert, wobei die jeweils höhere Einheit aus der gemeinsamen Ausrichtung oder Bestimmung der selegierten und kombinierten Einzelelemente entsteht. Stellt das Erkennen und Benennen von Elementen eine analytische Operation dar, so handelt es sich bei der Verknüpfung um eine Syntheseleistung, die erst den Text erzeugt und damit den eigentlichen Prozess des Lesens ausmacht. Lesbarkeit und Sinnhaftigkeit sind demnach Korrelate des Textes als Resultat eines instruierten Analyse- und Syntheseprozesses, an dessen Ende eine übergreifende Gesamtaussage steht. Der Text kann dabei analoger Art sein wie die Äußerungen der menschlichen Stimme (Ong 1987) oder digitaler Art wie der alphanumerische Code des phonetischen Alphabets. Historisch erfolgt der Übergang von der gesprochenen zur geschriebenen Sprache und von der Wort- zur Lautschrift über einen langen Zeitraum in einem komplexen Prozess zunehmender Visualisierung von Worten und Silben bis hin zu einzelnen Buchstaben (Konitzer 2006, 17–91). Im Gegensatz zum mantischen Lesen in nichtschriftlichen Texten wie tierischen Eingeweiden, Sternenkonstellationen oder Tänzen (Benjamin 1980) ermöglicht die Schriftform ein situationsunabhängiges Aufnehmen, Speichern und Weitergeben von Inhalten jenseits oraler Tradierungsformen. Die schriftbasierte Form des Lesens, die räumliche und zeitliche Distanzen überbrückt, ist in westlichen Gesellschaften zur Grundlage kulturgeschichtlicher Selbstvergewisserung geworden (Stein 2006). Sie entlastet das persönliche Gedächtnis und archiviert standardisierte Informationen. Schafft die digitale Alphabetschrift bereits eine Distanz zu den unmittelbaren Formen des Mitteilens, Lesens und Vergessens, so bedeutet die frühneuzeitliche Erfindung des Buchdrucks eine weitere Potenzierung dieser Kluft. Der gedruckte Text muss den Bezug zu den mündlichen Kommunikationsrahmen der mittelalterlichen Handschriftenkultur durch Rahmenerzählungen, Bebilderungen und Gliederungshilfen im Text selbst reproduzieren, um das Aufführungssystem zu ersetzen (Giesecke 1998, 350). Auch der Leser muss, unabhängig von den mündlichen Vermittlungsszenarien des lauten Vorlesens, Erklärens und Diskutierens, die Struktur des Gelesenen erinnern respektive antizipieren und eigenständig denkend im Text navigieren. Das distanzsprachliche Schreiben und Lesen verstärkt aber nicht nur die interne literale Konzeption der Werke. Nach Giesecke fördert der Buchdruck auch naturwissenschaftliche Perspektiven und ruft ein neues Bezugssystem auf den Plan, die auf die Enzyklopädie

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zulaufende Beobachtung der äußeren Realität (Giesecke 1998, 306–328, 420–440). Gegenüber der gelehrten Kennerschaft alter kanonischer Texte werden das autonome Werk und sein Autor ins Recht gesetzt und am Maßstab der (vornehmlich optischen) Entsprechung zur Realität und der Originalität gemessen (Hiebler 2007, 336f.). Dies betrifft vor allem das Selbstverständnis schriftbasierter Geschichtsreligionen, das in besonderem Maße von der Kulturtechnik des Lesens und ihren Institutionalisierungen abhängt. Die Auslegung eines Textes, der wie Thora und Bibel als göttliche Offenbarung gilt, ist Sache von Schriftgelehrten, denen als Experten und Mittlern zwischen heiligem Text und aktuellem Kontext eine diskursbildende und diskurslenkende Funktion zukommt. Ihr Deutungsmonopol wird durch den Buchdruck und die allmähliche Alphabetisierung sowie durch den religiösen Status aufgebrochen, den das Lesen mit der Reformation erhält. Melanchthon und Luther eröffnen dem Laien die Möglichkeit, nicht mehr durch gute Werke und den Ablass der Sünden, sondern allein durch den Glauben und die Auslegung der ins Deutsche übersetzten Bibel seines Heils gewiss sein zu können (Breidbach 2008, 202ff.; Blumenberg 1989, 63, 107). Durch den Buchdruck gefördert, avanciert die häusliche Bibellektüre zum Zentrum einer langen Revolution des Lesens als gemeinschaftlicher Auslegungspraxis von Nichtexperten. Ihr tritt im Zuge der Entkoppelung von moralischem und ästhetischem Diskurs im 18. Jahrhundert die Lektüre schöner Literatur zur Seite, die zunehmend privatreligiöse Deutungsfunktionen übernimmt, während der heilige Text Gegenstand aufklärungstheologischer Kritik wird. Der moderne Bildungskanon besteht zunehmend auch aus literarischen Texten, die Rezeptionsformen heiliger Texte beanspruchen können; umgekehrt muss der bisher hodegetisch gesicherte Offenbarungsstatus der Bibel historisch-hermeneutisch begründet werden (Assmann 1995). Die aufgeklärte Pädagogik nutzt das neue Sozialsystem Literatur, um den selbstbestimmten Wissenserwerb und das subjektive Urteilsvermögen zu fördern, verwahrt sich zugleich aber scharf gegen die verführende Wirkung schöner Literatur, vor allem des Romans. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Nutzung öffentlicher Bibliotheken und einer ab 1800 explodierenden Buchproduktion wird die sinnerschließende Aktivität des Lesens mehr und mehr als Resultat einer persönlich und biographisch bedingten Wahl begriffen und jenseits rhetorischer Muster als individueller Stil verstanden. Entsprechend wandelt sich das Verhältnis zum Buch vom instruktiven Lesen in einem kanonischen Werk zum selbstbestimmten stillen Lesen von Autoren und Inhalten, das auf subjektiver Auswahl basiert, persönliche Lesarten generiert und als Habitus eigens erlernt werden muss (Schmidt 1991, 24–29) – „Der wahre Leser muß der erweiterte Autor sein“ postuliert das 125. Blüthenstaub-Fragment von Novalis (Novalis 1999, II, 470). Im 19. Jahrhundert gewinnt das Lesen durch Politisierung und Kommerzialisierung die Massen, verliert jedoch an Sinnlichkeit und muss um 1900 seine Schlüsselstellung gegen die Konkurrenz neuer Medien behaupten, die in der Lage sind, analoge Komponenten der Kommunikation zu speichern und wiederzugeben (Kittler 1995).

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1.1 Das Buch als Metapher für das Ganze der Erfahrung Der Metaphernkomplex der Lesbarkeit der Welt als Buch, aus dem das Konzept des absoluten Buchs hervorgeht, hat viele Spielarten hervorgebracht: das Buch der Offenbarung respektive Geschichte, das Buch der Schöpfung oder Natur sowie das Buch der Welt und des Lebens. Sie alle repräsentieren einen kulturgeschichtlichen Typus des Sinnbesitzes, der drei Voraussetzungen impliziert: den Anspruch auf Sinnhaltigkeit der Erfahrung, den Zugang zum Sinn über die Schrift und die kulturelle Idee des handgeschriebenen oder gedruckten Buches. Besonders in der Metapher vom Buch der Natur verbindet sich die Differenz zwischen digitaler und analoger Realität zur Ganzheit. Doch das gedruckte Buch kann auch zum Rivalen der Welterfahrung werden, wenn es einen autonomen Modus der Totalitätserfahrung beansprucht. Dies ist vor allem in autoritativen Weltauslegungen wie der Thora und der Bibel der Fall, die den metaphorischen Gebrauch der Buchmetapher für Welt und Natur blockieren können (Blumenberg 1989, 34). Historisch gesehen konkurrieren sie mit dem von der griechischen Antike entwickelten Typus des Sinnbesitzes. Dieser definiert sich, vom unmittelbar anschauenden Verhältnis zu den Dingen herkommend, über das Aufnehmen von Bildern (eidola). Im Gegensatz zur monotheistischen Offenbarung Gottes im Buch der Schöpfung oder Geschichte gelangt die Welterfahrung der griechischen Antike zu keiner Ganzheitsvorstellung: Wort und Vernunft werden im Logosbegriff zwar metaphorisch gleichgesetzt, doch erfolgt keine Syntheseleistung im Sinne eines Lesens im Buch der Natur (Blumenberg 1989, 9–21): Hans Blumenberg zufolge fehlt der Schritt von der sinnlichen Unmittelbarkeit zu den Dingen und vom Aufnehmen einzelner Bilder zur Sonderung der Phänomene durch Begriffe, der Voraussetzung jedes Ganzheitskonzepts ist (Blumenberg 1989, 10f., 36–46; vgl. Cassirer 1994, 78–83). Für diesen Zusammenhang ist der altgriechische Begriff stoichos (pl. stoicheia) zentral, der die Elemente als ‚Wurzeln des Seins‘ (Empedokles) bezeichnet. Wie in den Verwendungen als Bezeichnung für die Ordnung des Heeres oder des Verses deutlich wird, unterhält er Verbindungen zu den geometrischen Grundformen wie zu den Laut- und Schriftzeichen (Diels 1899, 6, 14–23, 83f.; Blumenberg 1989, 37). Aus schriftgeschichtlicher Sicht stellt er die Basis dar, von der aus die platonische Philosophie die Beantwortung der Frage nach der Natur des Wissens und der Herkunft der Elemente angeht und (im Buchstabengleichnis der Politeia 368c-369a) in einem logisch-ontologischen Doppelsinn als Mimesis diskutiert. In der Sprachreflexion des Kratylos führt dies nach Jürgen Villers zu der für die abendländische Tradition so folgenreiche[n] Konzeption einer Parallelität der Strukturen von Sprache und Realität: Einer als hierarchisch strukturiert gedachten Ontologie wird ein parallel geordneter Logos zugeordnet […], das Schriftmodell der buchstabierenden Erzeugung von Sinn (im Lesen und Schreiben) [wird] – unangemessenerweise – übertragen [ ] erstens auf die Konstitution sprachlichen Sinns und zweitens auf die Erklärung der gesamten Natur, die analog als Erkenntnis auch ihrer Grundbausteine gefasst wird. Dies stellt somit eines der frühesten

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Kapitel der abendländischen Metapher vom Buch der Natur dar, dessen Elemente (die Buchstaben des Alphabets) man nur kennen (zu lesen wissen) muss, um zu einer vollständigen Naturerkenntnis zu gelangen. (Villers 2005, 61f., Herv. i. Orig.)

Wie konsequent das platonische Denksystem in der Lage ist, ein tragfähiges Modell der buchstabierenden Erzeugung metaphorischen Sinns zu entwickeln, kann hier nicht ausdiskutiert werden. Für das Konzept des absoluten Buches genügt der typologische Unterschied zwischen dem sinnlich-bildlichen Sinnbesitz und dem schriftlich vermittelten, der mit der Buchmetapher ein synthetisch hergestelltes Sinnganzes bezeichnet: Die Welt ist durch Denken, nicht durch Anschauung entstanden. Darin liegt, daß die Natur erfaßbar wird für die Buchmetaphorik, indem sie nicht durch Anschauung, sondern durch Denken verstanden, nämlich ‚gelesen‘ werden kann. (Blumenberg 1989, 48)

Dem Lesen steht das bildlose Hören zur Seite, zu dem die jüdisch-christliche Tradition eine besondere Beziehung entwickelt, sei es zur göttlichen Stimme als Modus der Weltschöpfung oder als Offenbarungsform des Gesetzes und Befehls. Entsprechend eng ist das göttliche Wesen mit dem Sprechen und Schreiben verbunden: Die Welt ist Schöpfungswort, das den von Gott geschaffenen Dingen als schriftförmige Signatur inhärent und im gerufenen Namen präsent ist, ebenso wie in der heiligen Schrift, die Gottes Wort offenbart. Solche Vorstellungen sind der sprachfernen polytheistischen Kosmogonie fremd. Während die griechische Antike keinen schreibenden Priesterstand kennt und das Gedächtnis erst spät als Schrift auffasst (Derrida 1995, 154f.; Schreiber 1983, 121f.), ist die materiale und konzeptuelle Einheit des heiligen Schrift-Buches für die jüdisch-christlichen Buchreligionen zentral. Als Offenbarungen verstanden, müssen Thora und Bibel als Einheit betrachtet werden. Da die in ihnen enthaltenen Überlieferungen aber heterogen und somit auslegungsbedürftig sind, hängt ihr Status von der Wandlungsfähigkeit des ‚dunklen‘ und löchrigen sakralen Textes (Auerbach 1982, 12ff.) und seiner professionellen Exegese ab (Schreiber 1983, 124; Schmidt 1991, 13–22). Die Ganzheitsmetapher des Buches impliziert nach Blumenberg zwei gegenläufige Bestrebungen, die in der westlichen Kulturgeschichte signifikante Veränderungen durchlaufen. Zum einen besteht eine Grundspannung zwischen der Einheit des Buches (wie in der Vorstellung von der Schriftrolle der Welt, die am Jüngsten Tag wieder eingerollt wird, oder vom Weltplan in der Thora) und der Tendenz zur Vervielfältigung der himmlischen Bücher. Letztere zeichnen in der jüdischen Tradition die Taten der Menschen auf und laufen damit auf den Gegentyp zum singulären Buch zu, die Bibliothek. Zum anderen koexistieren die in der Buchmetapher miteinander verklammerten Totalitätskonzepte der Geschichte und der Natur innerhalb der christlichen Tradition keineswegs reibungslos (ein Konflikt, den das magische Verhältnis von Schrift und Weltplan in der Thora so nicht kennt): Der Gedanke einer geschichtlichen Entwicklung, die auf einen besseren Zustand der Erlösung zuläuft,

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dementiert die Möglichkeit einer verständlichen Aussprache Gottes in der von ihm geschaffenen Natur, welcher der Mensch als Gottes Ebenbild ursprünglich angehört – Offenbarung und Apokalypse provozieren die Frage nach der Güte der göttlichen Schöpfung (Blumenberg 1989, 22–35). Der Mythos vom Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies liefert das Erklärungsmodell für den Übergang vom Naturzustand in die Geschichte. Im antagonistischen Verhältnis zwischen dem Buch der Natur und dem der Geschichte, das seit Augustinus vor allem die Exegese der Genesis bestimmt, reproduziert sich die tiefe Rivalität zwischen der Orientierung der Theorie am Ideal der Abbildung und der am Ideal des Namens. Denn der Name einer Sache ist eben das, was an ihrem Bild oder an der Summe ihrer Bilder schlechthin nicht feststellbar ist, aber Herrschaft selbst über das gewährt, was nicht vergegenwärtigt werden kann. (Blumenberg 1989, 88)

Das Buch der Natur kann daher als Quelle der Sinngebung gegenüber dem Offenbarungsstatus der Schrift verblassen. Umgekehrt kann der Bedarf an Sinnbildung und Lesbarkeit entfallen (wie im Pelagianismus und in pantheistischen Naturphilosophien) oder die Lesbarkeit kann hinterfragt respektive verneint werden und mit ihr die Möglichkeit zur Bildung von Sinnfiguren. Letzteres ist vor allem in kritischen, ironischen und nihilistischen Denkweisen der Fall.

1.2 Das absolute Buch – Genese des Konzepts und Forschungsstand Aus den konfliktuösen Verschränkungen von Natur- und Offenbarungsparadigma resultieren in der Neuzeit dialektische Prozesse, die für das romantische Konzept des absoluten Buchs von Belang sind, das an beiden Modellen partizipiert. Seit der Renaissance der Naturwissenschaften verlagert sich das Paradigma der Lesbarkeit vom kanonischen Text und seinem aktualisierenden Kommentar zum Erfahrungswissen des real Beobachtbaren. Das Buch der Natur tritt zunehmend als gleichwertige Offenbarungsquelle neben die Heilige Schrift, mit deren Aussagen die Ergebnisse der Naturforschung noch im 19. Jahrhundert harmonisiert werden müssen. Da die göttliche Ordnung der Natur durch Experimente und Beobachtungen nur beschränkt entzifferbar ist, werden die alten Befunde der deskriptiven Naturgeschichte hinzugezogen, um die empirischen Resultate weiterhin als Verweise auf eine sinnhaft-göttliche Ordnung lesen zu können. Der frühe Buchdruck verändert dieses kompensatorische Verfahren durch typographisch normierte und vervielfältigte Informationen. Neben der volkssprachlichen Bibel als Zentrum religiöser Praxis avanciert das gedruckte Buch zum Mythos einer Informationsverarbeitungsmaschine, die nichts mehr vergisst. Die Welt erscheint nun weniger als Buch und göttliche Schrift, sondern im scheinbar unendlichen Wissensspeicher des Buches, der vorhandene wie neue Erkenntnisse sichert und kumuliert (Giesecke 1998, 150f.; Gies-

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ecke 2002, 224, 260f.). Das potenzierte Sammeln und Aufnehmen von Informationen bereitet einem Denken in logischen und historischen Identitätsparametern, dem aufgeklärten Enzyklopädie-Projekt und dem zugehörigen Ideal umfassender Bildung den Weg. Doch wird dieses Wissensmodell schon um 1800 kritisch modifiziert, um spätestens um 1900 zu kollabieren, nachdem die wissenschaftlichen Welterklärungsmodelle massiv an säkularer Deutungshoheit verloren haben – die Destruktion der Hoffnungen auf Sinnstiftung durch Wissen wird vor allem für die Gattung des Romans strukturgebend, wie Gustave Flauberts Enzyklopädiesatire Bouvard et Pécuchet (posthum 1881) oder Georg Lukácsʼ Theorie des Romans (1916) zeigen. Als zentraler Bestandteil der frühromantischen Poetik und Enzyklopädistik stellt das Konzept des absoluten Buches den Scheitelpunkt zwischen dem Wissens- und Sprachoptimismus der Aufklärung und der Wissens- und Sprachskepsis des ausgehenden 19. Jahrhunderts dar. Es kennt drei Prototypen, die miteinander interagieren: die historisch-kritisch revidierte Bibel, den Roman und die frühromantische Enzyklopädie, die Novalis zusammen mit Friedrich Schlegel als Gegentypus zur Encyclopédie Diderots und d’Alemberts konzipiert. Das absolute Buch wurde zunächst als Gegenstand der Neugermanistik und Komparatistik beforscht (Kesting 1965 und 1974 zu Novalis und Mallarmé; Schreiber 1983 zu Novalis und Friedrich Schlegel; Schmidt 1991 zu Brentano). Die entscheidende theoretische und kulturgeschichtliche Erweiterung des Sujets vollzog Hans Blumenbergs Abhandlung über die Lesbarkeit der Welt, die 1981 ein metaphorologisches Alternativkonzept zur literaturgeschichtlichen Toposforschung von Ernst Robert Curtius, vor allem aber zur philosophischen Begriffsgeschichte entwickelte. Blumenberg verfolgt die Entwicklung der Buch-Metapher seit den polytheistischen und monotheistischen Traditionen der Antike und erörtert die Vorbedingungen, Umbesetzungen und Aporien des Lesbarkeitsparadigmas. Seine konkreten Thesen zum absoluten Buch als „wahnhafter Selbstermächtigung“ des ‚magischen Idealismus‘ um 1800 (Blumenberg 1989, 241, 261) gehen jedoch am Konzept der romantischen Ironie und an der innovativen Zeichenkonzeption der frühromantischen Enzyklopädistik vorbei. Sie sind vor allem aus dekonstruktiver und wissensgeschichtlicher Sicht revidiert worden (Schreiber 1983; Kilcher 2003; Neumann 1976 und 2004; Jacobs 2013, 127–165). Die Weiterbearbeitung des Themenkomplexes erfordert einen interdisziplinären Zugang zum Thema, der medienkulturgeschichtliche (Kittler 1995; Eco 2002; Giesecke 1998; Wenzel 2000; Giesecke 2002; Hiebler 2011), medienphilosophische (Derrida 1972; Villers 2005; Konitzer 2006), wissens- und kulturpoetische (Kilcher 2003; Neumann 2004), semiotische und metapherntheoretische (Eco 1962, 1985; Derrida 1999; Lakoff/Johnson 2011; Eder 2007) Perspektiven sowie buchgeschichtliche (Janzin/Güntner 1995), theologisch-philosophische (Frank 1989; Huizing 1996; Förster 2002) und linguistische (Busse/Teubert 2013) Grundlagenforschungen berücksichtigt und integriert. Die konkreten Bezüge des absoluten Buches zu Sprache und Religion ergeben sich zum einen aus der religiösen Tradition, zum anderen aus dem idealistischen

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Begriff des Absoluten. In der christlichen Tradition fungiert das Buch als symbolischer Repräsentant des Logos (Wenzel 2000, 33), der sich im empfangenden Körper Marias und in Christus inkarniert und nach dessen Opfertod in den Schriften der Apostel exkarniert, um in der Aneignung des Evangeliums, in der Bibel und im Sakrament der Eucharistie wieder lebendig zu werden. Das heilige Buch impliziert daher sowohl die Fleischwerdung des Wortes als auch die Schriftwerdung des Fleisches, das Einschreiben oder -speisen göttlicher Botschaften in den Schrift- oder Buchkörper und das Auslesen oder Verlebendigen der heiligen Botschaft aus dem Medium, das sie beherbergt oder transportiert (Wenzel 2000). Hingegen wird die moderne Pathosformel des Absoluten, die sich mit dem alten Konzept des heiligen Buches verbindet, erst in den Systemphilosophien Fichtes, Schellings und Hegels ausbuchstabiert. Kant selbst verwendet in der transzendentalen Dialektik statt des theologischmetaphysischen Grundbegriffs des „Absoluten“ den des „Unbedingten“ zur Kennzeichnung von Aussagen, welche die Erfahrung transzendieren. Während Verstandesurteile immer mit Bedingtem zu tun haben und durch den unabschließbaren Regress der Bedingungen nie zur Gewissheit kommen können, zielt die Vernunft auf die Totalität dieser Bedingungen. Sie ist in der Lage, die unendliche Reihe der Bedingungen als abgeschlossen zu denken, kann diese dafür aber nicht als realiter gegeben erkennen, so dass es sich beim Unbedingten um eine regulative Idee handelt, die auf ‚Seele‘ und ‚Welt‘ sowie ‚Gott‘ als oberstes Prinzip weiterverweist. Auch wenn diese drei theoretisch nicht erkennbar sind, kann aus moralphilosophischer Perspektive doch weiter an ihnen festgehalten werden. Auf dieser – problematischen – Basis konzipieren die folgenden Systementwürfe das Absolute als begründende Einheit aller möglichen Bedingungen, die autonom aus sich selbst heraus existiert. Dies impliziert ein Paradox: Als Totalität aller möglichen Prädikate ist das Absolute nicht vom System zu trennen, zu dem es per definitionem aber in keinem Bezug steht. Folglich kann es entweder als identisch mit dem System oder als radikale Differenz zu ihm gedacht werden. Letzteres führt über Kant hinaus zur Ausbildung von Grenzbegriffen des unvordenklichen Ursprungs oder Anfangs, welche die systematische Einheit der Vernunft in Frage stellen (Jacobs 2010, 14ff.). Fichtes Wissenschaftslehre verweist 1804 auf das unerkennbare Sein an sich, das nur durch seine Erscheinungen zu begreifen ist, Schellings Freiheitsschrift (1809) auf die in der Freiheit gegebene Möglichkeit zum Bösen, die er mit einer anthropomorphen Auffassung Gottes als Person verbindet, im Gegensatz zu einer Konzeption als reine Vernunft oder logisches Abstraktum. Nach Schelling existiert in Gott selbst ein ‚Ungrund‘, der ihn entzweit und dazu führt, dass er mit dem Sein in Freiheit auch das Prinzip des Bösen setzt. Der Kampf zwischen Gut und Böse, in dem die Schöpfung und ihr göttlicher Urheber zu sich selbst kommen, ist für den Menschen, der darin die Schlüsselrolle spielt, als Erlösungsweg lesbar, während er sich sub specie aeternitatis als Selbstoffenbarung Gottes erweist. Damit konvergieren in universaler, spekulativer Perspektive das Buch der Natur und das Buch der Offenbarung. Hegel

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dagegen geht im Anschluss an Kants Gottesidee von der Übereinstimmung des Absoluten mit dem System aus. Als in sich geschlossene Totalität aller möglichen Prädikate, deren Teile sich relationslos (gegenseitig) bestimmen, ist das Absolute als Negation denkbar, die jede Bedingung aufhebt. Da die Negation einen Akt des Bestimmens impliziert, der als begriffliche Operation des Verstandes einen Gegensatz und damit ein Anderes setzt, bleibt die Reflexion auf Totalität immer endlich und in sich defizitär; jedoch vollzieht sich in der Metareflexion auf die unzureichende Verstandesleistung eine dialektische Bewegung des Geistes, für deren Konzeption Hegel nicht auf das diskursive Generieren von Begriffen unter Bezug auf die Anschauung rekurriert, sondern auf die reine Wechselbeziehung zwischen dem positiven Begriff und seinem Gegenteil. Die Grenze zwischen beiden wird dabei als eigenständiges Drittes und Vollzug eines Vermittlungsaktes im Modus des Werdens gedacht (Jacobs 2010, 15f.). Hierfür macht Hegel Anleihen bei Goethes morphologischer Methode, die, auf die Logik angewandt, die Begriffe verflüssigt und ihnen eine Eigendynamik zugesteht (Förster 2002, 336ff.). Auf geschichtlichem Gebiet entwirft er in der Phänomenologie des Geistes (1807) eine teleologische, durch die gesamte Menschheitsgeschichte auf das Absolute zulaufende Bewegung des progressiv zu sich kommenden ‚Geistes‘.

2 Metamorphosen des absoluten Buches nach Kant Anders als der historische Großentwurf der Phänomenologie antworten die Entwürfe der Frühromantiker auf Kants Kritiken und Fichtes Wissenschaftslehre mit einer Kultur des Fragments. Nachdem die Möglichkeit, Einheit und Fülle in der Einheit des Bewusstseins zusammenzufassen, für die Reflexion als unerreichbar erkannt wurde, weil sie dem ‚Grund‘ des Selbstbewusstseins zugehörig ist, der sich dem Bewusstsein entzieht, kann der fehlende Zugang zum Absoluten nur punktuell, durch ein Streben kompensiert werden, das sein Ziel nie erreicht. Die Darstellungsform des Fragments kultiviert dieses ironische Verhältnis zum Absoluten: Als Äußerung des zerrissenen Bewusstseins trägt das Fragment also folgenden Widerspruch aus: es stiftet Einheit im Chaos, denn es beerbt die synthetische Kraft der absoluten Einheit; aber es lenkt die Bindungskraft des Absoluten von der Unendlichkeit ab in die Einzelheit, d. h. es stiftet gerade nicht Totalität, sondern ein Ensemble von Individual-Positionen, deren jede der anderen widerstrebt. Dieser dem Fragment eingeschriebene Widerspruchsgeist ist ein notwendiger Effekt der […] Dekomposition der höchsten Einheit […]. (Frank 1984, 219, Herv. i. Orig.)

Nach dem Geltungsverlust des alten theozentrischen Weltbildes durch Aufklärung und Revolution generiert das Entzweiungsbewusstsein der Frühromantiker jedoch auch neue Konzepte reflektierter Ganzheit, in denen die rationalen Modelle gesell-

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schaftlicher und epistemischer Totalität, die den Metaphysikverlust kompensieren, bereits mit auf dem Prüfstand stehen. Dem enzyklopädischen Wissensspeicher der aufgeklärten Encyclopédie wird eine neue Mythologie entgegengesetzt, die abstrakte Vernunftideen durch ästhetische Darstellung als sinnliche Religion verständlich machen und den fehlenden Bezug zum Erfahrungsganzen poetisch konstruieren soll. Die freie Vernunfttätigkeit der Romantiker hinterfragt synthetische Denkmodelle und einheitliche Selbstbewusstseinskonzepte dabei so konsequent, dass sie ihre eigene Legitimationsbasis gleich mit subvertiert. Synthesen sind nur noch im Modus der Sehnsucht, als objektloses (‚leeres‘) Fühlen denkbar, das sich der Sprache entzieht. Im Unterschied zu Kant wird das Gefühl der Sehnsucht als Vorbedingung wissenschaftlicher Intentionalität und eigener Zugang zum Sein an sich anerkannt (Jacobs 2013, 127–132). Fragment und Totalität „heben sich wechselseitig auf und korrigieren so gleichsam den Totalitarismus des analytischen Geistes, indem sie – ironisch – die unwirkliche, aber seinsollende Synthese gegen die existierende Auflösung ins Recht setzen“ (Frank 1984, 222). Dieser Kippfigur entsprechen die Modelle des absoluten Buches, in denen Religion und Literatur im neumythologischen Sinne kongruieren. Roman und Bibel sollen die Splitter der Vernunft durch ,Einbildung‘ und ,Ahnung‘ zum lesbaren Ganzen zusammenschließen. Nach Friedrich Schlegel kann vor allem der Roman alle Gattungen und Stoffe in sich vereinigen und dynamisieren, ähnlich wie die frühromantische Enzyklopädie, welche die Befunde des positiven Wissens als vermittlungsbedürftige Fragmente im Hinblick auf das absolute Ganze konfiguriert. Schlegel und Novalis betrachten die Enzyklopädie teils konkurrierend, teils analog zum Roman. Beiden liegt ein Konstruktivismus zugrunde, der die unendliche Annäherungsbewegung an das Absolute ausstellt. Daher konnotiert das absolute Buch der Frühromantik stets seine Gegenpole, Fragment und Bibliothek, so wie diese umgekehrt Gattungsbegriffe auf den Plan rufen, die den Anspruch erheben, die Fülle der Einzelwerke oder Wissensfragmente zu integrieren. Roman und Bibel sollen die heterogenen Gattungen des Wissens, Denkens und Darstellens miteinander verklammern und können sich aufgrund dieser Funktionsanalogie gegenseitig repräsentieren. Der Mythos des gedruckten Buches als unendlichem Informationsspeicher, der die Welt in rationalen Klassifikationsparametern erfasst, wird durch den des absoluten Buches überformt, das im Akt des Schreibens und Lesens nach der Weise eines Gesamtkunstwerks ein Weltganzes schafft (Kesting 1974, 425).

2.1 Buch statt System: Die Enzyklopädistik des Novalis Die fragmentarische Enzyklopädistik, die Novalis hauptsächlich im Allgemeinen Brouillon von 1798/1799 im politischen Gestus der Religions- und Mythenstiftung entwirft, basiert im Kern auf einer neuartigen, gegen das französische Modell gerichteten Zeichen- und Sprachreflexion (Kesting 1974, 422f.). In der Encyclopédie

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Diderots und d’Alemberts, deren 35 Bände 1785 vorliegen, fungiert die Sprache als Äquivalent des beobachtenden, methodischen Blicks der Wissenschaft, der das Chaos der Natur souverän zur Ordnung formt. Das quasi transparente Medium Sprache bringt Sache und Begriff zur Deckung und schafft so ein Faktum des Wissens, das Einzelnes und Allgemeines nach den Kriterien der Identität miteinander verbindet. Die schier unendliche Fülle der zu behandelnden Fakten und Stoffe wird zum einen durch ein Netzwerk begrifflicher Querverweise (renvois) strukturiert, das die Ordnung der Dinge samt ihrer unendlich feinen Übergänge mit der disseminierenden des Alphabets verknüpft. Zum anderen erfolgt sie über die Hierarchisierung der Befunde. Die hierfür verwendeten Aufschreibe- und Navigationsverfahren bedienen sich zweier Suchformeln: der Übersichtstabelle (système figuré) in Form eines Stammbaums der Wissensbestände (den in Gedächtnis, Vernunft und Imagination unterteilten connoissances humaines) und der hierarchischen Weltkarte (mappemonde), welche die labyrinthische Flut der Querverweise zum gangbaren Weg durch das Dickicht der Wissenschaften ordnet (Selg/Wieland 2001, Vorsatz). Beide dienen, bezogen auf die statischen Methoden stemmatischer Ableitung und kategorischer Subsumtion, als Metakonzepte, welche die Verkettung der Einzelbefunde zum tendenziell geschlossenen Text simulieren (Kilcher 2003, 245–275). Die strukturierte Fülle der vernetzten und hierarchisierten Befunde überblickt nur der Philosoph aus seiner externen Zentralperspektive. Im Gegensatz zur Rubrizierung von Ordnungsmassen durch Begriffe und deren sekundäre Topographien zielt die frühromantische Enzyklopädistik unter dem Vorzeichen konstruktiver Autonomie auf die Darstellung und Transformation der zugrundeliegenden Ordnungsgesetze selbst. Indem sie wissenschaftliche Begriffe und Theoriebausteine assoziativ rekombiniert, stößt sie als „Klassification aller wissenschaftlichen Operationen“ (Novalis 1999, II, 598, Nr. 552) auf die Ebene der Denkbewegungen vor (Kilcher 2003, 404; Neumann 2004, 122ff.). Für dieses transzendentale Projekt nimmt Novalis die Metaphorik des heiligen Buches in Anspruch, die um 1800 zwischen der historisch-kritischen Sicht der Bibel als Konglomerat heterogener Texte unterschiedlicher Autoren und der Vision einer ‚lebendigen‘ Bibel als ewig werdendem absolutem Buch oszilliert. Letzteres würde Friedrich Schlegel zufolge alle Bücher umfassen und ein „neues Evangelium der Menschheit und Bildung offenbar[en]“, wie schon Lessing formulierte (Schreiber 1983, 130). Entspricht dieser Diskurs generell dem institutionellen Ideal der Universität (Schreiber 1983, 147), so dient die Metapher des heiligen Buches im Rahmen der Enzyklopädistik zur Kennzeichnung eines transgenerischen Zusammenhangs aller Bücher. Dass dieser nur als vielschichtige und fragmentarische Annäherungsbewegung an das Absolute darstellbar ist, reflektiert Novalis 1798 im Briefwechsel mit Friedrich Schlegel vor zeichentheoretischem Hintergrund: Du schreibst von Deinem Bibelproject und ich bin auf meinem Studium der Wissenschaft überhaupt – und ihres Körpers, des Buchs – ebenfalls auf die Idee der Bibel – als des Ideals jedwe-

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den Buchs gerathen. Die Theorie der Bibel, entwickelt, giebt die Theorie der Schriftstellerey oder der Wortbildnerey überhaupt – die zugleich die symbolische, indirecte, Constructionslehre des schaffenden Geistes abgiebt […]. Das soll nichts anders, als eine Kritik des Bibelprojects – ein Versuch einer Universalmethode des Biblisirens – die Einleitung zu einer ächten Enzyklopaedistik werden. (Novalis 1975, 262f., Herv. i. Orig.)

Mithilfe der reflexiven Komponenten „Kritik“ und „Theorie“ wird der enzyklopädische Vollkommenheitsanspruch zum Grenzwert eines semiotischen Konstruktionsprozesses transformiert, dessen „Körper“ das absolute Buch darstellt. Als Ordnungskonzept umfasst dieses zugleich eine Bibliothek, die nicht nur die gesamte Vielfalt des Wissens beinhaltet, sondern zudem noch (gemäß Goethes morphologischem Ansatz) die Genese und Teleologie dieses Wissens zum Vorschein bringen soll: Alle Wissenschaften machen ein Buch aus. Einige gehören zum Register, einige zum Plan etc. […] Beschreibung der Bibel ist eigentlich mein Unternehmen […]. Die ausgeführte Bibel ist eine vollst[ändige] – gut geordnete Bibliothek. Das Schema der Bibel ist zugleich das Schema der Bibliothek.– Das ächte Schema – d[ie] ächte Formel indicirt zugleich seine Entstehung – seinen Gebrauch etc. (Novalis 1999, II, 602, Das Allgemeine Brouillon Nr. 571, Herv. i. Orig.)

Eine solche Transzendentalmetamorphose des Wissens ist unter die großen Versuche einer konstruktiven Überwindung der Antinomie von sinnlicher Anschauung und diskursiver Vorstellung zu rechnen und nur im imaginären Modus des Werdens denkbar: „Mein Buch soll eine scientifische Bibel werden – ein reales, und ideales Muster – und Keim aller Bücher.“ (Novalis 1999, II, 599, Nr. 557) Zu diesem Zweck nimmt die „ächte“ Enzyklopädie Maß an entsprechend beweglichen und integrationsfähigen Gattungsmodellen der Literatur. Neben der Bibel steht die vielschichtige Konfiguration von Goethes epochemachendem Entwicklungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/1796) mit ihren Verweisen, Doppelungen, Paarungen, Variationen, Durchkreuzungen, Kontrasten und Ähnlichkeiten Pate für die Makrostrukturen der Enzyklopädistik. Der Roman dient der Enzyklopädie als Verlaufsschema rhizomatischer Bedeutungskonstruktion (Eco 1985, 126f.); umgekehrt findet das wissenspoetische Kaleidoskop der Enzyklopädie im Roman zur Perspektiven- und Stimmenvielfalt eines Wissenstheaters ohne übergeordnete Systemebene (Neumann 2004, 125–131). Dies zeigt vor allem Novalisʼ eigener ‚Naturroman‘, Die Lehrlinge zu Sais. Die konkrete semiologische Basis für dieses Verfahren formuliert Novalis in der enzyklopädischen „Wechselrepraesentationslehre“. Diese postuliert, dass Zeichen und Bezeichnetes aufeinander verweisen und damit Übergänge zwischen den unterschiedlichen Disziplinen des Denkens und Darstellens, Schriftzeichen und Bild schaffen (Novalis 1999, II, 499 [Nr. 137], 602 [Nr. 571]). Statt der vertikalen Navigation innerhalb einer Begriffshierarchie bilden sie eine horizontale Kombinatorik aus, die analytische Abgrenzungen klarer Bedeutungsentitäten durch Übergänge und Verwebungen, keimhafte Infektion oder Aufpfropfung sowie spielerische Experimentalanordnungen unterläuft. Die innerhalb dieser disseminierenden, sich spaltenden oder in sich zirkulierenden Zeichendynamiken entstehenden Bedeutungen

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sind nicht auf den klaren Nenner der Identität zu bringen, sondern kontextualisieren sich gegenseitig. Diese neuartige Semiologie fußt auf der Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre, in der Novalis schon früh Abstand zum rein anschauenden Objektbezug nimmt: „Mit dem Object ist nichts zu machen, es ist ein Medium, weiter nichts. Das eigentliche Object […] ist das Bild des analytischen Ich.“ (Novalis 1999, II, 48, Fichte-Studien Nr. 64, Herv. i. Orig.). Novalis postuliert, dass das reflektierende Bewusstsein von der vorreflexiven Präsenz des Seinsgrundes im Gefühl abhängig sei: So wie das Gefühl der Spiegelung am fremden Objekt bedürfe, um sich dem Bewusstsein überhaupt zeigen zu können, bedürfe das Objekt des vorreflexiven Bezugs zum Absoluten über das vorgängige Gefühl. Damit spaltet und verdoppelt sich die zwischen Gefühl und Reflexion ‚schwebende‘ Darstellung des Absoluten, die vom Bewusstsein verkehrte Ordnung muss vom Kopf auf die Füße zurückgestellt werden: „Es wechselt Bild und Seyn. Das Bild ist immer das Verkehrte vom Seyn.“ (Novalis 1999, II, 47, Fichte-Studien Nr. 63). Der falsche Schein reflexiver Autonomie wird durch die „Hin und her Direction“ des Denkens korrigiert, die Novalis auch als „ordo inversus“ bezeichnet (Novalis 1999, II, 22, 32, 75 (FichteStudien Nr. 19, 32, 217), Herv. i. Orig.; Jacobs 2013, 133ff.). Demzufolge fordert der Prozess des Philosophierens weniger die hierarchische Übersicht über das Ganze als das permanente Zusammenspiel von analytischer Unterbrechung und kombinatorischer Verknüpfung im Sinne teilnehmender Beobachtung, das auch Diderot schon gesehen hatte: Resultat des Filosofirens entsteht demnach durch Unterbrechung des Triebes nach Erkenntnis des Grundes […] – Abstraction von dem absoluten Grunde, und Geltendmachen des eigentlichen absoluten Grundes der Freyheit durch Verknüpfung (Verganzung) des Zu Erklärenden / zu einem Ganzen. […] Die Mannichfaltigkeit bezeugt die Energie, die Lebhaftigkeit der practischen Freyheit – die Verknüpfung – die Thätigkeit der theoretischen Freyheit. (Novalis 1999, II, 181, Fichte-Studien Nr. 566, Herv. i. Orig.)

Novalis sieht die unvermeidliche Unterbrechung des Erkenntnisstrebens nicht mehr als Defizit, sondern als Befreiung vom Zwang, das Absolute positiv bestimmen zu müssen. Die Vermittlung von Analyse und Verknüpfung wird dabei klar als sprachsymbolische Konstruktion von Wissen gekennzeichnet. Sie begründet ein neues Organon der Wissenschaftslehre, mit dem auch Wissensstände, die real (noch) nicht vereinbar sind, als ‚Ideenparadiese‘ (Novalis 1999, 688, Nr. 928) simuliert werden können: Übergänge, Brüche und Spaltungen überformen logische Hierarchien, Genealogien und Systeme; Spiel-, Sprung- und Kippbewegungen schaffen reversible Verbindungen zwischen den Disziplinen; Hybridisierungen und Wucherungen, Potenzierungen und Radizierungen vermitteln zwischen Einzelnem und Ganzem, Mikro- und Makrokosmos (Neumann 1976). Novalis entwirft im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der Enzyklopädik von Bacon bis Fichte ein produktives und synkretistisches Konzept enzyklopädischen Lesens und Schreibens, in dem Mathesis und Poiesis über die Dichotomie von System und Fragment hinaus auf eine plurale

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Relationierung der Wissenschaften, ihrer unterschiedlichen Begrifflichkeiten, Perspektiven und Schreibweisen zulaufen (Kilcher 2003, 405–408), ohne dass der Bezug zu einer Theorie der Anschauung damit aufgegeben würde. Ermöglicht wird dies durch eine Kombinatorik, die sowohl Zahlen reguliert als auch sprachliche Zeichen. Sie fundiert die selbstreferenzielle poetische Funktion der Sprache, die „die Formationen und Figurationen ihrer Verhältnisse als Simulation der mathematischen Verhältnisse des Wissens überhaupt [beobachtet]“ (Kilcher 2003, 414). Lange vor der Erfindung des Computers setzt die frühromantische Enzyklopädistik zur Entwicklung einer „symbolischen Maschine“ an, die in kombinatorischer Tradition als paradoxes „ConfusionsSystem“ (Novalis 1999, 688, Nr. 927, Herv. i. Orig.) zwischen Chaos und Natur operiert und alle denkbaren und nicht denkbaren Texturen produziert. In direktem Zusammenhang mit dem Metaphernkomplex von Schrift, Buch und Lesen steht der Begriff der „Figur(ation)“, der den Brennpunkt des epochalen Diskurstransfers zwischen Medizin, Philosophie, Physik und Literatur markiert. Die dazu einschlägigen Forschungen des Anatomen Samuel Thomas von Sömmering, des Akustikers Ernst Florens Friedrich Chladni und des Physikers Johann Wilhelm Ritter finden Eingang in Novalis’ Enzyklopädieprojekt und werden ihrerseits von diesem inspiriert. Sömmering sieht in der Ventrikelflüssigkeit des Gehirns das Medium, das die Umwandlung von Nervenreizen in seelische Empfindungen ermöglicht und greift für diese Vorstellung auf Chladnis Klangfiguren zurück, die das Schwingungsverhalten von Flächen und Körpern visualisieren. Den Transfer der optischen und akustischen Figurationen ins Visuelle und Literale erbringen Ritters Forschungen, welche die elektrochemische Umwandlung der Sömmeringʼschen Hirnhöhlenfigurationen in innere Chiffren beschreiben: Wahrscheinlich auf Anregung von Novalis hat Ritter nicht nur die inneren Kräfte der Natur in sichtbare elektrische und chemische Klangfiguren zu überführen versucht und diese mit der vom Geist zu lesenden inneren Lichtfigur und Feuerschrift in Verbindung gebracht, sondern diese Überlegungen auch auf die Menschenschrift und die Buchstaben des hebräischen Alphabets übertragen. In seinem Versuch, die ‚Ur- und Naturschrift auf elektrischem Wege wiederzufinden‘, glaubte er entdeckt zu haben, dass diese den alten Alphabeten bereits eingeschrieben ist. Denn die Hieroglyphe der ‚natürlichen Sprache‘ ist nicht nur die Klangfigur der Aussprache, sondern zugleich auch die Chiffre der den Dingen zugrunde liegenden Kräfte: Weil Anfangs- und Endbuchstabe der alten Alphabete mit den Lichtenbergschen Elektrizitätsfiguren identisch sind und sich in diesen die Polarität der Urkraft der Natur manifestiert, ist in diesem Alphabet potentiell die gesamte Natur in ihrer Abbreviatur enthalten. (Welsh 2003, 226f., Herv. i. Orig.)

Lichtfigur und Feuerschrift werden mit der lang gesuchten Verbindung zwischen Natur- und Menschenschrift identifiziert und fundieren das Konzept einer poetischen Ursprache, die Novalis im Blick auf Plotin und Jakob Böhme als „Urschrift der Natur“ bezeichnet, während Ritter die Natur umgekehrt als „Schrift und Klangfigur der ausgesprochenen Schöpfung“ betrachtet (Welsh 2003, 227). Ursprache und Fi-

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gur verhalten sich zueinander wie der entzogene Grund zum chiffrierten Symptom. Beide umkreisen bei Novalis die Idee einer unbegrifflichen „Sprache des B[ewußt] S[eins]“, durch die der Einzelne qua Sympathie zur Verbindung mit sich selbst, anderen und mit den Dingen fände (Novalis 1999, II, 400f., Teplitzer Fragmente Nr. 406). Dafür müsste sich die begriffliche Sprache in eine referenzlose Bewegungsfolge auflösen, enzyklopädisches Wissen würde zur objekt- und zwecklosen ‚Elementarwissenschaft‘ verkehrt (Novalis 1999, II, 490, Das Allgemeine Brouillon Nr. 92), Bibliothek und absolutes Buch fielen zusammen. Den menschlichen Geist ansatzweise in ursprachliche Schwingungen versetzen und ihm eine Ahnung vom Zustand der Unentzweitheit vermitteln kann nur die musikalische Komponente der Sprache und dies auch nur für einen Augenblick der Intentionslosigkeit. Im Gegensatz zum entdifferenzierenden Schwingungsparadigma zielt die enzyklopädische Theorie der Reizverarbeitung auf die Erregung von Nerven und Organismus und mündet in einen Prozess differenzierender Figurenbildung. Da die organische Materie im Gegensatz zur anorganischen aber kein selbstorganisierendes Figurationsprinzip kennt, wird dieses durch das Konzept der ‚Weltseele‘ substituiert, das auch für organische Metamorphosen eine „Theorie der Figurenverwandlungen“ ermöglicht und als regulative Idee die anorganische und organische Sphäre zusammenschließt. Beide Konzepte, die intentionslose ‚Sprache des Bewusstseins‘ und die Figurationen des Organischen, sollen in freischwebender Aufmerksamkeit den Kontakt zur Ordnung des Seins herstellen, sei es durch unbewusste Spielbewegungen oder durch reiz- und bewusstseinssteigernde Figurenbildungen. Der semantische Cluster um den Figurbegriff umkreist, quer durch die Welt der enzyklopädischen Phänomene, Bewegungs- und Erregungsprozesse, die eine Verwandlung des Zustands bewirken und dabei die zugrundeliegenden Prinzipien des Seins offenbaren. Er verbindet die Enzyklopädistik konzeptuell mit der Sprachreflexion des Monologs und dem polyphonen Romanfragment Die Lehrlinge zu Sais, das parallel zum Allgemeinen Brouillon entsteht (Jacobs 2013, 143–165). Ist der Buch-Körper der Topos für ein solches Konzept ganzheitlicher Enzyklopädistik und die Schrift die Metapher für fehlende Verbindungen zwischen Sinneseindrücken und Bewusstseinsprozessen, so ist der menschliche Körper die Schnittstelle, an dem diese Schrift entsteht. Er generiert im sinnlichen Kontakt mit der Welt sprachliche und mathematische Zeichen, die Realität konstruieren, indem sie Körper und Außenwelt, Sinnes- und Gedankentätigkeit in Prozessen miteinander verbinden, die weniger logisch als intuitiv und symbolisch, sprung- und keimhaft verlaufen (Neumann 2004, 127f.). Ende des 18. Jahrhunderts sind Buch und Schrift diejenigen Medien, die einem Subjekt, das sich physisch wie seelisch zunehmend als autonom und isoliert begreift, unmittelbare Nähe über die empfindsamen Modelle der Lektüre und des Schriftverkehrs zurückerstatten (Koschorke 2003). Ihnen liegt das Sympathie- und Resonanzmodell mit seiner Ästhetik des ‚unmittelbaren‘ Gefühlsausdrucks zugrunde, das noch bei Kant anzutreffen ist. In den ‚Hirnhöhlenpoetiken‘ der Romantiker wird es durch das anthropologische Modell der inneren Ge-

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müts- und Lebensstimmung abgelöst, das ein Sich-Ein- und -Abstimmen zwischen Körper und Seele, Organismus und Umwelt erfordert und eine Autonomieästhetik hervorbringt, welche die Musik und die freie poetische Darstellung aufwertet (Welsh 2003). Dennoch sind der romantische (Liebes-)Roman und die Enzyklopädie, die alles erfassen und poetisieren will, Ausdruck misslingender, nicht zu befriedigender Kommunikations- und Deutungsbedürfnisse im Wissen um die Tatsache, dass der oder das Andere stets verfehlt wird (Schreiber 1983, 37). Diskursgeschichtlich gesehen füllt die Enzyklopädistik des Novalis die zunehmende Kluft zwischen Wissensakkumulation und Subjektivität durch eine dynamische Wissensordnung, die den sprachlich konstruierten Umschlag von Wissen in religiöse und politische Offenbarung erlaubt. Die Metapher des absoluten Buches ermöglicht die Konzeptualisierung dieses Umschlags (Schreiber 1983), der sich in der ambivalenten Strategie des Autors spiegelt: Einerseits reflektiert Novalis den Konstruktcharakter seines Erkenntnisverfahrens, der auf heteronome Denkweisen vorausdeutet, andererseits präsentiert er den autonomen Dichter aber in der Rolle des Mythen- und Religionsstifters wie sie Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie (1800) eindrücklich beschreibt. Die aus der religiösen Tradition stammende, aufklärungsdialektisch gewendete Frage nach dem Zugang zum Absoluten und dem Umgang mit dem Erhabenen führt zur Ausarbeitung einer aktiven Leser- und Zuhörerrolle und zur Reflexion des Mediums Sprache, die bei Kant noch keine Rolle spielt. Mit der Sprachreflexion um und ab 1800 wird das Spannungsfeld zwischen ‚unmittelbarer‘ Musikalität oder inspirierter Oralität und ‚entfremdeter‘ Kommunikation über Schrift und Buch in ein dynamisches Wechselverhältnis zwischen den Medien transformiert, in welchem dem Leser als Co-Autor die Rolle aktiver Sinnstiftung zum Zweck der Selbsterhaltung zukommt.

2.2 Verlorene Ursprachen: Brentanos private Medienmythologie Schrift und Buch gehören zu den Schlüsselthemen der deutschen Romantik, die in besonderer, vielfältiger Weise die Werke Clemens Brentanos (1778–1842) prägen. In ihnen zeichnet sich bei aller Heterogenität eine hochkomplexe Privatmythologie des Buches ab, die um die Unmöglichkeit einer Wiedergewinnung der verlorenen Paradiesessprache kreist. Schon in der zwischen 1802 und 1806 verfassten märchenhaften Chronika des fahrenden Schülers wird deutlich, dass das Buch als mediales Metakonzept dient, das mit neumythologischer Bedeutung aufgeladen wird. Die 1802 bis 1812 entstehenden unvollendeten Romanzen vom Rosenkranz sollen Brentanos Grundidee zufolge die Verfehlungen des Menschen, die anhand der Familiengeschichte des Malers Kosme dargestellt werden, wieder in eine intakte mythische Ordnung überführen. Die schweren Versündigungen gegen Gottes Gebote, die Kosmes Genealogie aufweist, hätten durch seine drei Töchter gesühnt werden sollen,

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deren Namen sich am Ende symbolisch zum Rosenkranz vereinigt und dessen Entstehung mythisch begründet hätten. Schon Novalis nutzt die Metaphorik des verlorenen Paradieses, um analog zur biblischen Deutungstechnik der Typologie individuelle Biographie und Autorschaft als Wiedergewinnung eines verlorenen Urzustands zu beschreiben (Novalis 1999, II, 556, Das Allgemeine Bouillon Nr. 433). In Brentanos Romanzen vom Rosenkranz wird das typologische Muster als Wechselbeziehung zwischen Autobiographie und Text gestaltet. Die autobiographische Einleitung (Brentano 1975ff., X, 3–15) verklammert die Geschichte der christlichen Kultur mit der des schreibenden Individuums, indem sie das Scheitern des Autor-Subjekts in die alttestamentliche Schöpfungs- und Sündenmythologie einbindet. Dadurch, dass sich der mythologische Haupttext konstant auf die biographische Matrix bezieht, avanciert diese zum poetologischen Ursprungsmythos, beschränkt die Autonomie des Textes aber durch das Szenario des Ichverlusts. In diesem Szenario stehen Dichtung, Gebet und die erlösende Liebe zur Frau der männlichen Welt des Geistes gegenüber, deren Verbote und Strafen einerseits zur Destruktion des Ich führen, andererseits aber dessen visionäre Phantasie hervortreiben. Durch seine Phantasie rekonstruiert sich das beschädigte Ich ästhetisch (Brandstetter 1986, 15–21), indem es Spuren seiner selbst in Sinnesempfindungen, in Neigungen zu bestimmten Bildern, Pflanzen, Objekten, Texten, Kunstund Bildungsgegenständen wiederfindet. Im Versuch, die Fragmente dieser SelbstLektüre zu einem Gedicht über das verlorene Paradies zusammenzufügen, werden Autobiographie und Text miteinander verklammert. Das Versepos soll also auf zwei Ebenen von der Unlesbarkeit zur Rekonstruktion eines Urtextes zurückführen: Die Rede vom verlorenen Paradies erscheint […] als Metapher für das Unlesbarwerden oder für den Verlust jenes Textes, der die ‚heiligere Geschichte‘ des Innern erzählt. Was dem Ich mangelt, ist die ‚Urschrift‘ eines ‚paradiesischen‘ Textes, in dem es sich selbst unmittelbar zu lesen imstande ist. Was die mythologische Metapher in diesem Kontext autobiographisch-poetologischer Reflexion impliziert, steht somit in engem Zusammenhang mit der in den Romanzen selbst entfalteten Mythologie. In beiden Fällen geht es um den Verlust des Paradieses, in beiden Fällen erscheint der Verlust eines unmittelbaren lesbaren ‚absoluten‘ Texts dabei als entscheidendes Moment. Hat dieses ,Mythem‘ in den Romanzen vom Rosenkranz selbst universalgeschichtliche und kosmogonische Bedeutung, so wird es nun auf den Bereich individueller Geschichte übertragen. Analogon des verlorenen absoluten Buchs des Paradieses ist der verlorene Urtext des Subjekts. / Der Versuch, diesen Text unter irdischen Bedingungen wiederherzustellen, ist jedoch genauso zum Scheitern verurteilt wie das dem Buch Adams gewidmete Menschheitsprojekt der Enzyklopädie. (Schmidt 1991, 122f.)

Produktionsästhetisch erweist sich die schriftliche Restitution des verlorenen Urtextes als mediales Problem, das die Struktur des gesamten Versepos bestimmt. Brentano plant 24 Romanzen, die Philipp Otto Runge illustrieren soll. Dass die 19 fertiggestellten Romanzen nach Runges Tod nicht veröffentlicht, sondern erst 1852 posthum publiziert werden, hängt damit zusammen, dass Brentano Runges Randzeichnungen als unverzichtbar erachtet. Sie hätten seine inneren Bilder, die die

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Verssprache für ihn nur unbefriedigend evoziert, verlebendigen und die „erloschene“ Schrift des Versepos „erlösen“ sollen (Schmidt 1991, 124f.); dabei hätte die sparsame und suggestive Linienführung der Randzeichnungen den diskreten Zeichen der Druckschrift an den entscheidenden Stellen zu gestalthafter Evidenz verholfen. Mit dieser intermedialen Konzeption mythisiert Brentano Runges Künstlerschaft (die der Maler selbst im Anschluss an Jakob Böhme als Versuch einer Rekonstruktion der adamitischen Ursprache verstand (Schmidt 1991, 126)) zur Fähigkeit, das Heilige zu symbolisieren. Der Dialog zwischen Bild und Schrift avanciert zur Neuschöpfung der verlorenen Paradiesessprache. Die Idee einer Restitution der adamitischen Ursprache, in welcher der Mensch noch direkt mit Gott kommunizierte und an der Benennung der Dinge und Tiere teilhatte, entwickelt sich in den westeuropäischen Kulturen seit Dante, der die Ursprache in der volkssprachlichen Dichtung seiner Divina Commedia verwirklicht sieht (Eco 2002, 47–64). An diese katholische Traditionslinie knüpft (nach den intensiven Ursprachendiskussionen des 17. und 18. Jahrhunderts) Brentano an. Das Spezifikum seiner Romanzen besteht darin, dass zwischen der göttlichen Schöpfersprache und der Schwundstufe der menschlichen Sprache die mythologische Figur des absoluten Buches erscheint, das schon vor dem Sündenfall das vollständige Wissen um die göttlichen Schöpfungsgeheimnisse beinhaltet und dem gefallenen Menschen unwiderruflich entzogen wird. Die in der Schrift verborgen Schöpfungsgeheimnisse eröffnen die zeitliche und geistige Differenz zwischen Gott und Mensch, der sich das göttliche Wissen nachträglich durch Lesen aneignen muss – so sieht es der vom Teufel umgeschriebene Schöpfungsbericht der 9. Romanze (Schmidt 1991, 80f.). In dem zum Buchmythos gehörigen Narrativ schließt der Gelehrte Apone, eine Art romantischer Faust, mit seinem Famulus Moles (einer Verballhornung von Mephistopheles oder auch Moses) im spätmittelalterlichen Bologna den Teufelspakt, um eine Jungfrau zu verführen. Damit wiederholt er den Sündenfall der Schöpfungsgeschichte (Brentano 1975ff., X, 235–255). In der von Moles umerzählten Genesis-Version sind Gottes Handlungen vor allem vom Neid auf Luzifers Macht über die Erde bestimmt (Brentano 1975ff., X, 235, 243, 250): Gott will sein Wissen vor den ersten Menschen geheim halten und warnt sie vor den tödlichen Früchten des verbotenen Baumes; Heva lässt sich vom Teufel Samael dazu verführen, die Früchte mit Adam zu essen und Adam wird durch die von Samael in Aussicht gestellte Möglichkeit, Gott an Macht und Wissen gleich zu werden, dazu verführt, das geheime, aber unverständliche Schöpfungsbuch (Gottes Hochzeitsgeschenk an das erste Menschenpaar) buchstabengetreu abzuschreiben (Brentano 1975ff., 248f.). Fortan sind Heva und Adam sterblich. Sie verlieren das Buch und werden in getrennte Höllenkreise verbannt. Nach der Rückkehr zur Menschenerde rekonstruiert Adam das göttliche Schöpfungsbuch aus der Erinnerung, doch gehen in diese Nachschrift auch die Erfahrungen aus der Hölle mit ein, wo Adam mit Lilith ein Geschlecht von Zwergen und Riesen und Heva mit Samael Geister und Dämonen gezeugt hat. So

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entsteht aus dem permanenten menschlichen Streben, Gott zu imitieren, ein durch Sünde verunreinigtes, heterogenes Buch, das zum Mythos vom Fluch des Schriftmediums wird. Diesen Fluch kann Adam weder durch Buße oder Gnade noch durch die Sekundanz des Teufels überwinden. Sein Projekt, die Totalität der Welt neu zu erschreiben, wird zur unendlichen Aufgabe der ganzen Menschheit, die über Generationen hinweg aus der kontaminierten Lektüre Wissen aufbaut und die Stufenleiter der Künste entwickelt: Und so steigt es immer weiter Von Geschlechte zu Geschlecht, Und auf seiner ewgen Leiter Abraham der Gottes knecht. Mündlich, schriftlich, stets erweitert, Geht es durch die trübe Welt, Die es mit der Kunst erheitert Mit Erkenntnißen erhellt. (Brentano 1975ff., X, 252f.)

Gemäß dem Dreischritt der idealistischen Geschichtsphilosophie wird das verlorene Buch zum kommenden Buch umgemünzt. Der romantischen Idee der Doppelung und Mischung entsprechend generiert es sich als Historiographie und Enzyklopädie und bleibt in einen unendlichen Verweisungszusammenhang eingebunden – stets erweiterbar, aber nie abzuschließen. Der alternative Schöpfungsbericht des Moles ist weder als genaue Umkehrung der Genesis zu lesen noch konsequent auf die kabbalistischen Glaubensinhalte rückrechenbar, die Brentano Knorr von Rosenroth und einer antisemitischen Kolportage jüdischer Glaubensgehalte von Johann Andreas Eisenmenger entnimmt. Er markiert vor allem den Abstand zu Novalisʼ Universalmethode des „Biblisirens“ als höchster Aufgabe der „Schriftstellerey“. Bei Brentano gibt es kein monolithisches ‚Buch aller Bücher‘, das der Zerstreuung des Wissens mit dem „Zauberstab der Analogie“ progressiv entgegenarbeitet, sondern eine nicht revidierbare Kontaminierung der Schrift, die jede mystische Form der Gotteserkenntnis verhindert (Schmidt 1991, 94). Kann man Novalis im Übergang von der Einheit des absoluten Buches zu dessen Dynamisierung verorten, so verweigert Brentano die zugehörige Utopie enzyklopädischer Progressivität: Aus dem Wachsen des absoluten Buches wird ein degeneratives Wuchern, welches das wahre Original und das Leben gleichermaßen verfehlt. Adam kann sich seine Erlösung nicht erschreiben. Dazu bräuchte es Jesus als zweiten Adam, der das Neue Testament von seinen Jüngern schreiben lässt: Brentanos phantastischer poetologischer Entwurf, mit einem Buch das verlorene Paradies des eigenen Innern wiederzuerschreiben und damit eine exemplarische Selbsterlösung mittels einer paradiesischen Sprache in die Wege zu leiten, mußte genauso scheitern wie das vergleichbar phantastische Bibel/Enzyklopädieprojekt von Novalis und Schlegel. (Schmidt 1991, 127)

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Typisch für diese schlechte Restitution der Ursprungsphantasie ist die echoartige Vervielfältigung des absoluten Buches. In der 8. Romanze existiert neben dem perfekten göttlichen Buch und seiner defizienten menschlichen Nachschrift noch eine von Samael selbst angefertigte buchstabengetreue Kopie, die Moles vertragsgemäß an Apone übergibt (Brentano 1975ff., X, 451ff.). Das Besondere an dieser Kopie ist, dass dem Leser Weisheit, Wollust und ewige Jugend zugänglich scheinen, wenn er vor der Lektüre des verbotenen Buches einen Zaubertrank einnimmt. Dann wird die göttliche Schrift lesbar, als wäre der Sündenfall nie geschehen. Dieses Simulakrum verdankt sich einem Schriftverlauf, der nicht linear, sondern „wie Hühnerpfoten“ in jede Richtung lesbar ist (Schmidt 1991, 101): Und dann geb ich ‹dir›‚ in Kurzem Auch die rechte Les’methode Wie von Oben du nach Unten Und von Unten ließt nach Oben. Denn das ist des Buches Wunder, Trotz dem Werk der Philosophen, Du magst lesen drüber und drunter, Immer gleich bleibt dir geholfen. (Brentano 1975ff., X, 229.)

Die Hühnerpfotenschrift zitiert, ähnlich wie das faustische Hexeneinmaleins, die hermetische Magie des ‚oben ist unten‘ und die sich daraus herleitende Kombinatorik, an die schon die romantische Enzyklopädie anschließt. Für Apone ist sie zunächst unlesbar. Er muss sich von Moles in eine Lesetechnik einweisen lassen, mit der sich jede Aussage magisch in ihr Gegenteil verkehren und einem beliebigen Kontext einpassen lässt: „Derselbe Text ist virtuell Quelle göttlicher Weisheit und Handbuch teuflischer Magie zugleich, er birgt die Kraft, zu verderben oder zu erlösen […] und bleibt sich doch stets gleich.“ (Schmidt 1991, 104). So stellt sich das Paradiesesbuch zugleich als populäres Nachschlagewerk, Unterhaltungsliteratur, ABC-Fibel und Enzyklopädie dar. Jeder Glaube an eine schriftförmig vermittelte göttliche Realpräsenz muss damit als nutzlose Wiederholung des Sündenfalls erscheinen. Der teuflische Kopist suggeriert dem Gelehrten, dass nicht einmal Gott als Autor des absoluten Buches mehr eingreifen könne, weil sich der Sinn des Ursprungstextes vervielfältigt habe und in jene unkontrollierbare Zirkulation geraten sei, die dem Medium Schrift und dem gedruckten Buch seit jeher angelastet wird. Die Bücher Adams und Moles’ repräsentieren unterschiedliche Weisen unvollständiger Wissensaneignung. Sie zeigen zum einen das Bemühen um die enzyklopädische Wiederherstellung des verlorenen Paradieses, zum anderen den prekären Versuch, Wissen zu kopieren und zu verbreiten, der zur Verwechslung von Kunst und Leben, Simulakrum und Realität führt. Beide Modelle können die Lesbarkeit der Schöpfungsgeheimnisse und die adamitische Ursprache nicht restituieren – das absolute Buch schwankt zwischen Erlösungshoffnung und Unlesbarkeit, Original

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und verunreinigter Kopie und droht in Unlesbarkeit abzukippen. Dies zeigt Brentanos Versepos, indem es mündliche und schriftliche Praktiken des Lesens und Deutens nebeneinanderstellt und die dadurch produzierte Deutungsunsicherheit durch labyrinthische Erzählstrukturen sinnfällig macht (Och 1994). Im Zentrum dieser Medienmythologie steht der Künstler: Nachdem die Künste aus dem entstehen, was Adams Söhne aus dem kontaminierten göttlichen Buch lernen, agiert er, der ironischen Schöpfungsgeschichte der 9. Romanze zufolge, als „Friedensgeisel“ zwischen Gott und Teufel (Brentano 1975ff., 235f.). Folgt Brentano hier noch dem von Dante initiierten und von den Romantikern propagierten Weg einer Kunstreligion, so entwickelt er nach seiner Rückwendung zum Katholizismus um 1817 für die Visionen der stigmatisierten Nonne Anna Katharina Emmerick ein Aufschreibesystem, das an der Schnittstelle zwischen Kunst, Religion und Medizin operiert (Schmidt 1991, 161– 261).

2.3 Medienkritische Aneignung der Bibel: Kierkegaards Lesekur Zum romantischen Mythos des absoluten Buches in seiner enzyklopädischen wie poetischen Gestalt ist kaum ein größerer Gegensatz denkbar als die scharfe Kritik, die Sören Aabye Kierkegaard (1813–1855) an den modernen Schriftmedien übt. Der protestantische Theologe bekämpft den Verlust des persönlichen Ich durch ein hypertrophes Medien-Ich, das von der Objektivität und Verallgemeinerbarkeit des Wissens und von der eigenen Autonomie überzeugt ist. Seiner Ansicht nach potenzieren die Massenmedien Buch und Zeitung die Wirkung jeder Mitteilung wie ein Megaphon ohne Ansehen ihrer Qualität und vermitteln Autoren wie Lesern ein verzerrtes Selbstbild (Kierkegaard 2005, 99). Dies diagnostiziert Kierkegaard unter anderem Ende der 1840er Jahre in einem unveröffentlichten Vorlesungsfragment zur Dialektik der ethischen und der ethisch-religiösen Mitteilung: Eines der Unglücke der Moderne ist es gerade, das ‚Ich‘, das persönliche Ich abgeschafft zu haben. / Eben deshalb ist auch die eigentlich ethisch-religiöse Mitteilung wie aus der Welt verschwunden. Denn die ethisch-religiöse Wahrheit verhält sich wesentlich zur Persönlichkeit, kann nur von einem Ich an ein Ich mitgeteilt werden. Sobald hier die Mitteilung objektiv wird, ist die Wahrheit Unwahrheit geworden. Zur Persönlichkeit ist es, wohin wir kommen sollen! Und ich veranschlage es deshalb als mein Verdienst, daß ich durch Anbringen gedichteter Persönlichkeiten, die sagen: ich, mitten in der Wirklichkeit des Lebens (meine Pseudonyme) dazu beigetragen habe, die Zeitgenossen womöglich daran zu gewöhnen, wieder ein Ich, ein persönliches Ich reden zu hören (nicht jenes phantastische reine Ich und seine Bauchrednerei). Aber eben weil die Entwicklung der ganzen Welt so weit wie möglich von dieser Anerkennung der Persönlichkeit entfernt gewesen ist, mußte es dichterisch gemacht werden. (Kierkegaard 2005, 120)

Da die ethisch-religiöse Wahrheit für Kierkegaard nur von Person zu Person mitgeteilt werden kann, stehen das mündliche Gespräch und das Selbstgespräch in der

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Tradition des Augustinischen Soliloquiums im Zentrum – Letzteres ersetzt die fehlende Stimme Gottes in der Schrift durch den inneren Dialog. Seine Zeitgenossen wieder an das Zuhören als Voraussetzung jeder Verinnerlichung heranzuführen, ist nicht nur das Programm der Predigten und erbaulichen Reden Kierkegaards, sondern vor allem erklärtes Ziel einer ästhetischen Schreibstrategie, die im Kern aus einem syntheselosen Dialog fiktiver Pseudonyme besteht und ungemein reich an medialen und semiotischen Metaphern ist – Kierkegaard spricht oft vom heteronomen Subjekt als Schrift, falscher Druck-Type oder Empfänger telegraphischer Fern-Botschaften. Diese Strategie ‚indirekter Mitteilung‘ grenzt er von der ‚direkten Mitteilung‘ der erbaulichen Reden ab, in denen er den Einzelnen als Intimus anspricht. Zwar wird der Frömmigkeitsbezug zur Bibel in der indirekten Mitteilung nicht substanziell verändert, wohl aber wird er durch ein apartes Rezeptionsmodell hergestellt (Wilke 2012), das die Verabsolutierung begrifflicher Objektivität in der Nachfolge des enzyklopädischen Ansatzes durch ein theatrales Modell philosophischer Wahrheitssuche (Deleuze 1992, 24) hintertreibt: Kierkegaards wirkungsgeschichtlich außerordentlich folgenreiche Leistung ist es, dass er eine an der sokratischen Dialogpraxis geschulte Maieutik in einer Weise erneuert und ausgebaut hat, dass diese fortan nicht nur als ebenbürtig, sondern auch als überlegen der Hegelschen Dialektik an die Seite gestellt werden konnte. Sein nachhaltiges Plädoyer für die indirekte Mitteilungsform hat nicht den philosophischen Diskurs, sondern […] ausgezeichnete Formen der Rede und des Gesprächs zum Ort der Wahrheit erklärt. (Hühn 2009, 23)

Wie die Dialogpartner der sokratischen Dialoge können die Autor- und Herausgeberpersönlichkeiten der pseudonymen Schriften jede Problematik aus wechselnden Perspektiven betrachten und der scheinobjektiven Multiplikationsfunktion von Buchdruck und Presse vielstimmige Töne intimer Selbstreflexion entgegensetzen (Hiebler im Druck). Sie täuschen den Leser in die Wahrheit des Glaubens hinein, indem sie hohle Denk-, Empfindungs- und Glaubensroutinen durch einen Lektüreprozess durchkreuzen, der ihn in Unruhe versetzt und ihm die Aufgabe aktiver Sinnstiftung zumutet. Auf die desillusionierende Wirkung der sokratischen Ironie setzt schon Friedrich Schlegels Essay Über Unverständlichkeit (1800). Für ihn ist sie die freieste aller Lizenzen, denn durch sie setzt man sich über sich selbst weg; und doch auch die gesetzlichste, denn sie ist unbedingt notwendig. Es ist ein sehr gutes Zeichen, wenn die harmonisch Platten gar nicht wissen, wie sie diese stete Selbstparodie zu nehmen haben, den Scherz gerade für Ernst und den Ernst für Scherz halten. (Schlegel 1958ff., 2, 367)

Kierkegaard weiß bei aller Kritik an der deutschen Frühromantik deren ästhetische Darstellungsformen für sein indirektes Verfahren einzusetzen. Um das religiöse Selbstverhältnis des Einzelnen unter den Bedingungen der epochalen Transzendenzvergessenheit zu restituieren, müssen hegelianische Begriffsspekulationen gemieden werden. Jedem theoretischen Nachweis soll die subjektiv-praktische Aneignung folgen, die gemäß protestantischer Gewissensethik die emotionale wie

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reflexive Aktivität des Einzelnen fordert (Kierkegaard 1976/2005, 796). Daher stellen die pseudonymen Schriften vielschichtige und vielstimmige Hybride aus wissenschaftlicher Essayistik und Aphoristik, rhetorischer und poetischer Inszenierung, philosophischer Beweisführung und erbaulicher Ansprache dar. Als Theologe weiß Kierkegaard, dass das Aneignungsproblem eine Konsequenz der Schriftförmigkeit kultureller Gedächtnisse darstellt und zuallererst den heiligen Text selbst betrifft. In seinen Tagebuchaufzeichnungen von 1850 geht er, den romantischen Buchmythos desavouierend, so weit, die Bibel zum Prototyp der eigenen indirekten Mitteilung zu erklären: Ein neuer Beweis für die Göttlichkeit der Bibel. // Bisher ist man damit folgendermaßen verfahren: Man hat gesagt: die heilige Schrift ist eine göttliche Offenbarung, inspiriert u. s. w. deshalb muß da eine vollständige Harmonie zwischen allen Nachrichten sein, bis hin zur kleinsten Unbedeutendheit, es muß das vollkommenste Griechisch sein u. s. w. // Gott weiß doch genau, was es ist zu glauben, was das sagen will, den Glauben zu fordern, daß es heißt, die unmittelbare Mitteilung zu negieren und eine Doppelung zu setzen. Schau, das bestätigt sich. Genau deshalb, weil Gott will, daß die heilige Schrift ein Gegenstand für den Glauben werden soll, und zum Ärgernis für jede andere Betrachtung, genau deshalb ist dort mit Fleiß für diese Unübereinstimmungen gesorgt (die sich in der Ewigkeit leicht auflösen können in Übereinstimmungen), deshalb ist es ein schlechtes Griechisch u. s. w. […]. (Pap. X 3 A 32, zit. bei Jacobs 2013, 189)

Im Gegensatz zu den figuralen Harmonisierungspraktiken und den historischkritischen Erklärungen für die Heterogenität der Bibel wird Letztere hier kurzerhand zur stilistischen List Gottes erklärt, die den notwendigen Anlass zur Aneignung schafft. Kierkegaard sieht zwar nicht grundsätzlich von ihrem Offenbarungscharakter ab, wohl aber von der Möglichkeit, die göttliche Stimme in der Schrift für den menschlichen Rezipienten hörbar zu machen. Der Einzelne muss sich auch hier mit dem „Ärgernis“ der Disharmonie und Unlesbarkeit auseinandersetzen. Da das absolute Buch des Glaubens erst sub specie aeternitatis widerspruchsfrei zu lesen ist, kann der Leser zu ihm – wie zu jedem anderen Buch auch – nur einen subjektiven Bezug entwickeln und jedem Teil für sich Bedeutung verleihen (Wilke 2012, 493). Am Ende der Unwissenschaftlichen Nachschrift zu den philosophischen Brosamen (1846) weist Kierkegaard seinen Pseudonymen die Aufgabe zu, die biblische „Urschrift der individuellen, humanen Existenz-Verhältnisse, das Alte, Bekannte und von den Vätern Überlieferte solo noch einmal wieder, womöglich auf eine innerlichere Weise, [zu] lesen“, während er selbst als „Souffleur“ im Hintergrund agiert (Kierkegaard 1976/2005, 843f., 839). Den zugehörigen Aneignungsprozess beschreibt er als Doppelbewegung von entobjektivierender, weltentsagender Verinnerlichung und reobjektivierender Rückwendung zur Welt im konkreten Handeln. Die schriftstellerische Umsetzung in ein Rezeptionsmodell, das die je individuelle Aneignung der Bibel durch „sakrale Ironie“ (Jacobs 2013, 222) fördert, sollen drei Beispiele zum Umgang mit alttestamentlichen Schriften illustrieren, die Kierkegaard weder als genuin christliche noch als in sich geschlossene Texte sieht. Er

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wählt aus dem Alten Testament Vorbilder eines religiösen Existenz-Stils aus, der das Christwerden in der Nachfolge des Gekreuzigten präfiguriert (Wilke 2012, 504). Dabei mischen sich poetische und religiöse Darstellungsformen zur „existenzbezogenen Leseanweisung“, die um die Frage nach dem Sinn des Leidens Auserwählter in absoluten Ausnahmesituationen kreist – Faust und Ahasver stehen neben Abraham, Hiob und Salomo (Wilke 2012, 493). Die Bücher der Bibel sind keine Schriften, die man wie ein Beobachter mit Abstand zur Kenntnis nimmt, sondern sie sind zu lesen […] wie ein Liebesbrief: mit Leidenschaft, einprägsamem Blick und in der Gewissheit, dass das, was da geschrieben steht, dem Leser gilt. (Wilke 2012, 491; Kierkegaard 1979ff., XV,2, 386).

Wie gelingt es den vielstimmigen pseudonymen Schriften der indirekten Mitteilung, diesen ebenso intimen wie sakralen Bezug herzustellen? In Furcht und Zittern (1843) übernimmt eine kurze, formal sehr moderne Passage mit dem Titel „Stimmung“ die entscheidende Funktion. Es handelt sich um eine Relektüre der Opferung Isaaks, die den Gang zum Berg Morija (Gen 22) aus der Sicht eines fiktiven Musterlesers schildert, der Abraham glühend verehrt (Kierkegaard 2007, 185–189). Der „einfache Mann“ möchte sich die Gemütslage seines Idols in der Ausnahmesituation des Opferungsbefehls vergegenwärtigen. Doch je mehr seine Begeisterung für Abrahams Glaubensmut wächst, desto weniger „versteht“ er die Geschichte. Vor seinem inneren Auge beschwört er den Ritt nach Morija, den Opferungsversuch und die Rückkehr herauf und produziert im Bestreben, „Abraham zu sehen“ und an seinem Erleben teilzuhaben (Kierkegaard 2007, 185), gleich vier Varianten der Urszene, welche die inneren Konflikte der Beteiligten in der Art eines Bewusstseinsstroms durchspielen, ohne sich zu einem Ganzen zu fügen. So entsteht eine serielle Form, die wie ein musikalisches Thema mit Variationen unterschiedliche affektive Details hervorhebt: Isaaks Verzweiflung, Abrahams Verstörung und seine verschiedenen Versuche, Isaak zu täuschen und die Schuld auf sich zu nehmen. Die szenischen Splitter, welche die Einbildungskraft des Musterlesers in die löchrige Matrix des heiligen Textes einfügt, zeigen eine wiederholte Suchbewegung, die das Verstörungspotenzial der Geschichte aus unterschiedlichen Blickwinkeln erkundet, anstatt den kurzen Ausschnitt aus der Genesis vom guten Ende her zu lesen. Im Zentrum steht das schockierende Selbstopfer Abrahams, der bereit ist, die in Isaak verkörperten Wünsche und Hoffnungen für den widersinnigen Opferungsbefehl aufzugeben und sich von Gott auf fürchterlichste Weise in den Glauben hineinbetrügen zu lassen. Der Leser vollzieht den Schock und die Täuschung in der eigenen Enttäuschung angesichts der unüberbrückbaren Differenz zur Urszene nach. Er muss realisieren, dass jeder Versuch einer unmittelbaren Verlebendigung vergeblich ist. So wie Abraham aus allen Sicherheiten heraustreten und sich selbst fremd werden muss, um Gott zu erfahren, muss der fiktive Leser die Unterbrechung seiner naiven Begeisterung hinnehmen. Durch seine Phantasie wird er von der Illusion ihrer Fiktionsautonomie befreit, ihre Disfunktionalität wird zum „Anlass“ der persönlichen Auseinanderset-

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zung mit Abrahams Todesangst und der erhabenen Erfahrung des Angerufenseins durch die transzendente Sphäre. Letztere kann nur als Bildausfall zur Darstellung kommen, was für den fiktiven Leser bedeutet, dass er Abrahams Größe nicht begreifen kann. Auch der imaginäre Leser soll Kierkegaards Aufzeichnungen zufolge an den Rand des Wahnsinns geführt werden, um seinerseits den Ausnahmezustand Abrahams nachzuvollziehen, der durch den Opferungsbefehl für immer gezeichnet ist (Beyrich 2001, 172–178). Eine analoge Subjektivierung biblischer Textstellen bieten Die Wiederholung (1843) und Stadien auf des Lebens Weg (1845). Im zweiten Teil der Stadien werden Glaubenserfahrungen alttestamentlicher Gestalten wie Salomon und Nebukadnezar in ein modernes Innerlichkeitsszenario überführt. Im 6. Einlagestück des Tagebuchs, dessen Verfasser Quidam vom pseudonymen Herausgeber als unglücklich liebender, einsamer Durchschnittsmensch beschrieben wird, wird Dan 4,30–34 paraphrasiert: Gott warnt den mächtigen König Nebukadnezar durch einen Traum vor den Konsequenzen seiner Hybris und versetzt den Reulosen in Wahnsinn, bis dieser nach jahrelanger Selbstentfremdung die göttliche Allmacht anerkennt. Aus Dan 4,30–34 entsteht hier ein Erinnerungsmonolog, der auf die serielle Form verzichtet (Kierkegaard 1979ff., XV,2, 382–385), um den Einbruch des Numinosen (Kierkegaard 1979ff., XV,2, 398) aus der Innensicht der Herrscherfigur darzustellen. Erst mit der leiblichen Erfahrung der Sprach- und Reflexionslosigkeit verkehrt sich Nebukadnezars Hybris in Demut. Die prosalyrische Passage spiegelt den inneren Zustand der schreibenden Leidensfigur Quidam, die aus der menschlichen Kommunikation heraustritt und sich in die inneren Abgründe ihrer Verzweiflung und Ohnmacht begibt. Beide Figuren erleben einen totalen Autonomieverlust, der als werdende Religiosität zu verstehen sein könnte; ein Urteil darüber wird jedoch nicht gefällt. Dieser Ironisierung des Hegelʼschen Konzepts historischer Größe stellt Die Wiederholung (1843) eine ästhetische Fehlinterpretation religiöser Größe zur Seite. Ein namenloser junger Mann, der sich in zahlreichen Briefen seinem zynischen Mentor anvertraut, vergleicht sein selbst fabriziertes Liebesleid mit Hiobs extremen Glaubensprüfungen, in der Hoffnung, wie dieser am Ende ein Belohnungswunder zu erfahren (Kierkegaard 2007, 407–432). Tatsächlich besteht die Beziehung zum biblischen Vorbild aber nur in der Illusion, Hiobs extreme Glaubensprüfungen durch empfindsame Lektüre sympathetisch nachvollziehen zu können: Ich lese ihn nicht, wie man ein anderes Buch liest, mit dem Auge, sondern ich lege mir das Buch gleichsam aufs Herz, und lese es mit den Augen des Herzens, verstehe in clairvoyance das Einzelne auf die verschiedenste Weise […]. Jedes Wort daraus ist Nahrung und Kleidung und Medizin […]. (Kierkegaard 2007, 414f.)

Das hochpoetische Buch Hiob dient dem jungen Menschen, der sich zum Dichter berufen fühlt, vor allem zur Mystifikation des eigenen Seelenleids. Seine HiobLektüre nährt die irreale Erwartung einer wundersamen „Wiederholung“ der (von ihm selbst gelösten) Verlobung und glücklichen Eheschließung (Kierkegaard 2007,

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420–425). Im Gegensatz zum Musterleser aus Furcht und Zittern wird dem jungen Mann die Distanz zu seinem Vorbild aber nicht bewusst. Erhält der glaubensstarke Hiob die Welt als Gabe Gottes doppelt zurückerstattet, so verfehlt der enthusiastische Autor der Hiob-Briefe den transzendenten Sinn der Wiederholung, indem er seine Unfähigkeit, sich zwischen der Ehe und seinen dichterischen Ambitionen zu entscheiden, mit dem existenziellen Leiden eines von Gott Auserwählten auf die gleiche Stufe stellt. Das Wunder, das er erwartet, soll ihm schlicht die Gewissensentscheidung abnehmen. Anstatt „nach vorne durch das Verhältnis zu dem Gott in der Zeit ewig [zu] werden“ (Kierkegaard 1976/2007, 793), hält er am Verlorenen und an der poetischen Identifikation mit Hiob fest, dessen existenzielle Gotteserfahrung er nachzuvollziehen glaubt. Er wird zum religiösen Dichter (Mooney 1998), der an jener Existenz-Mitteilung des Glaubens vorbeigeht, die Hiob bei Kierkegaard auch in den erbaulichen Reden (Kierkegaard 1979ff., VII-IX, 5–21) verkörpert. In diesem Beispiel einer Fehlidentifikation mit dem religiösen Vorbild konturiert Kierkegaard sein schillerndes Konzept der „Wiederholung“ als religiösen und philosophischen Grundbegriff aus verschiedenen Perspektiven: Der Herausgeber ist „insgeheim sicher […], daß Wiederholung gar nicht möglich ist; der junge Mann will ernsthaft prüfen, ob sie möglich ist, und Kierkegaard begleitet das Experiment im Glauben, dass sie möglich sei“ (Theunissen/Hühn 2004, 738). Die Möglichkeit der intendierten Wiederholung meint einen Prozess individueller Bewusstwerdung, der das Selbst von äußeren Zwängen und inneren Routinen freisetzt. Wenn der junge Mensch nach seiner Liebesbeziehung zum Dichten zurückkehrt, meint Wiederholung für ihn die Wiederherstellung eines integren Ausgangszustandes durch Bereinigen eines Fehlers, aber nicht die Erneuerung des Selbst als Wiedergeburt im Geist. Dazu gehören, wie Hiobs Schicksal zeigt, die Haltung religiösen Ernstes und ein Bewusstsein subjektiver Heteronomie, das sich vom sehnsüchtigen Leben im poetischen Augenblick wie von der anamnetischen Erinnerung der griechischen Metaphysik (die gleichwohl als metaphorische Vorform des Freiheitsbegriffs anerkannt wird (Theunissen/Hühn 2004, 740)) kategorisch unterscheidet. Wer möchte wünschen, eine Tafel zu sein, worauf die Zeit jeden Augenblick eine neue Schrift eintrüge oder eine Gedenkschrift an Vergangenes? Wer möchte wünschen, sich von allem Flüchtigen, Neuen bewegen zu lassen, das immer neu die Seele weidlich ergötzt? Falls nicht Gott selber die Wiederholung gewollt hätte, so wäre die Welt niemals entstanden. Er wäre entweder der Hoffnung leichten Plänen gefolgt, oder er hätte alles widerrufen und es in der Erinnerung bewahrt. Dies hat er nicht getan; daher besteht die Welt fort und besteht dadurch, daß sie eine Wiederholung ist. Die Wiederholung ist die Wirklichkeit und der Ernst des Daseins. (Kierkegaard 1976/2005, 331)

Die intendierte Wiederholung zielt auf die bewusste, individuelle Aneignung („Relektüre“) des Vergangenen für einen praktischen Entwurf der Zukunft, der durchaus den Vorschein eines Transzendenzbezugs enthalten kann (Theunissen/Hühn 2004, 740f.), auch wenn dieser nicht auslesbar ist.

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Kierkegaards sokratische Lesekur ist als Bollwerk gegen „das phantastische Medium des reinen Denkens“ (Kierkegaard 1976/2007, 788) und die Poetisierung religiöser Wahrheit konzipiert, deren Wesen für ihn undenkbar und undarstellbar bleibt. Die ‚indirekte Mitteilung‘ verhindert die begriffslogische Objektivierung wie die Poetisierung der Wirklichkeit durch eine verunreinigte, echohafte Nomenklatur und ein syntheseloses, vielstimmiges Darstellungsverfahren. Beides soll den Leser entkonditionieren und für das Paradoxe und Singuläre der Glaubenserfahrung empfänglich machen, die vor allem in der Angst zu sich kommt. Ganz anders also als Ludwig Feuerbachs anthropomorphe Auffassung des Religiösen, die den Gottesbezug in den immanenten Bezug zum Du und zur Glückseligkeit der menschlichen Gattung hineinnimmt, setzt Kierkegaard auf ein Verhältnis des Einzelnen zu einem verborgenen Gott, das sich als beunruhigende Kipp- und Schwindelbewegung jenseits des strengen Denkens zeigt. Die fiktiven Leser- oder Autorfiguren, die im Kontext der indirekten Mitteilung im Dialog mit den Pseudonymen ihre subjektiven Lesarten biblischer Szenarien entwerfen, ersetzen die Exegese und Kritik des Bibeltextes sowie angestammte Modelle der Prophetie und Inspiration durch eine singuläre Lektürebewegung, deren Verständnishürden die Aneignung überhaupt erst motivieren. Nach sokratischem Modell wird der lesende oder schreibende Rezipient jenseits der schützenden dogmatischen oder ästhetischen Distanz zum Co-Autor eines subjektiven ‚absoluten Buchs‘, das ihm keine Gewissheiten verschaffen kann. Vielmehr vermittelt sich die christliche Glaubenserfahrung schockhaft, über die Preisgabe des absoluten Status der Bibel und ihrer säkularen Substitute, Phantasie und Wissen. Damit bereitet das Verfahren der indirekten Mitteilung unbeabsichtigt den sprach- und medienreflektierten Poetiken der Moderne und Avantgarde den Weg (Bohrer 1989, 62–72). Bei Kierkegaard ist das absolute Buch kein Ganzheitskonzept, nichts von außen Gegebenes mehr, das man entschlüsseln oder dessen Entschlüsselung man anstreben könnte. Jeder Einzelne trägt es in sich als Negativ eines göttlichen Schriftprojektes, dessen totale Lesbarkeit im Diesseits unerreichbar bleibt. Wirklich werden kann es nur im Inneren des Einzelsubjekts, durch aktive Aneignung. Kierkegaards späte Anthropologie Die Krankheit zum Tode (1849) wird, auf Freuds Tiefenschichtenmodell der Seele und die analytische Redekur vorausweisend, eine seelenkundliche Diagnostik entwickeln, welche die vielfältigen Symptomatiken unbewusster Verzweiflung ironisch als Spuren und Lettern eines religiösen Selbstverhältnisses liest, das dem modernen Menschen abhanden gekommen ist.

2.4 Absolutismus und Leere des poetischen Wortes: Mallarmés Livre Auch die als dunkel bezeichnete Dichtung des französischen Symbolisten Stéphane Mallarmé (1842–1898) ist, wie vor allem die späte Essaysammlung Quant au Livre

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(Das Buch betreffend, Mallarmé 1998, 232–263) dokumentiert, vom Willen geprägt, die hohe Dichtung dem schnell und oberflächlich produzierenden Buchmarkt zu entziehen und gegen neue Medien zu behaupten (Kittler 1995, 331f.). Wie bei Kierkegaard wird die Bewegung des philosophischen Denkprozesses selbst ästhetisch inszeniert; anders als bei ihm sind der Dichter und sein Werk für Mallarmé letzter Hort des Absoluten, „Gefäß einer Transzendenz“, in dem „das Universum seine Identität wiederfindet“ (Kesting 1965, 34; Mallarmé 1993, 429). Diese Restitution geschieht im Livre, mit dem Mallarmé das Schriftmedium selbst, die Situation der zeitgenössischen Literatur und vor allem sein Fragment gebliebenes Konzept des absoluten Buches bezeichnet, das eklatante Parallelen zu Novalis aufweist (Kesting 1965, 39ff.): Aus der Fähigkeit des Menschen, das Absolute zu denken, folgert Mallarmé seine Fähigkeit, auch das Absolute zu schaffen. Das Absolute ist aber für den Spätplatoniker Mallarmé symbolisiert im ‚Wurf der absoluten Zahl‘, in der integeren Struktur der Dichtung selbst, die den Zufall, das heißt bei ihm das ‚äußere Ereignis‘, auszuklammern sucht. (Kesting 1970, 116)

Die moderne Tragik dieses Ansinnens liegt in der Erfahrung Mallarmés, dass sich das Absolute nicht nur in der Schönheit zeigt, sondern vor allem als erschreckende Leere und Abwesenheit von metaphysischem Sinn (vgl. Vogd und Liebert in diesem Band, „Religionslinguistik“). Angesichts der unüberbrückbaren Kluft zwischen Realität und Idee wird die Dichtung, wie schon bei Flaubert, Kraft ihres Stils zum autonomen Sprach-Kunstwerk, das sich jedoch durch die konsequente Abwendung von der Außenwelt zum selbstreferenziellen „Zeichengefängnis oder Metaphernlabyrinth“ zu schließen droht, in dem sich nur noch „eine leere Idealität“ spiegelt (Kesting 1965, 37). Dieses Grundproblem nimmt im letzten großen Werk Mallarmés sprachexperimentelle Gestalt und poetologische Dimensionen an (Mallarmé 1998/2003, I, 363– 387, 388–401; Mallarmé 1993, 243–289). Das Gedicht Un coup de dés jamais n’abolira le hasard (Ein Würfelwurf bringt nie zu Fall Zufall), das 1897 in der Zeitschrift Cosmopolis erscheint und erst 1957 in der intendierten mehrdimensionalen Typographie, aber ohne die Lithographien Odilon Redons realisiert wird, setzt das Schwarz des Schrift-Bildes und das Weiß des Papiers in allegorischen Bezug zueinander. Als „prismatische Brechungen der Idee“ sollen sie im Augenblick ihres Aufeinandertreffens „in einer genauen geistigen Inszenierung“ zusammenwirken (Mallarmé 1993, 244f., Herv. i. Orig.). Mallarmé arrangiert einen einzigen Satz samt anhängenden Bedingungssätzen in freien Versen auf 11 Doppelseiten und notiert durch Format, Art, Größe und Richtung der Schrifttypen Stimmhöhe, Lautstärke, Tempo und Rhythmisierung der Denk- oder Sprechbewegung. Buchstaben, Worte und Wortfolgen werden wie in einer Partitur als Töne und Motive eingesetzt (Kesting 1974, 432). Damit betreibt der Dichter eine von der traditionellen Versform unabhängige Remusikalisierung der Literatur, die sich optisch als „Verräumlichung des Lesens“ (Mallarmé 1993, 244f.) in streng durchkomponierten ideographischen Konstellationen

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präsentiert. Im Coup de dés lösen sich die artistischen Satzstrukturen Mallarmés komplett von der syntagmatischen Verkettungslogik zugunsten einer insulären metaphorischen Paradigmenbildung. Den Absturz in die Unlesbarkeit durch eine abstrakt verknappte, hypothetische Ausdrucksweise und die simultan wie sukzessiv zu lesende Textur verhindert nur die maximale Durchstrukturierung des Sprachmaterials auf sprachmusikalischer und bildlicher Ebene. Mallarmé installiert Rhythmus- und Klangnetze und setzt die Typographie so ein, dass sie die Intensität des Denkens und die ihr folgende Bewegung der Schreibhand simuliert und einzelne Sujets konturiert. Schemenhaft zu erkennen sind ein kenterndes Schiff, Sternbilder, die Figur des Maître, Sirene und Feder oder Gedankenblasen. Allegorisches Sujet des Gedichts ist die Tat des Würfelwurfs, der, um den äußeren Zufall aufzuheben und zur reinen Idee zu gelangen, die auf dem Würfel nicht verzeichnete Zahl 7 zeigen müsste. Diese erscheint aber nur am fernen Himmel als nördliches Siebengestirn (le Septentrion aussi nord). Sie verweist auf das unerreichbare Denken der Idee, die nicht mehr, wie in der Antike, durch die mathematisch-musikalische Weltseele und das poetische Wissen vom Universum verbürgt und als Einheit von Form und Gehalt darstellbar ist (Rancière 1996, 105). In der Moderne unterliegen die Sympathie mit dem Universum und das Streben nach der absoluten Wahrheit dem Zufall, den Dichter und Gedicht vergeblich zu besiegen suchen: Der Meister und sein Schiff (die dem Ausdruck der Idee gewidmete Poesie) erleiden durch den Sturm Schiffbruch. Zeugnis dieses Kampfes mit dem Zufall, der den Zugang zum Absoluten verstellt, ist das autonome Werk. Es präsentiert sich nicht mehr als Handlung oder Erzählung, sondern als plurimediale und polyphone Konstellation. Trotz der erklärten Sinn-Verfehlung wirkt das Gedicht auf Mallarmés Schüler und Gesprächspartner Paul Valéry als Urszene der Sprachschöpfung, welche die Komponenten und Qualitäten des Denk-Ereignisses – Erwartung, Konzentration, Stille, das zeitliche Werden und Vergehen der Idee – als „geistigen Sturm“ (Valéry 1978, 265) der Worte auf dem Papier sichtbar und spürbar macht. Dies führt zu einem ironisch gebrochenen Nachempfinden der Sympathie des Menschen mit dem Universum, „als wäre ein neues Sternbild am Himmel erschienen, […] das endlich etwas bedeutet hätte“ (Valéry 1978, 265). Im dialektischen Zusammenspiel von Werk und Rezipient realisiert sich die „orphische Erklärung der Welt“, die Mallarmé als Kern der Dichtung und des Livre erachtet (Mallarmé 1995, 586; Rancière 1996, 96f.): Als wir [Valéry und Mallarmé, nachts, nach der Erstlektüre des Coup de dés, A. J.] inmitten der Schlange, des Schwans, des Adlers, der Lyra gingen – schien es mir jetzt, dass ich in den stillen Text des Universums selbst hineingenommen wurde: Text aller Klarheiten, aller Rätsel […]; so tragisch, so gleichgültig, wie man es wollte; der spricht und nicht spricht; gewirkt aus vielfältigen Deutungen […] / all jenes […], fremde Summe aus Realität und widersprechenden Idealen, sollte es nicht jemandem die höchste Versuchung suggerieren, deren Wirkung zu reproduzieren? Er [Mallarmé, A. J.] hat schließlich versucht, dachte ich, eine Seite zum gestirnten Himmel zu potenzieren. (Valéry 1978, 267f., Herv. i. Orig., Übers. A. J.)

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Die Analogie von Papierseite und Sternenhimmel wird in Mallarmés Essays über das absolute Buch erläutert. Hier wird auch deutlich, dass Musik und Tanz als Aufzeichnungsmodelle für die Bewegungen des Denkens jenseits der Repräsentation dienen, Sprache und Schrift aber Leitmedien für die Darstellung des Abwesenden bleiben. In L’action restreinte (Beschränktes Handeln) wird die auf der weißen Seite fortlaufende schwarze Schrift als Verkehrung des „Alphabet[s] der Gestirne“ beschrieben, das sich „licht auf dunklem Grund“ als isolierte Figur abzeichnet (Mallarmé 1998, 235). Diese Konstellierungen imitiert der Coup de dés, der den linearen Schriftverlauf in eine mehrdimensionale Kombinatorik auflöst, während die moderne Allegorie der Poesie, die das Gedicht entwirft, dieses Sinnversprechen dementiert. Die ironische Grundkonstruktion dieses Gesamtkunstwerks ist der des enzyklopädischen Netzwerks von Novalis vergleichbar, das Mallarmé nicht kennt. Sein Bekenntnis zur „orphische[n] Erklärung der Welt“ schreibt die korrigierende Verkehrung des Erkenntnisprozesses nach dem Verfahren des ordo inversus fort. Dies legt eine erkenntnistheoretische, progressive Lesart des bekannten Diktums, dass „alles auf der Welt existiert, um in ein Buch einzugehen“ (Mallarmé 1995 (Brief v. 16.11.1885 an Verlaine), 255), nahe: Das absolute Buch dient als seitenverkehrtes Spiegel-Bild des unzugänglichen universellen Zusammenhangs, dessen positive Reproduktion dem Rezipienten übertragen wird. Wie im Coup de dés besonders deutlich wird, fungiert die von Mallarmé seit Mitte der 1860er Jahre entwickelte Konzeption des Livre als poetische Schrift des Gedankens. In den Bewegungsmetaphern von Lüster und Edelstein, Vogelflug und Fächer (Jacobs 2013, 289–302) sowie im „seltsame[n] Arcanum“ (Mallarmé 1998 (Vers-Krise), 221) und „geistigen Sternzeichen“ des freien Verses (La Littérature. Doctrine, zit. bei Kittler 1995, 246) entwickelt sie ihr poetologisches Gewicht. Das für Mallarmé typische Pendeln der poetischen Sprache zwischen Bild und Begriff, das (mit Hegel formuliert) von der Selbstentzweiung des Geistes auf der Stufe der Kunst und von der Arbitrarität der Sprache zeugt, begründet zum einen die symbolische Schwäche der Dichtung, zum anderen aber ihre plurimediale und multiperspektivische Performanz, die Mallarmé in Analogie zum Theater beschreibt (Rancière 1996, 82–88). Dem inneren Theater der suggestiven Metaphernsprache steht ein äußeres Zeremoniell zur Seite, das im Bezug auf Le Livre rituelle Strukturen der katholischen Messe aufnimmt (Mallarmé 1998, 254–275). So wie das Deuten der Zeichen innerhalb des heiligen Bezirks seit jeher die Gesetze der Außenwelt außer Kraft setzt, wird der vom Livre angestoßene Denkprozess einem Kult der Dichtkunst überantwortet, der angesichts ihrer schwindenden Bedeutung den Anspruch metaphysischer Sinnstiftung aufrechterhält. Dem esoterischen Zeremoniell der von Mallarmé entworfenen Séancen zufolge wird das Buch für Eingeweihte idealiter nach dem Modell des Abendmahls inszeniert; dabei überlagern sich die Funktionen von Regisseur, Schauspieler und Zuschauer, der Leser übernimmt produktive Aufgaben (Kesting 1965, 42). Dieser zeremoniellen Praxis korrespondiert die materielle Struktur des Livre. Die Einfaltung des Bogens (reploiement, pli) steht im Gegensatz zur kommer-

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ziellen Auslage (étalage) von Büchern und restlos auffaltbaren Zeitungen. Mit katholischer Sakralsemantik aufgeladen, werden die Seiten des Livre zum ‚reinen‘ Gegenbild ‚vulgärer‘ Massenware stilisiert (vgl. Fix und Hero in diesem Band). Die vom Leser wie von einem Liebhaber zu öffnende jungfräuliche Faltung des Buches birgt den erotischen ‚Grund‘ einer Poesie, die das Geheimnis der vom Buchstaben ausgehenden Zeugungskraft für immer in sich schließt wie ein Grab (Mallarmé 1998, 256–258): Ein Wunder steht an erster Stelle bei diesem Segen, im hohen Sinne, in dem die Wörter ursprünglich sich auf die, mit Unendlichkeit bis zur Heiligung der Sprache begabte, Verwendung von etwas mehr als 20 Buchstaben reduzieren – ihr Werden, alles kehrt dahinein zurück, um alsdann daraus hervorzuquellen als Prinzip – den typographischen Satz einem Ritus annähernd. / Das Buch, totale Expansion des Buchstabens, muß aus ihm direkt eine Beweglichkeit gewinnen und raumhaft, durch Entsprechungen, ein Spiel institutieren, wer weiß, das die Fiktion bekräftigt. (aus Das Buch, geistiges Instrument in Mallarmé 1998, 259)

Anders als bei einem Folianten mit gehefteter Seitenfolge soll die Totalität aller existierenden Bücher und Dinge im Livre durch die Kombinierbarkeit loser Bögen zustande kommen. Mallarmés kryptische Aufzeichnungen enthüllen eine mathematisierte Makrostruktur, die den je zufälligen, unendlich variablen Bezug eines Teils zu allen möglichen anderen Teilen vorsieht, während die Mikrostrukturen die immer neue Ausdeutung durch den Leser erfordern. Auch hier mischen sich planvolle Konstruktion und Kontingenz. Deutet der kalkulierbare mathematische Aspekt auf die zunehmende Technisierung des Lesevorgangs und die Ausschaltung des Zufalls, so ist der kombinatorische Aspekt Angelpunkt einer musikalischen Polyphonie, welche die einzelnen Elemente in je singulärer Interaktion zueinander in Beziehung setzt und diesen Bezug zur Aufführung bringt. Mallarmé identifiziert die von Edgar Allan Poe begonnene mathematische Durchstrukturierung von Dichtung mit der transzendenten Idee, deren Realisierung nur im zufälligen Spiel kombinatorischer Lektüre erfolgen kann. Aus dieser Doppelstruktur resultiert das Paradox des Livre, dass es die Totalität aller existierenden Dinge und deren Nichtigkeit zugleich umfasst. Es ersetzt den Bezug zu einer sinnentleerten, warenförmigen Umwelt durch eine interne Struktur, deren Unlesbarkeit den Übergang von der unzugänglichen Welt der absoluten Ideen zu einer multiperspektivischen Wahrheitskonzeption festschreibt und der konkreten Inszenierung des Rezipienten bedarf. Jean-Paul Sartre hat dies als theologisches Unvermögen Mallarmés sehen wollen, der sich als Dichter dazu berufen gefühlt habe, Gott zu ersetzen. Mallarmé selbst desavouiert den Gestus des Religionsstifters, so wie er, wegweisend für die moderne Literatur, die Instanz des Autors im Material der reinen Sprache verschwinden lässt: „[D]as Aufschreibesystem von 1900 ist ein Würfelspiel mit ‚seriell angeordneten diskreten Einheiten‘[…], die im Fall von Lyrik Lettern und Interpunktionszeichen heißen und denen Schreiber seit Mallarmé alle Initiative überlassen.“ (Kittler 1995, 267). In Bezug auf seine vom „Blitz des Absolu-

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ten überzuckt[e]“ Epoche (Mallarmé 1998, 227) spricht Mallarmé von einem Interregnum, in dem die Dichtung durch literarische Massenproduktion bereits ihren Platz verloren hat. Der aktuellen Übergangssituation setzt er die paradoxe Textur des Livre entgegen, das einerseits ein fiktives Kondensat der Wiederholungsstrukturen aller bestehenden Werke „sogenannt zivilisierter und literalisierter“ Zeitalter und „vielleicht sogar nur ein Buch“ bildet, das, wie die von den Völkern „simulierte“ Bibel, universelles Gesetz wäre; andererseits ergeben sich aus den Unterschieden zwischen den Werken „ebensoviele […] Lesarten in einem ungeheuren Wettbewerb um den wahrhaftigen Text“ (Mallarmé 1998 (Vers-Krise), 226f., Herv. i. Orig.). Mallarmés Vision einer künftigen Erneuerung der Literatur wendet die warenförmige Wiederholbarkeit literarischer Produktion und technischer Reproduktion in die rituelle Wiederholung des Kultus um. Sie beschwört die alte Verbindung von Wissen und Kunst in einer Wahrheitsschau, welche die in Buch und Schrift gespeicherten transzendentalen Bezüge neu ausliest und ästhetisch verlebendigt: Ich glaube, dass die Literatur, wieder von ihrer Quelle, Kunst und Wissenschaft, her gefasst, uns ein Theater liefern wird, dessen Vorstellungen der echte moderne Kultus sein werden; ein Buch, Erklärung des Menschen, die unseren schönsten Träumen genügt. Ich glaube daran, dass allʼ dies auf eine Weise in der Natur geschrieben steht, die nur denen erlaubt, die Augen zu schließen, die ein Interesse daran haben, nichts zu sehen. Dieses Werk existiert […]. (Mallarmé 2003, 657, Übers. A. J.)

Mallarmé hat dem Entwurf dieser Möglichkeit Jahrzehnte seines Lebens gewidmet und ein Konvolut rätselhafter Skizzen und Notizen hinterlassen, das er nicht veröffentlicht wissen wollte. Diese fragmentarischen Skizzen aber enthalten die Ästhetik der modernen Literatur in allen ihren Möglichkeiten […], das moderne Theater, die Romantheorie Prousts, den monologue intérieur, das Absurde, den lyrischen Imagismus […]. Insofern ist Le Livre wirklich die „Summe der Literatur“. (Kesting 1965, 48)

3 Ausblick: Das absolute Buch in der Moderne und Postmoderne Die Sprach- und Medienreflexion, die sich seit der Frühromantik in der Konzeption des absoluten Buches entfaltet, ist bei Novalis noch mit der progressiven, wenn auch ironisch gebrochenen Utopie einer nichtintentionalen Sprache des Bewusstseins verbunden, die den Zugang zur ‚Weltseele‘ ermöglicht. Der platonische Mythos dient, ausgehend von einem erkenntniskritisch revidierten Sympathiebegriff, als Platzhalter für die fehlende Verknüpfung getrennter Wissensbestände zur Ganzheit. Er ist Teil des erkenntnistheoretischen Wissenskonstrukts, mit dem die Enzyklopädistik Wissensfragmente zur Totalität des absoluten Buches ‚poetisiert‘ und

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zur Stiftung einer neuen Religion überhöht. Brentano rekurriert dagegen auf den regressiven Mythos der alten Schöpfungssprache und des im göttlichen Buch enthaltenen Schöpfungswissens, das nach dem Sündenfall nur noch als unkontrollierbare Zirkulation verfälschter Kopien zu haben ist. Der Versuch, von der Unlesbarkeit der Kopien zur Rekonstruktion des Originals zu gelangen, scheitert, das Streben nach vollständigem Wissen und das Projekt einer buchzentrierten Kunstreligion münden in ein Labyrinth von Deutungen und treiben die Sehnsucht nach dem unwiderbringlich verlorenen Paradies hervor. Kierkegaards romantik- und hegelkritisches Aneignungsmodell verneint die idealistischen Utopien des Wissens und des Poetisierens von Wirklichkeit. Der Theologe entwickelt auf der Grundlage des historisch-kritischen Bibelverständnisses ein maieutisches Verfahren, das den Rezipienten zur existenziellen Aneignung der Gotteserfahrung bewegen soll, indem es ihn sowohl mit seinem eigenen Sinn-Begehren als auch mit der Inkongruenz möglicher Lesarten konfrontiert. Wie bei Brentano gibt es keine autoritativ gesicherte Deutung und keinen homogenen Originaltext mehr. Der Akt der Lektüre wird zur bewussten inneren Aneignung durch Gewissensprüfung, was bedeutet, die in der Bibel bezeugte Wirkung des Numinosen (vgl. Selmani und Lasch in diesem Band) in der desorientierenden Erfahrung des Nichtverstehens nachzuvollziehen. Der Rezipient soll durch die religiöse Grunderfahrung der Unsicherheit und Angst in ein singuläres Verhältnis zum Numinosen eintreten. Entgegen seines Titels vermittelt auch das von Mallarmé seit Mitte der 1860er Jahre verfolgte Konzept des Livre absolu eine multiperspektivische Wahrheitskonzeption, die nur noch hypothetisch auf eine Erneuerung der rituellen Wahrheitsschau in der Poesie blicken kann. Mallarmé stiftet keine Kunstreligion, sondern ebnet den imaginären Rückweg aus einer entfremdeten Welt materieller und geistiger Massenproduktion. Angesichts der Verflachung literaler Kommunikation entwickelt der Symbolist mit dem Arkanum der Poesie eine sprachund medienreflektierte Strategie der Heiligung des Wortes, die den Sinn sprachlicher Kommunikation durch lyrischen Sprachgebrauch auflöst und so konsequent als Abwesenden inszeniert, dass er in totale Sinn-Leere umschlagen kann. Ähnlich wie Kierkegaards ästhetische Texte die Grenze zur Selbstauflösung berühren, instituiert Mallarmés poésie pure ein ironisches Sprachspiel ohne Autor- und Außenweltbezug, das an die Erfahrung des Nichts rührt. Diese Verkehrbarkeit, die sich dem konsequenten Einsatz von Ironie verdankt, ist der Darstellung des Absoluten in Buch- und Schriftgestalt von ihren romantischen Anfängen an eingeschrieben. Die konstruktive Aktivität des Autors fordert als Komplement die des Lesers, der primär auf Figuren des Entzugs, auf Spuren und Symptome, Chiffren und Signaturen, Brüche oder nichtlineare Konstellationen stößt, welche die Grenze zur Unlesbarkeit markieren. Die hier skizzierte Entwicklung von den neomythischen Entwürfen der Romantiker zu den subversiven der Postromantiker legt eine säkularisierungsgeschichtliche Verlagerung von der Lesbarkeit zur Unlesbarkeit nahe: Ist das absolute Buch um 1800 schon nicht mehr Spiegel einer prätendierten Schöpfung, göttlichen Offenbarung oder der Einheit des

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Wissens, kann der ihm zugemessene Totalitätsanspruch schnell vom Fragment zur Verwirrung und von der Pluralität der Perspektiven zur Hermetik oder Sinn-Leere führen. Dem stehen auf struktureller Ebene allerdings Konstanten gegenüber, welche die Beweglichkeit des Denkens und die konstruktiv sinnstiftenden Funktionen der Sprache bewusst machen und zur nichtrepräsentationalen Darstellung des Absoluten nutzen: Poesie und Ironie, Mathematisierung und Kombinatorik sowie ein wachsendes Zeichen- und Perspektivbewusstsein prägen die Konzeptionen des absoluten Buches samt ihren Leser-Instanzen zwischen 1800 und 1900. Als Friedrich Nietzsche im ausgehenden 19. Jahrhundert den Nutzen toten Bücherwissens nachhaltig bezweifelt und Hofmannsthals Tod sich über die Deutungssucht des Kunst- und Büchernarren Claudio mokiert, der lesen will, „was nie geschrieben wurde“ (Hofmannsthal 1982, 80), scheint der romantische Mythos vom absoluten Buch an sein sprachskeptisches Ende gekommen. Ebenso richtig ist jedoch, dass er unterwegs zu einer einschneidenden Umbesetzung ist. Aus kulturgeschichtlicher Sicht befördert das Konzept des absoluten Buches eine amimetische, visionäre Ästhetik, die im 20. Jahrhundert zur „spielerischen Uminszenierung von Wissensbaum und Wissenskarte in serielle Formationen“ führt, „die die Bewältigung des paradoxen Zusammenhangs zwischen Zeitlichkeit und Unendlichkeit simulieren“ (Neumann 2004, 137f.). Dies zeigen konkrete Poesie, serielle Musik oder konstruktive Malerei, Jorge Luis Borgesʼ Apotheose der Bibliothek als Universum, das aus dem begrenzten Code des Alphabets durch die Kombinatorik „unbegrenzte[r] Wiederholungen“ entsteht (Borges 1992, 70), oder Peter Greenaways „PropOper“ Hundert Objekte, die die Welt repräsentieren (Greenaway 1997). In ihnen sind Wissenskulturen mit künstlerischen Kulturen und mathematische mit rhetorischen Notationen in einer Weise verknüpft, die deutlich macht, dass das „Kulturkonzept unserer künstlerischen Moderne […] nicht denkbar ohne die ‚Wissenspoetik‘ der deutschen Romantik“ ist (Neumann 2004, 140). Darüber hinaus deutet die von den kombinatorischen Texturen der Romantiker und Symbolisten begonnene Mathematisierung der Sprache auf die Ablösung des gedruckten Buches durch den Hypertext voraus. Mit dem Hypertext geht eine extreme Ausweitung vor allem naturwissenschaftlicher Lesbarkeitskonzepte einher, deren Anspruch darin besteht, vom menschlichen Genom bis zur Vergangenheit und Zukunft des Kosmos alles zu erfassen und zu entschlüsseln. Beide Projekte, die Vernetzung der Welt, des Wissens und der Künste über das digitale Supermedium Computer und die wissenschaftliche Decodierung von Mikro- und Makrostrukturen des Lebens und Universums, sind nur durch die Leistungsfähigkeit binärer Codes möglich, die auf die totale Mathematisierung der vermessenen Welt abzielen. Während Texte ein synthetisierendes Lesen fordern, sind die binären Codes der analytischen Ebene, welche Textoberflächen als berechenbare Informationen rastern, nur für Maschinen, nicht aber für Menschen lesbar. Die Umwandlung von Texten in elementare Quellcodes eröffnet scheinbar unbegrenzte Kapazitäten der Speicherung und Vernetzung und nährt „die digitalen Träume von einer universellen Maschine,

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die […] auch den physiologischen Ausgangspunkt alles Analogen, den Menschen, ersetzen kann“ (Hiebler 2007, 339). Durch computergestützte Analyse kommen wir daher auch religiösen Formen der Lesbarkeit der Welt wieder näher, was die Reaktualisierung der Vorstellung bezeugt, dass Gott Mathematiker sei (Livio 2010). Auf der Oberfläche des Hypertextes hat die Digitalisierung jedoch zu einer Potenzierung von Informationen geführt, die nicht mehr zu überblicken, geschweige denn zu interpretieren ist. Die Quantität der Informationen schlägt hier in eine Qualität mit negativen Konsequenzen um: Beliebig kombinierbare Schriften, Bilder und Töne erwecken zwar den Eindruck, alles Wissen im World Wide Web jederzeit abrufen zu können; doch der einzelne Nutzer des universalen Netzwerkes ist nicht nur schnell überfordert, er gerät auch in Abhängigkeit von den Algorithmen und Selektionsmechanismen der Suchmaschinen. Während die Recherche technisch extrem beschleunigt wird, verkümmert der Prozess der individuellen Aneignung. Der Nutzer versinkt in den Bilder- und Informationsfluten tendenziell autonomer Zeichensysteme, die den Unterschied zwischen realer und virtueller Welt weit effektiver suspendieren als es die Literatur als Hauptprodukt der ersten digitalen Revolution je vermochte. Der Preis für die Auslagerung der Lesbarkeit in ein digitales elektronisches Aufschreibesystem, das unterhalb der Textoberfläche agiert (Cramer 2004), ist das Verschwinden des Lesers. Vor diesem Hintergrund steht die marginalisierte Dimension sprachlicher Rezeption mit der Fähigkeit zum aufmerksamen, sinnerschließenden Lesen von Texten vor einer entscheidenden Herausforderung. Die scheinbar absolute Verfügbarkeit der Welt als schriftlicher Code, die im Computer ihr Aufschreibesystem hat, erreicht im konkreten Rezeptionsprozess ihre Grenze. Die Umwandlung von Daten und Informationen in individuelles Wissen bedarf mehr denn je einer Rückbindung an die Instanz des Lesers und den Prozess aufmerksamer Wahrnehmung und Aneignung, aus dem eine Lesbarkeit der Welt erst resultieren kann. Erscheint das absolute Buch heute im Gegensatz zum weltweiten Informationsnetz als historischsymbolische Form religiöser und ästhetischer Herkunft, so erhält es durch die gegenwärtigen digitalen Formate neue Aktualität als Konzept, das die maximale Verfügbarkeit von Informationen zwingend an medienkulturhistorisch bewährte Praktiken menschlicher Sinnstiftung zurückbindet.

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| Teil V: Verzeichnisse

Abkürzungen Biblische Bücher (nach den Loccumer Richtlinien) Altes Testament (AT) Gen – Genesis (1 Mose) Ex – Exodus (2 Mose) Lev – Levitikus (3 Mose) Num – Numeri (4 Mose) Dtn – Deuteronomium (5 Mose) Jos – Das Buch Josua Ri – Das Buch der Richter Rut – Das Buch Rut 1 Sam – Das 1. Buch Samuel 2 Sam – Das 2. Buch Samuel 1 Kön – Das 1. Buch der Könige 2 Kön – Das 2. Buch der Könige 1 Chr – Das 1. Buch der Chronik 2 Chr – Das 2. Buch der Chronik Esra – Das Buch der Esra Neh – Das Buch Nehemias Tob– Das Buch Tobit (Buch Tobias) Jdt – Das Buch Judit Est – Das Buch Ester 1 Makk – Das 2. Buch der Makkabäer 2 Makk – Das 2. Buch der Makkabäer Ijob – Das Buch Ijob (Buch Hiob) Ps – Die Psalmen Spr – Das Buch der Sprichwörter (Sprüche Salomos) Koh – Das Buch Kohelet (Prediger Salomo) Hld – Das Hohelied (Hohelied Salomos) Weish – Das Buch der Weisheit (Weisheit Salomos) Sir – Das Buch Jesus Sirach Jes – Das Buch Jesaja Jer – Das Buch Jeremia Klgl – Die Klagelieder des Jeremia Bar – Das Buch Baruch Ez – Das Buch Ezechiel (Buch Hesekiel) Dan – Das Buch Daniel Hos – Das Buch Hosea Joel – Das Buch Joel

Am – Das Buch Amos Obd – Das Buch Obadja Jona – Das Buch Jona Mi – Das Buch Micha Nah – Das Buch Nahum Hab – Das Buch Habakuk Zef – Das Buch Zefania Hag – Das Buch Haggai Sach – Das Buch Sacharja Mal – Das Buch Maleachi Neues Testament (NT) Mt – Matthäusevangelium Mk – Markusevangelium Lk – Lukasevangelium Joh – Johannesevangelium Apg – Apostelgeschichte Röm – Römerbrief 1 Kor – 1. Korintherbrief 2 Kor – 2. Korintherbrief Gal – Galaterbrief Eph – Epheserbrief Phil – Philipperbrief Kol – Kolosserbrief 1 Thess – 1. Thessalonicherbrief 2 Thess – 2. Thessalonicherbrief 1 Tim – 1. Timotheusbrief 2 Tim – 2. Timotheusbrief Tit – Titusbrief Phlm – Philemonbrief Hebr – Hebräerbrief Jak – Jakobusbrief 1 Petr – 1. Petrusbrief 2 Petr – 2. Petrusbrief 1 Joh – 1. Johannesbrief 2 Joh – 2. Johannesbrief 3 Joh – 3. Johannesbrief Jud – Judasbrief Offb – Offenbarung des Johannes

486 | Abkürzungen

Hinduistische Schriften BhG – Bhagavadgītā BS – Brahma-sūtra TDN – Tattvārtha-dīpa-nibandha TDNPr – Tattvārtha-dīpa-nibandha-prakāśa

Periodika und Reihentitel APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte GEB – Gießener Elektronische Bibliothek HSK – Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft HSW – Handbücher Sprachwissen LHG – Lingua Historica Germanica LIT – Linguistik – Impulse & Tendenzen LThK – Lexikon für Theologie und Kirche RGG – Religion in Geschichte und Gegenwart RGG4O – Religion in Geschichte und Gegenwart Online RGL – Reihe Germanistische Linguistik SLG – Studia Linguistica Germanica TRE – Theologische Realenyklopädie WA – Werkausgabe (Luthers) WdF – Wege der Forschung ZfAL – Zeitschrift für Angewandte Linguistik ZfdPh – Zeitschrift für deutsche Philologie ZfG – Zeitschrift für Germanistik

Sonstige Abkürzungen DDR – Deutsche Demokratische Republik EKD – Evangelische Kirche Deutschlands Eng – Engel gespr. – gesprochen gesung. – gesungen Gläu – Gläubige Hl.G – Heiliger Geist Hlg – Heilige IOe – Inter oecumenici Min – Ministranten Pr – Priester SC – Sacrosanctum concilium Scho – Schola SED – Sozialdemokratische Einheitspartei Deutschlands

Index A Abendland 138, 143, 359, 447 Abendmahl 41, 253f., 295, 360, 367 – Brot und Wein 254, 341, 361, 367 – Eucharistie 253f., 340f., 344, 360, 365ff., 371, 388, 392f., 450 – Hostie 254, 367, 369 – Kelch 253 – Transsubstantiation 254, 367 Abraham 86, 113, 461, 466 Achilles 100, 102 Adam 118, 258, 261, 275, 343, 459ff. Adept 228, 230, 273 Ägypten 73, 80, 83, 116, 389 Akteur 20, 29, 42, 157f., 223f., 234, 290, 296, 308, 315f., 333, 432 Allah → Gott Allmacht 86f., 118, 275, 467 Alltag 8f., 20, 39f., 57, 82, 109, 111, 133, 138f., 217f., 227, 295, 320, 334, 375 – alltäglich 111, 139, 176, 279, 293, 301, 307, 319 Alphabet 77, 444, 447, 453, 456, 476 Altar → Kirche Alterität 160, 164, 363, 365 Ambiguität 129, 131 Amen 78f., 81, 213, 252 Amida-Anrufung/Nembutsu-Sagen 284 Amtsträger (→ auch Würdenträger) 291, 302, 386, 393 Analogie 18, 31, 147, 158, 163, 176, 294, 369, 461, 472 Andacht 195, 208, 210f., 388, 398, 412 Anfang 14, 17, 77, 88, 123, 133, 179, 197, 210, 278f., 284, 349, 357, 367, 393, 409, 417 Anfanglosigkeit 284 Angst (→ auch Furcht) 80, 87, 170, 216, 218, 250, 295, 321, 404, 469, 475 Anhänger 112, 114, 117, 180, 186, 250f., 256, 262, 290, 292f., 300, 309 Anschauung 80, 199, 317, 443, 447, 451, 454, 456 Anthropologie 7, 9ff., 17, 22f., 27, 30, 241, 267, 469 – anthropologisch 266f., 457 Aphorismus 216f., 390

Apokalypse 281, 423, 448 – apokalyptische Reiter 423, 431f. Arbeit 7, 10, 26, 29f., 47, 59, 99, 106f., 141f., 159, 164, 193, 203, 206, 210, 242, 258, 280, 294f., 329, 345, 352, 360, 363, 375, 399, 408, 411 Architektur 14, 245, 261 Askese 269 Assoziation 146, 176, 224, 258, 261, 356 Ästhetik 14, 82, 110, 117, 122, 126, 128, 325, 457, 474, 476 – ästhetisch 82, 125f., 128f., 134, 143, 327, 356, 358, 361f., 365, 369f., 372, 452, 459, 464, 467, 470, 474f., 477 Astrologie 223f., 229f. Atheismus 159, 208f. Âtman 279 Auferstehung (→ auch Reinkarnation und Wiedergeburt) 105, 269, 282, 290, 315, 319, 370, 439 Aufführung (→ auch Performanz) 15, 57, 291, 362, 370, 409, 473 Aufklärung 41, 99, 282, 395, 434, 443, 449, 451 Auge 96, 111, 125, 218, 254 Ausdruck 21, 27, 31, 55, 70, 74ff., 78, 81, 84, 86, 93, 101, 103, 110, 116, 122, 135, 138, 140, 145ff., 155, 165, 168, 200, 230, 245, 252, 258, 260, 266ff., 271ff., 275, 277ff., 282, 288f., 292, 296ff., 306ff., 317, 320, 339ff., 344, 351, 357, 364, 372, 374, 417, 419, 438, 458, 471 Auslegung → Exegese Äußerung (→ auch Sprechakt) 163, 173, 193, 205, 207f., 218, 332, 348, 427, 444 Ausstrahlung 288ff., 292, 299, 307 Authentizität 110, 116, 133, 161, 171, 231, 294, 334, 375 Autonomie 171, 317, 453, 455, 459, 463 Autorität 115, 132, 180, 291, 304, 314, 316, 321, 373 – autoritativ 180, 189, 321 B Barmherzigkeit 95, 137, 290, 300, 351, 401 Bedeutung 20, 25ff., 39, 44, 47, 73f., 82, 92, 94f., 98ff., 103, 109f., 121ff., 135f., 139f.,

488 | Index

144, 148, 154, 156ff., 161ff., 165f., 170ff., 179ff., 187ff., 196, 198, 201, 203, 205, 211f., 218, 224f., 227, 231, 233, 243, 261, 276, 280, 288ff., 298f., 323, 332, 347, 359, 366f., 369f., 387, 399f., 410, 419, 428ff., 435, 437f., 440, 454, 458f., 465, 472 Bedeutungsebene 189 Bedeutungsverlust 228, 331 Bedeutungszuschreibung (→ auch Zuschreibung) 227, 289 Befreiung 20, 155ff., 159, 166, 170ff., 175, 177, 186, 200, 206, 233, 315, 333, 373, 413, 455 Befreiungslehre 157, 165 Befreiungspfad 154 Begehren 156, 195, 204, 475 Begriff 7, 11, 14, 19f., 23, 25, 31, 96, 98, 104, 111, 121, 165, 216, 218, 223, 226, 241, 243, 248, 267, 277, 290ff., 294, 297f., 306, 324, 329, 351, 357, 359, 362f., 418f., 446, 450f., 453, 456, 472 Begriffsgeschichte 100, 290, 294, 449 Bekehrung 110, 117, 276, 318 Bekenntnis (→ auch Glaubens- und Schuldbekenntnis) 76, 81, 201, 214, 252, 268, 343, 370, 472 Bethlehem 255ff., 323 Bewusstsein 12, 15, 18, 146, 154f., 160f., 163f., 166f., 172, 195f., 229, 252, 313, 321, 326, 329, 361, 413, 443, 451, 455, 468 – kollektives Bewusstsein 109, 116, 147, 333 Bhagavadgītā (BhP) 179ff., 187, 189 Bibel 8, 17, 38, 43, 49, 76f., 79, 87f., 92ff., 104, 131, 194f., 243, 274ff., 278, 280, 313f., 319, 322, 329f., 339, 342, 344, 352, 370, 386, 388ff., 392, 400, 408f., 417ff., 437ff., 443, 445ff., 450, 452ff., 460f., 463ff., 469, 474f. – Altes Testament 14, 17, 93f., 97, 106, 113, 209, 250, 257f., 280, 317, 330, 342, 389f., 420, 423ff., 439, 459, 465 – Armenbibel 422, 424 – biblisch 59, 79, 82, 92ff., 98, 102, 104f., 217, 255, 257, 329, 342, 367, 386, 388ff., 399ff., 405, 410, 417ff., 422, 424ff., 434, 437f., 440, 459, 465, 467, 469 – Evangelium 17, 207, 277f., 281, 283f., 314, 317, 321, 327, 332, 343, 388, 393, 396, 402, 424, 426, 437, 450, 453 – Handschrift 420, 422

– Illustration 417, 419f., 422ff., 430, 434, 437, 439f. – Kölner Bibel 422f., 427, 429, 431 – Lutherbibel 280, 330, 419, 423, 425, 431, 433 – Nag Hammadi 277, 281ff. – Neues Testament 14f., 17, 22, 94, 96f., 105, 113, 200, 205, 207, 222, 226, 229, 250, 255, 290, 303, 317, 322, 356, 359, 373f., 388ff., 393, 421, 423ff., 434ff., 439, 461, 468 – Pentateuch 71, 75 – Schulbibel 420, 425ff., 434ff. Bibliothek 278, 447, 452, 454, 457, 476 Bild 18f., 21, 31, 41, 45, 48, 59f., 72, 83, 95f., 98, 100, 157, 161, 169, 197, 214, 231, 243, 251, 258, 275, 282, 293, 303f., 319, 356f., 359, 363f., 368, 375, 403, 409, 417ff., 422, 424ff., 433, 435, 437ff., 446, 448, 454, 459, 470, 472, 477 – bildlich 45, 93, 96, 364, 369, 419f., 425f., 428ff., 440, 447, 471 Bilderverbot 83, 260, 418 Bildinterpretation 428f. Bildung 74, 224f., 448f., 453 Biographie 228, 231f., 234, 459 – biographisch 224, 230f., 233, 235, 376, 459 Bischof/Erzbischof 58, 210, 260, 300, 314, 427 Bischofskonferenz 314, 359 Blasphemie 272 Blitz 22, 269, 473 Blut 72, 112, 253f., 360 Bosheit 275 – böse 227, 395 Bote 110, 128, 132, 243, 255, 269, 277 – Gottesgesandter (→ auch Engel) 110, 114f. Botschaft 17, 84, 109f., 112f., 118, 126, 132ff., 145, 186, 231, 243, 245, 316, 325f., 343f., 404, 406f., 424, 450, 464 Brahmā 182 Brief 57, 213, 309, 342, 427, 468, 472 – Hirtenbrief 314 Briefwechsel 39f., 453 Brot und Wein → Abendmahl Buch 16, 58, 71, 94, 113, 128, 131, 134, 139, 141, 180f., 183f., 188f., 322, 342, 369, 389, 419f., 422, 424, 443, 446ff., 452ff., 456ff., 460ff., 466f., 470, 472ff., 476 – absolutes Buch 443, 446ff., 451f., 454, 458ff., 465, 469f., 472, 474ff.

Index | 489

– göttliches Buch 462f., 475 – heiliges Buch 450, 453 Buchdruck (→ auch Inkunabelzeit) 39, 58, 422, 444f., 448, 464 Buchstabe 71, 77, 86, 88, 321, 422, 443f., 447, 456, 469f., 473 Buddha 38, 175, 271 Buddhismus 30, 47, 54, 154f., 168, 172f., 175, 274, 282, 284, 329 – Amitaba-/Jodo-Buddhismus 155 – buddhistisch 26, 54, 154ff., 161f., 164ff., 168f., 171ff., 282 – Chan-/Zen-Buddhismus 54, 155, 165, 172f., 273f., 277, 281, 283f. – Lehre 154ff., 168f., 171ff., 175 – Praxis 154, 157, 165, 168, 173ff. – tibetischer Buddhismus 155, 172ff. C Charisma 250f., 288ff., 318 – Amtscharisma 250f., 289, 296f., 299f., 370 – charismatisch 112, 232, 291ff., 297ff., 302ff., 316, 321 – Charismaträger 292, 297, 300, 309 Charismatisierung 294ff., 300, 305, 307f. Charismazuschreibung (→ auch Zuschreibung) 289, 304, 308 Chiffre 243, 245, 248, 250ff., 262, 456, 475 Christen 17, 159, 288, 300, 302, 319, 322, 331 – Katholik 300f., 321, 331 Christentum 17, 29, 45, 70, 83, 105, 112, 115, 227, 249, 320, 322, 329, 417f. – christlich 10, 29f., 38f., 45, 47, 49f., 54, 92, 102ff., 164, 171f., 174, 192, 198, 201, 211, 216, 218, 222, 227, 241ff., 245, 247, 250, 252ff., 257, 282, 288, 290ff., 296, 298, 308, 312, 317f., 322ff., 326, 332, 342, 347, 359f., 366, 370, 390, 392, 396, 398, 400, 417, 419f., 424, 426f., 432, 437, 440, 443, 447, 450, 459, 465, 469 – evangelisch/lutherisch/protestantisch/ reformiert 30, 48, 50, 196, 254, 314, 331, 339, 352, 360, 385, 387, 389, 392f., 395, 399f., 402, 411, 413, 424, 433, 437, 463 – katholisch/römisch 48, 50, 98, 142, 181, 184, 253f., 260f., 298, 302, 314, 327, 331, 338ff., 347, 360, 366, 385, 387ff., 392f., 400f., 411, 413, 420, 424, 426f., 433, 460, 472

– Katholizismus 292, 358, 463 D Dämon 87, 119, 460 Darstellung 27, 38, 44, 53ff., 70ff., 93, 103f., 182ff., 189, 260f., 288, 332, 346, 349f., 352, 356, 364, 368, 375, 399, 405, 418, 420ff., 428, 432, 434, 438f., 452f., 455, 458, 467, 472, 475 David 58, 113, 258, 303, 435f. Deixis 312, 323 Denken 26, 87, 100f., 176, 208, 227, 244, 312, 327, 332, 364, 394, 418, 452, 454, 469, 471f., 476 Denkfigur 23f., 242f., 246, 443 Desillusionierung 282 Deutsche Demokratische Republik (DDR) 192, 197, 199, 201f., 204f., 208, 210, 214, 216 Deutung 16, 71, 86, 94, 131, 172, 227, 234, 248, 256, 274ff., 431, 471, 475 Deutungsgefüge 272 Deutungshoheit 223, 248, 252, 262, 307, 373, 449 Deutungshorizont 248, 250, 255f., 259, 262 Deutungsmuster 229, 234, 248, 262 Deutungsperspektive 276 Deutungsrahmen 272 Dhamma/Dharma 175 Dialekt → Sprache Dialektik 245, 306, 450, 463f. Dialog (→ auch Gespräch) 46, 81, 92, 103, 298, 323, 372, 386, 389, 397, 460, 464, 469 – dialogisch 76, 323, 373, 402f. Diaphanie 171 Dichter 110, 124, 129, 458, 467, 470, 473 Dichtung (→ auch Poesie und Lyrik) 95, 110, 116f., 119ff., 124, 128f., 141ff., 146, 197, 269, 315, 317, 369, 459f., 469ff. Didaktik 96, 283, 387 Diener 118, 134, 140, 205 Dienst 142, 290, 324f., 327f., 410, 413 Dienstleistung 224ff., 229ff., 235 Diesseits 194, 227f., 469 Differenz 49, 102, 154, 157, 170, 254, 281f., 284, 308, 328, 365, 367, 369, 372, 446, 450, 460, 466 Differenzlosigkeit 272, 274, 283f. Digitalität 59, 444, 446 Diktatur 206, 212

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Diskurs 33, 37, 42, 46f., 49, 53, 120, 129f., 132, 203, 205f., 210, 246, 260f., 270, 288f., 295ff., 300, 304ff., 314, 319, 321, 325, 333, 357, 363f., 413f., 445, 453, 464 – diskursiv 46, 234, 241f., 245, 247f., 252, 257, 266ff., 306, 366, 371f., 451 – öffentlicher Diskurs 203 Diskursivität 137, 196, 371f. Dom → Kirche Dschinn (→ auch Geist) 117f., 122f. E Egoismus 161 Egozentrik/Egozentrizität 159, 160ff., 176 Ehre 80, 103, 142, 255, 330, 339, 344, 393f. Ehrfurcht 87, 93, 137, 143, 269, 438 Eindruck 119, 194, 208, 231, 325, 357, 370, 438, 477 Einfalt 297, 302 Ekstase 137, 170, 172, 326, 368 – ekstatisch 71, 77, 290, 326 Elend 168 Emanzipation 41, 224, 226, 233 Emotion (→ auch Gefühl) 200 – emotional 158f., 197, 231, 288, 300, 304, 313, 332f. Empfänger 113, 130, 406, 464 Empfindung 123, 156, 159f., 162, 164f., 167ff., 176, 201, 230, 301, 325, 456 Engel (→ auch Bote: Gottesgesandter und Lucifer) 8, 30, 44f., 112f., 139, 145, 255, 258, 269, 274, 315, 324, 344, 347, 351, 431 – Cherub 269 – Gabriel 24, 112, 123, 295 Entrepreneur 223, 225, 231ff. Entwicklung 14, 38ff., 47ff., 59, 149, 165, 231ff., 235, 257, 290, 292, 302, 351, 373, 387, 394, 410, 420, 422, 447, 449, 456, 463, 475 Enzyklopädie 443f., 449, 452, 454, 458f., 461f. – enzyklopädisch 43, 452, 454f., 457, 463f., 472 Enzyklopädistik 449, 452ff., 456ff., 474 Epiphanie (→ auch Erscheinung) 94, 365, 368 erbaulich 399, 464, 468 Erbauungsliteratur 48, 58, 398f., 412 Erde → Welt Ereignis 75, 82, 97, 115, 139f., 196, 199, 218, 245, 251, 253, 266f., 289, 297, 308, 331,

356, 360ff., 365, 392, 409ff., 413, 421, 432, 434, 470 Ereignishaftigkeit 362f., 408 Erfahrung 15f., 20, 24, 28, 73f., 78, 92ff., 104, 117, 155, 160, 163ff., 169ff., 175f., 204, 218, 226, 230f., 244, 248, 250, 254f., 257, 271f., 276, 288f., 292, 294, 296, 314, 316, 318, 323, 327f., 357, 361, 365, 372, 407, 409, 414, 437, 440, 443, 446, 450, 460, 467, 470, 475 Erfindung 39, 58, 444, 456 Erfüllung 28, 166, 195, 204, 313, 315, 324, 326, 361, 439 Ergriffenheit 117, 137, 231, 327 Erhabenheit 268f., 320, 467 Erinnerung 24, 26, 28, 52, 69, 71ff., 83, 88, 101, 119, 122, 125, 169ff., 173, 253, 323, 356, 374, 392, 430, 460, 468 – Gedächtnis 72f., 253, 444, 447, 453 – kommemorativ 366f., 370 – kulturelles Gedächtnis 69, 71f., 74, 88, 200 Erkenntnis 15, 17f., 92, 102, 137, 162, 266, 325, 356, 364, 385, 394f., 397, 399, 403, 408f., 411, 413, 446, 448, 455 Erklärung 121, 132, 141, 246, 313, 329, 474 Erleben 12f., 18, 23ff., 27, 31, 72, 75, 137, 160, 162f., 167ff., 171, 175f., 267, 272, 276, 292, 319, 326f., 329, 365, 367, 466 Erleuchtung 156, 168ff., 175 Erlöschung 156 Erlösung 170, 183, 185f., 315, 343, 365, 370, 439, 447, 461 Ermahnung 122, 290, 327 Erneuerung 72, 334, 468, 474f. Errettung 274f. Erscheinung (→ auch Epiphanie) 20, 31, 37, 39, 44, 48, 50, 88, 125, 146, 224, 242, 244, 255f., 270, 276, 279, 315, 356, 362, 373f., 376, 450 Erwartung 156, 160, 163, 207, 211, 308, 323, 331, 333, 393 Erzähler 18, 183, 185 Erzählgebot 69, 72, 75, 88 Erzählung 18ff., 31, 69, 72ff., 81, 84, 88, 93, 96f., 130, 180, 185f., 233, 255, 257, 274ff., 372, 420, 428f., 438, 459, 471 – narrativ 75, 93, 97, 233, 251, 256f., 271, 308, 314, 364, 373, 420, 428ff., 439f. Erzbischof → Bischof

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Erzeugung 42, 57, 84, 174, 198, 231, 312, 324ff., 365, 375, 411, 446 eschatologisch 389f., 429, 432 Esoterik 53, 225 Ethik 30, 78, 84, 204, 228, 362 – ethisch 78, 106, 204, 206, 292, 389, 395f., 463 Eucharistie → Abendmahl Eva/Heva 389, 392, 460 Evangelium 250, 252, 342, 389 Ewigkeit 77, 81, 84, 183, 252, 260, 364, 465 – ewig 14, 19, 77, 112, 126, 171, 183, 278, 282, 329, 351, 364, 391, 453, 462, 468 Exegese 98, 115, 129, 131, 141, 207, 251, 329, 370, 386, 388, 399, 417ff., 424, 426, 431, 440, 445, 447f., 469 – exegetisch 118, 317, 367, 418, 431, 434 Exempel 234, 282 Existenz 13, 15, 98, 113, 162f., 185, 194, 206, 224, 282, 320, 333, 367, 370, 465f., 468 Expressivität 27, 33, 200, 266ff., 271, 274, 276, 282, 284

Freiheit 21, 104, 143, 162, 202f., 206, 213, 215, 217, 272, 450 Fresko 258 Freude 69, 85, 166, 179, 255, 401, 405 Frieden 15, 115, 139, 177, 255, 332 Friedensgruß 139, 255, 341 Frömmigkeit 49, 93, 367 Frühe Neuzeit 399 Fundamentalismus 23, 104, 107 – fundamentalistisch 104f., 276 Funktion 48, 72, 77f., 80, 84, 100f., 109, 120ff., 125f., 128, 131, 136, 155, 172, 174, 193ff., 199, 206, 225, 235, 245, 259, 272, 295, 299, 308, 312, 317, 324, 329, 333, 338, 341ff., 352, 366f., 369, 371, 391, 399, 417f., 424, 426f., 430f., 433ff., 437, 443, 445, 466, 472, 476 – funktional 42, 70, 73, 81, 147, 201f., 249, 260f., 307, 312, 314, 426, 437, 440 Fürbitte → Gebet Furcht (→ auch Angst) 77, 114, 124, 128, 202, 213, 216ff., 251, 255, 269, 466, 468

F Familie 44, 86, 200, 227, 275 Feier 200, 253, 316, 323, 340f., 344, 349, 351, 408 Fest 73, 253, 327, 389, 405 Figur 41, 55f., 58, 126f., 162, 245, 296, 303, 357, 431, 433, 456f., 460, 467, 471f., 475 Fiktion 8, 97, 110, 361, 365, 443, 473 Flugschrift 40, 48, 58f. Form 7, 10ff., 16, 19f., 29, 31f., 37, 39ff., 52ff., 59, 71, 75ff., 81f., 85f., 88, 93, 95ff., 109ff., 113, 116, 119ff., 125f., 128f., 133ff., 140, 147f., 154, 157, 160f., 163, 167f., 170ff., 175f., 179, 187, 189, 193, 198, 200, 202, 204, 207, 209f., 222, 226, 229ff., 234f., 241, 246ff., 251f., 254, 266, 268, 271, 273, 275, 279f., 282, 291f., 295f., 299, 302, 306, 314, 317f., 321, 324, 328, 330, 332, 338ff., 342f., 345, 348f., 352, 364f., 373f., 387, 389, 393, 395, 397, 407, 409ff., 417f., 421, 424, 426, 430, 437, 440, 444, 453, 456, 461, 464, 466f., 471, 477 Formel 25, 79, 87, 138f., 205, 254, 280, 341, 343, 351, 454 Fotographie 360, 373f., 426 Fragment 445, 451f., 455, 470, 476

G Gabe 185f., 250, 288, 299, 302ff., 342, 367, 468 Gabriel → Engel Gebet 7f., 43, 46, 76ff., 81, 85f., 92, 111, 115, 133ff., 145, 195, 205, 208, 210, 212, 252ff., 318, 328, 340, 342, 347ff., 351f., 358, 370, 373, 388, 398, 459 – Friedensgebet 206, 208, 210, 212f. – Fürbitte 204, 212f., 218, 340f., 343, 393 – Hochgebet 341, 343 – Montagsgebet 192, 195, 197, 200, 202, 204, 208ff., 217f., 315 – Stufengebet 345, 349f. – Vaterunser 212f., 341, 388 Gebot 72f., 76, 82ff., 103, 209, 213, 228, 268, 272, 458 Gebrauch 37, 45, 47f., 50, 55, 76, 94, 101, 127, 138, 140, 142, 193, 197ff., 203, 282f., 302, 339, 387, 401, 408, 418, 426, 446, 454 Geburt 26, 155, 180, 185, 250, 323, 326, 338, 366 Gedächtnis → Erinnerung Gedenken 74, 85, 128 Gefühl (→ auch Emotion) 15, 24, 27, 160, 162, 167, 170, 186, 226, 231f., 272, 303, 307,

492 | Index

312, 319, 321, 326f., 332, 368, 407, 418, 452, 455 Gegenwart 19, 43, 48f., 57f., 74, 102, 104, 111, 133, 138, 148, 161, 175, 196, 217, 227, 245, 312, 315, 318, 324, 327, 331, 356f., 361f., 365f., 374f., 392, 401, 426, 432 – zeitgenössisch 51, 99, 119, 145, 175, 196, 222, 224f., 227, 231, 234, 359, 396, 400, 410, 426, 430ff., 470 Gegenwärtigkeit 359ff., 364, 372 Geheimnis 141, 279, 292, 313, 326, 343, 394, 473 Geist (→ auch Heiliger Geist und Dschinn) 16f., 19, 21, 24, 27, 30, 100, 137, 165f., 172, 175, 229, 267, 270, 288, 290, 301, 315, 317, 322, 324, 347, 351, 424, 451f., 454, 456f., 459, 468, 472 geistig 24, 27, 231, 360, 364, 470ff. geistlich 211, 214, 358, 361 Geistlicher 116, 137, 207, 344, 393, 400 Gelehrter 115, 256, 438, 445 Geltung 204, 301f., 369 Gelübde 78, 175 Gemeinde (→ auch Gemeinschaft und Glaubensgemeinschaft und Sangha) 58, 78f., 84f., 114, 203, 207, 209f., 212f., 217f., 288, 290, 292, 296, 302, 308, 314, 321, 323, 340, 342ff., 347ff., 352, 368, 388f., 393f., 399, 402, 405, 408 Gemeinschaft (→ auch Gemeinde und Glaubensgemeinschaft und Sangha) 19, 38, 53, 72, 74, 76f., 80, 92, 134f., 175, 192, 195ff., 201, 207, 209, 211, 223, 229, 241, 248f., 253, 290, 292, 312, 314, 324, 326ff., 333, 357, 370, 418f. Gesang 342, 349 Geschichte 14f., 18f., 37ff., 41, 43, 45ff., 51, 54, 56, 58f., 73ff., 84, 88, 94, 97, 99, 102, 128, 149, 157, 180, 195, 214f., 255, 275f., 315, 322, 330, 332, 342, 344, 357, 374, 376, 387, 389, 391, 395, 400, 413, 420, 423f., 430, 446f., 451, 459, 466 Geschichtlichkeit 365, 367, 372 Gesellschaft 23, 72, 106, 135, 148, 159, 171, 192, 198, 201f., 204, 206, 208, 222, 247, 290, 292, 295, 302, 323, 359, 374, 385, 394, 444 – gesellschaftlich 37, 72, 112, 203, 222, 225ff., 229, 234, 289, 293, 295, 297, 307, 315, 333

Gesetz 14, 28, 74, 78, 80, 135, 164, 195, 339, 421, 424, 472, 474 Gespräch (→ auch Dialog) 7, 137, 277, 284, 313, 328, 386, 397, 410, 438, 463 Gestalt 102, 122, 132, 182f., 185ff., 207, 245, 269, 284, 289, 339, 343, 391, 411, 435, 438, 463, 470 Geste 14, 18, 158, 212, 267, 339, 341, 343, 362, 368 Gestik 83, 85f. Gestus 197, 452, 473 Gewalt 18, 42, 213ff., 268, 273, 294, 315, 327, 370 Gewaltlosigkeit 213f. Gier 156, 159 Glaube 15f., 22f., 25, 44, 75f., 80, 82, 86ff., 97f., 102f., 106, 113, 141, 144, 149, 197, 199, 202, 228f., 232, 244, 251, 261, 288, 293, 298, 300, 303, 313f., 319, 325, 327f., 332, 343, 367, 388, 391, 404, 409, 419, 437f., 440, 443,445, 462, 464ff., 468, 474 – christlicher Glaube 29, 102, 323, 398, 424 – jüdischer Glaube 41, 70, 79, 81, 84, 245 Glaubensbegründung 312, 314, 319 Glaubensbekenntnis (→ auch Bekenntnis und Schuldbekenntnis) 81, 85, 115, 252, 340, 343, 349 Glaubensgemeinschaft (→ auch Gemeinschaft und Gemeinde und Sangha) 81, 252, 259, 261, 327 Glaubensinhalt 70, 74f., 250, 319, 369f., 461 Glaubenssystem 69f. Gläubige (→ auch Ungläubige) 20, 23, 37, 76, 80, 82, 111, 115, 134f., 137, 297, 300ff., 316, 320f., 324, 326, 330, 339, 341ff., 349, 351, 367, 370, 417 Glaubwürdigkeit 216, 218, 225, 231, 332 Gleichnis 31, 92, 95ff., 124, 131, 140, 213, 274ff., 318, 389 Gleichzeitigkeit 325, 362, 364 Globalisierung 104, 320 Gloria 344, 349 Glück 14, 23, 167, 173, 186 Gnade (→ auch Gottesgnade) 179f., 182f., 185f., 284f., 316, 319, 330, 394, 461 Gnadengabe (→ auch Gottesgnade) 145, 288, 292, 297, 303, 306 Gnosis 277, 281, 283f.

Index | 493

Gott 8f., 15, 17f., 20, 22, 24f., 43, 58, 69, 71f., 75ff., 83ff., 92ff., 100, 102f., 110ff., 122ff., 131ff., 137,138, 139f., 142, 144f., 148f., 164f., 171ff., 179f., 182f., 185f., 189, 195, 201, 207, 210ff., 215, 228, 243, 250, 253, 255, 257ff., 261, 269, 272, 275, 278, 280, 288, 290, 292, 298, 301f., 304, 306ff., 313, 315ff., 319, 321ff., 326ff., 333, 338, 340, 342ff., 347f., 351f., 358, 367, 369, 371f., 385, 390ff., 394, 397, 401f., 404, 409f., 417f., 437f., 440, 446ff., 450, 458, 460ff., 473, 477 – Allah 111, 113, 118, 124, 128, 136, 138ff., 150 – Gottheit 94f., 179, 251ff. – göttlich 15, 24f., 69, 71, 76f., 81, 84f., 87, 109f., 112f., 116, 121, 123, 132, 135, 138, 143, 145f., 180, 182f., 185, 189f., 209, 211, 228, 251, 253, 261, 271, 275, 288f., 297, 303, 308, 313, 316f., 329, 358, 360, 364, 390, 445, 447f., 450, 460, 462f., 465, 467, 469, 475 – Jahwe/JHWH 80, 86, 93, 324 Gottesbild 409f. Gottesdienst 29, 38, 57, 59, 77f., 85, 135, 196, 200, 207ff., 218, 316, 318, 338f., 341, 345, 347, 352, 386ff., 392, 405, 412f. – liturgisch/gottesdienstlich 111, 114, 134, 192, 206ff., 211f., 302, 338, 344ff., 352, 366, 370, 373, 386ff., 391ff., 407f. – Messe 331, 338ff., 347ff., 351f., 360, 388, 472 – Wortgottesdienst 340, 342f., 393 Gotteserfahrung 437, 468, 475 Gottesgnade 179f., 182, 185f., 316 Gotteslob (→ auch Lob) 69 Gottesname 71, 77, 84, 86f., 93, 139, 185 Gottesrede 75, 94f., 104 Gottessohn (→ auch Jesus Christus) 245 Gottesverehrung 338ff., 342, 344 Gotteswort (→ auch Wort) 79, 98, 103, 110, 113, 116, 124, 143, 145, 149, 207, 211, 213, 315, 317, 321, 330, 343f., 371, 391, 397, 401f., 407, 417f., 447 Göttlichkeit 208, 228, 285, 465 Grab 39, 81, 269, 374, 434f., 473 Grammatik 71, 122, 126, 141, 143, 147ff., 173, 187f., 312 Gründung 25, 134, 144, 243, 245

Gruppe 8, 42, 54, 57, 72, 82, 195, 199, 203, 206, 210f., 214, 223, 229, 267, 273, 281, 296, 301, 317, 322, 328, 348 – Daseinsgruppe 167f. H Handlung 8, 18, 38, 55, 59, 70, 72f., 75, 80, 82, 87, 96, 111ff., 123, 135, 138f., 155, 160, 167, 174, 182f., 186, 193, 195f., 200, 203f., 207f., 210ff., 227, 231, 234, 253, 256, 288, 290, 293, 296, 298f., 302f., 312, 315, 317f., 323, 326, 331, 333, 338, 341, 356f., 359, 362, 369, 386, 388, 392, 398, 411, 460, 465, 471f. – rituelles Handeln (→ auch Ritual) 45, 73, 249, 251, 253 – Sprachhandlung (→ auch Sprechakt) 75, 80, 82, 139, 207, 211ff., 218, 333, 363, 399, 402f. Handlungssphäre 57, 192, 199, 222, 293ff., 299f., 302, 305ff. – profane Handlungssphäre 302 Handschrift 46, 48, 57, 422 Heiden (→ auch Ungläubige) – heidnisch 110, 117, 119, 124 Heil 224, 227f., 233f., 295, 297, 302, 314f., 317f., 329, 333, 344, 369, 401, 439, 445 Heiland (→ auch Messias und Jesus Christus) 102, 250, 255 Heilige Schrift → Bibel Heiliger Text 136, 317, 322 Heiligkeit 45, 73, 75, 77, 81, 84, 86f., 93, 104, 134f., 143, 162, 193, 241, 243ff., 248, 251, 260f., 298, 301f., 314f., 322, 324ff., 328, 331f., 338, 340, 347, 351, 370f., 373, 390, 393, 418, 434, 448, 460 – heilig 37, 39, 45, 77, 79, 81, 87, 129f., 132, 135f., 145, 210, 244, 250, 253f., 257, 278, 314, 317ff., 322, 339, 343f., 348f., 369, 388, 428, 445, 447, 450, 453, 465f., 472 Heiligung 81, 473, 475 Heilsbotschaft 312, 314, 333 Heilsgeschehen 225, 366, 370 Heilsgeschichte 59, 233, 318f., 364, 370, 373, 392 Heilsidee 229, 231f. Heilung 224, 234, 290 Hermeneutik 104, 325, 360ff., 366, 370 – hermeneutisch 94, 102, 361

494 | Index

Herodes 256 Herrschaft 12, 195, 291ff., 320, 448 Herz 85, 128, 131, 137, 173, 255, 342, 467 Heterotopie 253, 352 Heva → Eva Himmel 124, 128, 145, 172, 216, 218, 243, 252, 255, 259, 278, 315, 324, 471 – himmlisch 138, 164, 255, 447 Hinduismus 30, 32, 179ff., 187, 230, 276 – hinduistisch 24 Hingabe 114, 139, 179, 182f., 186, 295, 321, 340 Hoffnung 258, 467f. Hoffnungsträger 300, 304, 308 Hölle 45, 128, 324, 460 Homiletik → Predigtlehre Homilie → Predigt Hören 98, 101, 137, 173, 182f., 185, 277f., 325, 340, 391, 447 Hörer 18, 31, 79, 81, 97f., 116f., 128, 130f., 136f., 157, 183, 185, 217, 276ff., 295, 303, 313, 315ff., 320, 326ff., 371, 388, 392ff., 396ff., 402ff., 407, 410, 464 Hostie → Abendmahl Hure 429, 432f. Hymnus 195, 339, 344 I Idee 15, 143, 159, 172, 183, 227f., 279, 358, 446, 453, 457, 470f. Identifikation 76, 95, 97, 129, 162, 187f., 228, 230, 234, 332, 386, 410, 456, 468, 473 Identifizierbarkeit 224 Identifizierung 93, 189, 398 Identität 72, 74, 77, 80, 87, 94, 111, 149, 158, 167, 224, 228ff., 235, 296, 298f., 306ff., 320, 327f., 373, 453, 455, 470 Identitätsbedürfnis 234 identitätsbezogen 233, 235 Identitätsmanagement 228f. Identitätssuche 233 Ideologem 235 Ideologie 32, 199, 201f., 227, 241, 243, 246, 248, 250, 259, 262 – ideologisch 197, 206, 209 Illusion 149, 466f. Illustration (→ auch Bild und Bibelillustration) 46, 48, 182, 258, 364, 417, 419ff., 424ff., 431, 433f., 437, 439f., 444, 459, 465 Imagination 326, 358, 453

Immanenz 27, 165, 242, 249, 288 Individualisierung 227, 295 individuell 12, 24, 45, 50, 74, 95, 98, 104, 127, 155, 172, 176, 226f., 246f., 252, 278, 292, 307f., 313, 321, 328, 333, 362, 374f., 425f., 430f., 437, 445, 459, 465, 468, 477 Information 163, 169f., 215, 218, 426, 430, 437 Inkunabelzeit (→ auch Buchdruck) 422 Instanz 69, 74, 77, 80, 83f., 88, 128, 131, 202, 295, 303, 473, 476f. Institution 19f., 42, 111f., 115, 133, 135, 146, 192, 195f., 198, 202f., 206, 211, 222, 224ff., 252, 268, 272f., 307, 315f., 320f., 331 – institutionell 19, 41, 112ff., 195f., 201, 212, 214, 222, 224, 235, 246ff., 278, 314, 317, 323, 369, 374, 453 Institutionalisierung 111, 133, 272 Inszenierung 200, 234, 294, 323, 369, 371f., 409, 465, 470, 472f., 475 Integration 122, 196, 199, 201, 209, 272 Intensität 81, 314, 358, 410, 471 Intention 28, 75, 103, 128, 133, 205ff., 211, 260, 307, 326, 403 Interaktion 8, 25, 70, 78f., 158, 232, 333, 371, 394, 473 Interpretation 17, 114, 166, 275, 280f., 315, 317, 330, 348, 360, 368, 406, 431f. Intertextualität 373, 399f. Introitus 349, 351 Ironie 306, 449, 464f., 475 Isaak 113, 466 Islam 30, 47, 70, 109ff., 117, 131, 134, 136, 138f., 141, 145, 149, 245, 247, 249, 260, 417 – islamisch/muslimisch 94, 109f., 112, 114, 116ff., 120, 123, 131, 133f., 136ff., 172, 227 – vorislamisch 117, 124, 141, 143, 146 Israel 81, 83, 102, 113, 256, 280, 323, 389, 391 Israeliten 73, 75, 79f., 82f., 280, 319 J Jahwe/JHWH → Gott Jenseits 43, 121, 163, 227, 272, 313, 321f. Jerusalem 83, 250, 256 Jesus Christus (→ auch Gottessohn und Heiland und Messias) 16, 45, 95ff., 102, 105, 113, 118, 216, 218, 245, 250, 253ff., 258, 269, 277, 281, 283, 300, 314f., 317, 323f., 326, 328, 338, 342, 344, 347, 351, 360, 366f.,

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370f., 388, 391f., 396, 402, 417f., 425, 434, 437ff., 461, 466 Jom Kippur 78, 83 Josef 21, 125, 255, 345 Juden 41, 56, 74, 76f., 81, 256 Judentum 30, 47, 69ff., 74ff., 78ff., 88, 112, 247, 249, 417 – Gemeinschaft 72, 77, 80 – jüdisch 30, 38, 41, 54, 69ff., 83ff., 93, 143, 171f., 227, 245, 443, 447, 461 – Praxis 69, 71, 76, 78 Jüngster Tag 113f., 447 K Kabbala 71, 77, 143, 227 – kabbalistisch 71, 77, 86, 88 Kanon 201, 250, 373 – kanonisch 165, 173, 175, 277, 419, 445, 448 Kardinal 260, 398 Katholik → Christen Katholizismus → Christentum Kerygma (→ auch Sprechakt und Verkündigung) 424, 426f., 437, 439 – kerygmatisch 417, 437f., 440 Kinetik 84f., 88 Kirche 41f., 48, 57, 192, 194f., 198f., 201f., 205ff., 223, 227, 241, 245, 247, 253f., 257, 261, 291, 297ff., 314ff., 318f., 322, 329, 331f., 338f., 341, 347, 352, 370, 388, 392ff., 399ff., 403, 427, 432 – Altar 257, 341, 349, 392f. – Altarraum 347, 351f. – Dom 260, 440 – kirchlich 44, 58, 198f., 205, 207, 210f., 213f., 217, 223, 227, 234, 289, 296f., 325, 331, 333, 341, 369, 374, 396 – Kölner Dom 259, 261, 369 – Nikolaikirche 209, 211f. – Sixtinische Kapelle 258 Kirchenlied (→ auch Lied) 207, 327, 340, 342, 344 Kirchenraum 204, 260, 393 Klang 136, 174, 372 Kollektiv → Gemeinschaft Kombinatorik 71, 122, 454, 456, 462, 472, 476 Kommentar 180ff., 187, 404, 448 Kommunikation 8ff., 27ff., 31, 33, 37, 41, 44f., 47, 50, 69ff., 79f., 86, 88, 109, 112, 123, 154, 157, 159, 163f., 168ff., 176, 192, 196,

198f., 201, 203f., 207f., 226, 229, 231ff., 242ff., 249, 281ff., 290f., 295, 302, 327f., 331f., 338, 345ff., 352, 356, 369, 371ff., 385, 397, 402, 404, 411ff., 418, 427, 440, 445, 458, 467, 475 – Kommunikationsform 80, 124, 137, 327 – Kommunikationsgeschehen 98, 385 – Kommunikationsgeschichte (→ auch Sprachgeschichte) 37ff., 43f., 49f., 52f., 56, 60 – Kommunikationsrichtung 79ff., 215, 245 – Kommunikationssituation 318, 341, 344ff., 352, 399, 412 – kommunikativ 7, 10, 27, 29, 37, 39f., 42ff., 50, 53f., 56f., 60, 69f., 72f., 75f., 78, 80ff., 88, 106, 112, 123, 126, 134, 146, 157, 169f., 172, 192ff., 196f., 199, 204, 211, 218, 242f., 245, 248f., 251f., 254, 257, 262, 277, 283, 289ff., 293ff., 307, 312ff., 316, 327, 331, 333, 338ff., 346f., 352, 361, 368, 371, 397, 410, 412, 418, 440 – liturgische Kommunikation (→ auch Liturgie und Gottesdienst) 346, 352 – Materialität der Kommunikation 360 – öffentliche Kommunikation 203, 208 – politische Kommunikation 194, 198 – religiöse Kommunikation 123f., 193, 199, 210, 249, 251, 313f., 325, 328, 333, 370, 412f., 418, 426, 440 – rituelle Kommunikation 69, 71, 75, 88, 198f., 343 – symbolische Kommunikation 73, 251 Kommunikationskonstellation 71, 76, 88, 203 Kommunikationswissenschaft 411 Kommunikativität 69ff., 75 Kommunion 254, 339, 341, 348, 370 Konfession (→ auch Christentum) 387, 390, 400 Konfirmation 199, 201, 370 Konstellation 80, 82, 204, 316, 322f., 357, 362, 471 Konstitution 14, 22, 37, 43ff., 109, 112, 133, 135, 262, 418, 446 Konstruktion 8, 28, 159, 234, 242, 245, 280, 296, 298f., 305, 308, 324, 328, 375, 455, 473 Kontext 8f., 71, 76, 88, 92, 95, 103, 105, 129f., 170, 186, 194, 204, 206, 209, 223f., 257, 273, 277, 294, 299, 318f., 345, 347, 374,

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388, 391, 407f., 412, 427, 440, 445, 459, 462, 469 Kontingenz 97, 294, 307f., 473 Kontrast 293, 304, 432, 438 Konvention 125, 363 Konzept 7, 17f., 21, 25f., 28, 32f., 69, 189, 267f., 284, 321, 358, 365, 405, 410, 417ff., 423, 428, 437, 443, 446ff., 455ff., 468, 470, 475ff. Konzeption 7, 22, 144, 164, 168, 290, 316, 320, 329, 444, 446, 450, 460, 472, 474 Kopfnicken 215f., 218 Koran (→ auch Übersetzung) 38, 43, 52, 55, 94, 109ff., 116ff., 148ff., 245, 257 – koranisch 111f., 117, 119f., 124ff., 132f., 135f., 138, 143f. – Sure 133, 139, 245, 257 Koranrezitation (→ auch Rezitation) 136f. Körper 11ff., 115, 157, 159f., 164, 182, 185f., 189, 228f., 270, 357, 359, 361, 370, 374, 437, 450, 454, 457 Kosmos 230, 313, 329, 343, 476 – kosmologisch 69, 87f. Kraft 76, 79, 87, 106, 137, 157, 174, 204, 216, 218, 225, 252, 301, 361, 437, 451, 462, 470, 472 Kreuz 53, 250, 319, 343, 438 Kreuzigung 45, 245, 250, 268f. Krippe 255, 257, 323 Krise 175, 232, 295, 307, 373, 399, 404f., 472, 474 Kult 32, 146, 148, 155, 248, 250, 252, 472 Kultur (→ auch Präsenzkultur) 7, 10f., 13ff., 25, 28, 32, 38, 55, 105f., 119, 129, 131, 136, 141f., 247, 257, 278, 291, 294, 357, 359, 363f., 370, 418, 451, 459f., 476 – Alternativkultur 223 – kulturell 9f., 14, 19f., 26, 29f., 33, 41, 44, 69, 71f., 74, 82, 88, 104f., 107, 141, 146f., 149, 198, 200, 222, 227, 243, 245ff., 252, 262, 268, 271, 273, 288, 294, 296, 315, 363, 365, 373, 394, 401, 411, 417, 434, 440, 446, 465 – kulturelles System 82 Kulturelles Gedächtnis → Erinnerung Kulturkreis 138, 143f., 197 Kulturkritik 356, 374f. Kultursemiotik 83 Kulturtechnik 443ff.

Kunst 14, 54, 82, 97, 118, 171, 182, 245, 261, 271, 334, 356ff., 361f., 365, 373, 395, 409, 459, 461f., 470, 472, 474, 476 Kunstwerk 97, 373 L Lachen 215ff. Laie 227, 288, 297, 301, 331, 369, 387, 390, 400, 427, 433, 445 Laut 85, 120, 132, 138f., 141, 149, 187f., 348, 446 Leben 7, 10ff., 15f., 23, 27, 42, 44, 57, 95, 99, 107, 111, 113, 115, 117, 154f., 157f., 160f., 168, 175f., 180, 185, 200, 208, 229f., 243ff., 261, 276, 282, 284, 289, 307, 314, 317f., 325ff., 330, 332f., 351,365, 374, 399, 401, 405, 412, 446, 461ff., 467f., 474, 476 – lebendig 11, 101, 128, 168, 290, 301, 424, 450 – öffentliches Leben 146, 397 Lebensform 16, 28, 39f., 138, 199 Lebensführung 226, 231, 235, 374, 398 Lebenswelt 74, 107, 198, 307f., 411 Leere 164f., 169, 280, 469f., 475f. Legitimität 93, 222, 225, 248, 262, 366 Lehre 71, 73, 109f., 116f., 119, 125, 155, 157, 162, 164f., 171ff., 175, 206, 225, 251, 290, 300, 316f., 329, 331, 388, 391, 399, 402 Lehrer 173ff., 185, 273, 277, 284, 402 Lehrgespräch 277, 280, 283 Leib 12, 159, 176, 229, 244, 253f., 360 – leiblich 154, 158, 160, 163, 167, 175 Leiblichkeit 164, 176 Leiche 269, 281f. Leichnam 281f. Leiden 155f., 159, 161, 165, 171, 175f., 186, 230, 326, 466, 468 Leidenschaft 156, 321, 466 Leidenserlöschung 156 Lesart 445, 469, 474f. Lesbarkeit 444, 446, 448f., 462, 469, 475, 477 Lesen 110, 427, 443ff., 452, 455, 463, 470 Leser 127f., 313, 387, 390, 397, 434, 443ff., 458, 462, 464ff., 469, 472f., 475, 477 Lesung 73, 112, 118, 143, 314, 340, 342f., 349, 388, 392f. Lexik 148f., 329, 346 Lexikon 46 Licht 31, 69, 83, 87f., 92, 103, 121, 124, 185, 259, 261, 317f., 322f., 325, 327, 375, 438

Index | 497

Liebe 147, 149, 162, 295, 318, 332, 401, 438, 459 Lied (→ auch Kirchenlied) 77, 207, 213, 241, 291, 303, 315, 318, 327, 370 Linguistik (→ auch Sprachwissenschaft) 7, 9, 11, 25, 28ff., 32f., 46, 120, 141f., 147, 176, 179, 193, 195, 341, 385, 398, 400, 411ff. – linguistisch (→ auch sprachwissenschaftlich) 7, 9f., 28f., 37, 46, 48f., 71, 75, 101, 121, 147, 154, 188f., 193, 196, 241, 289, 308, 339, 363, 386f., 398, 400, 409f., 412f., 449 – Religionslinguistik 7, 10, 28, 30, 32f., 69, 82, 241ff., 246ff., 257ff., 262, 271 – Soziolinguistik 193 – Textlinguistik 193, 345, 412 – Theolinguistik 10, 28f., 32, 38, 69, 339 – Transzendenzlinguistik 241, 246ff., 262 Literatur 41, 50, 53, 57, 95, 120, 258, 315, 334, 364f., 369, 445, 454, 470, 474 – literarisch 17, 55ff., 170, 318, 372, 474 Literaturwissenschaft 92, 276, 356, 358, 371 Liturgie (→ auch Gottesdienst) 74, 88, 196, 204, 207f., 211, 241, 250, 338ff., 342, 344, 346, 373, 386, 388, 392, 413 – Messliturgie 338, 340 Liturgiereform 331 Lob (→ auch Gotteslob) 127, 139, 260 Logik 75, 129, 166, 168, 172, 243, 259, 296, 305, 316, 451 Logos 99, 443, 446, 450 Lots Frau (→ auch Salzsäule) 274ff., 282, 284 Luzifer → Teufel Lyrik (→ auch Dichtung und Poesie) 371, 473 – lyrisch 371f., 474f. M Macht 24, 69, 144, 173, 202, 204, 209, 211, 215, 261, 290, 292f., 305, 315f., 320, 331, 369, 460 Machtapparat 216, 218 Machtstruktur 201f., 323 Magie 137, 293, 368, 462 – magisch 88, 137, 288, 293, 304, 358, 369, 447, 449 Malerei 14, 366, 369, 401, 476 Mantra 174 Märchen 332 Maria 8, 45, 245, 255f., 269, 328, 347, 351, 417

Martin Luther 40, 47ff., 52, 54, 94, 98, 180, 193, 205, 243, 280, 312, 328, 330, 333, 339, 367, 388, 402, 422, 424, 431ff., 439, 445 Materialität 84, 360f., 365f., 369 Mathematisierung 476 Medialisierung 222 Medialität 362 – medial 28, 52, 54, 56f., 59f., 84, 288f., 293ff., 307f., 364, 369, 374f., 458f., 464 Medienmythologie 458, 463 Meditation 154, 168, 176, 185, 207, 229, 358, 399 – meditativ 169, 273, 400 Medium/Medien 12, 37f., 40, 42, 51, 53, 56, 59f., 83f., 96ff., 109f., 119, 125, 128, 132f., 135, 138, 149, 158, 160, 203, 268, 271, 273, 293ff., 299f., 302, 304ff., 309, 346f., 349, 358, 360, 362f., 366, 369f., 372f., 409, 443ff., 450, 453, 455ff., 462f., 469f. – Massenmedien 299, 373, 463 – Neue Medien 356, 359, 374 Medizin 235, 456, 463, 467 Meer 124, 127f., 150, 319 Mehrdeutigkeit 131, 176, 267 Mekka 112, 115 Mensch 8f., 11ff., 18ff., 22ff., 27, 30, 44, 69f., 75f., 78ff., 86, 88, 98, 102f., 105f., 112, 115ff., 122, 124, 133ff., 137, 139, 144f., 156ff., 168ff., 173, 176, 180, 183, 197, 199, 202, 206ff., 215f., 218, 228, 241, 243ff., 247f., 251f., 255, 258, 262, 267, 270f., 276, 279, 288f., 291, 298, 300f., 303, 305, 307, 312ff., 319ff., 325, 327ff., 332f., 341f., 360, 375, 390, 392, 401, 410, 412, 430, 437, 447, 450, 456, 458, 460, 467, 469ff., 474, 476 – menschlich 9, 13f., 16, 18, 24f., 30, 32, 75, 87, 92, 94f., 103, 112, 131, 134, 154ff., 159ff., 165, 171, 227, 275, 295, 308, 315f., 333, 359, 364, 374, 390f., 394, 397, 406, 410, 412, 418, 430, 440, 444, 457, 460ff., 465, 467, 469,476 Menschheit 14, 110, 132, 143f., 453, 461 Menschheitsgeschichte → Geschichte Messbuch 339ff., 345, 348f., 351, 369 Messe → Gottesdienst Messias (→ auch Gottessohn und Heiland und Jesus Christus) 143, 255, 297, 300, 304 Metaebene 25, 268

498 | Index

Metakognition 160 Metapher 31, 79, 86, 92, 94ff., 98ff., 105ff., 116, 120, 175ff., 242f., 276, 285, 324, 358, 363f., 397, 410, 446f., 449, 453, 457ff., 464 – 'Sprung'-Metapher 15, 22, 283, 285, 319, 455 – 'Welt als Buch' 446f. Metapherndichte 95, 98 Metaphorik 79, 92, 94f., 101, 214, 230, 276, 282, 453, 459 – metaphorisch 92, 94ff., 104f., 176, 254, 261, 271, 301, 397, 446f., 468, 471 Metaphorologie 92, 95, 99ff., 104f. – theologisch 104f. Metaphysik 21, 247, 319, 358, 361, 468 – metaphysisch 71, 87, 319, 359, 361, 450 Metonymie 124 Mimesis 357f., 446 – mimetisch 159, 162 Ministrant 347ff., 351f. Missale → Messbuch Mission 39, 43, 133, 322 Mitteilung 135, 169f., 463ff., 468f. Mittelalter 39, 49, 57, 71, 133, 141, 276, 338, 360, 365, 369f., 421 – mittelalterlich 48, 119, 134, 143f., 227, 332, 360, 364, 423, 428, 430, 444 Mittlerrolle 115, 260 Modalität 78, 417, 419 Modell 8, 51, 78, 212, 234, 330, 357f., 361, 371, 391, 407, 410, 447, 452, 457, 464, 469, 472 Moderne 99, 106, 148, 233, 260, 358, 374, 395, 407, 443, 463, 469, 471, 474, 476 – modern 48, 52, 95, 104, 146ff., 194, 227f., 235, 245, 247, 293f., 298, 307, 312, 319, 321, 328, 330, 357ff., 363, 366, 369, 374, 394, 409, 420, 430, 443, 445, 450, 463, 466f., 469f., 472ff. Mönch 155f., 165ff. Monolog 316, 386 Monotheismus 81, 112 – monotheistisch 114, 144, 446, 449 Montagsgebet → Gebet Moral 209 – moralisch 275f., 278, 324 Morgenland 256f. Moschee 44, 115, 134, 260f. Moses 71, 80, 83f., 118, 280, 460

Muhammad 52, 110, 112ff., 117ff., 121ff., 128, 131f., 134, 145, 245 Mund 77, 270, 277, 285 Musik 14, 53, 137, 207, 245, 253, 258, 440, 458, 472, 476 – musikalisch 212, 245, 271, 457, 471 Musikalität 136, 408, 458 Muslim 109, 111f., 114ff., 119, 123, 125, 129, 131, 133ff., 138ff., 144 Mysterium 194, 306, 344, 388, 392 Mystik 20, 143, 161, 171ff., 227, 282, 361, 399f. – mystisch 20, 137, 147, 161f., 173, 231, 276f., 329, 366ff., 371f., 410, 461 – mystische Einheit → Unio Mystiker 47, 137, 161f., 328 Mythologie 358, 452, 458f. – mythologisch 365, 459f. Mythos 14, 22, 69, 87, 194, 242, 244f., 314, 364, 443, 448, 452, 461, 463, 474, 476 – mythisch 144, 198, 364, 410 N Nachricht 297, 300f., 315, 465 Nag Hammadi → Bibel Name 73, 77, 81, 86f., 93f., 140, 252, 278, 280, 297, 448 Narration → Erzählung Natur 13f., 16, 28, 30, 82, 84, 121, 155, 157, 185, 188, 193, 202, 271, 315, 358, 411, 431, 437, 446ff., 450, 453, 456, 474 – natürlich 13, 30, 120, 146, 179, 410, 412, 456 Nebukadnezar 467 Negation 156, 165f., 283, 308, 451 Negativsprache → Sprache Neid 159, 161, 184, 460 Neue Medien → Medium/Medien Neuzeit 48, 50f., 322, 360, 387, 399, 425, 439, 448 Nibbana/Nibbāna/Nirvāṇa 165, 169 Nichtsein 278f., 367 Nichtverstehen 174, 267, 475 normativ 160, 266, 268, 272 Normierung 142f., 148 Numinoses 123, 212, 368, 467, 475 O Objekt 46, 113, 123, 156, 158, 167, 360, 369, 372f., 376, 392, 455, 476 Obrigkeit 112, 331, 429

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Offenbarung (→ auch Selbstentbergung) 44, 71, 77, 86, 94, 109ff., 117, 119, 126, 130, 132f., 135ff., 141, 143ff., 148, 186, 244f., 250, 252ff., 260, 271, 277, 360, 365ff., 370, 390f., 417, 425, 429, 443, 445ff., 457f., 465, 475 Öffentlichkeit 42, 106, 195, 202, 307, 315, 331, 347 – öffentlich 42, 47, 75, 146, 192, 198, 202, 204, 206, 208, 214, 216, 296, 299, 309, 315, 318, 325, 330f., 393, 395ff., 440, 445 Ontologie 24, 371, 446 – ontologisch 228, 358, 365, 371 Opfer 16, 215, 245 Ordnung 20, 71, 83, 101, 112, 170, 198, 202, 243f., 293, 295, 326f., 446, 448, 453, 455, 457f. Oszillation 356, 360, 364ff., 368, 370, 372 P Pädagogik 226, 445 Pali-Kanon 43, 155, 173 Papst 115, 289, 293, 296, 298ff., 302, 308, 327, 338f., 398 – päpstlich 298, 300 Parabel 96f. Parabrahman 284 Paradies 111, 139, 144f., 308, 448, 459, 461f., 475 Paradigma 32, 71, 360, 362f., 365, 409, 448 Paradoxie 13, 16f., 124, 162, 167, 172, 174, 251, 273, 282f., 308, 321, 362, 450, 469, 473 – paradox 283, 292, 476 Passion 328, 423, 425 Performanz (→ auch Aufführung) 69, 71f., 74, 78f., 254, 288, 291, 303, 307, 309, 327, 368, 371, 472 – performativ 69f., 75, 77, 88, 175, 205, 231, 234, 271, 292, 295, 318, 409 Performativität 84, 87f., 359, 362, 373 Person 27, 31, 44, 49, 81, 164, 167, 172, 188, 198, 224, 228, 267, 284, 288ff., 293, 299, 303, 305, 316f., 321, 327f., 348, 366, 373, 450, 463 Persönlichkeit 292, 404, 463 Pfarrer 196, 207ff., 211ff., 223, 345, 393 Pflugschar (→ auch Schwert) 214 Phänomenologie 103, 293, 356, 360, 365, 451 Phantasie 99, 164, 459, 466, 469

– phantastisch 461, 463, 469 Philologie 141, 179 – philologisch 141, 193 Philosophie 14, 17, 21, 26, 99f., 103, 106, 159, 179f., 270, 277, 282, 319, 326, 356, 359, 446, 456, 462 – philosophisch 7, 10f., 14, 22f., 27, 99ff., 163, 170, 179ff., 206, 241, 267, 271, 319, 366, 449, 464f., 468, 470 Pietismus 40, 49 platonisch 446f., 474 Pluralisierung 104, 222 Poesie (→ auch Dichtung und Lyrik) 119f., 124, 126, 128, 141, 358, 369, 471ff., 475f. – poetisch 121, 126ff., 325, 364, 367, 371, 391, 443, 456, 458, 463, 465f., 468f., 471f. Poetizität 111, 125, 128, 371 Politik 14, 192, 194, 199, 201, 293f., 303, 334, 359 – politisch 52f., 106, 112, 115, 149, 192, 194f., 198f., 201f., 204ff., 213, 217f., 293ff., 299, 307f., 315, 319, 368, 394, 397, 413, 452, 458 Politiker 296, 300, 302, 305 Polytheismus 113 – polytheistisch 112, 447, 449 Popstar 288f. Postmoderne 222, 226, 443, 474 – postmodern 53, 222, 292f., 308, 332 Pragmatik 51, 75, 176, 312, 402 – pragmatisch 46, 50ff., 138, 155, 194, 288, 333, 412 Präsenz (→ auch Realpräsenz) 42, 71, 139, 171, 254, 285, 356ff., 408f., 447, 455 – Aktualpräsenz 366 Präsenzeffekt 359f., 365 Präsenzkultur (→ auch Kultur) 360f., 363ff. Präsenztheorie 359, 363 Praxis/Praxen 7, 10, 20, 27, 29, 32, 37f., 42ff., 48, 54, 69f., 72, 75, 77, 84f., 88, 111, 114, 134, 138, 145, 154f., 157, 160ff., 165, 168, 173ff., 179, 192, 198, 202, 209, 226, 231f., 234, 247, 251, 268, 273f., 284, 332, 344, 362f., 365f., 372, 387f., 394, 408, 418, 422ff., 440, 448, 463, 472, 477 Prediger 98, 214, 223, 300, 315ff., 321, 323, 325f., 329, 331, 344, 366, 393ff., 401ff., 407f., 410

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Predigt 57, 98, 101, 113, 204, 207, 211ff., 241, 276, 291, 312, 314, 316ff., 323, 325ff., 340f., 343f., 348, 370, 385ff., 424, 464 – evangelische Predigt 392f. – katholisch 392f. – Textpredigt 388 Predigtanalyse 404f. Predigtkultur 393, 408 Predigtlehre 329, 385, 387f., 394f., 397, 402, 406, 408f., 411f. Predigttext 389f., 410 Predigttheorie 385, 387, 389, 408 Predigttyp/-typologie 389f., 402 Priester 53, 83, 223, 251, 256, 314f., 328, 340ff., 347ff., 351f., 367, 388, 393, 398 Privatisierung 307 profan 44, 53, 106, 141, 156, 172, 196, 198, 205, 207f., 211, 214, 244f., 250, 288f., 295, 297, 299f., 302, 306f., 319f., 325, 330, 429, 431f. Prophet 55, 71, 75, 77, 110, 112ff., 118, 129, 131ff., 137, 139f., 142, 144f., 224, 232, 245, 249, 251ff., 256, 315f., 389, 424, 469 – Verkünder 109f., 138, 212, 250, 315 Prophetie 110, 129, 250, 291, 317 – prophetisch 114f., 290f., 327 Prosa 120, 125, 371 Protestant → Christen Protestantismus → Christentum Prototyp 88, 282, 300, 397, 465 Prozess 96, 100, 109, 121, 158, 161, 167, 169, 189, 202, 227, 260, 282, 295, 444, 455, 457, 468, 477 Psalmen 85, 94f., 342, 389 Psyche 159, 162ff., 168ff., 176f. – psychisch 157f., 168ff., 228, 231, 294f., 404 Psychologie 23, 226, 385, 411 – psychologisch 31, 241, 326, 386, 403, 410 Publikum 110, 225, 229 Q Qualität 78, 116, 120, 123, 135, 141, 185, 272, 292, 317, 358, 361, 375, 425, 463, 477 R Ramadan 115 rational 97, 288, 304, 326 Rationalisierung 117, 368, 374

Raum 28, 43, 45, 47, 57, 84, 98, 139, 157f., 164, 166, 185, 195, 204, 209, 212, 214, 224, 245, 303, 308, 339, 352, 357, 360, 363, 371, 373ff., 396, 411, 420 Realität 9, 30, 82, 175, 185, 325f., 328, 357, 361, 364, 445f., 457, 462, 470f. Realpräsenz (→ auch Präsenz) 254, 366f., 462 Recht 14, 16, 27, 145, 210, 262, 349, 359, 445, 452 Rechtfertigung 50, 98, 268, 331, 427 Rede 38, 75, 92f., 103, 112, 120, 125, 140, 166, 171, 194, 197, 217, 243, 255, 258, 291, 306, 313, 324, 385f., 396f., 402, 464 Redeweise 93, 99, 125 Referentialität 312, 323 Referenz 81, 158, 169, 282f., 307, 324 Reflexion 14, 18, 92, 98, 105, 154, 162, 166f., 171f., 176, 196, 308, 370, 412, 443, 451, 455, 458f. Reformation 40, 45, 331, 424, 430, 439, 445 Reformationszeit 424 Reinheit 83, 116, 186 Reinkarnation (→ auch Auferstehung und Wiedergeburt) 224, 230 Relevanz 74, 78f., 295, 332f., 395, 398, 440 Religion 7f., 10f., 13ff., 19ff., 37f., 41ff., 60, 69ff., 74f., 82f., 85, 87f., 92f., 102ff., 109, 112ff., 123, 130, 134, 138, 149, 163, 168, 171ff., 192f., 195, 197, 201, 207, 209, 222, 224, 226f., 229, 231ff., 241f., 245ff., 262, 266ff., 270ff., 278, 282, 285, 291ff., 297, 307, 313, 319, 322, 324f., 327f., 356, 358, 364f., 368, 370, 399, 410, 412, 417f., 440, 449, 452, 458, 463, 469, 475 – Erlösungsreligion 227 – Kunstreligion 358, 463, 475 – populäre Religion 295 – religionspolitisch 50ff., 58f. – religiös 7f., 10, 16, 18, 20f., 23ff., 28, 37ff., 69ff., 82ff., 87f., 92ff., 101ff., 115, 121, 123f., 133ff., 141, 144, 146, 149, 154f., 162, 165, 171, 174, 179, 192ff., 198f., 201f., 205, 208f., 211, 214, 217f., 222f., 225ff., 241, 243f., 246, 266f., 272ff., 276, 281, 285, 288f., 291ff., 296ff., 302, 305ff., 312ff., 317f., 320, 324, 327, 332, 338, 341, 344, 356ff., 363ff., 368ff., 372, 397, 400f., 411ff., 418, 426, 430, 440, 443, 445, 448f., 458, 463, 466ff., 475, 477

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– Schriftreligion 417f., 440 – unsichtbare Religion 241, 247, 289 Religionsgemeinschaft 117, 333, 371 Religionskritik 52 Religionsphilosophie 86, 159, 244 Religionssoziologie 7, 10, 19, 26, 29, 32 Religionswissenschaft 10, 24f., 32, 43, 46f., 55, 59, 92, 103, 291, 356 Religiosität 16, 20, 27, 30, 75, 82, 145, 209, 222f., 231, 234, 248, 307, 319, 467 Renaissance 71, 357, 448 Repetition → Wiederholung Repräsentation 45, 159, 164f., 169, 245, 247, 357f., 364, 369, 374f., 418, 472 Revolution 445, 451, 477 Rezeption 51, 96f., 99ff., 165, 217, 227, 322, 324, 327, 366, 368, 412, 477 Rezipient 95, 97f., 144, 289, 297, 312, 325, 333, 358, 368, 398, 427, 430ff., 434, 437, 439, 465, 469, 471ff., 475 Rezitation (→ auch Koranrezitation): 110, 112, 117, 136, 138, 155, 173f., 314 Rhetorik 110, 116f., 141, 217, 227, 231, 235, 385, 395ff., 399, 409, 411f. – rhetorisch 96, 116, 118, 120, 124f., 289, 386, 394ff., 404, 445, 465, 476 Richter 258, 260f. Rinzai-Zen 174 Ritual (→ auch Handlung) 15, 20, 38, 72, 134, 138, 155, 174, 177, 192, 196, 198f., 201f., 207, 209f., 218, 231, 235, 253f., 258, 278, 295, 314, 338, 341f., 344, 347, 358, 360, 365, 369 – ritualisiert 72, 196, 203, 352, 408, 411 – rituell 29, 37f., 41, 45, 59, 69ff., 77f., 85, 88, 138, 145, 194, 196, 198ff., 207, 210ff., 226, 231, 234, 249, 251, 253, 260, 274, 291, 338, 341, 343, 346, 352, 362, 369ff., 373, 472, 474f. – Vollzug (→ auch Vollzug) 197, 212, 215 Ritualität 192, 195, 199, 201, 214, 218, 341, 366, 368 Ritus 72f., 75f., 115, 134, 138, 228, 243, 254, 278, 338f., 341, 358, 366, 370, 473 Rom 245, 258, 300, 338, 420, 426 Roman 54, 119, 443, 445, 449, 452, 454, 458 Rosenkranz 458f.

S Sagbarkeit 268, 270f., 362 Sage 27, 204, 267 Sakralisierung 228ff., 261, 358 sakral 57, 149, 192, 194, 208f., 214, 288f., 300, 331, 368f., 447, 465f. Sakrament 365, 371, 397, 450 Säkularisierung 293, 295, 374 säkular 23, 106, 196, 201, 414, 469 Salzsäule (→ auch Lots Frau) 274f., 282, 284 Sangha (→ auch Gemeinde) 175 Sanskrit 165, 173, 179, 187, 189 Schabbat 83, 85 Schaffung 72, 75, 149, 196, 340 Schlüsselwort 296f., 300 Schöpfer 202, 243, 258 Schöpfung 15, 87f., 179, 183, 185, 259, 279, 358, 360, 421, 430, 446, 448, 450, 456, 460, 463, 475 Schöpfungsbericht 88, 460f. Schöpfungsgeschichte 87f., 430, 460 Schreiben 84, 101, 110, 363, 444, 446f., 452, 455, 459, 467 Schrift 14, 28, 51, 69, 71f., 75, 84, 93f., 113, 127, 131, 133, 149, 155, 165, 169, 180, 243, 250, 256, 271, 278, 292, 314, 316, 322, 325, 331, 340, 360f., 366f., 370, 375, 388, 391, 393, 400, 409, 417, 437f., 443f., 446ff., 450, 454, 456,457, 458, 460ff., 464ff., 468, 470, 472, 474f., 477 – göttliche Schrift 132, 448, 462 Schriftauslegung → Exegese Schriftlichkeit 39, 84 Schuldbekenntnis (→ auch Bekenntnis und Glaubensbekenntnis) 340, 343, 349, 351 Schule 146, 155, 166, 172, 174f., 181, 273, 322, 426 Schüler 173, 175 Schwert (→ auch Pflugschar) 144, 213ff. Seele 13, 76, 95, 128, 185f., 227, 229, 270f., 275, 316, 319, 322, 329, 373, 450, 458, 468f. Seelsorge 227, 301 Segen 115, 136, 139, 208, 212f., 340, 343, 370, 473 – Segensspruch 79, 115 Sehnsucht 177, 324, 326, 357, 359, 452, 475 Sein 15, 23, 163f., 167f., 171, 446, 455, 457

502 | Index

Selbstentbergung (→ auch Offenbarung) 365, 367 Selbstermächtigung 21, 233, 246f., 261, 374, 449 Selbstreflexion 174, 261, 328, 398, 464 Selbst-Vergegenwärtigung (→ auch Vergegenwärtigung und Selbstermächtigung) 373 Seligpreisung 205, 213, 218, 396f. Semantik 75, 173, 196, 227, 232, 312, 372, 410, 419 – semantisch 47, 106, 120, 122, 125, 187, 189, 280, 288ff., 297, 299, 302, 305f., 312, 323, 394, 410, 428f., 431, 440, 457 Semiotik 71, 83ff., 88, 406 – semiotisch 76, 83, 167, 200, 417f., 428, 449, 454, 464 Serialität 466f., 476 Sinn 8, 10, 14, 19, 21ff., 25, 38, 41, 44f., 47, 52f., 69, 75f., 79, 85, 88, 99ff., 114, 121, 126, 128, 155ff., 162ff., 168ff., 174ff., 194f., 200, 205, 211, 214, 216, 218, 223, 232, 235, 241, 243f., 246, 248, 266f., 269, 272, 274, 276, 279, 281, 288f., 293, 297ff., 304, 307f., 312, 314, 317, 320, 326ff., 330, 332f., 340, 352, 356, 358f., 361f., 364f., 368f., 371f., 374f., 385, 399, 406, 418f., 424, 430, 444, 446, 452, 455, 457, 462, 466, 468, 470f., 473, 475f. – religiöser Sinn 101, 226, 276, 288 – sinnlich 366, 371, 452 Sinnbildung 313, 448 Sinneffekt 356, 364, 366, 370, 372, 375 Sinnerleben 327, 333 Sinnfrage 161, 170 Sinngehalt 100, 217 Sinnhaftigkeit 227, 371, 373, 444 Sinnhorizont 100, 255, 262, 307 Sinnsphäre 288 Sinnstiftung 101, 366, 476 Sinnzuschreibung (→ auch Zuschreibung) 360, 364, 366 Sodom und Gomorrha 274ff. Soteriologie 154, 156, 165, 176 – soteriologisch 154f., 157, 164ff., 168f., 171f. Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) 202, 209, 212, 218 sozial 8, 28, 37, 42, 51, 59, 74, 83, 112, 157ff., 161, 169ff., 174, 195, 198, 204, 223, 227,

234, 248, 262, 288ff., 292ff., 303, 308, 314, 329f., 332, 362, 394, 411 Soziologie 159, 290, 292, 317, 334, 358, 385 – soziologisch 111, 162, 196, 234, 241, 289ff., 294 Sphäre 13, 87, 97, 99, 112, 123f., 156, 165, 172, 244, 296, 368, 457, 467 Spiegelneuronen 158 Spiel 183, 205 Spiritualität 27, 29, 53, 74, 161, 222, 224ff., 229, 231, 234, 248, 291 – spirituell 19ff., 30, 32, 38f., 162, 171, 223ff., 228ff., 233ff., 247, 274, 278, 410 – spirituelle Dienstleistung 228, 231, 234 – spirituelle Gesellschaft 21, 247 – spirituelleSelbstermächtigung 224, 233, 235 Spott 117, 139, 332 Sprache 7, 10f., 13f., 26ff., 31f., 37f., 40f., 43, 45f., 49ff., 53f., 56, 58, 60, 69ff., 75ff., 81, 83f., 86ff., 92ff., 96, 98ff., 105, 109ff., 116, 118ff., 124, 126, 128f., 131ff., 135ff., 141ff., 154ff., 168, 171ff., 176, 187f., 192ff., 197, 199, 202, 209, 211, 215, 222, 224, 234, 241ff., 245, 248f., 252f., 258, 262, 266f., 270f., 277, 281ff., 296, 301, 307, 309, 320, 323, 325, 329, 333, 338f., 341f., 359, 362, 364f., 368f., 371f., 385, 391, 397, 400ff., 412, 418f., 428, 430, 443f., 446, 449, 452f., 456ff., 460f., 472ff., 476 – adamitische Ursprache 460 – Alltagssprache 111, 146ff., 197, 275, 280, 315 – altindische Sprache 154, 179, 278 – arabische Sprache 77, 109ff., 113, 116ff., 124ff., 129ff., 181, 322 – deutsche Sprache 29, 37ff., 41, 43ff., 53f., 56f., 60, 106, 126ff., 139, 192, 197, 213, 231, 301, 339f., 344f., 348, 351, 394, 400ff., 419, 422, 426, 433, 445 – deutscher Sprachraum 41, 44, 52, 103, 280, 330, 339, 397 – Dialekt 142, 146, 148f. – Gebetssprache (→ auch Gebet) 111, 133, 135 – griechische Sprache 142, 322, 357, 419f., 446f., 468 – hebräische Sprache 71, 77, 88, 456 – heilige Sprache 132, 135 – Hochsprache 143, 147ff. – lateinische Sprache 39, 51, 338f., 342, 345, 348f., 420, 422

Index | 503

– lingua sacra 77, 134f., 145 – lingua universalis 143f. – Metasprache 187 – metasprachlich 131, 391 – mündlich/verbal 39, 41, 47, 56f., 81, 84, 110, 114, 127, 129, 132, 136ff., 175, 291, 312, 314, 320, 323, 368ff., 444, 463 – Muttersprache 111, 132, 134f., 143, 145, 148 – Negativsprache 154, 157, 164ff., 171ff., 177 – Offenbarungssprache 109, 111, 142, 144ff. – persische Sprache 133, 142 – religiöse Sprache 70, 102, 105, 109, 193, 333, 359, 401, 412 – schriftlich 56, 84, 114, 341f., 369, 447, 461 – Sprache des Paradieses 458, 460 – Sprachform 96, 98, 103, 128, 146, 193 – Sprachgebrauch 38, 41f., 44, 47ff., 56, 193, 195, 199, 204, 217, 313, 323, 363, 387, 389, 398, 475 – sprachlich 37f., 40, 42ff., 48ff., 53, 55f., 70, 73, 76, 80f., 84, 87f., 93f., 97f., 102f., 109f., 114, 116f., 119, 121ff., 126ff., 132, 135f., 138, 140, 143ff., 148, 154ff., 159, 161, 165, 167f., 173ff., 192, 194, 197, 199, 204f., 207, 211f., 222, 224ff., 229, 231, 234f., 245, 272, 282, 289f., 295ff., 305, 307f., 312, 318, 325, 333, 341, 343ff., 348f., 364, 369f., 372, 397, 401, 410, 418f., 425, 427ff., 439f., 446, 456ff. – Ausdruck 122, 364 – Gestalt 102, 345, 372 – Mittel 42, 312, 333 – negativsprachlich 157, 164 – Schönheit 119, 123, 127 – Wettstreit 110, 117 – Sprachraum 96f., 192, 205, 339 – Standardsprache 40, 146f., 330 – Ursprache 111, 143f., 456, 460, 462 – Varietät 48, 143, 146f., 149, 418 – Verkündigungssprache 110, 325, 400 – Volkssprache 320, 340, 342, 419, 424 – volkssprachlich 422, 448, 460 – vollkommene Sprache 109, 111, 141, 143ff. Sprachereignis 367 Sprachgebrauch 37, 39, 42ff., 48f., 193ff., 198, 209, 231 Sprachgeschichte (→ auch Kommunikation: Kommunikationsgeschichte) 37, 43, 47, 56f., 59, 399

Sprachgestalt 94, 98 Sprachhandlung 213f. Sprachreflexion 446, 452, 457f. Sprachskepsis 271, 443, 449 Sprachspiel (→ auch Spiel) 194f., 204, 207, 211, 214, 312f., 323, 333, 475 – religiöses Sprachspiel 207, 211 Sprachtheorie 88 Sprachverkörperung 179f., 189 Sprachwissenschaft (→ auch Linguistik) 46, 141f., 179, 195, 385, 411 – sprachwissenschaftlich (→ auch linguistisch) 32, 101, 116, 192f., 198, 291, 295, 339, 440 Sprechakt (→ auch Äußerung und Handlung) 57, 76, 78, 80ff., 130, 175, 200, 207, 211ff., 251, 257, 313, 348, 369, 371, 385f., 397, 402 Sprechakttheorie 57, 362, 397, 402f., 410 Sprechen 26, 71, 75, 87, 93f., 129, 157, 159, 163, 203, 205f., 247, 251, 260, 266, 270f., 274, 276, 324, 332, 341f., 447 Sprecher 126, 139f., 144, 147, 157, 216, 260, 268, 274, 277, 281, 285, 313f., 326, 347, 351, 371, 390, 401 Staat 42, 112, 116, 134, 206, 210, 213, 215f., 318, 399 Staatssicherheit der DDR (Stasi) 216ff. Status 23, 44f., 49, 55, 74, 76, 79, 84, 98, 106, 135, 146, 149, 275, 278, 330, 445, 447, 469 Sterblichkeit 80, 137, 161 – sterblich 167, 172, 460 Stern 124, 256f., 304, 323 Stil 78, 120f., 127, 197, 319f., 327, 363, 386, 426, 445, 466, 470 – stilistisch 120, 124f., 144 Stilisierung 55, 326 Stilistik 148 Stimme 8, 31, 85, 139, 255, 303, 360, 362, 371f., 444, 447, 464f. Strategie 50f., 232, 235, 312, 319f., 458, 464, 475 Streitschrift 40, 51, 54, 58f. Struktur 46, 97, 102, 114ff., 121, 126f., 160, 166, 183f., 188f., 199, 203, 214, 244, 298, 314, 329, 333, 340ff., 373f., 440, 443f., 446, 459, 470, 472f. Subjekt 8, 11, 20, 27, 30, 75, 156, 158, 167, 233, 307, 330, 357, 360ff., 365, 367, 375, 392, 411, 437, 457, 459, 464

504 | Index

subjektiv 289, 316, 425, 445 Subjektivität 231, 307, 443, 458 Subjektwerdung 312, 328, 330, 375 Sufismus 227 Sünde 78, 113, 274, 327, 351, 401, 445, 458, 461 Sündenfall 448, 460, 462, 475 Sutra/Sūtra – Diamant-Sutra 271, 282 – Herz-Sutra 173 Symbol 17, 19, 82, 147, 165, 214, 235, 241, 243f., 246f., 251, 259, 331, 363 – symbolisch 8, 19f., 71, 73, 86, 159, 165, 223f., 247, 251, 253f., 363f., 367f., 419, 450, 454, 456f., 459, 472, 477 Symbolik 71, 83, 243, 253 Symbolisierung 115, 226, 230, 235, 460 Synagoge 73, 76f., 83 T Tabu 87 Tabuisierung 84, 86 Tag 73, 88, 93, 270, 301, 430 Tao 278f. Teilnehmer 9, 197, 200, 209, 211ff., 215, 218, 231, 347, 392 Teufel 45, 57, 324, 460, 462f. Text 7, 32, 37, 39, 42, 44f., 47ff., 52, 54, 56ff., 71ff., 83f., 86, 95, 100f., 105, 117, 119, 121, 129f., 137ff., 141, 155, 163, 169, 173, 175, 179ff., 187ff., 193ff., 200, 204,205, 207f., 211f., 216ff., 257, 269, 276, 290, 312f., 317, 319, 321, 323, 325, 327, 338, 340ff., 348f., 358, 363f., 366, 368f., 371f., 386, 388ff., 397f., 400f., 404f., 410, 412, 417, 419f., 422, 424ff., 440, 444f., 447f., 453, 459, 462, 465f., 471, 474ff. Textart 312, 315, 317, 330 Textbeschreibung 345f. Textgruppe 389, 412 Textkosmos 39f., 51 Textsorte 47, 76ff., 81, 88, 95, 193f., 204f., 216ff., 305, 315, 317, 339, 341f., 346, 370, 385f., 398ff., 412f., 419 Textstruktur 186, 209, 398 Texttyp 39, 41, 43, 47, 52, 400 Textur 86, 235, 456, 471, 474, 476 Theater 14, 273, 304, 370, 472, 474 Themenentfaltung 428, 430

Theologe 47, 100, 103, 110f., 116, 120, 134, 143, 193, 197, 207ff., 211, 259, 313, 331, 366, 392, 402, 411f., 463, 465, 475 Theologie 10, 17, 29, 43, 46, 48, 50, 59, 75, 78, 92f., 98ff., 217, 251, 270, 276, 288, 291, 321, 367, 391, 396, 400, 406, 411f. – praktische Theologie 98, 100, 386f., 397 – theologisch 39f., 46, 51, 58, 75f., 81, 92f., 97ff., 109ff., 116f., 125f., 139, 180, 206, 208, 214, 218, 227, 241, 261, 290, 292ff., 316f., 322f., 327, 344, 348, 359, 370, 385f., 391, 393, 395f., 402, 409, 412, 417, 433f., 449f., 473 Therapie 228, 230 Thora 38, 43, 71, 75ff., 84ff., 88, 445ff. Tod 14, 16, 39, 83, 113f., 118, 166, 168, 170, 200, 253, 281f., 332, 374, 439, 459, 476 Todlosigkeit 165ff., 172 Tora → Thora Totalitarität 202, 321 Totalität 167, 450ff., 461, 473f. Tradition 44ff., 49, 53f., 59, 112, 114, 116f., 125, 129, 136f., 141, 148f., 155, 170, 172, 179f., 187, 206, 217, 227, 230, 277, 281, 292ff., 300, 317, 344, 347, 365, 385, 389, 393, 407, 420, 446f., 449, 456, 458, 464 – christliche Tradition 50, 241, 252, 257, 292, 447, 450 – jüdische Tradition 69, 71 – muslimische Tradition 109f., 112, 114, 117f., 123, 138 – traditionell 8, 21, 41, 57, 70, 74, 80, 180, 197, 204, 209, 226, 288f., 297, 300, 302, 374, 393, 405, 470 Träne 83, 137 Transformation 18, 99, 173, 200, 230, 233, 289, 313, 333, 453f., 458 Transkription (→ auch Übersetzung und Übertragung) 418ff., 424, 428ff., 437, 439f. – exegetische Transkription 418 Transsubstantiation → Abendmahl Transzendenz 7f., 11, 13, 19ff., 27, 29, 82, 86, 109, 112, 123, 125, 164ff., 168, 194, 196, 198f., 207, 209, 211, 215, 228, 241ff., 268, 272, 288, 296, 299, 304, 306, 308, 356, 364ff., 368ff., 372, 470 – außerweltliche Innerweltlichkeit 84, 241ff., 262

Index | 505

– große Transzendenz 197, 201, 208, 211, 213, 245, 247f., 257 – mittlere Transzendenz 198, 201, 211, 213 – Positionierung 7, 23, 26, 29f., 260, 272, 278, 284 – transzendent 7, 9ff., 20f., 23, 25f., 29f., 32, 80, 82, 112, 115, 123ff., 134, 198, 224, 228, 246f., 259, 268, 272, 278, 282ff., 289, 293ff., 299, 306, 347, 467f., 473 – Transzendenzbehauptung 243, 245, 252, 262 – Transzendenzbezug 198f., 201, 207, 211 – Transzendenzerfahrung 170, 246, 255ff., 259, 288, 307 – Transzendieren 243, 246ff., 256f., 262 – Transzendierung 102, 229, 243, 247f., 251ff., 296, 333 – Transzendierungsprozess 243, 251, 255 Trauer 318, 368, 374 Traum 256f., 282, 467 Trivialisierung 294, 302, 305, 307 Typologie 39, 71, 249, 385, 389, 459 Tyrann 431 Ü Übergang 142, 216, 243, 285, 444, 448, 461, 473 Überlieferung 51, 92f., 98, 133, 141, 242f. Übersetzung (→ auch Transkription und Übertragung) 24, 39f., 43f., 47f., 51, 54ff., 94, 111, 113, 126f., 129ff., 135f., 165, 167, 174, 181, 205, 273f., 277, 279f., 282, 339, 345, 387f., 407, 418f., 424f., 428, 433 – Koran 128, 134 Übertragung (→ auch Transkription und Übersetzung) 59, 79, 100, 126f., 194, 258, 292f., 304, 348, 404, 472 Umwelt 109, 163, 192, 196, 198, 332, 410, 458, 473 Undarstellbarkeit 362, 469 Unendlichkeit 17ff., 451, 473, 476 – unendlich 12, 19, 21, 23, 26, 394, 401, 448, 450, 452f., 461 Ungläubige (→ auch Gläubige und Heiden) 123, 313 Unio 368, 371f. Universalität 143, 172, 472, 476 Universität 116, 225, 366, 396, 453 Universum 9, 105, 470f., 476 Unlesbarkeit 459, 462, 465, 471, 473, 475

Unmittelbarkeit 18, 27f., 325, 359, 363ff., 371ff., 446 Unnachahmlichkeit 109f., 117, 120f., 123, 126, 133, 135 Unpersönlichkeit 162, 168, 172 Unsagbarkeit 25, 123f., 165, 172, 242, 266ff., 281ff., 306, 362, 443 – diskursive Unsagbarkeit 266ff. – perplexe Unsagbarkeit 266ff., 272 Unübersetzbarkeit 110, 125f., 129, 133 Upanishaden 180, 278ff. Ursprung 24, 74, 78, 101, 109, 185, 210, 250, 279, 306, 325, 343, 357, 365, 450 – göttlicher Ursprung 109, 113, 116, 228 Urszene 365f., 466, 471 V Vater 73, 77, 80, 87, 114, 142, 252, 280, 284, 295, 324, 388 Vaterunser → Gebet Vatikan 258, 339f., 388, 392 Vatikanisches Konzil 339f., 388, 392f. Vedānta/Veden 180, 186 Verbot 50, 87, 93, 266, 268, 272, 417, 459 Verehrung 8, 41, 76, 80, 95, 115, 134, 179, 182f., 185f., 210, 241f., 246, 249, 252f., 256f., 269, 272, 303, 338ff., 352, 392, 418 – Anbetung 85, 292, 340, 429 Verfasstheit 38, 56, 203, 369, 418 Verfassung 55, 80, 195, 216 Verfehlung 252, 274, 458 Verfolgung 272, 431 Vergangenheit 72, 74, 149, 156, 232f., 245, 275, 324, 357, 370, 398, 401, 476 Vergegenwärtigung 72, 138, 198, 210, 218, 249, 252ff., 257, 314, 356ff., 362, 364ff., 368ff., 372ff., 391, 418 Verkünder → Prophet Verkündigung (→ auch Kerygma und Sprechakt) 41, 75ff., 80f., 87, 92, 95, 109ff., 126, 132f., 135, 138, 170, 186, 195, 197, 205ff., 209f., 214, 216ff., 223, 234, 241f., 246, 249, 251ff., 255, 257, 312ff., 325, 327, 331, 333, 342ff., 366f., 385, 387ff., 391ff., 400, 402, 407, 417ff., 426, 437f., 440 Verkündigungseinheit 386, 411 Verkündigungsform 314, 385, 388 Verkündigungssituation 317, 319

506 | Index

Verkündigungssprache → Sprache: Verkündigungssprache Vermittler 80, 115, 212, 321, 338 Versammlung 200, 392, 407 Verschmelzung 73, 228, 326 Versepos 459, 463 Versprachlichung 92, 94, 124, 288 Verstehen 137, 171, 277, 313, 370, 428, 440 Vertikalität 83, 189, 215, 243, 326, 338 Verwalter 115, 250f., 315f. Verzweiflung 155, 175, 466f., 469 Vision 110, 231, 291, 333, 366, 368, 372, 424, 431f., 453, 463, 474 Visualisierung 183, 268, 417, 431, 444 – visuell 158, 272, 369, 419f., 424, 429, 431f., 437f., 440 Volk 73, 75ff., 79ff., 131ff., 138, 140, 142, 144, 147, 250, 255f., 291, 301, 315, 323, 328f., 332, 342, 351, 474 Vollzug (→ auch Ritual) 38, 72, 77, 92, 119, 160f., 167f., 173ff., 196, 200, 207, 209ff., 244, 247, 254, 257, 259f., 279, 283, 304, 338, 341, 349, 362, 366, 398, 402, 451 Vorbild 86, 114, 120, 230, 300, 357, 427, 430, 467f. Vorschrift 76, 78, 83, 113ff. Vorstellungswelt 125, 133, 135 W Wahrhaftigkeit 204, 333 Wahrheit 16, 20, 24, 49, 82, 96, 102, 110, 118, 127f., 137, 155f., 206, 225, 247, 258, 276, 284, 304, 306, 315, 321f., 325f., 360, 391, 409, 463f., 469, 471 Wahrnehmung 53, 158, 232, 244, 247, 252, 262, 282, 324, 332, 362, 366, 371, 374, 430, 440, 477 Wandel 9, 21, 99f., 105, 107, 125, 146, 226, 235, 297, 443 Weihrauch 256, 339, 392 Weisheit 130, 186, 275, 462 Welt 8, 15ff., 24f., 28, 43f., 54, 76ff., 81f., 86ff., 96f., 102f., 109, 112f., 115, 119, 124f., 127ff., 133f., 136, 139, 141, 145f., 150, 164f., 167f., 170f., 173, 179, 185f., 193, 198, 202, 205, 208, 213, 216, 218, 242ff., 248f., 251ff., 255, 258, 262, 270f., 276, 279, 281ff., 293, 298, 303ff., 307f., 315, 318, 320, 322, 324, 327, 329, 331, 358f., 361, 363, 374, 403,

438, 440, 446ff., 452, 457, 459, 461, 463, 465, 468, 471ff., 475ff. Weltanschauung 103f., 106 Weltbild 314, 317, 451 Weltlichkeit 183, 186 Weltseele 457, 471, 474 Weltsicht 155, 170, 360 Wert 39, 76, 159, 161, 198f., 201, 207, 232, 294, 320, 329, 410 – Wertebestätigung 196, 201 Wesen 7ff., 11, 17, 20, 22, 25, 44, 96, 112, 118, 126, 130, 145, 161, 173, 179, 182f., 185, 198, 202, 228, 262, 279, 291, 305, 317, 360, 394, 447, 469 Westen 124, 420 Widerständigkeit 209f. Wiedergeburt (→ auch Auferstehung und Reinkarnation) 156, 468 Wiederholung 18, 73f., 77, 128, 139, 200, 361, 374, 429f., 462, 467f., 474 Wirklichkeit 8, 10f., 16, 25ff., 29, 33, 82, 96, 102f., 110, 112, 160, 175, 198, 242ff., 251f., 255, 262, 296, 305, 332, 364, 371, 390, 405, 463, 468f., 475 Wirkmacht 88, 358, 367 Wirksamkeit 45, 321, 369 Wirkung 60, 97, 100, 116f., 125, 128, 136, 157, 164, 168, 173f., 180, 210, 232, 282, 288, 303, 313, 325, 359, 368, 403, 411, 445, 463f., 471, 475 Wirtschaft 223f., 292 Wissen 25, 46, 72, 74, 80, 88, 94, 101, 106, 109, 112, 115, 121, 125, 127, 135, 158, 180, 185f., 202, 205, 242, 251f., 256, 262, 284, 288, 290, 302, 307, 314, 316f., 320, 324, 333, 360, 365, 397, 412, 417ff., 423, 430, 440, 443, 446, 448, 452ff., 457f., 460ff., 469, 471, 474ff. – Wissensart 282, 284 – Wissensbestände 72, 453, 474 Wissenschaft 21, 46, 48, 69, 103, 133, 142, 144, 225, 242, 247, 258, 322, 356, 363f., 385f., 453ff., 474 – wissenschaftlich 26, 28, 40, 44, 46f., 55, 59, 70, 82, 104ff., 144, 149, 154, 187, 272, 290, 294, 319, 325, 356, 359, 363f., 369, 385, 394, 449, 452f., 465, 476 Wissensordnung 289, 458 Wissenstransfer 109, 148, 412

Index | 507

Wort (→ auch Gotteswort) 20, 24, 58, 69, 73, 79f., 83ff., 87, 94, 97f., 100, 103f., 112ff., 121ff., 128f., 133, 135, 143ff., 149f., 157, 159, 161, 164, 169, 174f., 180ff., 187ff., 203, 206f., 210ff., 243, 252, 254ff., 258f., 270, 278f., 285, 300f., 304, 306, 314ff., 321, 327, 330, 334, 342ff., 356, 367f., 371ff., 375, 387, 390ff., 396f., 402, 405, 407, 417f., 424, 427, 431, 437f., 444, 446, 450, 467, 469ff., 475 Wortschöpfung 222, 226, 234 Wunder 110, 116, 118, 120, 143, 145, 250, 275, 279, 389f., 462, 468, 473 – wunderbar 117, 279 Wundercharakter 116, 119, 121, 143, 145 Würdenträger (→ auch Amtsträger) 289, 296ff., 300 Y Yoga 185, 229, 274

Z Zeichen 69f., 72, 85, 87, 116ff., 126f., 131, 144f., 174, 195, 244, 255f., 270f., 289, 294, 307,

313, 316, 357, 361, 365, 367, 369f., 372, 418f., 428f., 431f., 452, 454, 456f., 460, 464, 472, 476 Zeichensystem 69, 71, 82, 88, 144, 417, 428 Zeit 14, 16, 40, 43f., 59, 78, 110, 112, 114, 119, 131, 133, 143, 145, 149, 196, 207, 210, 231, 244, 253, 255, 324f., 329, 332, 374, 389, 398, 412, 420, 422f., 428, 432, 463, 468, 470 – zeitlich 38, 47, 138, 360, 372, 400, 428f., 444, 460, 471 Zeitalter 360, 399, 474 Zeitlichkeit 281, 361, 428, 476 Zeitraum 41, 297, 399, 444 Zeuge 52, 114, 118, 316, 328, 352, 424 Zeugen Jehovas 52, 352 Zeugnis 316, 343, 375, 440, 471 Zufall 141, 260f., 470 Zufluchtnahme 175 Zukunft 156, 333, 357, 392, 413, 468, 476 Zunge 77, 268, 270 Zuschreibung (→ auch Bedeutungszuschreibung und Charismazuschreibung und Sinnzuschreibung) 9, 289, 294f., 297f., 300, 302ff., 362