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German Pages XV, 854 [838] Year 2020
Günter Mey Katja Mruck Hrsg.
Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie Band 2: Designs und Verfahren 2. Auflage
Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie
Günter Mey • Katja Mruck Hrsg.
Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie Band 2: Designs und Verfahren 2., erweiterte und überarbeitete Auflage
mit 31 Abbildungen und 11 Tabellen
Hrsg. Günter Mey Angewandte Humanwissenschaften Hochschule Magdeburg-Stendal Hansestadt Stendal, Deutschland
Katja Mruck Institut für Qualitative Forschung Internationale Akademie Berlin Berlin, Deutschland
ISBN 978-3-658-26886-2 ISBN 978-3-658-26887-9 (eBook) ISBN 978-3-658-29713-8 (print and electronic bundle) https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2010, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Eva Brechtel-Wahl, Jennifer Ott Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort
Als wir 2008 vom Springer Verlag eingeladen wurden, ein Handbuch zu qualitativer Forschung in der Psychologie zu gestalten, erschien uns dies Unternehmen sehr sinnvoll und notwendig. Denn angesichts der langen Tradition von Ansätzen aus der Frühzeit der Disziplin und der seit der 1980er-Jahren vermehrten Anstrengung, eine Alternative zu dem ansonsten für die Disziplin charakteristischen standardisierten Vorgehen auszuarbeiten, fehlte bis dahin eine systematische Durchmusterung von theoretischen Bezugspunkten, Verfahren der Planung, Durchführung und Auswertung sowie der subdisziplinären Kartierungen qualitativer Forschung in der Psychologie. Als dann das Buch mit 60 Beiträgen im September 2010 erschien, wurden die Erträge qualitativer Forschung und ihre Relevanz für psychologische Fragestellungen manifest. Zehn Jahre später legen wir nun die zweite, erweiterte und aktualisierte Ausgabe des Handbuchs vor. Auch wenn sich qualitative Forschung nach wie vor in der Peripherie der Gesamtdisziplin befindet, hat sie sich ausgeweitet und ausdifferenziert. Diese Entwicklung zeigt sich auch daran, dass die neue Auflage umfänglicher geworden ist, von der Seitenzahl fast verdoppelt und nunmehr in zwei Bänden mit insgesamt 70 Beiträgen organisiert. Während Band I sich den „Ansätzen und Anwendungsfeldern“ widmet, bietet Band II eine Auseinandersetzung mit „Designs und Verfahren“ der Erhebung und Auswertung. Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren für ihre Mitarbeit an diesem für das Fach wichtigen Kompendium und dem Fortschreiben der Geschichte qualitativer Forschung. Dem Verlag danken wir für den erneuten Auftrag und die Betreuung über die letzten Jahre. Mit der Herausgabe verbindet sich unsere Überzeugung, dass qualitative Ansätze eine Bereicherung für die Psychologie darstellen und es sich lohnt, auch zukünftig an diesem „Programm“ weiterzuarbeiten, das die eigene Geschichte ernst nimmt und angesichts der Breite an Themenfeldern und Arbeitsgebieten auf das Potenzial qualitativer Methodik vertraut. Februar 2020
Günter Mey Katja Mruck
V
Übersicht
Der zweite Band des Handbuchs widmet sich umfassend Fragen der Forschungsplanung und der Umsetzung qualitativ-psychologischer Forschungen und stellt die Fülle an Verfahren zur Durchführung und Auswertung qualitativer Daten vor. Im ersten Teil werden zunächst die methodologischen Ziellinien und Designs (Philipp Mayring) skizziert, um dann mit Fallauswahl (Margrit Schreier), qualitativem Experiment (Thomas Burkart) und Längsschnittstudien (Andreas Witzel) drei wichtige Anlagen von Studien im Detail zu behandeln. Mit Sekundäranalyse (Irina Medjedović), Online-Forschung (Timo Gnambs und Bernard Batinic) sowie partizipativer Forschung (Jarg Bergold und Stefan Thomas) und Evaluationsforschung (Ernst von Kardorff und Christine Schönberger) werden zunehmend bedeutsame Vorgehensweisen vorgestellt. Auch wenn in diesen Beiträgen bereits Fragen zur Kombination und Integration qualitativer und quantitativer Forschung auftauchten, wird dies in den Beiträgen zu Mixed Methods (Margrit Schreier und Özen Odağ) und Triangulation (Uwe Flick) eingehend diskutiert. Eine Kombination ganz anderer Art wird durch die Verknüpfung von Wissenschaft und Kunst im Rahmen performativer Sozialwissenschaft (Günter Mey) präsentiert. Abgeschlossen wird der erste Teil mit der Auseinandersetzung zu Forschungsethik (Mechthild Kiegelmann), zur Geltungsbegründung und zu Gütekriterien (Uwe Flick) sowie zur Lern-/Lehrbarkeit qualitativer Forschung (Margrit Schreier und Franz Breuer). Der zweite Teil des Bandes widmet sich den verschiedenen Methoden der Datenproduktion. Nach Darlegungen zur Ethnografie (Stefan Thomas) nimmt die Darstellung verbaler Verfahren einen großen Raum ein. Vorgestellt werden die diversen Interviewformen (Günter Mey und Katja Mruck), um dann spezieller auf Dialog-Konsens-Methoden (Brigitte Scheele und Norbert Groeben), das GridVerfahren (Martin Fromm) sowie das Laute Denken (Klaus Konrad) einzugehen, die allesamt innerhalb der Psychologie entwickelt wurden. Mit Gruppendiskussion (Aglaja Przyborski und Julia Riegler), Rollenspiel (Iris Stahlke) und Netzwerkanalyse (Holger von der Lippe und Peter Kaiser) folgen dann über die Einzelperson hinausgehende Ansätze. Abgeschlossen wird dieser Part mit Beiträgen, die Selbstberichte ins Zentrum stellen, wobei mit Introspektion (Harald Witt) eines der ältesten Verfahren der Psychologie vorgestellt wird und mit der Autoethnografie (Tony Adams, Carolyn Ellis, Arthur Bochner, Andrea Ploder und Johanna Stadlbauer) ein sehr neuer Ansatz. VII
VIII
Übersicht
Der letzte Teil des Handbuchs ist Fragen zur Auswertung vorbehalten. Zunächst werden mit qualitativer Inhaltsanalyse (Philipp Mayring) und Grounded-TheoryMethodologie (Günter Mey und Katja Mruck) zwei kategorienbildende Verfahren vorgestellt. Anschließend geben Beiträge zur dokumentarischen Methode (Aglaja Przyborski und Thomas Slunecko), zu Tiefenhermeneutik (Jan Lohl und Rolf Haubl), objektiver Hermeneutik (Detlef Graz und Uwe Raven), biografische Fallrekonstruktion (Heidrun Schulze) sowie zu Narrationsanalysen (Gabriele LuciusHoene) und zur Konversationsanalyse (Arnulf Deppermann) Einblicke in die verschiedenen sequenzanalytischen Vorgehensweisen. Mit Diskursanalyse (Lars Allolio-Näcke), Metaphernanalyse (Rudolf Schmitt) und Morphologie (Herbert Fitzek) finden sich dann noch drei speziellere Verfahren. Dass mittlerweile zunehmend auch nicht-sprachliches Material Eingang in psychologische Untersuchungen findet, reflektieren einerseits die Beiträge zu visuellen Daten in Form von zeichnerischen Darstellungen (Elfriede Billmann-Mahecha und Heike Drexler) sowie Videoanalyse (Carolin Demuth) und andererseits zur Artefaktanalyse (Ulrike Froschauer und Manfred Lueger), bei der auch Materialitäten berücksichtigt werden. Abgeschlossen wird dieser Teil und damit das Handbuch mit übergeordneten Aspekten der Auswertung, so der Typenbildung (Udo Kuckartz), der Verwendung von Analyse-Software (Udo Kuckartz und Stefan Rädiker) und der Transkription (Thorsten Dresing und Thorsten Pehl).
Inhaltsverzeichnis
Teil I Methodologische Ziellinien und Designs qualitativ-psychologischer Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Qualitative Forschungsdesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mayring
3
Fallauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Margrit Schreier
19
Qualitatives Experiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Burkart
41
Qualitative Längsschnittstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Witzel
59
Qualitative Sekundäranalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irena Medjedović
79
Qualitative Online-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Timo Gnambs und Bernad Batinic
97
Partizipative Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jarg Bergold und Stefan Thomas
113
Qualitative Evaluationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst von Kardorff und Christine Schönberger
135
Mixed Methods . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Margrit Schreier und Özen Odağ
159
.............................................
185
Performative Sozialwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Mey
201
Forschungsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Kiegelmann
227
Triangulation Uwe Flick
IX
X
Inhaltsverzeichnis
..........................
247
Lehren und Lernen qualitativer Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . Margrit Schreier und Franz Breuer
265
Teil II
291
Gütekriterien qualitativer Forschung Uwe Flick
Erhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ethnografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Thomas
293
Qualitative Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Mey und Katja Mruck
315
Dialog-Konsens-Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Scheele und Norbert Groeben
337
Grid-Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Fromm
357
............................................
373
Gruppendiskussion und Fokusgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aglaja Przyborski und Julia Riegler
395
Rollenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Iris Stahlke
413
Qualitative Netzwerkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Holger von der Lippe und Peter Kaiser
433
.............................................
453
Autoethnografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tony E. Adams, Carolyn Ellis, Arthur P. Bochner, Andrea Ploder und Johanna Stadlbauer
471
Teil III
493
Lautes Denken Klaus Konrad
Introspektion Harald Witt
Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ...................................
495
Grounded-Theory-Methodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Mey und Katja Mruck
513
Dokumentarische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aglaja Przyborski und Thomas Slunecko
537
Tiefenhermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Haubl und Jan Lohl
555
Qualitative Inhaltsanalyse Philipp Mayring
Inhaltsverzeichnis
XI
Objektive Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detlef Garz und Uwe Raven
579
Biografische Fallrekonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidrun Schulze
603
Narrative Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Lucius-Hoene
629
Konversationsanalyse und diskursive Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . Arnulf Deppermann
649
Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lars Allolio-Näcke
673
.........................................
691
Morphologische Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Fitzek
711
Auswertung von Zeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elfriede Billmann-Mahecha und Heike Drexler
731
Videoanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carolin Demuth
751
Artefaktanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Froschauer und Manfred Lueger
773
.............................................
795
.........
813
Transkription . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thorsten Dresing und Thorsten Pehl
835
Metaphernanalyse Rudolf Schmitt
Typenbildung Udo Kuckartz
Computergestützte Analyse qualitativer Daten (CAQDAS) Udo Kuckartz und Stefan Rädiker
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Tony E. Adams Department of Communication, Bradley University, Peoria, Vereinigte Staaten Lars Allolio-Näcke Zentralinstitut „Anthropologie der Religion(en)“, FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, Deutschland Bernad Batinic Johannes Kepler Universität Linz, Linz, Österreich Jarg Bergold Fachbereich Erziehungswissenschaften und Psychologie, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Elfriede Billmann-Mahecha Institut für Psychologie, Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland Arthur P. Bochner Department of Communication, University of South Florida, Tampa, Vereinigte Staaten Franz Breuer Institut für Psychologie, Universität Münster, Münster, Deutschland Thomas Burkart Praxis für Psychotherapie, Hamburg, Deutschland Carolin Demuth Communication & Psychology, Centre for Qualitative Studies, Aalborg University, Aalborg, Dänemark Arnulf Deppermann Institut für Deutsche Sprache, Mannheim, Deutschland Thorsten Dresing dr. dresing & pehl GmbH, Marburg, Deutschland Heike Drexler Institut für Psychologie, Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland Carolyn Ellis Department of Communication, University of South Florida, Tampa, Vereinigte Staaten Herbert Fitzek Business School Berlin, Berlin, Deutschland Uwe Flick Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Arbeitsbereich Qualitative Sozial- und Bildungsforschung, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Martin Fromm Abteilung Pädagogik, Universität Stuttgart, Stuttgart, Deutschland XIII
XIV
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Ulrike Froschauer Universität Wien, Wien, Österreich Detlef Garz Johannes Gutenberg Universität Mainz, Mainz, Deutschland Timo Gnambs Johannes Kepler Universität Linz, Linz, Österreich Leibniz Institut für Bildungsverläufe, Bamberg, Deutschland Norbert Groeben Psychologisches Institut der Universität zu Köln, Heidelberg, Deutschland Rolf Haubl Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt am Main, Deutschland Peter Kaiser Universität Vechta, Vechta, Deutschland Mechthild Kiegelmann Pädagogische Hochschule Karlsruhe, Karlsruhe, Deutschland Klaus Konrad Pädagogische Hochschule Weingarten, Weingarten, Deutschland Udo Kuckartz Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland Jan Lohl Institut für Fort- und Weiterbildung, Katholische Hochschule Mainz, Mainz, Deutschland Gabriele Lucius-Hoene Institut für Psychologie, Universität Freiburg, Freiburg, Deutschland Manfred Lueger Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung, Wirtschaftsuniversität Wien, Wien, Österreich Philipp Mayring Institut für Psychologie, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich Irena Medjedović Fakultät Wirtschaft und Soziales, Department Soziale Arbeit, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Hamburg, Deutschland Günter Mey Angewandte Humanwissenschaften, Hochschule Magdeburg-Stendal, Hansestadt Stendal, Deutschland Institut für Qualitative Forschung, Internationale Akademie Berlin, Berlin, Deutschland Katja Mruck Institut für Qualitative Forschung, Internationale Akademie Berlin, Berlin, Deutschland Özen Odağ Touro College Berlin, Berlin, Deutschland Thorsten Pehl dr. dresing & pehl GmbH, Marburg, Deutschland Andrea Ploder Soziologie, Universität Konstanz, Konstanz, Deutschland Aglaja Przyborski Department für Psychotherapie, Bertha von Suttner Privatuniversität, St. Pölten, Österreich
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Institut für Psychologische Grundlagenforschung, Universität Wien, Wien, Österreich Stefan Rädiker Methoden-Expertise.de, Berlin, Deutschland Uwe Raven Johannes Gutenberg Universität Mainz, Mainz, Deutschland Julia Riegler Fakultät für Psychologie, Universität Wien, Wien, Österreich Christine Schönberger Hochschule München, München, Deutschland Brigitte Scheele Psychologisches Institut der Universität zu Köln, Heidelberg, Deutschland Rudolf Schmitt Fakultät Sozialwissenschaften, Hochschule Zittau/Görlitz, Görlitz, Deutschland Margrit Schreier Psychology and Methods, Jacobs University Bremen, Bremen, Deutschland Heidrun Schulze Hochschule RheinMain, Wiesbaden, Deutschland Thomas Slunecko Institut für Psychologische Grundlagenforschung, Universität Wien, Wien, Österreich Johanna Stadlbauer Institut für Männer- und Geschlechterforschung, Verein für Männer- und Geschlechterthemen Steiermark, Graz, Österreich Iris Stahlke Universität Bremen, Bremen, Deutschland Stefan Thomas Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften, Fachhochschule Potsdam, Potsdam, Deutschland Holger von der Lippe MSB Medical School Berlin, Berlin, Deutschland Ernst von Kardorff Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland Harald Witt Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland Andreas Witzel Universität Bremen, Bremen, Deutschland
Teil I Methodologische Ziellinien und Designs qualitativ-psychologischer Studien
Qualitative Forschungsdesigns Philipp Mayring
Inhalt 1 Zur Notwendigkeit genauer Untersuchungsplanung in der qualitativ orientierten Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 2 Ein globales Untersuchungsdesign für qualitativ (und quantitativ) orientierte Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 3 Differenzierung konkreter qualitativ orientierter Forschungsdesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Zusammenfassung
Der Beitrag weist auf die Bedeutung genauer Untersuchungsplanung auch für qualitativ orientierte Forschungsansätze hin. Zunächst wird ein allgemeines Untersuchungsdesign für qualitative (und auch quantitative) Forschung aufgestellt, und die einzelnen Prozessschritte werden erläutert. Positionen, wonach quantitative und qualitative Forschung sich hier prinzipiell unterscheiden, werden zurückgewiesen. Dann wird auf vier Grunddesigns (exploratives, deskriptives, zusammenhangsanalytisches und kausalanalytisches Design) für qualitativ orientierte Forschung eingegangen. Schlüsselwörter
Exploration · Deskription · Forschungsdesign · Mixed Methods · Gütekriterien
P. Mayring (*) Institut für Psychologie, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_18
3
4
P. Mayring
1
Zur Notwendigkeit genauer Untersuchungsplanung in der qualitativ orientierten Forschung
Ein verbreitetes Missverständnis aktueller Methodendebatten besteht darin, dass qualitativ orientierte Ansätze keine festen methodischen Regeln kennen, frei gestaltbar sind, völlig offen gehalten werden sollten. Dies führt dann oft zur Kritik an qualitativer Forschung als beliebig, zu wenig methodisch kontrolliert, gar unwissenschaftlich. Zwar wird das „Prinzip der Offenheit“ (Hoffmann-Riem 1980; Flick 1991) immer wieder im qualitativen Kontext hervorgehoben. Gemeint ist aber damit meist die Ablehnung einer Verpflichtung zu exakter Hypothesenformulierung vorab, die gerade für explorative Studien in vielen Fällen gar nicht möglich wäre bzw. den Blick einseitig auf bestimmte Aspekte beschränken würde. Solche explorativen Studien kennen aber doch auch methodische Regeln bzw. Ablaufpläne (zumindest „Faustregeln“ wie im Falle der Grounded-Theory-Methodologie, Mey und Mruck 2011; Strauss 1991). Auch wird Offenheit als Prinzip im Zusammenhang mit Fragebögen und Interviews gebraucht, dies bedeutet jedoch nicht Beliebigkeit: Offene Fragebögen müssen textanalytisch ausgewertet werden, was methodischer Kontrolle bedarf; offene Interviews lassen den Interviewenden nach festen Regeln Spielräume für Nachfragen, Vertiefungen, Umformulierungen, um die Validität zu erhöhen. Offenheit in qualitativ orientierter Forschung bedeutet an der einen oder anderen Stelle Freiräume, um auf Besonderheiten des Gegenstandes eingehen zu können; solche spezifischen Anpassungen müssen aber ihrerseits kontrolliert werden (Zirkularität des Forschungsprozesses, s. Abschn. 2). Hier wird insbesondere aus zwei Gründen der Standpunkt vertreten, dass qualitativ orientierte Untersuchungsanlagen einer ebenso genauen Untersuchungsplanung bedürfen wie quantitative Forschung: • Zum einen wird das Verfahren durchsichtiger und nachvollziehbarer, wenn man sich an einen Untersuchungsplan hält. Die Diskussion um Gütekriterien qualitativer Forschung (Steinke 1999)1 hat gezeigt, dass intersubjektive Nachvollziehbarkeit zu den Kernkriterien qualitativer Forschung gehört. Die Ausarbeitung eines Forschungsdesigns im Voraus und das Umsetzen der Ablaufschritte des festgelegten Designs ermöglichen eine besonders gute Durchschaubarkeit des Forschungsprozesses. • Wenn der Untersuchungsplan vorab festgelegt und nicht nur ad hoc konstruiert wird, sondern man sich an eingeführten Designs orientiert, so bedeutet dies auch ein Zurückgreifen auf Erfahrungen mit bewährter Methodik. Auch für qualitativ orientierte Projekte gibt es einen methodischen Diskurs, der Elemente und Verfahrensschritte als zentral, sogar unverzichtbar einschätzt. Werden hier unbe-
Siehe hierzu auch die Debatte zu „Qualitätsstandards qualitativer Sozialforschung“ in der Zeitschrift Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research, http://www.quali tative-research.net/index.php/fqs/pages/view/quality.
1
Qualitative Forschungsdesigns
5
gründet Auslassungen oder Verzerrungen vorgenommen, kann dies ebenso wie in quantitativer Forschung als methodischer Fehler kritisiert werden. Nur wenn qualitative Forschung es schafft, sich an bewährte Untersuchungspläne anzulehnen, diese weiterzuentwickeln und zu begründen, wird sie auch im Kontext einer quantitativ-naturwissenschaftlichen Wissenschaftsszene ernst genommen werden. Unter Design wird dabei die Untersuchungsanlage, die Logik der Studie, die Art und Weise, wie die wissenschaftliche Fragestellung angegangen wird, verstanden. Innerhalb des Forschungsdesigns sind dann konkrete Methoden der Erhebung, Aufbereitung und Auswertung eingebettet und gesondert begründet. Das soll jedoch nicht heißen, das Arbeiten mit bewährten Untersuchungsplänen sei nur ein strategisches Vorgehen, um Veröffentlichungsmöglichkeiten oder Drittmittelprojekte zu erhalten. Ich möchte dies im Folgenden auf zwei Ebenen begründen, auf der Ebene eines allgemeinen Untersuchungsplanes für qualitativ orientierte Forschung und auf der Ebene spezifischer qualitativ orientierter Forschungsdesigns. Auch Uwe Flick (2009) legt in seiner Kompilierung qualitativer und quantitativer Forschung für beide eine Vorab-Bestimmung des Forschungsdesigns zu Grunde. „Ziel der Festlegung eines Forschungsdesigns ist einerseits, einen Beitrag zur Lösung der Forschungsfrage zu leisten, andererseits Kontrolle über das Verfahren zu leisten“ (Flick 2009, S. 77). Im Folgenden unterscheidet er aber dann zwischen qualitativen (nicht standardisierten) und quantitativen (standardisierten) Forschungsdesigns und nennt Fallstudien, Vergleichsstudien, retrospektive Studien, Momentaufnahmen und Längsschnittstudien als nicht standardisierte Designs. Dies greift meiner Meinung nach zu kurz, da ohne Berücksichtigung etwa von qualitativen Zusammenhangs- oder Kausalanalysen qualitativ orientierte Forschung sich selbst limitiert (s. dazu Abschn. 2). Der Standpunkt einer dezidierten Planung bereits zu Beginn einer Studie ist unter qualitativ orientierten Forscher/innen nicht unumstritten (Mayring 2007). Im Rahmen konstruktivistischer Ansätze sollen wissenschaftliche Vorgehensweisen, Techniken oder Verfahren oft konkret am Gegenstand, im Verlauf der Studie, ad hoc entwickelt werden: „If the researcher needs to invent, or piece together, new tools or techniques, he or she will do so. Choices regarding which interpretive practices to employ are not necessarily made in advance“ (Denzin und Lincoln 2005, S. 4). Die von Denzin und Lincoln vorgeschlagene Zusammenstellung der Verfahrensweisen erfolgt jedoch nicht ausschließlich, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, aus pragmatischen Gründen, also aus der Überlegung, ob die einzelnen Untersuchungsschritte angemessen, praktikabel und ertragreich sind, sondern auch aus ästhetischen Gründen, also ob die rekonstruierten Ergebnisse (Repräsentationen) ein für Lesende anregendes Ganzes bieten können: „These interpretive practices involve aesthetic issues, aesthetics of representation that goes beyond the pragmatic or the practical“ (Denzin und Lincoln 2005, S. 4). Norman Denzin und Yvonna Lincoln gebrauchen hier dezidiert das Bild von Forschung als Filmmontage oder Jazzinterpretation (siehe zu performativer Forschung auch Roberts 2008). Ein solches Forschungsverständnis würde mir jedoch zu weit gehen. Ich möchte darauf beharren, dass Forschung geplant, im Ablauf genau beschrieben, argumentativ belegt und systematisch durchgeführt wird. Solche Kriterien auch an qualitative Forschung anzulegen, bietet ihr
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P. Mayring
die Chance, als gleichwertig von der gesamten Scientific Community in der Psychologie ernst genommen zu werden. In ihrer Rekonstruktion der Geschichte der qualitativen Forschung in den Sozialwissenschaften stellen Denzin und Lincoln (2005) eine Blütezeit in den 70er-, 80er- und 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts fest. Dies hat allerdings eine Gegenbewegung in den USA (in Europa wenig repliziert) auf den Plan gerufen, die qualitative Forschung massiv kritisierte. Andrew Ross (1996) spricht hier von science wars. Auf der einen Seite wurde quantitativ-naturwissenschaftliches Denken prinzipiell infrage gestellt. Ross nennt die Werturteilsdebatte, den Nachweis des Einflusses von Erkenntnisinteressen auf die Forschung, die Kritik feministischer Wissenschaft, den Einfluss der Wirtschaft auf die Forschung sowie die Kritik eines überzogenen Objektivitätsanspruchs. Auch Bammé (2004) spricht von einer Demontage der Naturwissenschaften. Betrugsfälle, Schlampereien, Naturwissenschaft als „Show“ und Medienspektakel hätten ebenso wie Schwächen des angeblich harten Peer-Review-Verfahrens zur Beurteilung der Wissenschaftlichkeit zu einer Entwertung akademischer Wissenschaft (science) geführt und ein postakademisches Wissenschaftsverständnis (Ziman 2002) entstehen lassen. Auf der anderen Seite wurde auf Wissenschaftsstandards beharrt, von zu „weicher“ Methodik der qualitativen Forschung gesprochen und der Weg zu staatlichen Drittmitteln in der Forschungsförderung versperrt. In der Auflösung dieser science wars wurden zwei Wege begangen: zum einen die Entwicklung von Ansätzen einer mixed methodology, die qualitative und quantitative Analyseschritte verbindet (s. Abschn. 4); zum anderen die Suche nach allgemeinen, qualitative und quantitative Forschung umfassenden Wissenschaftsstandards, nach einem gemeinsamen Forschungsdesign. An diese Bemühungen soll hier angeknüpft werden.
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Ein globales Untersuchungsdesign für qualitativ (und quantitativ) orientierte Forschung
Bereits 1994 haben die Politologen King, Keohane und Verba herausgearbeitet, dass auch qualitative Forschung einen einheitlichen methodologischen Ansatz benötige. Qualitative und quantitative Forschung seien zwei unterschiedliche Wissenschaftsstile, sie folgten aber einer gleichen Logik der Schlussfolgerung; die Unterschiede seien „methodological and substantively unimportant“ (King et al. 1994, S. 4). Ziel seien beschreibende oder erklärende Schlussfolgerungen auf empirischer Basis, um Theorie weiterzuentwickeln. Dieser Standpunkt wurde heftig diskutiert (Brady und Collier 2004). In der amerikanischen erziehungswissenschaftlichen Forschung, in der die qualitativ orientierten Ansätze besonders stark waren, aber nicht völlige Anerkennung erreichten, bemühte sich das National Research Council (2002) um die Entwicklung eines Minimaldesigns, das auch für qualitative Forschung gelten kann. Ein Expert/innenkomitee legte einen Ablaufplan systematischer Schritte im Forschungsprozess fest, der auf ein solches allgemeines Design zielt (National Research Council 2002):
Qualitative Forschungsdesigns
7
1. 2. 3. 4.
Stelle bedeutsame Forschungsfragen, die empirisch beantwortbar sind! Knüpfe an die einschlägige Theorie, den Forschungsstand an! Setze Methoden ein, die eine direkte Untersuchung der Forschungsfrage erlauben! Verbinde die Forschungsschritte in einer expliziten und kohärenten logischen Folge! 5. Repliziere und generalisiere über verschiedene Studien hinweg! 6. Veröffentliche die Studie, um professionelle Überprüfung und Kritik zu ermöglichen! Das Komitee geht dabei davon aus, dass es verschiedene Forschungstypen gibt (nicht nur experimentelle Designs), die dieses Kriterien erfüllen können. Auch Flick (2002) stellt ein ähnliches allgemeines Forschungsdesign auf, auch wenn er die quantitativ orientierte Forschungslogik zunächst als linear kritisiert (Abb. 1). Hier einen Gegensatz zu konstruieren, greift aber meiner Meinung nach zu kurz. Natürlich will auch quantitative Forschung Theoriebildung aus dem Material weiterbringen im Sinne der Erweiterung des Forschungsstandes. Insofern ist auch quantitativ-naturwissenschaftliche Forschung zirkulär. Der quantitativ-naturwissenschaftlich orientierte Rainer Leonhart (2008) nennt dies den wissenschaftlichen Zirkel (auch wenn ich mit seinen weiteren wissenschaftstheoretischen Grundannahmen nicht immer mitgehen kann). Aufseiten der qualitativ orientierten Forscher/innen hat Maxwell (1996) das Forschungsdesign in Begriffen eines Netzwerkes verschiedener Elemente gefasst,
lineares Modell des Forschungsprozesses
Theorie
Operationalisierung
Hypothesen
Stichprobe
Überprüfung
Auswertung
Erhebung
Vergleich zirkuläres Modell des Forschungsprozesses
Vorannahmen
Erhebung
Erhebung
Auswertung
Auswertung
Theorie
Fall
Fall Sampling Sampling Vergleich
Vergleich Erhebung
Auswertung
Fall
Abb. 1 Quantitatives und qualitatives Forschungsdesign (Flick 2002, S. 73)
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P. Mayring
die um die zentrale Forschungsfrage angesiedelt sind. Die Interaktivität der Modellelemente entspricht der oben genannten Zirkularität. Er nennt als Designelemente: • • • • •
Ziele des Forschungsprogramms (purposes), Theoriehintergrund (conceptual context), Forschungsfragestellung, Methoden und Gültigkeit der Ergebnisse.
Ich möchte versuchen, dies in einem allgemeinen Grunddesign zu veranschaulichen. Dabei knüpfe ich an den zentralen Stationen des Forschungsprozesses an, wie sie in quantitativ orientierter Methodenliteratur postuliert werden, erweitere sie so, dass auch qualitativ orientiere Forschung einbeziehbar ist (in Abb. 2 kursiv) und füge die für qualitative Forschung wichtigen Rückkopplungsschleifen ein (s. auch Mayring 2001).
1.Explikation und Spezifizierung der Fragestellung Relevanz, Problembezug der Fragestellung, Hypothesen oder offene Fragestellung
2.Explikation des Theoriehintergrunds Stand der Forschung, Theorieansatz Vorverständnis
3.Empirische Basis Beschreibung der Stichprobe, des Einzelfalls Beschreibung des Materials, der Materialauswahl
4.Methodischer Ansatz Erhebungs-, Aufbereitungs-, Auswertungsverfahren; Begründung der Verfahren; standardisiert oder bei neuen Instrumenten durch Pilotstudie getestet
5.Ergebnisse Darstellung, Zusammenfassung, Analyse Rückbezug auf Hypothesen
6.Schlussfolgerungen Gütekriterien, Relevanz der Ergebnisse
bzw. Fragestellung
Verallgemeinerbarkeit (worauf?)
Abb. 2 Allgemeines Grunddesign qualitativer (und quantitativer) Forschung (Mayring 2001, erweitert)
Qualitative Forschungsdesigns
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An zwei Stellen gibt es also Rückkoppelungsschleifen. In der ersten werden die jeweiligen Ergebnisse auf die Fragestellung der Studie, des Projekts, bezogen. Es wird überprüft, inwieweit die Fragen beantwortet wurden. Wenn, wie ich es vorgeschlagen habe (Mayring 2001), die Fragestellung nicht immer in Hypothesenform gefasst sein muss, sondern auch in vageren Vorannahmen zur Thematik der Studie bestehen kann, so wäre diese Rückkoppelungsschleife eine Weiterentwicklung des Vorverständnisses (auch im Sinne des hermeneutischen Zirkels in der Interpretationslehre, s. Fahrenberg 2002), eine Weiterentwicklung der Vorannahmen. Hier sind auch mehrere zirkuläre Durchläufe denkbar. In einer zweiten Rückkoppelungsschleife werden die verallgemeinerten Ergebnisse an den Forschungs- und Theoriestand angebunden, führen zu einer Erweiterung, Modifizierung und in aller Regel zur Formulierung weiterer Forschungsfragen, die in der gleichen Studie oder in nachfolgenden Projekten bearbeitet werden können. Im vierten Schritt des Grunddesigns (Abb. 2) steckt ein weiterer Zirkelprozess. Insofern im Forschungsprozess nicht auf standardisierte Instrumente zurückgegriffen wird, sondern eigene Methodenansätze (offener Fragebogen, Interview- oder Beobachtungsleitfaden, Auswertungskategorien) entwickelt werden, müssen sie in Pilotstudien so lange getestet werden, bis sie sich hinreichend bewähren. Gerade „in dieser Zirkularität [liegt] eine Stärke des Ansatzes, da sie – zumindest, wenn sie konsequent angewendet wird – zu einer permanenten Reflexion des gesamten Forschungsvorgehens und seiner Teilschritte im Licht der anderen Schritte zwingt“ (Flick 2002, S. 72).
3
Differenzierung konkreter qualitativ orientierter Forschungsdesigns
Neben der Aufstellung eines allgemeinen Designs lassen sich weiter spezielle Untersuchungsdesigns für qualitative (und ebenso für quantitative) Forschung differenzieren (Mayring 2015). Auch hier wird wieder der Gedanke verfolgt, dass mit der Festlegung eines speziellen Designs ein verbindlicher Ablaufplan vorab bestimmt wird (auch wenn Modifizierungen oder nicht-lineare Elemente enthalten sein mögen), um die Systematik, den Rekurs auf methodische Vorerfahrungen und die Überprüfbarkeit zu verbessern. In der Methodenliteratur werden verschiedene Untersuchungspläne diskutiert. Experiment, Korrelationsstudie, Feldstudie, Evaluationsstudie, Längsschnittstudie, Sekundäranalyse oder (Einzel-)Fallanalyse sind solche Designbezeichnungen: Im Experiment wird versucht, einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen zwei Variablen zu überprüfen, indem eine Variable experimentell variiert wird und die Auswirkungen auf die zweite Variable registriert werden. Im quantitativen Paradigma, besonders in der Psychologie, wird das Experiment als zentralstes Design bezeichnet, aber auch qualitative experimentelle Designs (s. Abschn. 3.4) wurden beschrieben. In der Korrelationsstudie werden zwei Variablen in messbare Größen operationalisiert, an einer Stichprobe Daten dazu erhoben, und der Variablenzusammenhang wird mit statistischen Verfahren errechnet. Auch dieses Design ist eher
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dem quantitativen Ansatz zuzuordnen, wenn auch Zusammenhangsanalysen nicht nur durch Korrelationen, sondern auch qualitative Vergleichsstudien eruierbar sind (s. Abschn. 3.2). Die Feldstudie will zur Beantwortung ihrer Fragestellung nicht in künstlichen Laborsituationen forschen, sondern in die natürliche Umwelt, die Alltagssituationen von Menschen gehen. Sie ist eher dem qualitativen Paradigma zuzuordnen, wenn auch beispielsweise quantitative Feldexperimente oder Feldbeobachtungsstudien als Design konzipiert wurden. Evaluationsstudien wollen Maßnahmen oder Interventionen (innerhalb der Psychologie beispielsweise Therapieansätze) mit empirischen Forschungsmethoden einschätzen und bewerten (Döring und Bortz 2016), haben aber von Beginn an qualitative und quantitative Ansätze entwickelt. In Längsschnittstudien werden Verläufe mit mehreren Erhebungszeitpunkten der gleichen Personen erhoben, oft quantitativ als Veränderungen von quantitativen Variablenausprägungen, aber auch qualitativ als offene Beschreibung von Veränderungsprozessen. Sekundäranalysen greifen auf vorliegende Daten zurück und werten sie unter veränderter Fragestellung aus; hier zeichnet sich nachdem primär im quantitativen Paradigma darauf rekurriert wurde ab, die Re- und Sekundäranalyse für qualitative Daten fruchtbar zu machen (Witzel et al. 2008). Auch MixedMethods-Ansätze sind hier zu nennen, in denen qualitative und quantitative Vorgehensweisen kombiniert und integriert werden können. Es zeigt sich also, dass das Design die grundsätzliche Herangehensweise definiert, noch ohne die ganz konkret angewendeten Methoden vorzuschreiben. Zu den einzelnen Designs gibt es zwar mehr oder weniger gut passende Methoden, es bedeutet aber einen eigenen Schritt in der Untersuchungsplanung, die das Design ausfüllenden Methoden zu bestimmen, und hier sind oft unterschiedliche Lösungen möglich. So sind in einem Experiment zur Datenerhebung qualitative Beobachtungsmethoden genauso wie Tests einsetzbar, Material aus einer Feldstudie ist statistisch wie auch interpretativ auswertbar. Im Rahmen eines Forschungsdesigns sind die Phasen der Datenerhebung und Datenauswertung in die Untersuchungslogik und den Studienablauf eingebaut, aber die Art der Methoden ist noch nicht festgelegt. Das Design ist damit den Methoden vorgeordnet. Design ist der grundsätzliche Untersuchungsplan, konkrete Methoden füllen diesen aus. Und beide hängen von der Fragestellung ab, versuchen die Fragestellung umzusetzen in konkretes Forschungsvorgehen. Versucht man nun, solche spezifischen Forschungsdesigns näher zu systematisieren, so kommt man zu vier grundsätzlichen Vorgehensweisen in der Verfolgung der wissenschaftlichen Fragestellung: Exploration, Deskription, Zusammenhangsanalyse und Kausalanalyse (Mayring 2007; s. Abb. 3). Grundgedanke explorativer Studien ist, dass man dem Forschungsgegenstand möglichst nahe kommen will, um zu neuen, differenzierten Fragestellungen und Hypothesen zu gelangen. Deskriptive Studien wollen den Gegenstandsbereich möglichst genau und umfassend beschreiben. Zusammenhangsanalysen greifen einzelne Variablen aus dem Gegenstandsbereich heraus und untersuchen, ob diese Variablen in Verbindung stehen. Kausalanalysen verschärfen diese Fragerichtung, indem sie untersuchen, ob ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen Variablen besteht. In quantitativ-naturwissenschaftlich orientierter Forschung werden solche Untersuchungspläne gerne in eine Hierarchie gebracht und explorative bzw. deskriptive
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Explorative Designs
Deskriptive Designs
Zusammenhangsanalysen
Kausalanalysen
Abb. 3 Vier spezifische Forschungsdesigns (Mayring 2007)
Studien als Voruntersuchungen bezeichnet. Schon Popper (1935) hat auf einer Trennung des Entdeckungszusammenhangs (vorwissenschaftlich) und des Begründungszusammenhangs (eigentliche Forschung) beharrt. Auch wird auf die Kausalanalyse, speziell das experimentelle Design, immer wieder als „Krone“ der Forschung hingewiesen (z. B. Döring und Bortz 2016). Demgegenüber wird hier die Meinung vertreten, dass die vier Grunddesigns (Exploration, Deskription, Zusammenhangs- und Kausalanalyse) gleichberechtigte Ansätze der Untersuchungsplanung darstellen (die alle wiederum mit qualitativ orientierten oder auch quantitativ orientierten Ansätzen angehbar sind, s. Mayring 2007). Sie alle verfolgen eine Fragestellung, die je nach Stand der Forschung unterschiedlich präzise oder allgemein formulierbar ist. Ein Design (z. B. explorative Studie) kann die Verfolgung eines zweiten Designs (z. B. Zusammenhangsanalyse) nach sich ziehen oder gar notwendig machen. Da es nicht möglich ist, mit einer Studie einen Fragenkomplex abschließend zu beantworten, sind solche Designkombinationen durchaus die Regel, was aber nicht bedeutet, dass die erste Studie (z. B. die explorative) weniger wissenschaftlich oder prinzipiell defizitär wäre. Ich möchte nun auf die vier Grunddesigns spezieller Untersuchungsplanung eingehen und dabei besonders qualitativ orientierte Ansätze herausarbeiten.
3.1
Exploratives Design
Explorative Studien sind zunächst ein typischer Bereich qualitativ orientierter Forschung. Explorative Feldforschung, Grounded-Theory-Methodologie oder explorative Fallanalysen stehen hier im Zentrum. Nicht vergessen werden darf dabei, dass auch quantitative Forschung explorative Ansätze hervorgebracht hat: Die explorative Datenanalyse ist ein Ansatz, der durch nicht hypothesengeleitete, erste offene Analysen den Datensatz näher erfassen will, vor allem um mit grafischer Veranschaulichung der Datenverteilung zu Hypothesen zu gelangen (z. B. Schäfer 2009). Faktorenanalysen können explorativ eingesetzt werden und führen zu Dimensionen (wenn die Faktoren interpretiert werden), die vorher nicht bekannt waren. Und
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selbstverständlich sind hier auch Pilotstudien für quantitativ orientierte Studien zu nennen (z. B. offene Interviews, um zur Konstruktion eines Fragebogens zu gelangen). In diese Richtung hat auch Barney Glaser (2008) einen Ansatz quantitativer Grounded Theory entwickelt. Das zentrale Element explorativer Studien ist, dass der Forschungsstand zum Gegenstand noch so rudimentär ist, dass keine präzisen Fragestellungen, Beschreibungsdimensionen oder Hypothesen formulierbar sind. Dies kann daran liegen, dass der Bereich Neuland darstellt (beispielsweise die Studien zu Obdachlosen, Prostituierten, Wilderern oder Hochadel von Roland Girtler 2001), es kann sich aber auch um ein Gegenstandsgebiet handeln, das dem sozialen Wandel stark unterliegt und somit immer neuer Ansätze bedarf (Beispiel Jugendforschung). Deshalb stellt sich hier die Fragestellung als relativ offen dar, begründet durch Lücken des Forschungsstandes (s. den Startpunkt in Abb. 4). Explorative Studien sind in der Regel den Feldstudien zuzuordnen (Lüders 2005; Patry 1982). Dabei ist es wichtig, vorab festzulegen, welcher Praxisbereich sich für die Feldphase eignet bzw. als ergiebig erscheint. Auch muss geklärt werden, wie der Feldzugang für die Wissenschaftler/innen gesichert werden kann. Man wird eine Abmachung mit den Personen im Feld treffen, zu welchen Alltagssituationen Zugang gewährt wird und was die Rolle der Wissenschaftler/innen im Feld ist. Die konkreten Methoden werden in aller Regel teilnehmende Beobachtung und offene Interviewformen sein. Dafür sollten Beobachtungs- bzw. Interviewleitfäden entwickelt und ggf. vorab pilotgetestet werden. Die Feldphase selbst sollte ausführlich und intensiv genug sein, um sich einer Innenperspektive soweit möglich anzunähern. Die Materialien sollten systematisch gesammelt, Feldnotizen und Protokolle angelegt werden (Reichertz 2016). Girtler (2001) schlägt hier das Führen eines Forschungstagebuches vor. Mit diesem Material werden dann in der Regel auf induktivem bzw. abduktivem Wege Auswertungen vorgenommen, Hypothesen und neue Fragestellungen abgeleitet. Abb. 4 fasst das Vorgehen zusammen. Hier wird auch wieder der zirkuläre Charakter offensichtlich, da die Ergebnisse der explorativen Studie an den Forschungsstand angebunden werden und zu neuen Durchläufen führen können.
3.2
Deskriptives Design
Deskriptive Studien gehören ebenfalls zum typischen Bereich qualitativ orientierter Projekte (deskriptive Feldforschung, Ethnografie, deskriptive Fallanalysen, zum Teil phänomenologische Studien). Aber auch hier finden sich wieder quantitativ orientierte Designformen (Surveyforschung, Fragebogenerhebungen oder standardisierte Interviews an repräsentativen Stichproben). Qualitativ orientierte deskriptive Studien orientieren sich dagegen an der offenen Feldforschung, wie sie oben bereits für explorative Designs kurz skizziert wurde. Der entscheidende Unterschied ist, dass für deskriptive Studien Beschreibungsdimensionen bereits vorliegen müssen. Denn eine völlig offene Beschreibung ist nicht möglich. Diese Beschreibungsdimensionen werden in der Regel die Form von
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Offene Fragestellung, Zielfestlegung
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Stand der Forschung, Begründung aus Forschungslücken
Feldbestimmung, Feldskizzierung, Feldzugang klären
Folgestudien deskriptiver, zusammenhangs- oder kausalanalytischer Art
Methodenauswahl, -konstruktion, ev. Pilotphase
Feldaufenthalt Protokollierung, Materialsammlung
Induktive Auswertung, Gewinnung von Beschreibungsdimensionen, Hypothesenformulierung, Grounded-TheoryMethodologie, neue Fragestellungen Abb. 4 Ablaufmodell exploratives Design
(in qualitativ orientierten Studien kategorialen) Variablen annehmen. Hier sind Vorgänge der Operationalisierung, also der Überlegung, wie die Beschreibungsdimensionen methodisch erfassbar sind, abzuwägen. Typisch für qualitativ orientierte deskriptive Studien ist, dass sie multimethodisch vorgehen, den Beschreibungsgegenstand also aus verschiedenen Richtungen anzugehen versuchen. Solche Studien können auch in der Form deskriptiver Einzelfalldarstellungen konzipiert werden. Daraus ergibt sich das Ablaufmodell in Abb. 5.
3.3
Zusammenhangsanalysedesign
Zusammenhangsanalysen in Form von Korrelationsstudien gehören wiederum zu den häufigsten Untersuchungsformen in quantitativ orientierten Bereichen. Solche Studien können jedoch auch qualitativ orientiert angelegt sein. Innerhalb einer
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Abb. 5 Ablaufmodell deskriptives Design
Deskriptive Fragestellung
Ggf. Zusammenhangsanalysen
Festlegung der Beschreibungsdimensionen
Festlegung des Beschreibungsfeldes
Operationalisierung Methodenzusammenstellung
Studiendurchführung
Auswertung
Fallstudie werden systematische Einzelfallvergleiche durchgeführt und dabei die Fälle nach einer Gruppierungsvariable ausgewählt (z. B. gute Schüler/innen – schwache Schüler/innen; Stadt – Land). Hier und im Folgenden wird der Variablenbegriff in einem breiten Sinn verwendet, nicht nur auf quantitative Ausprägungen beschränkt (z. B. kategoriale Variablen). Oder es wird innerhalb einer qualitativ orientierten Studie nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden gesucht, und die Unterschiede werden auf eine Variable zurückgeführt, die dann einen Variablenzusammenhang formulieren lässt. Kulturvergleichende Studien wären ein weiteres Beispiel qualitativ orientierter Zusammenhangsanalysen. Längsschnittstudien analysieren den Zusammenhang zur Altersvariablen. Auch dies lässt sich qualitativ orientiert, einzelfallbezogen, darstellen. Für das konkrete Vorgehen einer Zusammenhangsanalyse ist es notwendig, den Zusammenhang in Form von (kategorialen oder quantitativen) Variablen zu benennen und wiederum wie bei den deskriptiven Studien Überlegungen zur Variablenoperationalisierung anzustellen.
3.4
Kausalanalytisches Design
Kausalanalysen werden traditionell über das experimentelle Design dem quantitativen Paradigma zugeordnet. Aber vor allem Kleining (1986) hat darauf hingewiesen, dass es auch qualitative Experimente als Forschungsdesign gibt. Hier wird systematisch in ein bestehendes System eingegriffen, und die Veränderungen werden beschrieben. Diese qualitativ-experimentellen Eingriffe können Separationen/Segmentierungen von Gegenstandsaspekten, Kombinationen, Reduktionen, Adjektionen, Substitutio-
Qualitative Forschungsdesigns
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nen oder Transformationen umfassen. Auch Einzelfallanalysen lassen sich kausalanalytisch anlegen. Dazu werden auf der Fallbasis Daten zu verschiedenen Zeitpunkten unter „Versuchsbedingungen“ und „Kontrollbedingungen“ erhoben (Julius et al. 2000). Biografieanalysen können ebenso Material liefern, das unter Einzelfallbedingungen kausal interpretierbar ist. Aktionsforschung schließlich hat auch das Ziel, neben der Problemlösung generalisierbares Interventionswissen in Bezug auf ähnliche Probleme zu schaffen, und diese gefundenen Interventionsstrategien sind dann kausaler Natur. Kausalanalysen, auch qualitativ orientierte, brauchen die Benennung von Variablen, die Einteilung dieser Variablen in Ursachen- und Folgevariablen (unabhängige Variablen, abhängige Variablen), die Operationalisierung dieser Variablen sowie die Einfügung in ein kausalanalytisches Design. Neben diesen vier Grunddesigns sind natürlich noch eine ganze Reihe weiterer Designs aufzuführen (z. B. Dokumentenanalysen, Fallanalysen, Evaluationsstudien), die allerdings jeweils explorativen, deskriptiven, zusammenhangs- oder kausalanalytischen Charakter haben können.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Ich habe in diesem Beitrag versucht, die Bedeutung genauer Untersuchungsplanung für qualitativ orientierte Forschung herauszuarbeiten. Dadurch kann die Vorgehensweise intersubjektiv nachprüfbar werden. Man kann an methodische Vorerfahrungen anknüpfen, da in den eingeführten Forschungsdesigns bewährte Verfahren beschrieben werden, und so den wissenschaftlichen Status der Studie verbessern. Ich wollte dies auf zwei Ebenen zeigen: Einmal wurde ein allgemeines Ablaufmodell als Grunddesign formuliert. Hier war es wichtig, den zirkulären Charakter herauszuarbeiten. Zum anderen wurden spezifische qualitativ orientierte Designs unterschieden. Dabei wurden nicht nur typische qualitative Untersuchungspläne wie explorative und deskriptive Studien angeführt, sondern auch qualitative Zusammenhangs- und Kausalanalysen. Es wurde versucht, für diese Studientypen Ablaufpläne vorzustellen, die dadurch wieder den Designcharakter verdeutlichen. Natürlich ist es auch möglich, solche Designs im Sinne einer Designtriangulation (Flick 2004) oder mixed methodology (Mayring et al. 2007; Tashakkori und Teddlie 2003) zu kombinieren oder zu integrieren. Dabei ist durchaus ein linearer Aufbau, von explorativen über deskriptiven hin zu zusammenhangsanalytischen und kausalanalytischen Studien denkbar; aber auch Querverbindungen sind möglich. Die große Gefahr, die ich sehe, ist, dass sich qualitative Ansätze auf ganz offenes, exploratives Vorgehen beschränken, auch wenn auf diesem Gebiet immer wieder besondere Leistungen zu verzeichnen sind. Mit einer solchen Beschränkung wäre qualitativ arbeitende Wissenschaft aber immer angewiesen auf nachfolgende Überprüfung. Nur wenn durch genaue Untersuchungsplanung gezeigt werden kann, dass auch Zusammenhangsanalysen und Kausalanalysen qualitativ methodisch angegangen werden können, können solche Ansätze auch in Bereichen Berücksichtigung finden, in denen bisher quantitatives Forschen die Regel war, und das gilt für einen Großteil der Psychologie.
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Fallauswahl Margrit Schreier
Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Grundannahmen der Fallauswahl in der qualitativen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Verfahren der Fallauswahl in der qualitativen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Gerade angesichts der meist kleinen Fallzahlen in der qualitativ-psychologischen Forschung ist eine reflektierte und bewusste Stichprobenziehung bzw. Fallauswahl hier von besonderer Bedeutung. Im Gegensatz zur quantitativen Forschung wird dabei meist keine empirisch-statistische Verallgemeinerung auf ein Kollektiv angestrebt, sondern eine differenzierte Beschreibung weniger Fälle. In dem vorliegenden Beitrag werden zunächst die unterschiedlichen Grundannahmen genauer dargestellt, die der Stichprobenziehung in der quantitativen und in der qualitativen Forschungstradition zugrunde liegen, um so zu einem besseren Verständnis der Forschungslogik bei der bewussten Stichprobenziehung zu gelangen. Uneinigkeit besteht in der qualitativen Forschung allerdings hinsichtlich der Frage, inwiefern die Stichprobengröße von Bedeutung ist, wie groß die Stichprobe im Rahmen verschiedener qualitativer Forschungsansätze jeweils sein sollte und inwieweit eine Vorab-Festlegung einer konkreten Stichprobengröße sinnvoll ist. Die unterschiedlichen Positionen zu diesen Fragen werden kurz zusammengefasst. Daran schließt sich ein Überblick zu Strategien der bewussten Fallauswahl an. Einzelne, in der Forschungspraxis besonders relevante Strategien wie die theoretische Stichprobenziehung, der qualitative Stichprobenplan und die M. Schreier (*) Psychology and Methods, Jacobs University Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_19
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Auswahl bestimmter Arten von Fällen werden weiterhin an Hand von Untersuchungsbeispielen verdeutlicht. Der Beitrag schließt mit Überlegungen zu Möglichkeiten der Verallgemeinerung in der qualitativen Forschung unter Nutzung von Alternativkonzepten zur empirisch-statistischen Verallgemeinerung, wie beispielsweise die theoretische Verallgemeinerung oder die Übertragbarkeit von Ergebnissen. Schlüsselwörter
Fallauswahl Bewusste Stichprobenziehung Absichtsvolle Stichprobenziehung Theoretische Stichprobenziehung Sättigung
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Einleitung
Qualitativ-psychologische Forscher/innen finden sich, ebenso wie quantitative Forscher/innen, meist in der Situation, dass es nicht möglich ist, alle relevanten Fälle in die Untersuchung einzubeziehen. Clara und William Stern (1928 [1907]) hätten für ihre Studien zur kindlichen Sprachentwicklung potenziell viele Kinder einbeziehen können – und beschränkten sich doch auf ihre eigenen drei. Murray (1938) hätte für die Entwicklung seiner Persönlichkeitspsychologie ebenfalls Hunderte von Personen untersuchen können, konzentrierte sich aber auf 50 Collegestudent/innen (was für eine qualitative Studie eine recht große Stichprobe darstellt, nicht zuletzt angesichts der Vielzahl der Informationen, die für jede Person erhoben wurden). Auch in gegenwärtigen qualitativ-psychologischen Untersuchungen sind kleine Fallzahlen eher die Regel als die Ausnahme – das ergibt sich schon aus der Zielsetzung, detaillierte und in die Tiefe gehende Analysen der ausgewählten Fälle vorzunehmen: Je mehr Details, desto geringer notwendiger Weise die Anzahl der Fälle (Crouch und McKenzie 2006; Sandelowski 1995). Angesichts dessen, dass die Fallzahl in der qualitativen Psychologie also begrenzt ist, könnte vermutet werden, dass diese wenigen Fälle umso sorgfältiger ausgewählt werden, dass dem Thema der Fallauswahl in der methodologischen Literatur somit ein hoher Stellenwert zukommt. Lange Zeit wurde das Thema in den qualitativen Sozialwissenschaften jedoch eher vernachlässigt (Higginbottom 2004; Onwuegbuzie und Leech 2007; Robinson 2014), und es finden sich lediglich verstreute Beiträge (u. a. Marshall 1996; Mason 2017, Kap. 3; Morse 1995; Sandelowski 1995; Tuckett 2004). Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Das mag daran liegen, dass „Fallauswahl“ allzu sehr nach „Stichprobenziehung“ klingt und Assoziationen an quantitative Sozialforschung mit großer Fallzahl und der Zielsetzung statistischer Verallgemeinerung weckt. So liegt möglicherweise der (Fehl-)Schluss nahe, dass Überlegungen zur Entscheidung über einzubeziehende Fälle in der qualitativen Psychologie nicht angebracht sind. In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren findet dagegen eine zwar weiterhin verhaltene, aber dennoch zunehmende Auseinandersetzung mit der Thematik statt (etwa zur Frage der optimalen Stichprobengröße: z. B. Baker und
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Edwards 2012; Trotter 2012). Dies zeigt sich beispielsweise am Erscheinen einer ersten Monografie speziell zu diesem Thema (Emmel 2013), am vermehrten Erscheinen von (Handbuch-)Artikeln (z. B. Akremi 2019; Boehnke et al. 2010; Gentles und Vilches 2017; Rapley 2013; Schreier 2011, 2017) sowie an einer Proliferation von Strategien qualitativer Fallauswahl. So führte Patton in der dritten Ausgabe seines Lehrbuchs zur qualitativen Forschung und Evaluation 14 Strategien bewusster Fallauswahl auf (Patton 2002). In der neuesten Ausgabe von 2015 beschreibt er dagegen 40 Strategien, in Abhängigkeit von der Zielsetzung in acht Gruppen untergliedert (Patton 2015, Kap. 5). Auch im Kontext von Mixed Methods (Creswell 2015) werden qualitative Strategien der bewussten Fallauswahl zunehmend aufgeführt und hinsichtlich ihrer Anwendungsbedingungen diskutiert (z. B. Teddlie und Yu 2007). Eine Alternative zum potenziell problematischen Begriff der Stichprobenziehung stellt das Konzept der Fallauswahl dar, das seinen Ursprung in der Fallstudie hat (im Überblick: Stake 1995; Yin 2018). Diese hat in der Psychologie eine lange Tradition, insbesondere in der Psychotherapieforschung: Schon Freud veröffentlichte insgesamt sechs Fallstudien, gefolgt von Adler, Dollard und Miller und vielen anderen (im Überblick: David 2007; Frommer und Langenbach 1998). Auch in der Allgemeinen (vgl. Ebbinghaus’ Selbstversuche zu Lernen und Vergessen: 1992 [1885]), der Entwicklungs- (s. oben das Beispiel der Sterns, ebenso z. B. Piaget 1954, 2003; im Überblick: Mey und Wenglorz 2005), der Persönlichkeits- (s. oben zu Murray), der Forensischen (z. B. Healey und Bronners Lebensberichte von 20 jugendlichen Delinquenten: 1926) und der Politischen Psychologie (vgl. z. B. die sog. Psychobiografik zur Analyse des Zusammenhangs zwischen Lebenslauf von Politiker/innen und Führungsstil: Winter 2003) findet die Fallstudie Anwendung, und in jüngerer Zeit ist Oliver Sacks (z. B. 2009) mit seinen neuropsychologischen Fallstudien über fachwissenschaftliche Kreise hinaus bekannt bzw. populär geworden. Mit diesem Vorgehen steht er zugleich in der Tradition von Lurija und dessen Projekt einer „Romantischen Wissenschaft“ (vgl. den Fall des Manns, dessen Welt in Scherben ging: 1991 [1971]; zum Projekt der Romantischen Wissenschaft im Überblick Kölbl 2005). In diesem Beitrag werden die Begriffe der (bewussten) Fallauswahl und (bewussten) Stichprobenziehung synonym im Sinne einer Auswahl von Untersuchungseinheiten verwendet. Mit der Rede von der „Stichprobe“ verbinden sich dabei keine Assoziationen mit der quantitativen Forschungstradition; mit der Verwendung des Begriffs ist also nicht gemeint, dass beispielsweise eine repräsentative Stichprobe angestrebt wird. Zugleich ist der Begriff der Fallauswahl hier aus dem Kontext der Fallstudie herausgelöst. Wenn im Folgenden von „Fallauswahl“ die Rede ist, ist also beispielsweise nicht impliziert, dass die Untersuchungseinheiten eine bestimmte interne Struktur aufweisen sollten, dass mehrere Verfahren der Datenerhebung zur Anwendung kommen o. ä. (Yin 2018, Kap. 1). In qualitativ-psychologischen Untersuchungen stellen meist Personen die Fälle oder Untersuchungseinheiten dar. Es können aber auch Familien, Gruppen, Organisationen usw. die Untersuchungseinheiten sein (Mey und Wenglorz 2005, Abschn. 2.1). Im Folgenden werden zunächst die Grundannahmen der Fallauswahl in der qualitativen Forschung im Vergleich zu den Annahmen und Zielsetzungen der
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Stichprobenziehung in der quantitativen Forschung beschrieben. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Frage nach der optimalen Fallzahl bzw. Stichprobengröße und damit zusammenhängend auf das Kriterium der Sättigung eingegangen. Daran schließen sich Darstellungen einiger ausgewählter Strategien qualitativer Fallauswahl an. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Auswahl der Fälle, nicht auf anderen Aspekten des Vorgehens im Untersuchungsverlauf (wie etwa der Auswahl des Materials für die Auswertung oder die Ergebnisdarstellung), die vereinzelt ebenfalls dem Thema der Stichprobenziehung in der qualitativen Forschung zugeordnet werden (Akremi 2019; Merkens 2005).
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Grundannahmen der Fallauswahl in der qualitativen Forschung
2.1
Zufallsstichproben und ihre Funktion in der empirischen Sozialforschung
In der quantitativen Sozialforschung geht es häufig darum, die Verteilung eines Merkmals in der Grundgesamtheit zu ermitteln. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn untersucht wird, bei wie vielen Jugendlichen sich rechtsextreme Denkweisen finden oder welche Stimmenanteile auf die verschiedenen Parteien entfallen würden, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre. Dabei werden die jeweils relevanten Merkmale für eine Stichprobe von Personen erhoben, und von der Verteilung des Merkmals in der Stichprobe wird auf seine Verteilung in der Grundgesamtheit geschlossen; dies wird auch als statistische Verallgemeinerung bezeichnet (im Überblick Dieckmann 2007, Kap. IX). Wie gut eine solche Verallgemeinerung „funktioniert“, hängt ganz wesentlich davon ab, wie gut die Stichprobe die Grundgesamtheit abbildet. Um die Repräsentativität der Stichprobe sicherzustellen, wird in der quantitativen Sozialforschung meist mit sog. probabilistischen Verfahren der Stichprobenziehung bzw. mit Zufallsstichproben gearbeitet. Diese sind darüber definiert, dass jedes Element aus der Grundgesamtheit dieselbe (und von 0 verschiedene) Wahrscheinlichkeit hat, in die Stichprobe aufgenommen zu werden. Eine solche Stichprobe wird realisiert, indem aus der Grundgesamtheit nach einem Zufallsprinzip die erforderliche Anzahl von Untersuchungseinheiten ausgewählt wird. Untersuchungen aus der qualitativen Sozialforschung, die nicht mit Zufallsstichproben arbeiten, werden häufig kritisiert, weil sie nicht repräsentativ seien und keine Verallgemeinerung erlaubten (zusammenfassend David 2007). Diese Kritik kann zwar angemessen sein; vielfach ist sie es aber nicht, und zwar aus einer Vielzahl von Gründen (Gobo 2006; s. auch Becker 1998, Kap. 3). Erstens wird in dieser Kritik unterstellt, dass die Repräsentativität der Stichprobe für eine Grundgesamtheit grundsätzlich anzustreben und Ziel jeder Fallauswahl sein sollte. Das gilt aber keineswegs generell: Repräsentativität ist immer dann wesentlich, wenn von der Verteilung eines Merkmals in der Stichprobe auf die Verteilung dieses Merkmals in der Grundgesamtheit geschlossen werden soll. Es existieren aber
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durchaus auch andere Zielsetzungen empirischer Untersuchungen, bei denen die Repräsentativität der Stichprobe (zunächst) nicht von Bedeutung ist (s. auch Marshall 1996). Beispielsweise kann das Ziel einer Untersuchung darin bestehen, die verschiedenen Ausprägungen eines Phänomens aufzuzeigen oder ausgewählte Fälle im Detail zu beschreiben (s. Abschn. 3.2; Patton 2015, Kap. 5). Bei Lurijas Studie des Mannes, dessen Welt in Scherben ging, ist beispielsweise nicht die Repräsentativität des Falls das Kriterium, sondern die Besonderheit des Falls, dieses speziellen Menschen und seines Erlebens (eine sog. intrinsische Fallstudie; vgl. Stake 1995, S. 3). Zweitens werden bei der Kritik qualitativer Fallauswahl als „nicht repräsentativ“ Repräsentativität und Zufallsauswahl quasi in eins gesetzt: Es wird der Eindruck erweckt, als würde ein Zufallsverfahren bei der Stichprobenziehung die Repräsentativität der Stichprobe garantieren, und es wird impliziert, dass eine Zufallsstichprobe das einzige Mittel ist, um zu einer repräsentativen Stichprobe zu gelangen. Beides ist jedoch bei genauerem Hinsehen nicht zutreffend (Gobo 2006): Die Zufallsstichprobe ist ein Mittel, die Repräsentativität ein Ziel, und das eine ist nicht untrennbar mit dem anderen verbunden. Ob ein Zufallsverfahren auch tatsächlich zu einer repräsentativen Stichprobe führt, hängt vielmehr von bestimmten Voraussetzungen ab. So setzt eine echte Zufallsstichprobe voraus, dass die Untersuchungseinheiten aus einer Liste aller Einheiten in der Population ausgewählt werden (aus einer sog. „Urliste“), die aber häufig nicht vorhanden ist und nicht vorhanden sein kann. Wie wollte man beispielsweise eine Urliste aller jugendlichen Straftäter/innen erstellen? Oder aller Personen, die mindestens einmal im Leben eine depressive Phase durchlaufen haben? Außerdem muss die Stichprobe hinreichend groß sein: Es nützt auch die beste Urliste nichts, wenn daraus z. B. lediglich zehn Personen ausgewählt werden; die Wahrscheinlichkeit, dass sich in diesen zehn Personen die Verteilung eines Merkmals in der Grundgesamtheit widerspiegelt, ist ausgesprochen gering. Wird eine repräsentative Stichprobe angestrebt, ist wiederum die Zufallsstichprobe nicht das einzige Mittel zum Zweck. Gobo (2006) weist beispielsweise auf Alltagssituationen hin, in denen – und zwar durchaus berechtigt – ein einziger Fall als repräsentativ angesehen wird und aus ihm Schlüsse über die Grundgesamtheit gezogen werden: etwa beim Kochen von Nudeln. Auch hart gesottene quantitative Sozialwissenschaftler/innen werden in dieser Situation eine Nudel herausfischen und, wenn diese gar ist, sämtliche Nudeln im Topf auf den Tisch bringen. Ein – beliebiger – Fall ist hier in der Tat repräsentativ für die Grundgesamtheit, weil diese Grundgesamtheit homogen ist.
2.2
Absichtsvolle Stichprobenziehung und Kriterien der Fallauswahl
In der qualitativen Sozialforschung und der qualitativen Psychologie sind in aller Regel Fragestellungen von Interesse, bei denen es nicht um die Verteilung von Merkmalen und Merkmalsausprägungen in einer Grundgesamtheit geht. Entsprechend spielt die Repräsentativität der Stichprobe für die Grundgesamtheit in der qualitativen Psychologie auch seltener eine Rolle, und probabilistische Verfahren der Stichproben-
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ziehung kommen seltener zur Anwendung. Stattdessen wird mit Verfahren der absichtsvollen bzw. bewussten Stichprobenziehung (im Englischen: purposeful oder purposive sampling) bzw. der Auswahl informationshaltiger Fälle gearbeitet (im Überblick: Flick 2019, Kap. 12; Merkens 2005; Patton 2015, Kap. 5; Ritchie et al. 2014; Schreier 2013). Wie diese Begriffe schon implizieren, erfolgt die Fallauswahl dabei gerade nicht zufällig wie bei der Zufallsstichprobe oder willkürlich wie bei der willkürlichen Stichprobe, sondern gezielt, und zwar so, dass der Erkenntnisgewinn in Bezug auf die Fragestellung möglichst hoch ist. Zu den Verfahren der absichtsvollen Stichprobenziehung zählen unter anderem: theoretische Stichprobenziehung, kriterienorientierte Stichprobenziehung, Fallauswahl auf der Grundlage qualitativer Stichprobenpläne, analytische Induktion, Auswahl extremer, typischer, abweichender, kritischer usw. Fälle, heterogene Stichprobenziehung, homogene Stichprobenziehung, Schneeballverfahren und andere mehr. Was allerdings unter einem informationshaltigen Fall zu verstehen ist, an welchen Kriterien sich die absichtsvolle Stichprobenziehung orientieren und welches Verfahren konkret zum Einsatz kommen sollte, hängt jeweils von der Fragestellung und der Zielsetzung der Untersuchung ab. Patton (2015) unterscheidet beispielsweise acht verschiedene Zielsetzungen, denen je unterschiedliche Strategien der absichtsvollen Stichprobenziehung zugeordnet sind (beispielsweise das vertiefte Verstehen eines Einzelfalls, die Erklärung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, die Beantwortung von Fragen, die sich im Forschungsprozess ergeben haben usw.: Patton 2015, Kap. 5). Im Folgenden werden einige Kriterien bzw. Zielsetzungen herausgegriffen, die in der qualitativen Psychologie von besonderer Bedeutung sind: die analytische bzw. theoretische Verallgemeinerung, das Aufzeigen des Allgemeinen im Individuellen, die Beschreibung eines Einzelfalls sowie das Aufzeigen der verschiedenen Manifestationsformen eines Phänomens. Das Kriterium der analytischen Verallgemeinerbarkeit greift bei Untersuchungen, mit denen das Ziel verfolgt wird, eine Theorie zu entwickeln, wie dies in der Tradition der Grounded-Theory-Methodologie oder auch beim qualitativen Experiment der Fall ist. Die Güte der Theorie hängt dabei wesentlich davon ab, in welchem Maß es gelingt, das interessierende Phänomen in all seinen Facetten und Bedingtheiten zu erfassen (s. Abschn. 3.2.1). Im Idealfall sind in der Theorie all jene Faktoren spezifiziert, die mit dem Phänomen in Zusammenhang stehen. Das Kriterium der theoretischen Verallgemeinerbarkeit liegt in erster Linie der theoretischen Stichprobenziehung und der maximalen strukturellen Variation zugrunde (ausführlich Emmel 2013, Kap. 1), aber auch die analytische Induktion und die Untersuchung kontrastierender Fälle lehnen sich an Überlegungen an, die mit dem Kriterium der theoretischen Verallgemeinerbarkeit in Zusammenhang stehen (Patton 2015, Modul 37). Ziel der analytischen Induktion ist es, gezielt Negativfälle auszuwählen, also solche Fälle, die zu einer Theorie im Widerspruch stehen könnten (ähnlich auch die Auswahl kritischer Fälle: im Überblick Kelle und Kluge 2010, Kap. 3). Dieses Verfahren der Stichprobenziehung lässt sich nutzen, um die Grenzen der Anwendbarkeit einer Theorie zu bestimmen oder eine Theorie ggf. noch um zusätzliche Elemente zu erweitern. Während die theoretische Stichprobenziehung eine vergleichsweise große Stichprobe erfordert, beschränkt sich die Analyse kontrastieren-
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der Fälle auf wenige, ggf. auch nur auf zwei Untersuchungseinheiten (Ragin 1989, Kap. 3). Diese werden so ausgewählt, dass sie sich in Bezug auf ein interessierendes Merkmal möglichst stark unterscheiden, um so Hinweise auf relevante Bedingungsund Genesefaktoren zu erhalten. Die Überlegung, dass das Allgemeine im Individuellen angelegt ist (Hildenbrand 1995), liegt beispielsweise Fallstudien aus dem Bereich der Allgemeinen Psychologie (vgl. unten die Studien zum Lernen und Vergessen von Ebbinghaus [1885]) sowie der Entwicklungspsychologie zugrunde, wie etwa Piagets Studien zur kognitiven Entwicklung (im Überblick Piaget 2003 [1932]). Dieser Grundgedanke des Allgemeinen im Individuellen existiert in zwei Variationen. Gemäß der ersten Variante setzt sich jede konkrete Manifestation eines Phänomens – die Sprachentwicklung eines Kindes, die Entwicklung der Persönlichkeit über den Lebensverlauf, die Empfindung von Einsamkeit usw. – notwendig aus individuellen und aus allgemeinen Anteilen zusammen. Wenn man mehrere konkrete Manifestationen eines Phänomens vergleicht, dann werden durch den Vergleich die allgemeinen, übereinstimmenden Anteile erkennbar, das Allgemeine eines Phänomens kann aus den individuellen Anteilen also quasi „herausdestilliert“ werden. Daraus folgt, dass bei der Fallauswahl letztlich keinerlei besondere Richtlinien zu befolgen sind: Das Allgemeine eines Phänomens lässt sich auf jeden Fall identifizieren, unabhängig davon, welche konkreten Manifestationen als Untersuchungseinheiten in die Analyse einbezogen werden. Solche Überlegungen liegen, wenn auch nicht immer in expliziter Form, der Fallauswahl in der Tradition der Phänomenologie (z. B. die Interpretative Phänomenologische Analyse: Smith 2004), der Komparativen Kasuistik nach Jüttemann (2009) oder, aus eher soziologischer Perspektive, der Typenbildung nach Gerhardt (1995) zugrunde (zur Typenbildung im Überblick Kelle und Kluge 2010). Die zweite Variante des Grundgedankens, dass das Allgemeine im Individuellen angelegt ist, greift bei Untersuchungsgegenständen, die weitgehend homogen sind, sich nur unwesentlich voneinander unterscheiden, wie dies beispielsweise für Gegenstände der Allgemeinen Psychologie angenommen wird. Bei solchen Untersuchungsgegenständen ist jede Einheit per definitionem für die Grundgesamtheit repräsentativ. Diese Logik der Verallgemeinerung findet sich im Zusammenhang mit qualitativen Ansätzen, die auf die Identifikation und Generalisierung von Strukturen abzielen, wie dies beispielsweise bei der objektiven Hermeneutik (im Überblick: Wernet 2009) oder der Konversationsanalyse (im Überblick: Bergmann 2005) der Fall ist. Auch vor diesem Hintergrund sind bei der Fallauswahl keine besonderen Regeln zu befolgen, da jeder Fall gleichermaßen repräsentativ oder typisch ist. Zugleich erlaubt diese Logik – als eine der wenigen in der qualitativen Sozialforschung – den Schluss von einem Einzelfall auf die Grundgesamtheit, also die Verallgemeinerung im empirisch-statistischen Sinn (ohne dass jedoch Verfahren der Inferenzstatistik zur Anwendung kommen). Auch bei solchen universellen Gegenständen kann es jedoch sinnvoll sein, eine Verallgemeinerung nicht auf einen einzelnen, sondern, gemäß einer Logik der systematischen Replikation, auf mehrere einander ähnliche Fälle zu stützen (Hilliard 1993). Sowohl die Logik der theoretischen Verallgemeinerung als auch die Logik des Allgemeinen im Individuellen zielt auf Verallgemeinerungen über die untersuchten
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Fälle hinaus, sei es im theoretischen oder im empirischen Sinn. Qualitative Untersuchungen können sich jedoch auch darauf beschränken, einen Gegenstand lediglich zu beschreiben. Dabei kann es sich um (Einzel-)Fälle handeln, die aus sich selbst heraus von Interesse sind (die sog. intrinsische Fallstudie: Stake 1995, S. 3); dieser Tradition sind beispielsweise die bereits erwähnten Fallstudien Lurijas zuzuordnen. Beschreibend sind auch solche Untersuchungen, in denen die Fälle mit dem Ziel ausgewählt werden, eine Theorie zu veranschaulichen (die sog. instrumentelle Fallstudie: Stake 1995, S. 3). Freud (1905) wählte beispielsweise den Fall der Dora D. aus, um damit seine Theorie der Übertragung zu illustrieren. Bei solchen Untersuchungen ist eine kriterienorientierte Strategie der Fallauswahl angemessen. Schließlich sind hier auch solche Untersuchungen einzuordnen, die das Ziel haben, ein Phänomen in seiner Bandbreite und in seinen verschiedenen Spielarten aufzuzeigen. Anders als bei quantitativen Studien steht dabei nicht die Häufigkeit der Ausprägungen eines Phänomens im Mittelpunkt, und anders als bei Untersuchungen, die auf theoretische Verallgemeinerbarkeit ausgerichtet sind, geht es auch nicht um die Identifikation von Bedingungsfaktoren, sondern um die Beschreibung der Variationen des Phänomens selbst. Dabei wird in der Regel eine heterogene, auf maximale Variation ausgerichtete Strategie der Fallauswahl realisiert (s. Abschn. 3.2.2).
2.3
Die Frage der Stichprobengröße: Wie viele Fälle sind genug?
Zur Frage der angemessenen Fallzahl in der qualitativen Forschung finden sich in der Literatur die unterschiedlichsten Positionen. So argumentieren die einen, dass die Stichprobengröße in der qualitativen Forschung nicht von Bedeutung sei, dass es vielmehr auf die Auswahl von Fällen ankomme, die eine Beantwortung der Fragestellung erlauben (z. B. Crouch und McKenzie 2006; Patton 2015; Schreier 2013). Andere halten dagegen, dass die Fallanzahl auch in der qualitativen Forschung durchaus eine Rolle spiele (z. B. Onwuegbuzie und Leech 2005; Sandelowski 1995). Entsprechend gehen auch die Meinungen darüber auseinander, ob Empfehlungen im Hinblick auf eine optimale Stichprobengröße sinnvoll sind. Einige Autorinnen und Autoren haben entsprechende Empfehlungen vorgelegt (z. B. Dworkin 2012; im Überblick Mason 2010; Guetterman 2015), wobei für Fallstudien und Arbeiten in der phänomenologischen Tradition geringere Stichprobengrößen angesetzt werden als für eine Studie in der Tradition der Grounded-Theory-Methodologie (z. B. Creswell und Poth 2017; Morse 1995). Andere halten dagegen, dass die Festlegung auf eine bestimmte Stichprobengröße vor Untersuchungsbeginn dem Verständnis qualitativer Sozialforschung als emergentem Prozess widerspreche, der eine iterative Vorgehensweise bei der Fallauswahl in Verbindung mit einer sukzessiven Anpassung der Stichprobengröße erfordere (z. B. Mason 2010; Higginbottom 2004; Palinkas et al. 2013). Die Antworten auf die Frage „Wie viele Fälle sind genug?“ reichen somit von der Angabe konkreter Zahlen bis zu „Es kommt darauf an.“ Worauf kommt es aber an? Baker und Edwards haben 2012 eine Befragung von 14 Expert/innen und fünf „Neulingen“ zur Frage der optimalen Fallzahl in der qualitativen Forschung durchgeführt, in der eine Vielzahl solcher Einflussfaktoren
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genannt werden (s. auch Ritchie et al. 2014; zusammenfassend Schreier 2017, Abschn. 3.2.1). So kommt beispielsweise der Breite der Forschungsfrage und der angezielten Verallgemeinerung eine wichtige Rolle zu: So äußert Charmaz in dieser Befragung, dass eher spezifische, „lokal“ orientierte Forschungsfragen mit einer geringeren Fallzahl auskämen als breiter und analytisch angelegte Fragestellungen. Adler und Adler führen an, dass sich auch die Heterogenität der Grundgesamtheit auf die optimale Fallzahl auswirke, und zwar dahingehend, dass mit der Heterogenität der Grundgesamtheit die optimale Fallzahl zunimmt (s. auch Palinkas et al. 2013). Weiterhin existieren innerhalb der verschiedenen qualitativen Forschungsansätze unterschiedliche Anforderungen an die optimale Fallzahl. So weist Flick außerdem darauf hin, dass neben solchen untersuchungsinternen Faktoren auch externe Faktoren eine Rolle spielen, wie etwa das verfügbare Budget oder der Zeitrahmen. Verzichtet man auf eine Vorab-Festlegung einer optimalen Stichprobengröße, dann stellt sich die Frage, wann im Untersuchungsverlauf „genügend“ Fälle einbezogen wurden. Bei einer emergenten Entwicklung der optimalen Fallzahl im Untersuchungsverlauf wird meist das Kriterium der Sättigung zugrunde gelegt. Dieses hat seinen Ursprung in der Grounded-Theory-Methodologie im Sinne der theoretischen Sättigung von Kategorien, wurde in der Folge jedoch ausgeweitet zu einem allgemeineren Kriterium der Redundanz von Information (z. B. Bowen 2008; Guest et al. 2006; zum Konzept der theoretischen Sättigung im Überblick Strübing 2019). Nach diesem allgemeineren Sättigungsbegriff können Fallauswahl und Datenerhebung als abgeschlossen gelten, wenn die Einbeziehung weiterer Fälle keine neuen Informationen mehr erbringt. Allerdings wurde die Anwendung des Kriteriums vielfach kritisiert, weil wiederum genaue Kriterien dafür fehlen, wann dies der Fall ist (z. B. Bowen 2008; Francis et al. 2010; O’Reilly und Parker 2012). In einer Untersuchung zum Sättigungsgrad des Kategoriensystems im Rahmen der Auswertung eigener Interviews gelangen Guest et al. (2006) zu dem Schluss, dass dies bereits nach der Analyse von zwölf Interviews der Fall ist, wobei die zentralen MetaThemen bereits nach der Analyse von sechs Interviews entwickelt wurden. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Francis et al. (2010). Sie schlagen vor, eine Ausgangsstichprobengröße festzulegen, nach der erstmals eine Prüfung des Sättigungsgrades der Auswertung erfolgen soll; diese setzen sie bei N=10 an. Außerdem schlagen sie vor, vorab zu spezifizieren, wie viele neue Fälle zur Prüfung des Sättigungsgrades herangezogen werden sollen; als optimale Anzahl in ihrer eigenen Forschung ergeben sich N=3. Beide Autor/innenteams weisen jedoch darauf hin, dass diese Empfehlungen sich speziell auf Interviewstudien in vergleichsweise homogenen Gegenstandsbereichen beziehen. Sättigung erfreut sich zwar in methodologischer Hinsicht großer Beliebtheit als Kriterium für eine emergente Bestimmung der Fallzahl in qualitativen Untersuchungen – es muss jedoch als fraglich gelten, inwieweit es auch in der Forschungspraxis tatsächlich Anwendung findet (McCrae und Purrsell 2016). So konnte Mason (2010) in seiner Analyse der Fallzahl in qualitativen Dissertationen aus fünf verschiedenen methodologischen Traditionen zeigen, dass die Fallzahlen auffallend häufig ein Produkt von fünf darstellten (also beispielsweise 10, 15 oder 20). Dies interpretiert
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er als Hinweis auf die Vorab-Festlegung einer optimalen Fallzahl. In eine ähnliche Richtung weisen die Befunde von Guetterman (2015) zur Fallzahl in qualitativen Studien in den Erziehungs- und Gesundheitswissenschaften. Die Fallzahlen in den analysierten Studien sind im Schnitt höher als die Empfehlungen für optimale Fallzahlen in der einschlägigen Literatur. Zusammen weisen diese Befunde darauf hin, dass qualitative Forscher/innen hinsichtlich der Fallzahl lieber auf der „sicheren Seite“ bleiben und im Zweifelsfalle eher – einer tendenziell quantitativen Forschungslogik folgend? – mehr als weniger Fälle einbeziehen. Als Mittelweg zwischen einer emergenten Vorgehensweise einerseits und der Arbeit mit festgelegten Stichprobengrößen, wie sie gegenüber Promotionsausschüssen, Drittmittelgebern usw. häufig erforderlich sind, schlägt Patton (2015, Modul 40) die Arbeit mit minimalen Stichprobengrößen vor. Vorab wird entsprechend eine minimale Fallzahl benannt, die im Untersuchungsverlauf weiter angepasst wird.
3
Verfahren der Fallauswahl in der qualitativen Forschung
3.1
Systematisierungen von Verfahren der Fallauswahl
Im vorausgehenden Abschnitt wurden bereits einige Verfahren der bewussten Stichprobenziehung benannt. Die Vielfalt der verschiedenen Verfahren und Bezeichnungen ist verwirrend – nicht zuletzt, weil einige Bezeichnungen sich auf eine bestimmte Vorgehensweise bei der Fallauswahl beziehen, andere dagegen auf die Art und Weise, wie die Stichprobe zusammengesetzt ist bzw. wie die Fälle innerhalb der Stichprobe sich zueinander verhalten (zu den Verfahren im Überblick: Patton 2015, Kap. 5). Unter dem Gesichtspunkt der Vorgehensweise lassen sich flexible und fixe Arten der Fallauswahl unterscheiden (Flick 2019, Kap. 12; Schreier 2013; in anderer Terminologie auch Akremi 2019). Flexible Arten der Fallauswahl zeichnen sich dadurch aus, dass die Kriterien für die Zusammensetzung der Stichprobe erst sukzessive im Untersuchungsverlauf erarbeitet werden (s. auch den vorausgehenden Abschn. 2.3). Hierzu zählen beispielsweise die theoretische Stichprobenziehung (theoretical sampling), die analytische Induktion oder auch das Schneeballverfahren (auch: chain sampling). Beim Schneeballverfahren werden Personen, die das Kriterium für die Aufnahme in die Stichprobe erfüllen, gebeten, weitere Personen zu benennen, die das Kriterium ebenfalls erfüllen. Diese Vorgehensweise eignet sich besonders bei Personenkreisen, zu denen Forschende nur schwer Zugang erhalten. Bei fixen Formen der Stichprobenziehung werden die Kriterien für die Fallauswahl bereits zu Untersuchungsbeginn auf der Grundlage von Vorwissen über den Untersuchungsgegenstand festgelegt. Dazu zählen beispielsweise die Fallauswahl gemäß einem qualitativen Stichprobenplan sowie die Auswahl bestimmter Falltypen (typische, extreme, intensive, kritische usw. Fälle). Diese beiden Vorgehensweisen lassen sich auch derart kombinieren, dass die Fallauswahl zunächst auf der Grundlage vorab spezifizierter Kriterien erfolgt. Wenn sich im Untersuchungsverlauf jedoch
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andere oder zusätzliche Kriterien als relevant erweisen, wird die Stichprobe entsprechend erweitert oder ein vorab festgelegtes wird durch ein neues Kriterium ersetzt. Unter dem Gesichtspunkt der Zusammensetzung ist zwischen homogenen und heterogenen Stichproben zu unterscheiden (Ritchie et al. 2014; Schreier 2011). Homogene Stichproben setzen sich aus gleichartigen Fällen zusammen; sie eignen sich besonders, um ein Phänomen im Detail zu explorieren und zu beschreiben. Homogene Stichproben lassen sich mittels Schneeballverfahren erzielen oder durch Auswahl von Fällen, die einander möglichst ähnlich sein sollten (mehrere typische Fälle, mehrere intensive Fälle usw.). Die Einzelfallstudie lässt sich als Sonderfall der homogenen Stichprobe rekonstruieren, die eben nur aus einem einzigen Fall besteht. Heterogene Stichproben setzen sich entsprechend aus unterschiedlichen Fällen zusammen; sie eignen sich besonders zur Erstellung von Theorien und zur Beschreibung der Variabilität eines Phänomens. Geeignete Verfahren zur Generierung heterogener Stichproben sind unter anderem die theoretische Stichprobenziehung, die Fallauswahl gemäß einem qualitativen Stichprobenplan, die analytische Induktion, die maximale strukturelle Variation oder die Auswahl kontrastierender Fälle. Andere gängige Systematisierungen von Strategien qualitativer Fallauswahl orientieren sich an den Zielsetzungen. So unterscheiden Teddlie und Yu (2007) je nach Zielsetzung vier Formen der absichtsvollen Stichprobenziehung; Patton (2015, Kap. 5) unterscheidet acht verschiedene Formen. Diese Klassifikationen sind allerdings insofern nur bedingt weiterführend, als sich nur zwei der Zielsetzungen (Erfassung bestimmter Arten von Fällen und sequenziell-emergentes Sampling) in beiden Typologien wiederfinden.
3.2
Ausgewählte Verfahren der Fallauswahl in der qualitativen Forschung
Im Folgenden werden einige besonders einschlägige Verfahren der Fallauswahl genauer beschrieben und anhand von Beispielen erläutert.
3.2.1 Theoretische Stichprobenziehung Das Verfahren der theoretischen Stichprobenziehung bzw. des theoretical sampling wurde im Kontext der Grounded-Theory-Methodologie von Glaser und Strauss (1967) entwickelt. Die gesamte Theorieentwicklung vollzieht sich in einem Prozess des konstanten Vergleichs; entsprechend verläuft auch die Fallauswahl ergebnisoffen: Fälle werden nach dem Kriterium ihrer konzeptuellen Relevanz für die entstehende Theorie ausgewählt, worin diese Relevanz im Einzelnen besteht, zeigt sich jedoch erst im Untersuchungsverlauf (Breuer et al. 2018, Kap. 6.5; Emmel 2013, Kap. 1; Mey und Mruck 2009; Strübing 2019). Die Auswahl erfolgt dabei so, dass die Fälle einander hinsichtlich potenziell relevanter Faktoren teils ähnlich sind, sich teils aber gerade unterscheiden. Die Fallauswahl folgt somit dem Prinzip der Replikation, wobei die Auswahl einander ähnlicher Fälle sich als Form der direkten, die Auswahl unterschiedlicher Fälle als Form der systematischen Replikation rekonstruieren lässt (zur Rolle der Replikation bei der theoretischen Stichprobenziehung
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s. Glaser und Strauss 2007 [1965], Appendix; zu den Begriffen der direkten und der systematischen Replikation s. Hilliard 1993; Yin 2018, Kap. 2). Die Fallauswahl wird dann abgebrochen, wenn die Einbeziehung neuer Fälle keine weitere Modifikation der Theorie mehr erfordert; die Theorie gilt dann als gesättigt (s. Abschn. 2.3 zum Begriff der theoretischen Sättigung). In der Praxis ist ein solches vollständig ergebnisoffenes Verfahren der Minimierung und Maximierung von Kontrasten bei der Fallauswahl jedoch oft nur schwer zu realisieren, weil dies eine vergleichsweise große Stichprobe erfordern würde. In ihrer Untersuchung zur Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit von Therapeutinnen und Therapeuten bei ihrer Tätigkeit realisierten Tölle und Stratkötter (1996) beispielsweise – aus solchen praktischen Erwägungen heraus – eine leicht reduzierte Variante der theoretischen Stichprobenziehung (Stratkötter 1996). Im Untersuchungsverlauf erwiesen sich die folgenden Faktoren als potenziell theoretisch bedeutsam: Alter, Berufserfahrung, Familienstand, institutionelle Bedingtheit der Arbeit und Art der therapeutischen Ausbildung; der Faktor „Geschlecht“ ergibt sich aus der Fragestellung. Im Hinblick auf eine Kontrastierung erfolgte die Fallauswahl sukzessive im Untersuchungsverlauf so, dass Personen ausgewählt wurden, die sich hinsichtlich der ersten Gruppe von Faktoren (Alter, Berufserfahrung usw.) möglichst stark voneinander unterschieden. Im Hinblick auf den Vergleich ähnlicher Fälle wurde die Fallauswahl zunächst wie beschrieben für die Gruppe der Therapeuten durchgeführt; anschließend wurden Therapeutinnen so ausgewählt, dass sie den bereits einbezogenen Therapeuten in ihrer Ausprägung auf den verschiedenen Faktoren möglichst vergleichbar waren. Innerhalb der Gruppe der Therapeuten bzw. der Therapeutinnen waren die Fälle somit untereinander verschieden; zwischen den beiden Gruppen waren ein Therapeut und eine Therapeutin einander dagegen maximal ähnlich. Allerdings wurden, eben aus praktischen Erwägungen heraus, nicht alle Faktoren bei der Fallauswahl einbezogen, die sich im Untersuchungsverlauf als potenziell relevant erwiesen. Die Einbeziehung der sexuellen Orientierung der Teilnehmenden hätte beispielsweise eine so umfassende Erweiterung der Stichprobe zur Folge gehabt, dass dieser Faktor nicht berücksichtigt wurde. Diese Entscheidung verdeutlicht auch, dass das Abbruchkriterium bei der theoretischen Stichprobenziehung kein absolutes ist, wie es das Kriterium der theoretischen Sättigung nahe zu legen scheint, sondern ein Kriterium, das im jeweiligen Untersuchungskontext nach praktischen Erwägungen zu handhaben ist.
3.2.2 Der qualitative Stichprobenplan Wie die theoretische Stichprobenziehung ist auch die Fallauswahl auf der Grundlage eines qualitativen Stichprobenplans auf Heterogenität der Stichprobe ausgerichtet: Es soll möglichst viel Variabilität im Gegenstandsbereich erfasst werden (im Überblick: Kelle und Kluge 2010, Kap. 3; Schreier 2011). Während die Fallauswahl bei der theoretischen Stichprobenziehung jedoch flexibel und ergebnisoffen erfolgt, handelt es sich beim qualitativen Stichprobenplan um ein Verfahren der Fallauswahl nach vorher festgelegten Kriterien: In einem ersten Schritt wird (vor Untersuchungsbeginn) bestimmt, welche Faktoren voraussichtlich mit dem interessierenden Phänomen in Zusammenhang stehen, welche Faktoren also zu einer Unterschiedlichkeit im Phänomenbereich beitragen. In einem zweiten Schritt wird entschieden, welche
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Ausprägungen dieser Faktoren in dem Stichprobenplan berücksichtigt werden sollen. Drittens werden die Faktoren und ihre Ausprägungen in einer Kreuztabelle kombiniert; um den Überblick nicht zu verlieren, empfiehlt es sich, dabei nicht über drei Dimensionen hinauszugehen. Viertens ist zu entscheiden, mit wie vielen Fällen jede Zelle (d. h. jede Kombination von Faktorausprägungen) besetzt werden soll. Da die Anzahl möglicher Faktorkombinationen mit der Anzahl der Faktoren und ihrer Ausprägungen schnell ansteigt, wird man sich in der Praxis häufig auf einen Fall pro Zelle beschränken. Diese Beschränkung verweist auf einen weiteren Unterschied zwischen dem qualitativen Stichprobenplan und der theoretischen Stichprobenziehung: Bei der theoretischen Stichprobenziehung werden gezielt sowohl ähnliche als auch unterschiedliche Fälle einbezogen; der qualitative Stichprobenplan ist dagegen auf die Untersuchung unterschiedlicher Fälle ausgerichtet. Das Vorgehen bei der Erstellung eines qualitativen Stichprobenplans soll hier anhand einer eigenen Untersuchung verdeutlicht werden (Schreier et al. 2008): Ziel war es, Entscheidungen und Entscheidungskriterien bei der Verteilung von Mitteln im Gesundheitswesen, der sog. Priorisierung, zu explorieren, wobei eine möglichst große Variabilität von Positionen einbezogen werden sollte. Die Fallauswahl vollzog sich in zwei Schritten. In einem ersten Schritt wurden zunächst sechs Stakeholdergruppen ausgewählt, von denen anzunehmen war, dass sie sich hinsichtlich ihrer Interessen bei der Priorisierung medizinischer Leistungen stark unterscheiden: gesunde Personen, erkrankte Personen, Ärztinnen bzw. Ärzte, medizinisches Pflegepersonal, Vertreter/ innen der Gesetzlichen Krankenkassen und Politiker/innen. In einem zweiten Schritt wurden auf der Grundlage einer Literaturrecherche pro Stakeholdergruppe (je unterschiedliche) Faktoren identifiziert, die sich auf die Ansichten der Personen dieser Gruppe zu Priorisierung im Gesundheitssektor auswirken könnten und anhand ihrer Ausprägungen zu einem qualitativen Stichprobenplan kombiniert (s. Tab. 1; zur Auswahl der Kriterien s. ausführlich Schreier et al. 2008). Für die Stakeholdergruppe der erkrankten Personen waren dies beispielsweise die folgenden Kriterien: Alter (18–30, 31–62, über 62 Jahre), Schwere der Erkrankung (leicht/schwer; Einordnung unter Rücksprache mit Kolleginnen und Kollegen aus der Medizin), höchster erreichter Bildungsstand (ohne Berufsabschluss, mit Berufsausbildung, mit Hochschulausbildung) sowie Herkunft (Ost – neue Bundesländer; West – alte Bundesländer). Das Beispiel verdeutlicht zugleich, dass nicht alle Zellen eines qualitativen Stichprobenplans besetzt sein müssen. Qualitative Stichprobenpläne bieten sich als Verfahren der Fallauswahl an, wenn über den Gegenstand bereits hinreichende Erkenntnisse vorliegen, um eine solche Vorab-Identifikation relevanter Faktoren vornehmen zu können. Falls sich im Untersuchungsverlauf weitere Faktoren als (mindestens) ebenso relevant erweisen, kann der Plan während der Untersuchung auch modifiziert werden (für Beispiele s. Johnson 1991). Das größte Problem bei der praktischen Umsetzung ergibt sich – wie bei allen fixen Verfahren der Fallauswahl – daraus, dass über die Fälle vergleichsweise viel Information verfügbar sein muss, um über deren Einbeziehung entscheiden zu können (Schreier 2011).
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Tab. 1 Qualitativer Stichprobenplan für die Stakeholdergruppe „Erkrankte Personen“ – Kriterien und Ausprägungen Stakeholdergruppe: Erkrankte Bevölkerung Schwere der Alter Erkrankung 18–30 leicht Jahre schwer 31–62 leicht Jahre schwer >62 leicht Jahre schwer Anzahl a
Höchster erreichter Bildungsstatus Ohne Mit Berufsabschluss Berufsausbildung O Wa O W W O O W 4 4
Anzahl: 12 Mit Hochschulausbildung Anzahl 2 W 2 O 2 O 2 W 2 2 4 12
Legende: „W“: West, „O“: Ost
3.2.3 Gezielte Auswahl bestimmter Arten von Fällen „Gezielte Auswahl bestimmter Arten von Fällen“ ist eine Sammelbezeichnung für die Auswahl von (unter anderem) typischen, kritischen, abweichenden, extremen und anderen Fällen (Patton 2015, Module 31 und 32). Eine solche gezielte Auswahl hat vor allem in der Klinischen Psychologie im weiteren und in der Psychotherapieforschung im engeren Sinn mit ihrem Interesse am „abweichenden Fall“ eine lange Tradition (zur Fallstudie in der Psychologie im Überblick: Bromley 1986; in der Klinischen Psychologie und Psychotherapieforschung: Grawe 1988; in der Psychoanalyse: Frommer und Langenbach 1998; in der Biografieforschung: Fisseni 1998); eingangs wurde auch bereits auf die gezielte Fallauswahl bei Freud hingewiesen. Angesichts der Vielzahl von Fallstudien in der (Klinischen) Psychologie können hier nur einige wenige Arten kurz verdeutlicht werden, ohne damit einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Während die Auswahl von typischen, extremen oder abweichenden Fällen häufig im Rahmen einer Einzelfallstudie realisiert wird, werden bei der kriteriengeleiteten Fallauswahl meist mehrere Fälle einbezogen. Die Auswahlkriterien ergeben sich aus dem Untersuchungsgegenstand und sind so vergleichsweise eng gefasst, dass nur wenige Fälle in Frage kommen. In einer multiplen Fallstudie zu psychosozialen Folgen schwerer Kopfverletzungen bei Heranwachsenden von Bergland und Thomas (1991) war das Kriterium beispielsweise durch die Fragestellung vorgegeben. Es wurden zunächst sämtliche Jugendliche mit schweren Kopfverletzungen in einem ausgewählten Zeitraum und Krankenhaus in den USA mit einem Mindestalter von 18 Jahren zum Zeitpunkt der Untersuchungsdurchführung kontaktiert; im nächsten Schritt wurden alle zwölf Jugendlichen und deren Angehörige in die Untersuchung einbezogen, die zu einer Teilnahme bereit waren. Dieses Verfahren der gezielten Fallauswahl ähnelt der theoretischen Stichprobenziehung: Bei beiden Verfahren ist die theoretische Relevanz für die Einbeziehung ausschlaggebend. Bei der theoretischen Stichprobenziehung ergeben sich diese Kriterien jedoch erst im Untersuchungsverlauf, während sie bei
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der kriteriengeleiteten Fallauswahl vor Untersuchungsbeginn festgelegt werden. Die kriteriengeleitet ausgewählten Fälle bilden eine homogene Stichprobe. Grundgedanke der kritischen Fallstudie ist es, einen Fall so auszuwählen, dass die Schlussfolgerungen, die für diesen Fall gelten, dies für andere Fälle umso mehr tun; kritische Fälle eignen sich somit auch zum Testen von Hypothesen. In einer Einzelfallstudie stellt Hofmann (2007) beispielsweise den Fall von Paul dar, eines jungen Mannes mit vermeidender Persönlichkeitsstörung. Bei Paul wies diese Störung eine stärkere Ausprägung auf, als sie je bei anderen Patient/innen in der Klinik beobachtet worden war – insofern handelt es sich bei Paul um einen Extremfall. Nach einem Jahr kombinierter Verhaltens- und Kognitiver Therapie konnte jedoch eine erhebliche Besserung erzielt werden. In dieser Hinsicht stellt Paul zugleich einen kritischen Fall dar: Wenn die Therapieform bei Paul zu einer Verbesserung führt, der die Störung in außergewöhnlich hohem Maß aufweist, dann ist anzunehmen, dass der Therapieplan bei Personen, bei denen die Störung schwächer ausgeprägt ist, umso schneller zu einer Verbesserung führt. Dieses Beispiel verdeutlicht zugleich, dass die verschiedenen Arten von Fällen einander nicht wechselseitig ausschließen. Abweichende sind solche Fälle, die außerhalb der „Normalität“ liegen – wie auch immer „Normalität“ im Einzelnen definiert ist (etwa in der Kriminal- und Rechtspsychologie; im Überblick Kühne 1998). Um eine abweichende Fallstudie handelt es sich beispielsweise bei der umfassenden psychografischen Analyse der Persönlichkeit, Motivstruktur und des Führungsstils von Saddam Hussein in Post (2003). Im Zusammenhang mit der Darstellung verschiedener Strategien der Fallauswahl sollte allerdings auch nicht vergessen werden, dass die Forschungspraxis und die Situation im Feld die besten Auswahlstrategien zu Fall bringen kann: Ausgewählte Fälle sind zu einer Untersuchungsteilnahme nicht bereit, ganze Personengruppen sind schwer erreichbar u. ä. In einer solchen Situation bleibt nur, was Groger et al. (1997) treffend als „scrounging sampling“ bezeichnen – was ungefähr einem „sich bei der Fallauswahl Durchwursteln“ entspricht. „Sich Durchwursteln“ mag den methodologischen Zielvorstellungen nicht entsprechen, aber es ist im Zweifelsfall immer noch besser als der gänzliche Verzicht auf die Datenerhebung – solange es mit einer methodologischen Reflexion der eigenen Beschränkungen und des resultierenden eingeschränkten Geltungsanspruchs einhergeht (für ein methodologisch ausgesprochen reflektiertes Beispiel s. Rapley 2013).
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Lange Zeit wurden Fragen der Fallauswahl in der qualitativen Sozialforschung in der einschlägigen Methodenliteratur eher vernachlässigt (s. oben Abschn. 1). Dies gilt heute nicht mehr im selben Maß: Das Thema wird in der Methodenliteratur aufgegriffen und zunehmend in Lehrbüchern qualitativer Sozialforschung behandelt, wenn die Literatur insgesamt auch noch eher breit gestreut und wenig integriert ist. Dies gilt insbesondere für Systematisierungen von Strategien qualitativer Fallauswahl, die nach unterschiedlichsten Kriterien erfolgen und eine teilweise kaum mehr überschaubare Vielzahl konkreter Vorgehensvarianten benennen (s. Abschn. 1).
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Die Auswahl einer Strategie der bewussten Stichprobenziehung sollte sich in erster Linie an der Zielsetzung der Untersuchung orientieren bzw. daran, ob eine Verallgemeinerung der Ergebnisse angestrebt wird und um welche Form der Verallgemeinerung es sich dabei handelt (Marshall 1996; Patton 2015, Modul 40). Eine empirische Verallgemeinerung ist auf der Grundlage qualitativer Forschung in der Regel nicht möglich (Mason 2017, Kap. 3; Patton 2015, Kap. 5; Schreier 2013; zu Ausnahmen s. oben Abschn. 2.2) In der methodologischen Literatur sind jedoch einige Alternativkonzepte zum Begriff der empirisch-statistischen Verallgemeinerung entwickelt worden (im Überblick Flick 2007, Kap. 7; Maxwell und Chmiel 2014; Mayring 2007; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2013, Kap. 6; Seale 1999, Kap. 8). Das vermutlich bekannteste dieser Alternativkonzepte ist das der analytischen bzw. theoretischen Verallgemeinerung, wie es etwa der Grounded-Theory-Methodologie zugrunde liegt (s. ausführlich Abschn. 3.2.1). Dabei bezeichnet theoretische Verallgemeinerung eben nicht die Verallgemeinerung auf ein empirisches Kollektiv, sondern auf eine Theorie. Voraussetzung dafür ist es, ein Phänomen in all seinen Manifestationen erfasst zu haben, um diese verschiedenen Manifestationen in einer Theorie gemeinsam mit anderen Faktoren abzubilden, die mit diesen unterschiedlichen Ausprägungen in Zusammenhang stehen. Allerdings wird auch kritisch diskutiert, ob das Konzept der theoretischen Verallgemeinerung tatsächlich eine Alternative zum Begriff der empirischstatistischen Verallgemeinerung darstellt, oder zu diesem lediglich komplementär ist (Gomm et al. 2000). Eine weitere Alternative zur empirisch-statistischen Verallgemeinerung besteht darin, durch den Vergleich mehrerer Fälle das Allgemeine im Individuellen aufzuzeigen (s. Abschn. 2.2). In diesem Zusammenhang ist auch von der Repräsentanz der Stichprobe die Rede: Repräsentanz liegt eben in dem Maß vor, in dem es gelingt, das Typische im Individuellen zu erfassen (Hilliard 1993; vgl. auch den Begriff der inhaltlichen Repräsentanz bei Merkens 2005 sowie das Konzept des case law bei Bromley 1986, S. 1–3). Weitere Alternativkonzepte können hier lediglich kurz benannt werden. Cronbach betonte bereits 1975 die Kontextgebundenheit sozialwissenschaftlicher Forschung und zog daraus die Schlussfolgerung, dass nicht Universalaussagen das Ziel sozialwissenschaftlicher Forschung sein können, sondern je kontextspezifische Arbeitshypothesen. Lincoln und Guba (2008) entwickelten vor diesem Hintergrund das Konzept der Übertragbarkeit (transferability; ähnlich auch das Konzept der naturalistischen Verallgemeinerung von Stake 1980). Danach liegt es in der Verantwortung der Forschenden, möglichst „dichte Beschreibungen“ (Geertz 2009 [1983]) der untersuchten Fälle zu generieren; die Entscheidung über die Übertragbarkeit dieser auf andere Fälle und Situationen liegt jedoch bei den Rezipient/innen der Studie. Die Bildung von Idealtypen stellt eine weitere Alternative zum Konzept der empirischen Verallgemeinerung in der qualitativen Sozialforschung dar (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2013, Kap. 6). Es existieren also durchaus Alternativen zur empirisch-statistischen Verallgemeinerung. Allerdings liegt es bei den qualitativ Forschenden, diese Alternativkonzepte für sich nutzbar zu machen, indem sie die Art der angezielten Verallgemeinerung
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explizit benennen und sich bei ihrer Fallauswahl daran orientieren. Damit ist zugleich eine wesentliche Perspektive der Fallauswahl in der qualitativen Sozialforschung benannt, nämlich die vermehrte Berücksichtigung der Passung von alternativen Konzepten der Verallgemeinerung und Strategien der Fallauswahl. Als zweite Perspektive ist hier die empirische Untersuchung der Vorgehensweise qualitativ Forschender bei der Fallauswahl zu nennen. Entsprechende Untersuchungen gewinnen derzeit immer mehr an Bedeutung und vermitteln einen Eindruck davon, wie sich das tatsächliche Vorgehen qualitativ Forschender zu den methodologischen Vorgaben und Empfehlungen verhält (Schreier 2017; für Beispiele s. auch Gentles et al. 2015; McCrae und Purssell 2016). Onwuegbuzie und Leech (2010) analysierten beispielsweise sämtliche qualitativ-empirischen Studien aus dem Journal „Qualitative Report“ daraufhin, ob und in welcher Weise die Autor/innen eine Verallgemeinerung ihrer Ergebnisse vornahmen. In etwa einem Drittel aller empirischen Arbeiten fand eine empirisch-statistische Form der Verallgemeinerung statt (meist ohne Anwendung inferenzstatistischer Verfahren), die jedoch in der Mehrzahl der Fälle durch die Art der Stichprobenziehung nicht hinreichend begründet und damit ungerechtfertigt war. An anderer Stelle weisen Onwegbuzie und Leech außerdem darauf hin, dass Forschende auch bei der Untersuchung eines Einzelfalls von den erhobenen Daten auf das Gesamt des Falles schließen (Onwegbuzie und Leech 2005, 2007). Auch Guetterman (2015) und Mason (2010) fanden in ihren Untersuchungen der Fallzahl in qualitativen Studien Abweichungen von den methodologischen Empfehlungen, sei es hinsichtlich gerader Fallzahlen (Mason 2010) oder hinsichtlich eines ‚Oversampling‘ (Guetterman 2015). In eine andere Richtung weist die Studie von Guest et al. (2006) zu der Frage, wie viele Fälle benötigt werden, um einen hinreichenden Grad an thematischer Sättigung bei der Analyse von Interviewdaten zu erzielen. Studien dieser Art sind besonders weiterführend, wenn es darum geht, abstrakte methodologische Konzepte (wie etwa das der Sättigung) mit methodischem Leben zu füllen. Nicht zuletzt erhalten qualitativ Forschende dadurch auch Hinweise zum konkreten Vorgehen – wobei allerdings die Relation zwischen dem Sein des Forschungshandelns und dem methodologischen Sollen kritisch zu reflektieren ist.
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Qualitatives Experiment Thomas Burkart
Inhalt 1 Das qualitative Experiment und sein Verhältnis zu anderen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Entstehungsgeschichte des qualitativen Experiments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Methodologische Prinzipien und Techniken des qualitativen Experiments . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Aktuelle qualitativ experimentelle Arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Das qualitative Experiment ist geeignet, um die Strukturen eines Forschungsgegenstands zu erforschen. Nach einer Abgrenzung vom quantitativen Experiment und anderen Formen des Experiments wird seine Geschichte samt der produktiven Anwendung in der Psychologie vor dem 2. Weltkrieg geschildert. Die Methodologie mit den Prinzipien und Techniken des qualitativen Experiments werden beschrieben und es wird eine Übersicht über qualitative Experimente in den letzten 25 Jahren gegeben. Schlüsselwörter
Qualitatives Experiment · Heuristische Forschungsmethode · Exploratives Experiment · Gedankenexperiment · Experimentelle Techniken
T. Burkart (*) Praxis für Psychotherapie, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_21
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T. Burkart
1
Das qualitative Experiment und sein Verhältnis zu anderen Verfahren
Das qualitative Experiment, das gut dazu geeignet ist, Strukturen eines Forschungsgegenstands zu explorieren, wird selten eingesetzt. Dies war nicht immer so. Das Verfahren spielte in der Würzburger Schule, der Gestaltpsychologie und der Entwicklungspsychologie Jean Piagets eine hervorragende Rolle. Gerhard Kleining (1986), der das in Vergessenheit geratene Verfahren wiederentdeckt, expliziert und optimiert hat, bestimmt das qualitative Experiment als den „nach wissenschaftlichen Regeln vorgenommene[n] Eingriff in einen (sozialen) Gegenstand zur Erforschung seiner Struktur“ (Kleining 1986, S. 724). Es hebt sich durch wissenschaftliche Regeln, die auf Intersubjektivität, Transparenz und Nachprüfbarkeit gerichtet sind, vom Experiment im Alltag ab. Das qualitative Experiment ist von anderen qualitativen Verfahren durch stärker eingreifende Aktivität unterschieden. Dagegen sind die Beobachtung und das Interview mehr rezeptiv. Allerdings ist dieser Unterschied relativ, da alle Methoden – wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung – aktive und rezeptive Elemente enthalten. So erfordert das qualitative Experiment auch ein rezeptives Beobachten der Eingriffe. Eine Variante des qualitativen Experiments ist das Gedankenexperiment, bei dem der Eingriff nicht real, sondern virtuell erfolgt. Es besitzt in den Naturwissenschaften (Mach 1991 [1905]) und der Philosophie eine große Tradition (s. Gedankenexperiment 2015). Ähnlichkeiten hat das qualitative Experiment mit dem Ex-post-facto-Experiment von Stuart F. Chapin (1947), bei dem ein bereits abgelaufener Prozess retrospektiv als Experiment betrachtet wird und mit dem Konzept des Realexperiments (Groß et al. 2005), das durch komplexe Eingriffe gekennzeichnet ist, um einen sozialen oder ökologischen Prozess neuartig zu gestalten. Auch mit der auf Kurt Lewin (1948) zurückgehenden Aktionsforschung, bei der konkrete Probleme aus der Praxis gemeinsam mit den Betroffenen untersucht und mit Interventionen verändert werden, besitzt das qualitative Experiment die Gemeinsamkeit des Eingriffs. Das qualitative ist vom quantitativen Experiment zu unterscheiden, da letzteres eine oft kausal verstandene Hypothese überprüft, Wiederholbarkeit fordert und gewöhnlich zur Kontrolle der Untersuchungsbedingungen als Laborexperiment durchgeführt wird. Dafür werden die unabhängigen und abhängigen Variablen operationalisiert. Der experimentelle Eingriff erfolgt über eine Veränderung der unabhängigen Variable(n), während die übrigen Variablen konstant gehalten oder durch Kontrolltechniken wie Parallelisierung oder Randomisierung neutralisiert werden (Hager und Westmann 1983). Dagegen wird das qualitative Experiment normalerweise „natürlich“, alltagsnah durchgeführt. Statt einer Kontrolle der Untersuchungsbedingungen wird ihre Flexibilisierung gefordert (Kleining 1986, S. 725). Auch die Wiederholbarkeit ist keine Bedingung. Sie ist streng genommen selbst unter Laborbedingungen nur bei abstrahierter Betrachtung gegeben, weil Veränderungen der Rahmenbedingungen – z. B. durch gesellschaftlichen Wandel – unberücksichtigt bleiben mit der Folge, dass ein repliziertes Experiment einen Bedeutungswechsel erfahren kann.
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2
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Entstehungsgeschichte des qualitativen Experiments
Das quantitative und qualitative Experiment waren zunächst verbunden. Unterscheidungen zwischen beiden Formen erfolgten erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Kleining 1986, S. 729).
2.1
Das Experiment in der Antike und der beginnenden Neuzeit
Die Entwicklung des Experiments begann in der Antike. Beispiele sind die Experimente der Pythagoräer zur Beziehung von Tonhöhe und Saitenlänge oder Experimente von Galen, der die erste Methodologie entworfen hat: Er forderte, länger Erfahrungen zu sammeln, Medikamente unter verschiedenen Bedingungen zu untersuchen, sie rein zu gebrauchen und alle Umstände zu beachten (Maschewsky 1977, S. 16). In der beginnenden Neuzeit entwickelte sich die experimentelle Methodik mit den Untersuchungen von Galileo Galilei (1564–1642), der auch Forschungsprinzipien formulierte. Sie enthalten die Analyse wesentlicher Eigenschaften und Beziehungen durch Zerlegung und Isolierung der Elemente im Experiment, die Bestimmung von Gesetzen durch Analyse der gefundenen Merkmale unter Nutzung mathematischer Mittel, die Verknüpfung von Analyse und Synthese, Deduktion und Verifikation (Maschewsky 1977, S. 25). René Descartes (1596–1650) systematisierte in seiner Erkenntnistheorie Galileis Regeln. John Locke (1632–1704) reduzierte Erkenntnis auf systematische Beschreibung. Denis Diderot (1713–1784) vermittelte zwischen dem einseitigen Rationalismus Descartes’ und dem radikalen Empirismus Lockes und forderte, Beobachtung, Experiment und Reflexion mit Hypothesen zu verbinden, die aus der Praxis entwickelt werden sollten (Maschewsky 1977, S. 27). Im 17. Jahrhundert war das Experiment bereits weit verbreitet und führte mit neuen mathematischen Verfahren – wie der Infinitesimalrechnung – zu bedeutenden Entdeckungen, wie z. B. durch Isaac Newton (1642–1727), der u. a. das Gravitationsgesetz, die Bewegungsgesetze, die Zusammensetzung des weißen Lichts und seine Teilcheneigenschaft entdeckte. Das Experiment wurde in dieser Phase sowohl explorativ qualitativ als auch verifizierend quantitativ genutzt. Qualitative Experimente und Gedankenexperimente dienten dazu, extreme Bedingungen und Grenzen zu untersuchen (Mach 1991 [1905], S. 189–200; Kleining 1986, S. 729).
2.2
Die Unterscheidung von quantitativem und qualitativem Experiment
Im 19. Jahrhundert entwickelten sich dann Unterscheidungen zwischen beiden Formen des Experiments mit der Übernahme des quantitativen Experiments in die Psychologie in der Psychophysik von Gustav Theodor Fechner (1801–1887), dem
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Behaviorismus von Iwan Petrowitsch Pawlow (1849–1936), der Erforschung der Intelligenz durch Alfred Binet (1857–1911) und des Gedächtnisses durch Hermann Ebbinghaus (1850–1909) und Georg Elias Müller (1950–1934). Wilhelm Wundt und seine Schüler errichteten psychologische Labors zum experimentellen Studium einfacher psychischer Prozesse bei Individuen [. . .], sie erklärten gleichzeitig sozialwissenschaftliche [. . .] Gegenstände als dem Experiment nicht zugänglich (‚VölkerPsychologie‘). Ihnen wurde die Methode der Beobachtung zugeordnet [. . .]. Diese Verkopplung von Methoden und Gegenständen hat später die Spaltung der Methoden bewirkt. Gleichzeitig reklamierte Wilhelm Dilthey eine eigenständige ‚Geisteswissenschaft‘ gegenüber den Naturwissenschaften und forderte eigene Methoden [. . .]. (Kleining 1986, S. 729)
Dagegen forderte der Physiker Ernst Mach (1991 [1905]), auf den die Beschreibung des qualitativen Experiments zurückgeht, die fächerübergreifende Einheit der Methoden (Kleining 1986, S. 730).
2.3
Das Gedankenexperiment
Mach betonte den Wert des Gedankenexperiments, das einen Ökonomievorteil besitze („unsere Vorstellungen haben wir leichter und bequemer zur Hand, [sic] als die physikalischen Tatsachen“, Mach 1991 [1905], S. 187) und das für alle Disziplinen wichtig sei, da es die Vorbereitung realer Experimente und die Übersicht über die möglichen Fälle erleichtere. Es sei beim Erkennen und Lösen von Widersprüchen in experimentellen Befunden wichtig und trage zur Reduktion von Faktoren bei – einer „Idealisierung“, die allgemeine physikalische Begriffe und Gesetze zu entwickeln helfe. Mach (1991 [1905], S. 192) gibt folgendes Beispiel: „Indem man sich den Bewegungswiderstand eines auf horizontaler Bahn angestoßenen Körpers [. . .] bis zum Verschwinden abnehmend denkt, kommt man zu der Vorstellung des ohne Widerstand gleichförmig bewegten Körpers. In Wirklichkeit kann dieser Fall nicht dargestellt werden.“ In der Naturwissenschaft berühmt ist das Gedankenexperiment zum freien Fall von Giovannni Batista Benedetti (1530–1590), der widerlegte, dass unterschiedlich schwere Körper unterschiedlich schnell fallen. In der theoretischen Physik des 20. Jahrhundert spielten Gedankenexperimente eine wichtige Rolle. Sie wurden beispielsweise von Albert Einstein (1879–1955) – einem Schüler Machs – bei der Entwicklung der Relativitätstheorie genutzt. Ein Beispiel ist die Lichtuhr aus der speziellen Relativitätstheorie, nach der eine von außen beobachtete, bewegte Uhr langsamer läuft. Viel beachtet sind auch philosophische Gedankenexperimente wie das TrolleyProblem von Philippa Foot – ein moralisches Dilemma zur Frage, ob man den Tod einzelner in Kauf nehmen kann, um viele zu retten –, und das Käfer-Gleichnis, mit dem Ludwig Wittgenstein (1889–1951) sich gegen eine Privatsprache wandte, um persönliche psychische Sachverhalte zu benennen.
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2.4
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Die Blütezeit des qualitativen Experiments
Die Blütezeit des qualitativen Experiments in der Psychologie war die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, ehe es durch den Behaviorismus vollständig verdrängt wurde. Zunächst entwickelte sich in der Würzburger Schule als Gegenbewegung zu Wundt ein explorativ-qualitativer Gebrauch des Experiments, um komplexe Denkvorgänge zu untersuchen. So arbeitete Karl Bühler mit vielfältig variierten Aufgaben (wie z. B. „Können wir mit unserem Denken das Wesen des Denkens erfassen?“ oder „Können Sie die Geschwindigkeit eines frei fallenden Körpers berechnen“, Bühler 1999a [1907], S. 163), die die untersuchten Subjekte zunächst still für sich lösen sollten, um dann ihren inneren Prozess dem Forschungsleiter (i. d. F. also Bühler selbst) mitzuteilen. Die Auswertung führte zu wesentlichen Erkenntnissen über das Denken (wie die Unanschaulichkeit von Gedanken, das Aha-Erlebnis). Trotz Wundts heftiger Kritik (Wundt 1907; Bühler 1999b [1908]) wurde das qualitative Experiment auch in der Berliner Gestaltpsychologie aufgegriffen (Vollmers 1992, Kap. II.2), wo es in den Arbeiten von Max Wertheimer (1880–1943), Wolfgang Köhler (1887–1967) und Karl Duncker (1901–1940) zu wichtigen Entdeckungen über die Wahrnehmung (Phi-Phänomen; Gestaltfaktoren Nähe, Gleichheit, Geschlossenheit und gute Kurve; Wertheimer 1912, 1923) und das produktive Denken und Problemlösen führte (Problemlösen als Umstrukturierung, funktionale Gebundenheit; Duncker 1935; Wertheimer 1945). Duncker nutzte in seinen qualitativen Experimenten variierte mathematische und technische Probleme, die die untersuchten Subjekte laut denkend lösen sollten. Köhler (1963 [1921]) erforschte in seinen berühmten Experimenten, die sich durch vielfältige Bedingungsvariationen auszeichneten, die Intelligenz von Schimpansen, indem er sie mit Umwegaufgaben konfrontierte, in denen das Tier eine Frucht nur erreichen konnte, wenn es einen Gegenstand als Instrument nutzte (s. auch Fitzek 2010). Frederic Bartlett (1916, 1932) hat qualitative Experimente zum Wahrnehmen, Vorstellen und Erinnern durchgeführt (Wagoner 2015). Er lehnte die Experimente von Ebbingshaus (1885) ab, der das Gedächtnis mit sinnlosen Silben untersucht hatte, weil reale Stimuli Bedeutung enthalten und beim Erinnern immer auch die Vorerfahrung, der soziale Kontext und der emotionale Bezug eine Rolle spielen. Er ging von einem aktiven, Bedürfnis und interessensgeleiten Subjekt aus. Wie in der Würzburger Schule untersuchte er mentale Prozesse mit alltagsnahen Aufgaben. Bartletts Experimente zeichnen sich durch eine Vielzahl von Variationen aus. Er hat seine Wahrnehmungs- und Vorstellungsexperimente (Bartlett 1916) mit unterschiedlichem Material durchgeführt (abstrakte Figuren und Muster, Darstellungen von konkreten Objekten, von Szenen, mehrdeutige Tintenkleksbilder mit unterschiedlichem Komplexität- oder Detailierungsgrad). Er hat mit verschiedenen Reproduktionsformen gearbeitet (Zeichnung, verbale Mitteilung). Auch in seinen Erinnerungsexperimenten hat er variierte Materialklassen eingesetzt: Bilder, Geschichten und andere Textarten (Märchen, Zeitungsbericht, Kommentare); dabei benutzte er sowohl vertrautes als auch unvertrautes Material, darunter das indianische Märchen „War of
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the Ghosts“, das sich durch narrative Brüche, einem Mangel an Logik, und fremde Elemente auszeichnet, um Grenzen des Verstehens und Erinnerns auszutesten. Auch hier hat er unterschiedliche Reproduktionsbedingungen genutzt (per Zeichnung, verbal, ikonisch mit Zeichen). Er hat mit verschiedenen Zeitspannen bis zur Erinnerung experimentiert und die Erinnerung entweder wiederholt bei einer Person oder wie beim Spiel „Stille Post“ seriell durch verschiedene Personen geprüft. Bartlett erkannte die Bedeutung von Interessen, Werten und Gefühlen – als „attitude“ bezeichnet – und der Vorerfahrung für Wahrnehmen und Vorstellen (Wagoner 2015, Abs. 9 und 25). Seine Experimente führen zur Erkenntnis, dass Erinnern kein reproduktiver, sondern ein rekonstruktiver und konstruktiver Prozess ist (Bartlett 1932, Kap. X, part 7), in dem das erinnerte Material auf der Basis von Attitüden und Schemata, die die Erfahrungen des Subjekts samt seiner kulturellen Verankerung spiegeln, produktiv bearbeitet wird. Im Experiment „War of the Ghosts“ führte dies dazu, dass die fremde Geschichte durch Auslassungen, Vereinfachungen, Transformationen und Einfügung von sinnvollen Erklärungen („rationalization“) produktiv verändert erinnert wurde. Auch in der klassischen Wiener Entwicklungspsychologie um Charlotte Bühler (1991 [1922]) und in der Entwicklungspsychologie Jean Piagets wurde die Methode eingesetzt und führte zu bedeutenden Erkenntnissen (Mey 2010, 2011). Piagets Hauptwerk, das auf einer nahezu täglichen Untersuchung seiner drei Kinder in deren Umgebung von kurz nach der Geburt bis zum Kleinkindalter basiert, verbindet eine vielfältig variierte teilnehmende Beobachtung mit qualitativen Experimenten (Piaget 1975 [1945], 1998 [1937], 2003a [1936]). Seine Experimente nutzten Alltagsobjekte und erweiterten und variierten die natürlichen Interaktionen, um beobachtete Zusammenhänge genauer zu explorieren, ihre Struktur zu überprüfen und ihre Grenzen zu testen (Burkart 2005). In seiner klinischen Methode – einer Kombination von Beobachtung und Befragung zur Erforschung der Weltbilder von Kindern – verwandte Piaget (2003b [1926]) vorsichtig experimentell variierte Fragen an Kinder, um die Gefahr von Suggestionen zu verringern (Burkart 2005, S. 481–484). Er erkannte, dass Kinder in der Vorschulzeit auf offene Fragen mit folgenden Methodenartefakten reagieren: Mir-ist-es Wurstismus – das Kind antwortet gelangweilt irgendetwas; Fabulieren – das Kind antwortet mit einer erfundenen Geschichte, an die es selbst nicht glaubt; suggerierte Überzeugung – das Kind reagiert auf eine suggestive Fragestellung entsprechend der Suggestionsrichtung.
2.5
Die Marginalisierung des qualitativen Experiments und deren Kritik
Während das qualitative Experiment Mitte des 20. Jahrhunderts in der Psychologie bis auf einige wenige Ausnahmen in der Sozialpsychologie – wie beispielsweise das ethisch fragwürdige, 1971 durchgeführte Standford-Prison-Experiment (Haney et al. 1973) – fast vollständig verschwunden war, besaß es in der Ethnomethodologie mit den Krisenexperimenten von Harald Garfinkel (1967) zumindest noch eine margi-
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nale Rolle – hier allerdings weniger explorativ als zur Demonstration bekannter Phänomene. 1977 hat Urie Bronfenbrenner das Verschwinden des heuristischen und die Dominanz des deduktiv-nomologischen, zumeist im Labor durchgeführten Experiments für die Entwicklungspsychologie kritisiert: Viele dieser Experimente [. . .] beinhalten [Situationen], die unvertraut, künstlich und kurzlebig sind; dies ruft ungewöhnliche Verhaltensweisen hervor, die schwer auf andere Settings zu übertragen sind. Aus dieser Perspektive heraus kann bemerkt werden, daß [sic] die gegenwärtige Entwicklungspsychologie zu einem großen Teil die Wissenschaft fremdartigen Verhaltens von Kindern in fremden Situationen mit fremden Erwachsenen in kürzestmöglichen Zeitabschnitten ist. (Bronfenbrenner 1978 [1977], S. 33)
Er forderte das ökologische Experiment, um die wechselseitige Anpassung des sich entwickelnden Subjekts und seiner Umwelt durch Vergleiche von unterschiedlichen Umwelten oder deren Komponenten in echten oder „natürlichen“ Experimenten zu untersuchen, wobei natürliche Experimente eine vorhandene Variation des untersuchten Gegenstandes nutzen. Das ökologische Experiment sei weniger hpyothesentestend als entdeckend und heuristisch bereits zu Beginn eines Forschungsprozesses einzusetzen, weil ein Verständnis von Anpassungsprozessen oft nicht durch bloße Beobachtung möglich sei, sondern Eingriffe erfordere. Während das Schema deduktivnomologischer Untersuchungen oft irreführend eindimensional sei – das Subjekt reagiere auf einen Stimulus des Experimentierenden – erfordere das ökologische Experiment systemische Modelle der Interdependenz von Subjekt und Umwelt. Diese Umwelt konzipierte Bronfenbrenner als verschachtelte dynamische Strukturen von Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosystem. Während das Mikrosystem die Relation zwischen Subjekt und seinen unmittelbaren Settings wie Schule, Familie, Arbeitsplatz meint, enthält das Mesosystem die Lebenswelt eines Subjekts als Ganzes. Das Exosystem beschreibt formelle und informelle Strukturen wie Verwaltung, Arbeitswelt oder Massenmedien, die auf die Mesosyteme einwirken, während das Makrosystem globale Muster einer Kultur oder Subkultur bezeichnet. Ökologische Experimente können auf jede Systemebene bezogen sein. Mikrosystemisch sollten sie, so Bronfenbrenner, die Interdependenz von Subjekten und Strukturen sowie das gesamte System reflektieren, das alle Beteiligten samt der/des Forschenden enthält. Mesosystemische Experimente sollten die Einflüsse und Interaktionen von verschiedenen Settings untersuchen, wobei Übergänge im Lebenslauf wie Rollenwechsel, Reifungsübergänge und Veränderungen wie z. B. Scheidung oder Arbeitsverlust besonders interessant seien. Exosystemische Experimente könnten sich beispielsweise auf Merkmale des Gesundheits- und Wohlfahrtssystems beziehen, während makrosystemische Experimente durch kulturvergleichende Studien oder durch Untersuchung des sozialen Wandels in einer Kultur möglich sind. Bronfenbrenner wies außerdem auf die Möglichkeit des Transformationsexperiments hin, bei dem ein vorhandenes Systems als Ganzes transformiert wird. In der Kultur- und Ganzheitspsychologie um Jaan Valsiner und Rainer Diriwächter (Diriwächter und Valsiner 2008; Valsiner 2007) werden qualitativ-experimentelle
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Methoden diskutiert, wobei auch auf klassische europäische Ansätze und Methoden aus der Ganzheitspsychologie und der Gestaltpsychologie rekurriert wird (Clegg 2009; Diriwächter und Valsiner 2008). Valsiner (2007, S. 370–371) kritisiert mit Bezug auf Vygotsky das quantitativ-nomologische Experiment. Das untersuchte Subjekt erlebe und interpretiere das gesamte, aus komplexen, dynamischen, kulturell bestimmten Strukturen bestehende experimentelle Setting und reagiere nicht nur auf die unabhängigen Variablen. Es setze aktiv Ziele und erkenne Mittel, um in der experimentellen Situation entsprechend der Vorgaben der/des Forschenden zu handeln oder aber sich diesen Vorgaben zu verweigern. Valsiner schlägt eine Art Krisenexperiment vor, um diese Konstruktionsprozesse in der experimentellen Situation zu erfassen. Dabei wird das untersuchte Subjekt zunächst gebeten, in einer bestimmten Richtung zu handeln. Nachdem es eine Zielorientierung aufgebaut hat, wird eine Verständnisblockade eingeführt, um die Zielerreichung zu erschweren: „The person’s action plan is expected to be interrupted, and s/he begins to use new – created or imported – meanings for dealing with the meaning disturbance“ (Valsiner 2007, S. 379). Die inneren Prozesse auf diese Verständnisblockade werden dann untersucht.
3
Methodologische Prinzipien und Techniken des qualitativen Experiments
Wie andere wissenschaftliche Methoden hat auch das qualitative Experiment einen Alltagsbezug. Kinder und auch Tiere erkunden ihre Welt mit kleinen Experimenten. Erwachsene experimentieren im Alltag, um Handlungsmöglichkeiten zu eruieren. Normalerweise verfolgen diese Experimente praktische, persönliche Zwecke. Auch das wissenschaftliche Experiment nutzt den Eingriff, um einen Gegenstand zu erforschen. Es hat aber normalerweise keinen naiven, subjektiven und unsystematischen Charakter. Während sich das quantitative Experiment noch weiter vom Alltagsexperiment entfernt, indem es unter kontrollierten (Labor-)Bedingungen Hypothesen testet, bewahrt das qualitative Experiment die Offenheit und Alltagsnähe des Alltagsexperiments. Kleining (1986) hat das qualitative Experiment in der Methodologie der qualitativen Heuristik verankert. Der Forschungsprozess ist dialogisch bestimmt – durch Fragen, die die Forschungsperson an den Gegenstand richtet und die durch die Befunde beantwortet werden sollen. Auf das qualitative Experiment bezogen heißt dies, dass die Fragen an den Gegenstand in Experimente transformiert werden. Die Antworten (in Form von experimentellen Befunden) und deren Analyse können zu neuen Fragen führen und weitere Experimente nach sich ziehen usw. Es ergibt sich ein adaptives Forschungsdesign, bei dem eine bereits bei ersten vorliegenden Daten begonnene Analyse zur Anpassung der Datenerhebung führen kann. Kleining (1982, 2010) postuliert vier Regeln zum Verhältnis zwischen Forscher/ in und Forschungsgegenstand: 1. Offenheit der Forschenden, die bereit sein sollten, ihr Vorverständnis des Gegenstandes anzupassen, wenn es den Daten widerspricht.
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2. Offenheit des Gegenstandes, der als vorläufig angesehen wird und sich im Verlauf der Forschung verändern kann, wenn Neues entdeckt wird. 3. Maximal strukturelle Variation des Gegenstandes, der von möglichst unterschiedlichen Seiten exploriert werden sollte, um eine einseitige Perspektive zu überwinden. Für qualitatives Experimentieren bedeutet dies, wesentliche, den Gegenstand möglicherweise bestimmende oder konstituierende Faktoren durch Eingriffe strukturell zu variieren. Dazu können die experimentellen Bedingungen selbst gehören. Wünschenswert ist es zudem, die Methode selbst zu variieren. 4. Analyse auf Gemeinsamkeiten: Die experimentell und ergänzt durch andere Methoden gewonnenen Daten werden auf Gemeinsamkeiten hin analysiert. Sie erschließen sich nicht nur über identische oder ähnliche Inhalte, sondern auch über Gegensätze. Ziel der Analyse ist es, eine Struktur zu erkennen, die alle Daten integriert („100 %-Regel“). Aus der dritten Regel folgt die Sample-Strategie – das Extremgruppen-Sampling und nicht die Zufallsauswahl wie im quantitativen Experiment. Maximal variiert werden Faktoren einbezogen, von denen ein Einfluss auf den Gegenstand vermutet wird: „Extremgruppen-Sampling fordert nicht nur, daß [sic] ungewöhnliche, ausgefallene, ‚extreme‘ Situationen untersucht werden, sondern auch, daß [sic] das Besondere, für den Gegenstand charakteristische, mit ihm in der einen oder anderen Weise Verbundene ausfindig gemacht und in das Experiment einbezogen wird“ [. . .] (Kleining 1986, S. 734). Für das qualitative Experiment gelten drei Handlungsstrategien: • Maximierung/Minimierung: Extreme können die Struktur eines Gegenstandes offenbaren, beispielsweise durch Maximierung eines Merkmals bei Minimierung eines anderen: „Etwa bezogen auf Aufwand und Wirkung: mit welchem geringsten Aufwand kann der Forscher ein Maximum an Effekt bei seinem Gegenstand erreichen? Oder: wie kann er ein Maximum an Eingriffen vornehmen und gleichwohl den Gegenstand nur minimal verändern?“ (Kleining 1986, S. 735) • Testen von Grenzen: Die Struktur eines Gegenstandes kann über eine Erkundung seiner Grenzen deutlich werden, „die Bereiche, in denen Struktur in Beliebigkeit, Figur in Grund, Gemeintes in Nicht-Gemeintes, Einfluß [sic] in Wirkungslosigkeit, Sinn in Unsinn umschlägt“ (Kleining 1986, S. 735). • Adaption: Da der Gegenstand nicht zerstört werden darf, müssen sich die experimentellen Techniken ihm flexibel anpassen. Für den Entwurf von qualitativen Experimenten sind die folgenden experimentellen Techniken nützlich (Kleining 1986, S. 736–738; Beispiele wurden aus Burkart 2005, S. 491–492 übernommen): • Separation – Segmentation meint die Teilung des Gegenstandes durch einzelne Trennungen (Separation) oder durch Gliederung des ganzen Gegenstandes (Segmentation). Ein Beispiel wäre das vollständige oder teilweise Verschwindenlassen eines Objekts, wie z. B. eines Spielzeuges, in den Schirmexperimenten,
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die Piaget (1998 [1937]) mit seinen Kindern durchgeführt hat, um die Entwicklung des kindlichen Objektbegriffs zu untersuchen. Kombination: Elemente werden anders als im Gegenstand vorgefunden kombiniert, um seine Struktur zu erforschen. Ein Beispiel wäre die Reaktion von Kleinkindern auf richtig versus falsch konfigurierte Gesichtselemente (Vertauschung von Augen, Ohren, Nase und Mund) in Untersuchungen zur Gesichtswahrnehmung. Reduktion – Abschwächung: Wesentliche Merkmale eines Gegenstandes werden ermittelt, indem Elemente/Funktionen entfernt oder abgeschwächt werden und geprüft wird, ob der Gegenstand bestehen bleibt. Diese Strategie hat Piaget in seinen Schirmexperimenten eingesetzt, wobei er Objekte variiert partiell verdeckt hat. Dies ergab z. B., dass für seine achtmonatige Tochter zwar der Kopf und der Schwanz, nicht jedoch die Füße des Storches für seine Wiedererkennung wichtig waren (Piaget 1998 [1937], S. 37). Adjektion – Intensivierung: Dem Gegenstand wird etwas hinzugefügt, seine Elemente werden intensiviert, um seine Struktur zu erforschen. Diese Technik könnte beispielsweise in Untersuchungen zur Gesichtswahrnehmung genutzt werden, indem Gesichtselemente (Augen, Nase, Mund) variiert vergrößert werden, um ihre Bedeutung für die Gesichtswahrnehmung zu prüfen. Substitution: Gegenstandselemente werden durch andere ersetzt, um ihre strukturelle Bedeutung zu erforschen. Auch diese Technik könnte in der experimentellen Erforschung der Gesichtswahrnehmung genutzt werden, indem in Fotos Gesichtselemente durch gesichtsfremde Elemente (z. B. Mund durch Bauklotz, Augen durch Schnuller) ersetzt werden. Transformation: Der Gegenstand wird transformiert, um seine Struktur zu erforschen. Interessante Transformationen sind Negationen (Gegenteile, Umkehrung, Spiegelbilder). Ein Beispiel sind die Piaget’schen Umschüttversuche (Piaget und Szeminska 1975 [1941], Kap. 1–2), bei denen das Volumen (Menge) von Flüssigkeiten oder Holzperlen scheinbar transformiert wurde, indem sie in unterschiedlich geformte, transparente Gefäße umgegossen und die Kinder nach Änderungen im Volumen (der Menge) gefragt wurden.
Diese experimentellen Techniken lassen sich auch in der Textanalyse einsetzen, um die Struktur und Bedeutung von Texten zu erhellen. Dabei wird gezielt in Texte eingegriffen, um ihre Struktur zu erhellen. Um z. B. die Bedeutung bestimmter Textelemente zu explorieren, können sie gezielt substituiert werden: „Bei Trivialliteratur, aber auch bei schöngeistigen Erzeugnissen erlebt man Überraschungen durch den Ersatz von Personen: Änderung ihres Geschlechts, ihres Alters, ihres Berufs, ihres Charakters, des Handlungsrahmens etc. Bei AlltagsErzählungen kann man Personen, Situationen, Problembereiche, Lösungsmöglichkeiten austauschen“ (Kleining 1986, S. 741). Um die Funktion einer Reihenfolge von Textelemente zu klären, kann man sie anders als im Text vorgefunden kombinieren: „Alles was mit Spannung und Witz, Ironie, Humor zusammenhängt, ist sequenzabhängig, es kann auf diese Weise studiert werden“ (Kleining 1986, S. 741).
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Für das qualitative Experiment lassen sich dieselben Gütekriterien wie für andere qualitativ-heuristische Methoden verwenden, nämlich Verlässlichkeit, Gültigkeit, Geltung und Gültigkeitsbereich (Kleining 2010, S. 74; zu differenten Positionen in der Frage der Gütekriterien qualitativer Forschung, Flick 2010). Sie stellen sich, sofern die Forschung regelkonform erfolgt ist, von selbst ein. Zu Beginn sind die Ergebnisse oft wenig reliabel, wenn z. B. ein Experiment mit verschiedenen Personen unterschiedliche Ergebnisse ergibt. Später, wenn diese Unterschiede in der Analyse aufgehoben sind, ist dagegen Reliabilität gegeben. Auch die Validität stellt sich ein, wenn der Gegenstand in wesentlichen Aspekten variiert untersucht wird und die Daten nach der „100 %-Regel“ auf Gemeinsamkeit hin analysiert werden. Die Geltung der Resultate ist jedoch grundsätzlich begrenzt, weil psychisch, sozial, raum-zeitlich in ständiger Veränderung begriffene Gegenstände untersucht werden. Der Gültigkeitsbereich kann erheblich variieren und ist davon abhängig, wie eng oder breit der Gegenstand in den Daten repräsentiert ist. Die Grenzen der erkannten Struktur können experimentell getestet werden. Sofern das qualitative Experiment nicht im Rahmen der qualitativ-heuristischen, sondern einer anderen Methodologie eingesetzt wird, ergeben sich eventuell Modifikationen in der experimentellen Planung und der Analyse der Daten. Die Analyse würde in solchen Fällen nicht oder nicht nur nach Regel 4 (Analyse auf Gemeinsamkeiten), sondern nach anderen Regeln – beispielsweise durch Kodieren nach der Grounded-Theory-Methodologie (Mey und Mruck 2009) oder einem interpretativen Verfahren – durchgeführt werden. Direkt in andere qualitative Methodologien übertragbar sind die beschriebenen experimentellen Techniken.
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Aktuelle qualitativ experimentelle Arbeiten
Das qualitative Experiment gehört noch immer zu den vernachlässigten qualitativen Verfahren. Eingesetzt wird das Verfahren in der qualitativen Heuristik u. a. für sozialpsychologische oder medienpsychologische Untersuchungen und als Heuristik in der Textanalyse. Verwendungen des Verfahrens finden sich auch in wahrnehmungspsychologischen Untersuchungen zur Aktualgenese in der neueren Ganzheitspsychologie (Diriwächter 2008) und verstreut in anderen Feldern und Disziplinen. Es folgen einige Untersuchungsbeispiele. In einer Untersuchung von Kleining (1994) über Vorurteile wurden 70 Studierende gebeten, jeweils vier Experimente in natürlicher Umgebung auszuführen. Dabei sollten sie in ihrer Vorstellung zunächst einer „zufällig“ ausgewählten Person ein negatives Merkmal, dann einer anderen Person ein positives Merkmal zuschreiben und ebenso einer Gruppe von Personen ein negatives und einer anderen Gruppe ein positives Kennzeichen zuordnen. Die Forschungssubjekte sollten sich diese Zuschreibung „ausmalen“ und dann notieren, wie sie sich gefühlt hatten. Die Aufgabe traf auf vorliegende Vorurteile; die Produktion neuer Vorurteile gelang in den meisten Fällen. Die Stimmung der Teilnehmenden spielte eine Rolle: waren sie heiter, folgten eher positive Vorurteile, waren sie deprimiert, negative. Bei der
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Produktion „falscher“ Vorurteile ergaben sich Gewissensbisse, Scham und Zweifel. Die weitere Analyse führte zu einer Theorie der Vorurteilsproduktion. In der Hamburger Forschungswerkstatt „Qualitativ-heuristische Psychologie und Sozialforschung Hamburg. Dialogische Introspektion“, die sich mit einer Wiederbelebung der Introspektion beschäftigt (Qualitativ-heuristische Psychologie und Sozialforschung Hamburg 2017; Witt 2010), werden qualitative Experimente z. B. genutzt, um die Rezeption von Medien zu untersuchen. Die Subjekte wurden bei der Nutzung von Medien gebeten, ihren Rezeptionsprozess per Introspektion zu erfassen (Burkart 2006). Es wurden folgende Aspekte variiert: der Filmtyp (Kunstfilm, Nachrichtensendung, Daily Soap, Internetseite, Dokumentarfilm), die Verständlichkeit, der Zeitbezug (aktuelle Filme vs. ältere Filme), die Präsentationsform (in der Gruppe gezeigt, individuell durch jede/n Teilnehmer/in für sich rezipiert) und die Rezeptionsdauer (kürzere vs. längere Filme). Die Analyse ergab, dass Rezeption keine passive Aufnahme eines medialen Geschehens ist, sondern ein explorativer dialogischer Prozess mit rezeptiven und aktiven Qualitäten. Ein mediales Produkt wird über eine Verbindung mit persönlichen Erfahrungen, Erlebnissen oder Konzepten angeeignet und ist durch drei Rezeptionsstile (involviert, distanziert und desinteressiert/gelangweilt) bestimmt. Capezza (2003) führte ein qualitatives Experiment durch, um den Prozess aufzuklären, der zu Gewaltentscheidungen führt. Dabei wurde eine amerikanische und eine estnische Stichprobe mit projizierten Bildern aus dem Computerspiel Duck Hunt und anderen Entenbildern konfrontiert und gebeten mit der Methode des lauten Denkens zu schildern, was sie sehen, fühlen und denken, um dann die Entscheidung zu fällen, auf das Bild zu schießen oder nicht. Ferner wurden Erfahrungen mit Gewaltspielen und -filmen mit einem Fragebogen erfasst. Während die meisten Versuchsteilnehmenden aus den USA auf die Ente aus dem Videospiel schießen, nicht aber auf die übrigen Enten, reagierten die Personen aus Estland, denen das Videospiel nicht vertraut war, seltener mit Gewalt. Capezza (2003) interpretiert diesen Befund damit, dass Erfahrungen mit Gewaltspielen einen Rahmen schaffen können, der die Entscheidung, mit Gewalt zu handeln begünstigt. Auf einer Konferenz des Zentrums für Qualitative Psychologie 2002 wurden das Potenzial inhaltsanalytischer Methoden für die Analyse eines gemeinsamen Texts mit einem qualitativen Experiment untersucht (Gürtler 2003), mit Beiträgen von Kleining (qualitativ-heuristische Textanalyse), Huber (quantitative Textanalyse), Kiegelmann (Stimmenanalyse), Schweizer (Analyse von Wortverteilungen nach linguistischen Gesichtspunkten) und Medina et al. (interpretativer formaler Ansatz). Um methodische Grenzen auszuloten, wurde das erste Kapitel von Don Quijote (de Cervantes Saavedra 2008 [1605 und 1615]) in einer festgelegten Ausgabe bzw. die Übersetzung als Text eingesetzt. Die qualitativ-heuristische Textanalyse, die Strukturen des Textes mit Fragen und Experimenten aufzudecken versucht (Kleining 1989), führte zur Erkenntnis eines Gegensatz zwischen dem Realitäts- und Imaginationskonzept von Cervantes und zur Aufdeckung seines Konzepts von Humor, was in eine generelle Theorie über Humor mündete.
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Die Analyse von Worthäufigkeiten mit Hilfe von AQUAD 6 durch Huber erwies sich als nicht aussagekräftig, um die Intention des Autors aufzudecken. Auch die Stimmenanalyse („voice-approach reveals different layers of individuals’ expressions of subjective experiences and self-presentations in social relationships“, Gürtler 2003, Abs. 8) konnte nicht auf den Text bezogen werden. Schweizer analysierte die Rezeption des Textes und seine Interpretation mit Wortsequenzen und Sprechakteinheiten: The process of interpreting the text is done on the basis of the reader’s historical, political and cultural background and not on that of Don Quixote. Thus, structure and sequence of expressions have to be integrated with the qualitative impressions of the reader. A hermeneutic position would state that if Don Quixote were a non-fictional character, he may need therapeutic intervention. But his highly neurotic, ridiculous behavior makes sense for this fictive person. The individual who reads a great deal about knights, as those depicted in Don Quixote, finds himself or herself in the same position as a fictitious character in the book. (Gürtler 2003, Abs. 9)
Es wurde deutlich, dass die konkurrierenden Analysemethoden in ihrer Anwendbarkeit auf den Text stark variierten (von gut bis nicht anwendbar), dass nicht alle wesentlichen Methoden im Experiment vertreten waren und dass jede Methode den Text perspektivisch betrachtet, wobei keine dieser Perspektiven für sich erschöpfend war. Eine andere Schwerpunktsetzung enthält das KWALON-Experiment, das Diskussionen über Software zur Unterstützung qualitativer Datenanalyse (QDASoftware) anstoßen wollte (Evers et al. 2011). Beteiligt waren fünf Entwickler/ innen von QDA Software (ATLAS.ti, Cassandre, MAXqda, NVivo, Transana), die einen von den Organisatoren zur Verfügung gestellten Datensatz zur finanzielle Krise 2008–2009 analysieren sollten, wobei bestimmte Forschungsfragen vorgeben wurden. Ein Ziel des Projekts war es zu überprüfen, ob verschiedene Formen von QDA-Software vergleichbare Ergebnisse erbringen. Obwohl die Forschenden unterschiedliche Stichproben aus dem Datensatz gezogen haben, sind die Gemeinsamkeiten der Ergebnisse größer als die Differenzen (di Gregorio 2011, Abs. 4). These experienced qualitative analysts were guided by the research questions and adopted appropriate methods to answer those questions. They used the software package with which they were most familiar. The defining difference between the packages was not methodological but the type of data they support. As the corpus included a wide range of data of different types, the analysis could be covered not only by the multi-media packages of ATLAS.ti, MAXqda and NVivo but the textual analysis package Cassandre and the audio/ video specialist package Transana. It is the analyst that directs the analysis in the software, not the other way round. (di Gregorio 2011, Abs. 10)
Ferner wurde deutlich, dass QDA-Software wichtig ist, um Transparenz im Forschungsprozesses herzustellen und die Kooperation in der Forschungsgruppe (insbesondere mit verstreut arbeitenden Forschenden) zu erleichtern (Schuhmann 2011).
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Diriwächter (2008) replizierte und erweiterte Untersuchungen der deutschen Ganzheitspsychologie zur Aktualgenese. In einem Experiment wurden Bilder in Stufen von völliger Unklarheit bis zu Klarheit vorgegeben, wobei die Befragten gebeten wurden, frei über ihre Erfahrungen zu berichten. Unklare Bilder waren mit Schilderungen von Unruhe verbunden, die in Erleichterung und ein Aha-Erlebnis umschlugen, als die Bilder klarer wurden. Diese Dynamik der Aktualgenese änderte sich völlig, wenn während der Transformation der Bilder ruhige Barock-Musik gespielt wurde. In diesem Fall erlebten die Untersuchungsteilnehmenden auch die unklaren Bildstufen als angenehm: „And further comments by the participant are geared towards synthesizing music and visuals in a way that brings them to a non-negative feeling state“ (Diriwächter 2008, S. 39). Heckel et al. (2012) haben die subjektive Bedeutung von autobiografischen Geruchs- und Geschmackserinnerungen von älteren Menschen mit einem qualitativen Experiment untersucht. Sie gehen davon aus, dass Geruchs- und Geschmackerlebnisse wesentlich im Lebenslauf sind und durch Vorlieben und Abneigungen sowie durch die Umwelt bestimmt werden. Gerüche und Geschmäcke sind oft mit Gefühlen verbunden und einem sozialen Wandel unterworfen, da sie sich mit den Lebensverhältnissen ändern können. Auf der Basis der Forschungsfragen: „Wie reagieren ältere Personen auf ausgewählte Riech- und Schmeckproben? Welche Gerüche und Geschmäcke aus dem Lebensverlauf erinnern die Teilnehmer/innen?“ (Heckel et al. 2012, Abs. 4) wurden 14 Teilnehmende gebeten, verschiedene Riechund Geschmacksproben auf sich wirken zu lassen. Ihre Reaktionen wurden beobachtet. Außerdem wurden erinnerte Gerüche und Geschmäcke erfragt, die heute nicht mehr erlebt wurden, aber von früher bekannt waren. Die Auswertung nach Gemeinsamkeiten ließ reichhaltige Beschreibungen, Bewertungen, Emotionen und Erinnerungen an Alltagsphänomene aus der gesamten Lebensspanne erkennen, darunter über fünfzig verschwundene Gerüche und Geschmäcke (größtenteils Nahrungs- und Haushaltsmittel wie Lebertran, Petroleum). Die Gerüche und Geschmäcke sind teilweise assoziativ verbunden mit bestimmten, z. T. kritischen Lebensereignissen (wie z. B. Flucht; Heckel et al. 2012, Abs. 33). Es wurden subjektive Alltagstheorien zu Geruch und Geschmack deutlich (wie z. B. „Geruch und Geschmack kann man nicht voneinander trennen“; Heckel et al. 2012, Abs. 27), die dem Verständnis von Erfahrungen dienen und Vorstellungen über Gerüche und Geschmäcke deutlich machen: „Geruch und Geschmack haben individuelle, häufig emotionale und biografische Bedeutung für die Einzelnen sowie Personen übergreifende zeitgeschichtliche, kulturelle und ökologische Bedeutung. Gerüche und Geschmäcke wie auch Geruchs- und Geschmackserinnerungen sind vielfach mit den Emotionen Ekel und Genuss verknüpft“ (Heckel et al. 2012, Abs. 33). Rauthe (2014) hat das qualitative Experiment in der Unterrichtsforschung eingesetzt, um die historisch-narrative Kompetenz von Schülerinnen und Schülern im Geschichtsunterricht zu explorieren. Chromiec (2005) untersucht das Verhältnis von Kindern zu kulturell Fremden in einem Kontext der Interkulturalität, der das Ziel erfolgt, Offenheit und Dialog mit dem kulturell Andersartigen zu fördern. Vier Gruppen von Kindern der ersten Klasse des Primarunterrichts einer polnischen Grundschule, die einen nach der Walddorfpädagogik gestalteten Deutschunterricht
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erhalten hatten, nahmen ebenso wie vier Gruppen, die keinen Fremdsprachenunterricht erhalten hatten, an einer Begegnung mit einem Fremden (einem Lehrer aus Deutschland) teil, wobei die Begegnung in allen Gruppen dieselbe Struktur hatte. Die Kinder in den verschiedenen Gruppen wurden in ihrer Interaktion mit dem fremden Gast beobachtet. Eine erste Analyse ergab vier emotional-kognitive Strategien des Umgangs der Kinder mit dem Fremden: Interesse, Differenzierung, Unruhe und zwei Typen von Ambivalenz. In der weiteren Analyse setzt Chromiec das qualitiative Experiment mit einer Kombinations-, einer Intensivierungs- und Transformationsstrategie ein, um Strukturen in den Daten zu erkennen. Als Ergebnis der Analyse ergibt sich eine datenbasierte Theorie der Interkulturalität. Dieses Entwicklungsmodell stellt die Vielfalt der Entwicklungsmöglichkeiten des Verhältnisses zum Fremden auf der Ebene der Empfindungen, Emotionen und Einstellungen mit den Stufen Ambivalenz, Polarisation und Kohärenz dar.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Das derzeit selten genutzte qualitative Experiment ist gut einsetzbar, um die Strukturen eines Forschungsgegenstands alltagsnah zu explorieren. Die experimentelle Strategie der Maximierung/Minimierung von Merkmalen ist hervorragend dazu geeignet, latente Strukturen des Forschungsgegenstands aufzudecken, die sich einer Augenscheinvalidität entziehen. Die experimentelle Strategie des Testens von Grenzen ermöglicht es, die Reichweite der Strukturen des Forschungsgegenstands, die zumeist begrenzt ist, zu explorieren. Das qualitative Experiment besitzt ein großes heuristisches Potenzial, wie die bedeutenden Erkenntnisse von Bühler, Wertheimer, Piaget, Bartlett und anderen zeigen. Die Analyse qualitativer Daten kann durch ein experimentelles Vorgehen bereichert werden, um durch Textexperimente, Strukturen aufzudecken, die sich anders nicht erschließen. Auch die explizite Verwendung von Gedankenexperimenten, die in den Politikwissenschaften genutzt werden, um festgefügte Sichtweisen infrage zu stellen (Tetlock und Belkin 1996), könnte in Ergänzung zu herkömmlichen qualitativen Daten heuristisch fruchtbar sein. Grenzen ergeben sich durch ethische Erwägungen. Die Teilnehmenden dürfen keinen Schaden nehmen, weshalb die Experimente vorsichtig durchgeführt werden sollen. Wünschenswert ist es ferner, dass sie nicht nur für die Forschenden, sondern auch für die untersuchten Subjekte erkenntnisgenerierend sind.
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Qualitative Längsschnittstudien Andreas Witzel
Inhalt 1 Einleitung: Entstehungsgeschichte und disziplinäre Verortung des Längsschnittdesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische Prämissen, Arten und Planung von Längsschnittstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Stellenwert des Längsschnittdesigns, aktuelle empirische Studien und das zentrale Problem der Rekonstruktion retrospektiver Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ein Beispiel für die qualitative Längsschnittanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Qualitative Längsschnittdesigns zielen auf die Erforschung der Prozesshaftigkeit individueller und kollektiver Handlungen, psychischer Entwicklungen, biografischer Erfahrungsaufschichtungen und subjektiver Bewältigungsformen sozialer Realität im Zeitverlauf. Der Beitrag beinhaltet die Entstehungsgeschichte des Designs, seine theoretischen Grundlagen, verschiedene Formen, aktuelle Anwendungen und ein empirisches Beispiel aus der Lebenslaufforschung. Ein zentraler Gesichtspunkt betrifft die Chance, mithilfe eines prospektiven Ansatzes Lösungen für die Problematik retrospektiver Aussagen zu finden. Schlüsselwörter
Qualitative Längsschnittanalyse · Qualitatives Längsschnittdesign · Interpretative Sozialforschung · Panel · Lebenslaufforschung
A. Witzel (*) Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_27
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Einleitung: Entstehungsgeschichte und disziplinäre Verortung des Längsschnittdesigns
Die Erforschung von Lebensgeschichte, Lebenslauf und Lebensereignissen im Längsschnitt hat eine lange sozialwissenschaftliche Tradition, beginnend mit dem 18. Jahrhundert. In den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts kam der USA eine Pionierrolle bei den in der Regel multidisziplinären Studien über die individuelle Dynamik physischer und personeller Entwicklung im Zusammenhang familialer und weiterer gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zu (Ruspini 2002, S. 11–13). In der späteren Nachkriegszeit überwogen Längsschnittstudien mit Kindern und Jugendlichen, die hauptsächlich in den USA durchgeführt wurden. Die Entwicklung dieser Forschungsstrategie maßgeblich beeinflusst hat Glen H. Elders (1974) „Children of the Great Depression“. Einen Überblick gibt Thomae (1987). In der deutschen Psychologie leistete Hans Thomae zu dieser Zeit einen bedeutenden Beitrag für die Verbreitung der qualitativen Variante dieser Forschungsstrategie, indem er im Zusammenhang seines Konzepts der „psychologischen Biographik“ (Thomae 1951) die qualitative Längsschnittbetrachtung der menschlichen Lebensentwicklung propagierte. Sein Ansatz unter Verwendung der Exploration zeichnete sich durch Lebensnähe, d. h. ein „möglichst intensives Mitgehen mit dem zu beschreibenden, zu erklärenden Phänomen“ (Thomae 1998, S. 76) aus. Also impliziert dieser Forschungsansatz die Berücksichtigung des Prozesscharakters des Gegenstandes und damit des Zeitaspekts in der psychologischen Analyse der individuellen Lebensentwicklung. Werner Traxel (1974) etwa schätzt in seiner klassischen Einführung in die Psychologie Längsschnittuntersuchungen als ein für die klinische Psychologie und „namentlich für die Entwicklungspsychologie [. . .] unentbehrliches Instrument“. Dabei meint er wohl in erster Linie das quantitativ orientierte Forschungsdesign, dennoch erwähnt er immerhin seine qualitative Variante – wenn auch nur sehr kurz – und bewertet sie im Vergleich mit Querschnittuntersuchungen als „lebensnäher und aufschlußreicher“ (Traxel 1974, S. 160). Diesen Begründungen für die Anwendung des qualitativen Längsschnitt (QL) in psychologischen Subdisziplinen entsprechend sind klassische Längsschnittstudien im Bereich der qualitativen life-span developmental psychology zu erwähnen. Zum Beispiel kombiniert die Bonner gerontologische Längsschnittstudie „BOLSA“ (Thomae und Lehr 1987) undogmatisch quantitative und qualitative Verfahren (halbstrukturierte Interviews, Rating mit Likert-Skalen und ein „inhaltsanalytischverstehendes Vorgehen“ in der Auswertung), was angesichts des damals heftigen und teilweise immer noch bestehenden Methodenstreits in den Sozialwissenschaften (und insbesondere in der Psychologie) geradezu fortschrittlich wirkt. Aufgrund seines genuin prozesshaften Charakters beschreiben auch Elliott et al. (2008, S. 231) die Anwendung des QL-Designs in der Entwicklungspsychologie insgesamt als besonders nützlich. Quantitativ orientierte Längsschnittdesigns waren bereits durchaus schon länger üblich (Taris 2000, S. vii). Auch wenn das QL-Design zunächst vergleichsweise weniger beachtet wurde, wie in der Einschätzung, Längsschnitte würden „in der qualitativen Forschung kaum angewendet“ (Flick 2005, S. 256) zum Ausdruck
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kommt, zeigen aufwendige QL-Studien in Deutschland bereits zu Beginn der Wiederbelebung der interpretativen Methodologie in den 1970er-Jahren, wie rasch man den wissenschaftlichen Wert des QL-Designs erkannt hatte. Holland et al. (2006) zitieren eine Fülle von englischsprachigen QL-Anwendungen in den Bereichen Pädagogik, Psychologie, Gesundheitswissenschaften, Soziologie und Politik. Die Krise des Ausbildungsstellenmarktes Anfang der 1980er-Jahre in Deutschland war Anlass z. B. für die Studie über die Gestaltung und subjektive Verarbeitung des beruflichen Einmündungsverlaufs von Hauptschüler/innen mit drei Untersuchungswellen, deren Beobachtungsfenster von der 7. Schulklasse bis zur Ausbildung bzw. zum Verbleib in Überbrückungsmaßnamen reichte (Heinz et al. 1985); oder für die Untersuchung zur Verarbeitung der Arbeitslosigkeit bei Lehrer/innen (Ulich et al. 1985). Weiterhin gab es Studien zur Entwicklung von Identität (Hallebone 1992; Mey 1999; Smith 1999) sowie die zahlreichen interdisziplinären Lebenslaufstudien des Sonderforschungsbereichs der DFG (Sfb 186, 1988–2001), die u. a. die Grundlage für eine neuere sozialpsychologische Forschungsperspektive bildeten (Kühn 2015). Der zunehmenden Bedeutung von QL-Studien entspricht der Umfang methodologisch weiterführender Literatur in Deutschland im Gegensatz zum englischsprachigen Raum (z. B. Elliott et al. 2008; Mcleod und Thomson 2012; Neale 2012; Saldaña 2003) eher nicht. Die Ausführungen im vorliegenden Beitrag zur Forschungsstrategie der empirischen Sozialwissenschaften werden sich auch daher nicht auf die engen Fächergrenzen der Psychologie beschränken, zumal die praktischen Erfahrungen mit dem Design in Deutschland eher in der Soziologie und in interdisziplinären Forschungsprojekten gemacht wurden.
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Theoretische Prämissen, Arten und Planung von Längsschnittstudien
Angesichts der recht übersichtlichen Methodenliteratur zum QL-Design wird im Folgenden auch auf einige Begriffe (z. B. der Designvarianten) zurückgegriffen, die aus der schon länger bestehenden quantitativen Forschungstradition stammen. Das Forschungsdesign von Längsschnitt- oder auch Longitudinalstudien basiert auf der grundsätzlichen Annahme der Prozesshaftigkeit sozial- und humanwissenschaftlicher Untersuchungsgegenstände. Es bewährt sich in der Untersuchung von Differenzen, Modifikationen, Stabilität/Konstanz, (Dis-)Kontinuitäten oder Ausformung von Varianten und Transformationen individueller, gruppenbezogener oder institutioneller (z. B. familialer) Merkmale unter veränderlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der Zeit. Die QL-Forschung im Besonderen zielt – wie die qualitative Methodologie im Allgemeinen – auf den interpretativen Nachvollzug und das Verstehen von Sinn setzenden und -deutenden Lebensprozessen und -umständen in ihrer zeitlichen Entwicklung. Sie betont im Unterschied zur deduktiv-hypothesenprüfenden quantitativen Längsschnittanalyse eine offene Vorgehensweise, um den Gehalt der subjektiven Deutungs- und Interaktionsmuster nicht mit vorgefassten Variablen/Kategorien zu
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überdecken. Dabei lässt sich ausgehen von der Annahme individueller Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit (agency) und der Auffassung eines Verhältnisses zwischen Subjekt und Umwelt, bei dem die Akteure/Akteurinnen – wie etwa im Modell des „produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts“ (Hurrelmann 1983) oder im Konzept der „Selbstsozialisation“ (Heinz 2000) – als Produzent/innen ihrer eigenen Entwicklung begriffen werden: Gesellschaftliche Bedingungen legen den Individuen und Gruppen zwar bestimmte Orientierungen und Handlungen nahe, sie determinieren sie aber nicht (Elder und O’Rand 1995, S. 465). Weil die Handlungsbedingungen nicht nur einen einschränkenden oder gar erzwingenden, sondern auch einen ermöglichenden Charakter haben, sind sie beständiger Interpretation und damit auch Modifikation durch die Akteure unterworfen. Damit ist die Fokussierung des qualitativen Längsschnittdesigns auf die Akteursperspektive begründet, die sich – passend zur postmodernen Auffassung des Selbst (z. B. Gubrium und Holstein 1995) – für Wandlungen, Ambiguitäten und Inkonsistenzen von Orientierungen und Handlungen in der Auseinandersetzung mit sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen oder Situationen interessiert. Im QL-Design angewandte Erhebungsmethoden: Interview (überwiegend), teilnehmende Beobachtung, Gruppendiskussion, Autobiografien, Briefe oder Spielund Zeichnungsmethoden. Hoppe-Graff (1989) plädiert seit Ende der 1980er-Jahre wiederkehrend dafür, Tagebuchaufzeichnungen (wie sie z. B. von dem Ehepaar Stern zu Anfang der Entwicklungspsychologie angelegt wurden) als eine zentrale Standardmethode für längsschnittlich angelegte Studien zu nutzen (Mey 2010). Um Prozesse der intra- und interindividuellen Entwicklung einer über mindestens zwei Erhebungszeitpunkte feststehenden Gruppe von Individuen in einem mehr oder minder großen Beobachtungszeitraum zu erfassen, ist das prospektive QL-Design (Elliott et al. 2008) angemessen. In der quantitativen Tradition wird es als time series analysis bezeichnet (Taris 2000, S. 6–7). Prospektiv als Bezeichnung der Daten bedeutet, dass die einzelnen Erhebungswellen auch vom je aktuellen Standpunkt aus formulierte Zukunftserwartungen und -perspektiven enthalten; prospektiv als Bezeichnung des Designs formuliert dagegen die Absicht, weitere Erhebungen mit der gleichen Stichprobe zu realisieren. Die jeweils ausgewählte Untersuchungsgruppe sollte in ihren Orientierungen und Handlungen einem gemeinsamen sozialen und kulturellen Kontext zugehören, z. B., abhängig von der konkreten Fragestellung, als Alterskohorte (gemeinsames Geburtsjahr) oder mit gleichen Erfahrungsbedingungen im gleichen Zeitintervall (Ryder 1965, S. 845). Bereits zu Beginn der Durchführung der Studie bestehen in der Regel auch klare Vorstellungen über die Größe des Beobachtungsfensters sowie die Anzahl und das Timing der Untersuchungswellen, die notwendig sind, um die Dynamik der zu beobachtenden Prozesse zu begleiten und in jeweils eigenen Erhebungswellen zu rekonstruieren. Ursachen, Verlaufsformen und Resultate der zu beobachtenden Prozesse werden in einem Beobachtungsfenster analysiert, das eher in Jahren zu fassen ist: „Longitudinal means a lonnnnnnnng time“ (Saldaña 2003, S. 1). Extrembeispiele für zeitlich ausgreifende Studien sind eine anthropologische Feldstudie in Mexiko über 50 Jahre (Foster 2002) und eine bildungsbiografische Untersuchung mit 21 Befragungswellen (Friebel et al. 2000).
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Kriterium für den ersten Erhebungszeitpunkt einer prospektiven QL-Studie können z. B. jeweils spezifische Kontextbedingungen sein, die für die Handlungen einer Gruppe von Befragten hohe subjektive Relevanz besitzen (z. B. der Beginn einer beruflichen Ausbildung als Moment beruflicher Karriere). Die Erhebung von Handlungen und Orientierungen im Kontext kann sich dabei sowohl auf die Gegenwart, also auch Vergangenheit und Zukunft beziehen. Mögliche Veränderungen oder Konstanz von Orientierungen, (Um-)Entscheidungsprozesse und vollzogene Handlungen wie deren Resultate werden dann zu späteren Zeitpunkten erhoben, d. h. retrospektiv rekonstruiert. Ist eine weitere Befragungswelle vorgesehen, werden diese retrospektiven Aussagen um wiederum prospektive Aussagen der Befragten erweitert. Die einzelnen Erhebungszeitpunkte richten sich nach erwarteten Statusänderungen (in dem angeführten Beispiel eine zweite Erhebung nach dem Ende der beruflichen Ausbildung, um Einmündungen in den Beruf, in weitere Ausbildung oder Arbeitslosigkeit zu erfassen) oder werden relativ willkürlich gesetzt (z. B. ganz pragmatisch gemäß des vorgegebenen Zeitrahmens der bewilligten Forschungsgelder). Beim Ziehen der Anfangsstichprobe ist die sog. Panelmortalität oder attrition (Elliott et al. 2008, S. 235–236) zu berücksichtigen, d. h. der mögliche Verlust von Untersuchungspersonen im Verlauf einzelner Erhebungen. Vor allem bei einem größeren Beobachtungszeitfenster droht die Gefahr der Stichprobenselektivität aufgrund von Ausfällen durch Umzug, Krankheit und Tod, die zu schätzen schwierig ist, weil sie von vielen Faktoren abhängt (siehe für weitere Besonderheiten Abschn. 4). Über die für qualitative Studien im Allgemeinen geltende Beachtung des zwischen Forschenden und Befragten herzustellenden informed consent (Gebel et al. 2015 bezogen auf qualitative Interviews) und weiterer forschungsethischer Grundsätze für die Einhaltung des Datenschutzes hinaus muss beim prospektiven QL-Design die Einwilligung sowohl der Adressengeber/innen (z. B. schulische Behörden bei der Befragung von Schüler/innen) als auch der Befragten bereits zu Beginn der Studie für den gesamten Befragungszeitraum erwirkt werden. Eine besondere Brisanz bekommt hier die Datenschutzfrage zum einen durch die Fülle von Lebenslaufdetails und damit verbunden sehr persönlichen Informationen aus den einzelnen Befragungswellen der Studie, die vor unbefugtem Zugriff geschützt werden müssen; zum anderen durch die Notwendigkeit, Adressenlisten längerfristig aufzubewahren und aufgrund möglicher Adressänderungen im Zeitintervall der Studie zu pflegen (Neale 2013). In der Auswertung sind die Ergebnisse der Mehrfachbefragungen kritisch auf ihre Gültigkeit hinsichtlich Veränderungen von Orientierungen und Handlungen zu überprüfen. Im Verlauf von QL-Erhebungen kann es aufgrund des regelmäßigen Kontakts zu Effekten der Beeinflussung von Befragten kommen; z. B. entstehen Ungleichgewichte zwischen Nähe und Distanz, Entwicklungen von Aspekten persönlicher Beziehung oder von Lerneffekten (Rendtel 1990, S. 280), die auf der Basis der wiederholten und intensiven Auseinandersetzung mit der Thematik die Gültigkeit der Studie beeinträchtigen. Umgekehrt können Veränderungen von Orientierungen und Handlungen allerdings auch durch Interventionen der Forschenden bewusst intendiert
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sein (Lewis 2003, S. 54). Der erste Erhebungszeitpunkt dient dann als Ausgangspunkt für die Analyse von Prozessen, die z. B. durch Auseinandersetzung der Untersuchungspersonen mit für sie neuartigen Themen forciert werden. Für die Bewältigung der in der Regel komplexen Fragestellungen und großen Datenmengen einer QL-Analyse ist die computergestützte qualitative Datenanalyse meist unabdingbar, da so ein systematischer Zugriff auf Textsequenzen und Originalzitate des Datenmaterials möglich ist. Aus der Konstanz bzw. Differenz von Stichproben oder der verwendeten Erhebungsinstrumente in den verschiedenen Untersuchungswellen ergeben sich Variationen des QL-Designs ebenso wie aus der Entscheidung, frühere Querschnittstudien als Grundlage für neue Erhebungen zu nutzen. • Bleiben die Stichprobe und die Erhebungsmethode(n) über die einzelnen Wellen hinweg konstant, handelt es sich mit Lazarsfeld und Fiske (1938) um eine PanelStudie. Dieser Begriff wird inzwischen häufig mit dem der prospektiven QL-Studie gleichgesetzt. • Sind die Stichproben nicht identisch, werden also in die Folgeerhebungen neue, z. B. altershomogene Untersuchungspersonen einbezogen, wird von Wiederholungsstudien oder follow-up studies gesprochen. Sie bestehen aus einer Sequenz von – in der Regel zwei – Querschnittstudien und werden daher auch repeated cross-sectional studies (Taris 2000, S. 6–7) genannt. Dabei wird eher die Makro-Ebene fokussiert, d. h., die Stichproben können z. B. verglichen werden, um den Einfluss veränderter sozialer oder historischer Rahmenbedingungen auf Einstellungen zum Geschlecht und deren Konsequenzen für die Gestaltung der Balance zwischen Beruf und Familie zu ermitteln. • Eine weitere Variante ist die catch-up study (Kessler und Greenberg 1981), bei der die ursprüngliche Stichprobe einer zeitlich mehr oder weniger zurückliegenden Querschnittstudie genutzt wird, um mit einer neuen Erhebung ein QL-Design im Nachhinein zu konstruieren. Die Durchführbarkeit des angestrebten Vergleichs beider Datensätze ist dann erfüllt, wenn die Adressliste der Originalstudie noch vollständig vorhanden ist und eine genügend große Anzahl von Befragten – im statistischen Sinne – „überlebt“ hat.
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Stellenwert des Längsschnittdesigns, aktuelle empirische Studien und das zentrale Problem der Rekonstruktion retrospektiver Aussagen
Die Bedeutung des QL-Ansatzes für die Psychologie und für die interpretative Sozialforschung insgesamt ist im deutschsprachigen Raum als eigentümlich zwiespältig einzuschätzen: Einerseits wird er trotz des größeren Aufwandes an finanziellen und zeitlichen Ressourcen gegenüber Querschnittanalysen selbst in der Psychologie praktiziert. Beispielsweise ergab eine Datenbankrecherche von Forschungsprojekten (SOFISwiki der GESIS, 07.06.2015) mit den Schlagwörtern Längsschnitt, qualitativ und Psychologie 119 Treffer. Häufig handelt es sich hier
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allerdings um Längsschnittuntersuchungen, in denen qualitative Erhebungsmethoden, insbesondere Expert/inneninterviews zur Ermittlung struktureller Rahmenbedingungen oder andere Interviews in kleinen Stichproben eher eine untergeordnete Rolle gegenüber dem im Mittelpunkt stehenden quantitativen Untersuchungsanteil spielen. Dies ist eine mögliche Erklärung dafür, dass andererseits grundlegende Darstellungen und systematische wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dieser genuin qualitativen Forschungsstrategie bislang ausschließlich im englischsprachigen Raum stattfinden (Strehmel 2000 als Ausnahme, allerdings beschränkt auf den Aspekt der Modellierung). Neuere Beispiele für QL-Studien in den Sozialwissenschaften mit vielfach psychologischen Themen: • Identität/Sozialisation (Hughes und Dunn 2002; Pollard und Filer 2001) • Kindheit und Jugend (Bourdillon und Boyden 2014; Demuth 2011; Krüger et al. 2012; Reiter und Schlimbach 2015; Simmons et al. 2013) • Schule (Köhler und Thiersch 2013; Nairz-Wirth et al. 2014) • Bildung (Überblicksartikel: Asbrand et al. 2013; Fischer und Kade 2012) • Lebenslauf (Elder und Conger 2000; Richartz 2000; Sfb 186 1988–2001) • Beruf/Arbeitslosigkeit und Persönlichkeit (Kraus 2000; Lempert 2006) • Geschwisterbeziehungen (Murphy 1992) • Lernen (Lemmermöhle et al. 2006) • Umgang mit Krankheit und Handicap (Maddison und Beresford 2012; Nicolson 2001) Ein zentrales, bereits für Querschnittsuntersuchungen geltendes interpretatives Problem betrifft den Umgang mit retrospektiven Aussagen, die in der Regel in allen Varianten des QL-Designs erhoben werden. In der quantitativen Wissenschaftstradition wird die Rekonstruktion der Vergangenheit als abhängig von den Gedächtnisleistungen der Befragten diskutiert, betrifft also das Problem der Exaktheit von „subjektiv geprägten Fragestellungen“ (von Gostomski und Hartmann 1997, S. 121). Als passende Lösung dieses so gefassten Rekonstruktionsproblems wird die Verwendung von Gedächtnisstützen wie Pläne oder Fotografien (Eisenhower et al. 1991) empfohlen. Diese die Erhebungen ergänzenden Hilfsmittel lassen sich auf Befragungen in QL-Studien übertragen, wo sie z. B. als Kalender (Bird et al. 2000) die Erinnerung unterstützen. Die Rekonstruktion der Vergangenheit gelingt auch mithilfe von Gesprächsstrategien in Interviews, die narrative Konstruktionen (Lucius-Hoene und Deppermann 2004; Mey 1999) aufweisen. Indem sie die Schilderungen von Ereignissen, Handlungen und Orientierungen befördern, werden Befragte in die Lage versetzt, spezifische Details im jeweiligen thematischen Zusammenhang („Gestalt“ der Erzählung) zu betrachten und zu erinnern. Die möglichst konkrete Erinnerung an einzelne Fakten und Daten aus der Vergangenheit ist allerdings nur ein Aspekt, der von wissenschaftlichem Interesse ist. Gegenüber dem Anliegen der Exaktheit und Gültigkeit der Aussagen entscheidender und gerade für qualitative Analysen interessanter und relevanter ist die Fokussierung der Forschung auf den Grund und Inhalt der oben zitierten subjektiven Prägung von
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Rekonstruktionen vergangener Entscheidungen, Orientierungen und Handlungsresultaten, d. h. auf die biografischen Verarbeitungsweisen sozialer Realität. QL-Designs ermöglichen die Identifikation solcher Verarbeitungsweisen, indem sie mithilfe verschiedener Erhebungswellen die jeweiligen Sichtweisen dieser Handlungen, Orientierungen etc. aus den unterschiedlichen Blickwinkeln vergangener und gegenwärtiger Explikationen kontrastieren können, um mögliche Differenzen zu finden und zu analysieren. Diese Rekonstruktionen enthalten Differenzen zwischen Erzählungen im „Hier und Jetzt der Situation, in der erzählt wird“ und Erzählungen des „Damals und Dort der Situation, über die erzählt wird“ (Legewie 1987, S. 142). Die wissenschaftliche Relevanz dieses Befundes für die Forschung wird in der qualitativen Forschung ganz unterschiedlich eingeschätzt: a) ähnlich wie in der quantitativen Forschungstradition als schwer zu lösendes Wahrheitsproblem, wie es im Buchtitel „Wahre Geschichten?“ (Strobl und Böttger 1996) idealtypisch formuliert ist. b) als zu vernachlässigendes Problem, weil „vermutlich ganz bewußte falsche oder täuschende Aussagen sowohl in den Situationen des Alltagslebens als auch in Erhebungssituationen der empirischen Forschung die Ausnahme [sind]“ (Lehmann 1983, S. 27). c) als sozialpsychologisches Phänomen, das mit einem Sinn verstehenden Zugang zu erschließen und damit originärer Gegenstand qualitativer Analysen ist. So nimmt z. B. die phänomenologische Handlungstheorie an, dass Akteure durch reflexive Zuwendung auf früher erlebte Handlungsereignisse dann erst den subjektiven Sinn der Handlung konstituieren, wenn sie die Ereignisse in einen bereits existierenden Gesamtzusammenhang von Erfahrungen einordnen und auf diese Weise eine „Synthesis höherer Ordnung“ (Schütz 1974, S. 101) schaffen. Der Sinn bildet sich hiernach also nicht im schlichten Erfahrungsverlauf, „sondern erst, wenn sich das Ich seinen Erfahrungen nachträglich zuwendet und sie in einen über deren schlichte Aktualität hinausgehenden Zusammenhang setzt“ (Luckmann 1992, S. 32; Straub 1999). Diese nachträglichen Sinnzuschreibungen sind häufig mit Umdeutungen (Halbwachs 1992; Mey 1999) verbunden, die individuelle und kollektive Anpassungsbemühungen an aktuelle, subjektiv realitätsnahe Handlungschancen und Zukunftserwartungen (Plumridge und Thomson 2003) beinhalten. In einer qualitativen QL-Studie aus der Lebenslaufforschung (ausführlich Abschn. 4) ließ sich die Funktion solcher nachträglichen sowohl Sinnzuschreibungen als auch Umdeutungen für die Gestaltung der Berufsbiografie und der subjektiven Bewältigung von Handlungsresultaten in Form von beruflichen Erfolgen und Misserfolgen empirisch zeigen: Das Motiv der Befragten, sich als eigenverantwortliches Subjekt ihrer Biografie zu stilisieren, führte teilweise dazu, dass frühere Interessen, Ziele, Erwartungen, Pläne oder Ansprüche sehr weitgehend umgedeutet wurden, auch um negative Handlungsresultate lebbar zu machen. Solche Konstruktionen sind also nicht unwahr, sondern stehen im Zusammenhang mit dem Bemühen, Diskrepanzen zwischen Vorgaben und Handlungsresultaten einerseits und individuellen Ansprüchen andererseits zu versöhnen (Heinz und Witzel 1995; Witzel 2001).
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Biografisierungen in Form von nachträglichen Sinnzuschreibungen und Umdeutungen bedeuten für die QL-Analyse, dass in jeder neuen Erhebungssituation neue Erfahrungsaufschichtungen zum Tragen kommen können, auf deren Hintergrund frühere Handlungsbegründungen häufig überhaupt erst formuliert, präzisiert oder ganz neu bewertet werden. Damit ist zugleich ein zentraler Vorteil von QL-Studien umrissen. Denn eine Querschnittuntersuchung ohne Vergleichsmöglichkeiten der aktuellen mit zurückliegenden Handlungsbegründungen kann zu wissenschaftlichen Fehlurteilen über die Bedeutung von Schilderungen z. B. bewusst geplanter beruflicher Entscheidungen und Handlungen führen, die sich in Analysen von Lebenslaufsequenzen hingegen als Biografisierungen erweisen. Die Anwendung des QL-Designs im Bereich der beruflichen Einmündungsprozesse hat auf der Grundlage solcher Erkenntnisse zur Widerlegung von Berufswahltheorien geführt, die sich überwiegend auf einmalige Erhebungen am Ende der Schulzeit stützten. Jugendliche Hauptschüler/innen scheinen diese früheren Theorien zu bestätigen, wenn sie ihre angetretene Ausbildungsstelle als Realisation ihres Wunschberufes beschreiben. Dieser stellte sich allerdings bei längsschnittlicher Betrachtung überwiegend als pragmatisch verfolgte Option auf dem Hintergrund eines längeren Anpassungsprozesses an die Erfordernisse des Ausbildungsstellen- bzw. Arbeitsmarktes heraus (Heinz et al. 1985).
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Ein Beispiel für die qualitative Längsschnittanalyse
Im Folgenden sollen methodologische und methodische Details anhand einer prospektiven QL-Studie zur Biografiegestaltung junger Fachkräfte in den ersten Berufsjahren (Heinz et al. 1998; Kühn und Witzel 2000a) erörtert werden. In dieser Studie des Sonderforschungsbereichs 186 wurden mittels quantitativer und qualitativer Verfahren Berufsbiografien und -verläufe sowie familienbezogene Statuspassagen einer Kohorte von Absolventinnen und Absolventen der dualen Berufsausbildung untersucht. Der Fokus lag im qualitativen Teil auf den individuellen Biografien, d. h. der Sequenz von Orientierungen und Handlungen beim Eintritt in das Berufsleben und in den ersten acht Jahren im Erwerbssystem. Verwendet wurden qualitative Interviews (Witzel und Reiter 2012) in einer Stichprobe von n = 92 über drei Wellen im Abstand von jeweils ca. drei Jahren. Der interdisziplinären Orientierung an der Biografie- und Lebenslaufforschung gemäß ergaben sich Bezüge zur Sozialpsychologie, zur Entwicklungspsychologie des Jugend- und frühen Erwachsenenalters (Sozialisationstheorie) und zur Soziologie (Statusübergänge in die Erwerbstätigkeit und die Elternschaft).
4.1
Planung und Design: Stichprobenumfang, Zeitintervalle, Instrumente
Die Entscheidung für eine prospektive QL-Studie basierte auf der den Prozesscharakter der Untersuchung verdeutlichenden These, dass sich infolge von „Individua-
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lisierung“ und „Erosion der Erwerbsarbeit“ der um die Erwerbsarbeit zentrierte „Normallebenslauf“ zunehmend auflöst und einer durch Diskontinuität und immer raschere Wechsel zwischen verschiedenen Statusbereichen – Erwerbstätigkeit in ihren unterschiedlichen Facetten, Arbeitslosigkeit, Familienarbeit, Weiterbildung usw. – geprägten „Bastelbiografie“ Platz macht. Die Frage, wie weit diese Prozesse fortgeschritten sind und wie stark sie sich in den Lebensverläufen niederschlagen, beantwortete die fortlaufende schriftliche Erhebung. Deren Befunde ließen sich im Mixed-Method-Ansatz (Kelle 2008) mit der im Längsschnitt untersuchten qualitativen Frage kombinieren, mit welchen biografischen Perspektiven und Umgangsweisen die mit dem Fragebogen erfassten Unterbrechungen, Brüche, Umwege und Schleifen in Lebensläufen verbunden sind. Dabei eröffnete das QL-Design eine Reihe von biografietheoretischen Möglichkeiten der Auswertung: Die Handlungskonsequenzen von zeitlich übergreifenden oder in die Zukunft reichenden Zielsetzungen konnten zu einem späteren Zeitpunkt überprüft werden; der Vergleich von aktuellen Bilanzierungen mit früheren Aspirationen machte nicht nur individuelle Neuorientierungen, sondern auch Umdeutungen sichtbar; Bilanzierungen über verschiedene Karrierestationen hinweg ließen Aufschichtungen der Erfahrungen erkennen. Um eine Paneluntersuchung in einer strengeren Definition handelt es sich in diesem Falle nicht, weil das Erhebungsinstrument nicht völlig konstant über alle Untersuchungswellen angewandt wurde, die Interviewleitfäden sich vielmehr den sich wandelnden Lebenslaufstationen anpassten. Eine solche Modifikation erwies sich z. B. angesichts unerwarteter, bereits kurz nach Beendigung der dualen Ausbildung vorzufindender Aussagen zur Familienplanung und antizipierter Probleme der Vereinbarkeit von Beruf und Familie als notwendig. Auch die Festlegung des Zeitfensters sowie die Anzahl und das Timing der Untersuchungswellen orientierten sich an der Dynamik der zu beobachtenden Prozesse. Es bestand die Erwartung, dass die übergeordnete Forschungsfrage, wie weit Pluralisierungen und Erosionen von traditionellen Lebenslaufmustern fortgeschritten sind, gerade in Übergängen zwischen subjektiv bedeutsamen Lebensabschnitten, d. h. Statuspassagen von der Ausbildung in den Beruf, überprüft werden könnten. Ausgangspunkt war daher der Abschluss einer dualen Ausbildung. Das Zeitfenster von acht Jahren basierte auf der Vorwegnahme weiterer Übergänge, Änderungen des Status und Wechsel von Rollenkonfigurationen, aber auch Familienplanung und -gründung als Anforderung an die Balance und Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Diese Etappen sind weitgehend variabel bezüglich ihres Eintreffens und ihrer Dauer und ließen sich daher in ihrer (Dis-)Kontinuität nicht vorhersagen. Eine pragmatische Lösung bestand in der Festlegung der Erhebungszeitpunkte anhand der Finanzierungsphasen des Drittmittelgebers (in diesem Falle drei Untersuchungswellen in Drei-Jahres-Abschnitten). Auch für die Sicherung der Breite der Analysemöglichkeiten des qualitativen Materials der QL-Studie ist die Anlage der Untersuchung als Kombination quantitativer und qualitativer Methoden modellhaft. Die Stichprobenkriterien für die Auswahl der Kohorte von Absolvent/innen einer dualen Ausbildung für die quantitative Fragebogenerhebung orientierten sich an der Rezeption wissenschaftlicher
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Literatur und Statistiken des Übergangssystems in den Beruf. Diese Kriterien galten auch für die qualitative Stichprobe und umfassten den gesamten Übergangsprozess: beruflicher Kontext (Ausbildung in regionalspezifisch kontrastierenden Chancenbzw. Risikostrukturen, Berufe mit unterschiedlichen Männer- und Frauenanteilen), Vorgeschichte der Befragten (Schulausbildung, Stationen des Einmündungsprozesses in die Lehre), Übergangsformen (direkter oder indirekter Übergang von der allgemeinbildenden Schule in die Berufsausbildung) und Verbleibmöglichkeit im Ausbildungsbetrieb. Da die Auswahl der Befragten für die qualitative Stichprobe als Ziehen eines selektiven Subsamples der vorausgegangen Fragebogenuntersuchung erfolgte, d. h. die Befragten der beiden Stichproben identisch waren, ließen sich quantitative Befunde mit Detaillierungen und Erklärungen der qualitativen Analyse der Interviews verknüpfen.
4.2
Erhebung
Das Problem der Panelmortalität wurde mit mehreren Maßnahmen gelöst: prinzipielle Erhöhung der Ausgangsstichprobe, um Ausfälle vorwegzunehmen; zusätzliche Nutzung von stabileren Kontaktadressen der Eltern angesichts der beruflichen Mobilität der befragten jungen Erwachsenen; Anwendung eines Incentive-Systems und einer „Panelpflege“ (Aufrechterhaltung der Feldkontakte mithilfe von Informationsbroschüren über Projektziele und -fortschritte); sorgfältige Gestaltung der Befragung in Anwendung der methodischen Vorgaben des problemzentrierten Interviews, die zu einem Vertrauensgewinn in der Beziehung zwischen den Forschenden und den Befragten führte. Genutzt wurden die positiven Erfahrungen der Befragten mit den Explikationsmöglichkeiten im Interview und der Gewinn einer Selbstverständigung, die sich aus der systematischen Befassung mit lebenspraktisch relevanten Themen und Problemen ergab. Allerdings barg die persönliche Kontinuität der Interviewbeteiligten über die Erhebungswellen hinweg Gefahren für die Balance von Nähe und Distanz zwischen den Interviewenden und Interviewten, wobei Interviewfehler entstehen konnten. Eine Fehlervariante gründete in der Sondierung stark problembehafteter Lebensverläufe und verlockte Interviewende z. B. zu einer die sachliche Distanz untergrabenden Parteilichkeit bis hin zur lebenspraktischen Beratung, eine Haltung, die in der Ethnologie als going native bezeichnet wird (Witzel und Reiter 2012, S. 174–185). Für die Interviewtechnik bedeutete die Prozesshaftigkeit der Thematik eine besondere Herausforderung: Die Sondierung der einzelnen Lebenslaufstationen Arbeit, Beruf, Weiterbildung, Studium, Schule, Arbeitslosigkeit, Partnerschaft/ Familie erfolgte jeweils auf drei Zeitachsen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft), und nach jeder neuen Erhebungswelle konnte auf die Aussagen der vorangegangenen Wellen Bezug genommen werden. Eine systematisierende, aber die Empirie nicht mit theoretischen Konstrukten überblendende Hilfestellung für die Strukturierung des Dialogs und die Sicherung der Vergleichbarkeit bot das „Analysekonzept sequenzieller berufs- und bildungsbiografischer Orientierungen und Handlungen“ (Witzel 2001). Es steht für das
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heuristische Modell („BARB“), dessen Elemente Bilanzierung – Aspiration – Realisierung – Bilanzierung in dieser Reihenfolge sowohl in der Befragung als auch in der Auswertung angewendet, dem Erfassen der komplexen Dynamik der Handlungssequenzen im Lebenslauf mit ihren subjektiven Bedeutungen und Wertigkeiten diente. Aspirationen meint hierbei individuelle Handlungsbegründungen für einzelne Stationen im Lebenslauf; Realisationen umfassen die konkreten Umsetzungsschritte für die Aspirationen und die Orientierungen an den Gelegenheitsstrukturen der einzelnen Stationen im Lebenslauf; Bilanzierungen richten sich auf Explikationen zur jeweiligen Bewertung dieser Umsetzungsschritte und Handlungsfolgen. Bilanzierungen enthalten die nachträgliche Sinnzuschreibung und Verarbeitung von Handlungs- und zugleich auch Sozialstrukturerfahrungen, die sich über die einzelnen Lebenslaufstationen aufschichten.
4.3
Auswertung
Zwar lässt sich der eigentliche Vorteil des QL-Designs erst dann voll ausspielen, wenn das empirische Material für das gesamte untersuchte Zeitfenster vorliegt. Dennoch ermöglichten Auswertungen schon auf den drei Zeitachsen jeder einzelnen und nach jeder folgenden Untersuchungswelle, d. h. innerhalb engerer Sequenzen des Lebenslaufs, zentrale Befunde. Wichtige Aspekte der Bewältigung des Übergangs in das Erwerbssystem unmittelbar nach Beendigung der dualen Ausbildung ließen sich also bereits auf der Basis der Interviews der ersten Welle analysieren (z. B. Mönnich und Witzel 1995). Die Möglichkeit der Analyse des Datenmaterials über mehrere berufsbiografische Stationen hinweg bot die einmalige Chance für die Entwicklung einer „echten“ QL-Typologie, d. h. einer Typologie, deren Dimensionen den gesamten Untersuchungszeitraum einschließen. Die Auswertung der ersten beiden Wellen führte zu der Beobachtung, dass sich über die spezifischen Gestaltungs- und Verarbeitungsweisen einzelner Übergänge (Wechsel des Arbeitsplatzes, Rückkehr in die Schule etc.) hinaus durchgängige Muster des beruflichen Status- und Biografiemanagements bildeten. Das QL-Design ermöglichte nunmehr die Überprüfung und Präzisierung der vorgängigen Beschreibungen der Dimensionen der Typologie mithilfe des Erkenntnisgewinns in der dritten und letzten qualitativen Befragung. Damit waren auch Reanalysen früherer Bearbeitungsschritte, d. h. Rückbezüge auf die Originaldaten der ersten beiden Wellen, notwendig. Diese Vorgehensweise verdeutlicht den iterativen Charakter der Auswertung von QL-Studien (siehe auch McLeod 2003), der die Polarität zwischen Primär- und Re- bzw. Sekundäranalyse aufhebt und auch auf weitere Analysemöglichkeiten z. B. durch Neuerhebungen oder eines Poolings von Sekundäranalysen verweist (Medjedović und Witzel 2010, S. 18–19). Zum Ende der Projektarbeit konnten im Rahmen einer Typenbildung über alle Untersuchungswellen hinweg sechs „berufsbiografische Gestaltungsmodi“ (BGM) identifiziert werden; typische Prinzipien also, mit denen junge Erwachsene in unterschiedlicher und grundsätzlicher Art und Weise ihre Lebens- und Arbeitsansprüche mit wahrgenommenen beruflichen Optionen balancieren, den Stand ihrer biografischen Entwicklung resümieren und darauf fußend weitere Perspektiven
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entfalten. Sie verdanken sich keinem, auf eine spezifische Lebenslaufsequenz eingeengten Blick wie in einer Querschnittsuntersuchung. Ihre weitgehend situationsübergreifende Konstanz ist selbst schon ein Befund. Diese Orientierungs- und Handlungsmuster werden dann kontextspezifisch aktiviert, nämlich als Betriebsidentifizierung, Lohnarbeiterhabitus, Laufbahnorientierung, Chancenoptimierung, Persönlichkeitsgestaltung, Selbstständigenhabitus (Witzel und Kühn 2000). Der Beantwortung der Frage nach der Verteilung dieser Typen (etwa nach Beruf oder Geschlecht) diente eine vierte Welle des quantitativen Untersuchungsteils. Auf der Grundlage der originär qualitativen Forschungsdaten und -befunde wurde ein standardisierter Fragebogen entwickelt, mit dem eine teilweise Rekonstruktion der im qualitativen Untersuchungsteil gewonnenen BGM in Form einer Typologie berufsbiografischer Orientierungsmuster (BOM) (Schaeper und Witzel 2001) gelang. Gerade die Abweichungen zwischen der qualitativen und quantitativen Typologie eröffneten fruchtbare Einsichten in Bezug auf deren theoretischen und konzeptionellen Status, d. h. hinsichtlich methodischer Probleme eines MixedMethod-Ansatzes und deren Implikationen für die Längsschnittforschung. Die Reichhaltigkeit der Daten ermöglichte laufend thematisch spezifizierte Sekundäranalysen über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg: Zur subjektiven Bedeutung und Gestaltung von Diskontinuitäten des Berufsverlaufs und zur Frage, welche Perspektiven sich mit solchen, z. T. als kritisch zu betrachtenden Lebensphasen verbinden (Klement et al. 2004); zur Identifizierung unterschiedlicher Formen der Entwicklung von familialen Orientierungen und Handlungen im Zusammenhang mit beruflichen Planungen (Witzel und Kühn 2001; Kühn 2004) und zum Zusammenhang von berufsbiografischer Gestaltung und beruflichem Arbeitsprozesswissen (Fischer und Witzel 2008). Mit der Kodierung von 270 Interviewtranskripten (ca. 770.000 Textzeilen) begab sich das Forschungsprojekt in den 1990er-Jahren auf das damals gewagte Neuland der Computer-gestützten Datenanalyse (QDA) in den qualitativen Sozialwissenschaften (Kühn und Witzel 2000b). Sie erschien angesichts der großen Datenmenge unumgänglich und erwies sich dann auch als äußerst nützlich, den iterativen Auswertungsprozess zu organisieren und durchzuführen, den Personalwechsel in der langjährigen Forschung (1988–2001) zu bewältigen und die erwähnten Sekundäranalysen zu erleichtern. Die dreifache Kodierung der Interviewtranskripte erlaubte aufgrund der vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten der einzelnen Merkmale einen systematischen und komplexen Rückgriff („retrieval“) auf das umfangreiche Datenmaterial: nach Fallmerkmalen (Beruf, Region, Geschlecht etc.), nach Themen der Erwerbs- und Familienbiografie (berufliche Zukunftsperspektiven, soziales Netzwerk etc.) und nach der biografisch-zeitlichen Logik, der das heuristische BARB-Modell (s. Abschn. 4.2) zugrunde lag.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Das in den empirischen Sozialwissenschaften verankerte QL-Design spielt seinen besonderen Vorteil gegenüber dem Querschnittdesign bei der Erforschung der Prozesshaftigkeit individueller und kollektiver Handlungen, psychischer Entwicklun-
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gen, biografischer Erfahrungsaufschichtungen und subjektiver Bewältigungsformen sozialer Realität im Zeitverlauf aus. Es besitzt seine Stärke insbesondere darin, mit der Fokussierung auf die Akteursperspektive über größere Zeiträume die Wandlungen, Ambiguitäten und (In)konsistenzen von Orientierungen und Handlungen in der Auseinandersetzung mit sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen oder Situationen analysieren zu können. Darüber hinaus erlaubt der Ansatz im Zusammenhang des Nachvollzugs und Verstehens Sinn setzender und -deutender Lebensprozesse und -umstände insbesondere auch Biografisierungen in Form von nachträglichen Sinnzuschreibungen und Umdeutungen nachzuweisen und ihre Bedeutung zu analysieren. In der Literatur werden Gründe für eine gegenüber Querschnittstudien seltenere Anwendung des QL-Designs benannt, die sich gar nicht auf der Ebene der Gegenstandsangemessenheit der Forschungsstrategie bewegen, vielmehr hauptsächlich auf fehlende Forschungsressourcen angesichts des größeren Aufwands an Zeit und Kosten für die Durchführung von QL-Studien verweisen. Zwar bewegen sich die Finanzierungszeiträume für Drittmittelzuschüsse meistens zwischen zwei und drei Jahren, dennoch scheinen – wie die inzwischen zahlreichen QL-Studien (siehe Abschn. 3) zeigen – gut begründete Forschungsanträge inzwischen gute Chancen zu haben, Drittmittelgeber zu überzeugen. Mit den Befunden von QL-Studien lässt sich deren Gegenstandsangemessenheit nachweisen und nachvollziehen, dass Querschnittstudien bei der Erforschung der Prozesshaftigkeit sozial- und humanwissenschaftlicher Untersuchungsgegenstände vielfach zu kurz greifen. Der erhöhte Erkenntnisgewinn von QL-Studien wiegt also deren höheren Kosten auf. Die inzwischen stattgefundenen Fortschritte in der Entwicklung der computerunterstützten Datenanalyse tragen dazu bei, den vergleichsweise größeren Forschungsaufwand zu reduzieren. Die QDA bietet Hilfestellungen bei der Bewältigung größerer Datenmengen, unterstützt die Auswertung komplexer Zusammenhänge und optimiert darüber hinaus den Zugang zu den arbeitsteilig erhobenen Daten, Kontextinformationen, Memos etc. für jedes einzelne (im Falle eines Personalwechsels auch neue) Mitglied im Forschungsteam in jeder Phase des QL-Projekts. Wie Erfahrungen der qualitativen Servicezentren Qualiservice (www.qualiser vice.org) in Deutschland und ESDS Qualiservice (http://www.esds.ac.uk/qualidata) in England zeigen, sind QL-Studien aufgrund ihres spezifischen Designs, ihrer Datenfülle und der damit verbundenen vielfältigen wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten eine besonders häufig genutzte Datenquelle für qualitative Sekundäranalysen. Die Wiederverwendung dieser aufwendig erhobenen und archivierten Primärdaten ermöglicht vertiefende Analysen spezifischer, in der Primärforschung offen gebliebener Themen oder Aspekte, die im Nachhinein oder unter neuen theoretischen Perspektiven Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses geworden sind („Antworten auf nicht-gestellte Fragen“); sie bietet die Basis für interkulturelle und transnationale Vergleiche; sie ermöglicht den Nachvollzug des sozialen und psychologischen Wandels; mit ihr lassen sich Ideen zu neuen Studien entwickeln und deren Durchführung vorbereiten und planen (Funktion des „path finder“); zuletzt kann sie enge Zeit- und Geldbudgets in der Forschung, insbesondere aber auch die fehlende Forschungsinfrastruktur und das besonders enge Zeitfenster bei Qualifikationsarbeiten kompensieren.
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Qualitative Sekundäranalyse Irena Medjedović
Inhalt 1 Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Begriff, Ziele und Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Methodologische Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Im Vergleich zur quantitativen Forschungstradition stellt die Sekundäranalyse qualitativer Forschungsdaten eine relativ junge Forschungsstrategie dar. Erste empirische Anwendungen illustrieren ihr Potenzial. Dabei können je nach Zielsetzung die drei Varianten Supra- oder transzendierende Analyse, ergänzende Analyse sowie Reanalyse unterschieden werden. Als erweiterte Analyse wird die Nutzung mehrerer Datensätze gefasst, sog. kombinierte Analysen werden durch die Kombination von Sekundär- und Primäranalyse oder verschiedener Datentypen möglich. Zentrale methodologische Prämissen umfassen Fragen des Zugangs zu Kontextinformationen, des sekundären Analysepotenzials der Daten sowie forschungsethische Fragen. Schlüsselwörter
Sekundäranalyse · Qualitative Daten · Data Sharing · Archivierung · Datenschutz · Reanalyse
I. Medjedović (*) Fakultät Wirtschaft und Soziales, Department Soziale Arbeit, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_20
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Entstehungsgeschichte
Sekundäranalyse war lange Zeit ein Synonym für die erneute Nutzung statistischer, insbesondere Umfragedaten. Es war Barney Glaser (1962, 1963) – bekannt für seine Arbeiten zusammen mit Anselm Strauss zur Grounded-Theory-Methodologie –, der bereits Anfang der 1960er-Jahre propagierte, Sekundäranalysen nicht nur der quantitativen Forschung zu überlassen. Trotzdem wurde die qualitative Sekundäranalyse erst 30 Jahre später systematisch aufgegriffen. Mitte der 1990er-Jahre sind vor allem im nordamerikanischen Raum Anfänge einer Auseinandersetzung mit den Potenzialen sowie den methodologischen Aspekten und Problemen der Sekundäranalyse qualitativer Daten durch einzelne Forschende und Forschungsgruppen zu verzeichnen (Hinds et al. 1997; Szabo und Strang 1997; Thorne 1994). Diese ersten Aufsätze reflektieren Erfahrungen mit Sekundäranalysen, die im Kontext der Gesundheitsund Pflegewissenschaften durchgeführt wurden. Auf der Grundlage eines Reviews der englischsprachigen Literatur dieser Disziplin publizierte Janet Heaton (2004) einige Jahre später die erste Monografie zur qualitativen Sekundäranalyse. Darin widmete sie sich den methodologischen Besonderheiten der qualitativen Sekundäranalyse, die sie als eigenständige Forschungsstrategie definierte. Die Einführung der qualitativen Sekundäranalyse im europäischen Raum ist vor allem mit den Bemühungen verbunden, Infrastrukturen für die Archivierung und Bereitstellung qualitativer Primärdaten zu schaffen. Hauptakteur ist hier das britische Qualidata, mittlerweile Teil des UK Data Service (https://www.ukdataservice.ac.uk/) an der University of Essex; für Deutschland das Qualiservice (http://www.qualiser vice.org/) (vormals Archiv für Lebenslaufforschung) an der Universität Bremen. Im Umfeld dieser Archive bzw. international zu beobachtender Archivgründungsbemühungen entstanden zahlreiche internationale und interdisziplinäre Veröffentlichungen zur Archivierung und Sekundäranalyse qualitativer Daten (siehe insbesondere die vier Schwerpunktausgaben der Zeitschrift Forum Qualitative Forschung/Forum:Qualitative Social Research [FQS]: Bergman und Eberle 2005; Corti et al. 2000, 2005; Valles et al. 2011 sowie der Zeitschrift Historische Sozialforschung/Historical Social Research: Witzel et al. 2008; die vierbändige SAGE-Publikation zur Sekundäranalyse: Goodwin 2012; und die einzige deutschsprachige Monografie: Medjedović 2014). Darunter finden sich einige exemplarische Sekundäranalysen u. a. in psychologierelevanten Anwendungsfeldern (s. dazu Beispiele in Abschn. 2) und Aufsätze, die die dieser Forschungsstrategie inhärenten Probleme aufzeigen und diskutieren (v. a. Hammersley 1997, 2012; Mauthner et al. 1998; Medjedović 2007, 2014; Moore 2006; Parry und Mauthner 2004; Van den Berg 2005). Das im Vergleich zur quantitativen Sekundäranalyse (in der Sozialforschung: Hyman 1972; Klingemann und Mochmann 1975; Scheuch 1967; in der Psychologie: Bengel und Wittmann 1982; Bryant und Wortman 1978) späte Aufgreifen der Sekundäranalyse für die qualitativ orientierte Forschung hängt sicherlich z. T. mit dem Werdegang qualitativer Forschungsmethodik selbst zusammen: Seit ihrer Renaissance (in den 1960er-Jahren in den USA, in den 1970er-Jahren im deutschen Sprachraum) hatte sie sich gegen den Mainstream der quantitativen Methoden zu behaupten und durchzusetzen (Flick 1999, S. 16–21; Mey und Mruck 2007). Mitt-
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lerweile hat die qualitative Forschung an Verbreitung und Bedeutung gewonnen, sodass sie eine Etablierung in den human- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen erfahren hat (Hitzler 2007, 2014) und auf umfangreich produzierte Daten verweisen kann (bzgl. des Umfangs an Interviewdaten s. Opitz und Mauer 2005). Parallel dazu sind auch Möglichkeiten der EDV-gestützten Datenerfassung, -aufbereitung und -archivierung, des Zugriffs auf elektronisch verfügbare qualitative Daten mittels Datenanalyseprogrammen (Kuckartz und Rädiker 2010) sowie Entwicklungen im Bereich der Online-Ressourcen und -Datenbanken (Legewie et al. 2005; Mruck 2005) entstanden. Damit sind wichtige Voraussetzungen für die Anwendung von qualitativen Sekundäranalysen geschaffen worden. In der Psychologie existiert eine längere Tradition, in klinischen Zusammenhängen entstandene Texte sekundär in Forschung und Lehre zu nutzen. Die Analyse von Fallmaterial wie Freuds „Rattenmann“ oder anderen Texten aus psychotherapeutischen Behandlungen gehören zu einer gängigen Praxis der Psychotherapieforschung (Luder et al. 2000; Mergenthaler und Kächele 2006; Thomä und Kächele 1992, Kap. 1). Anders sieht es mit der sekundären Nutzung von Forschungsdaten aus. Hier könnte die Psychologie von der aufgezeigten Entwicklung profitieren, indem sie das Konzept der qualitativen Sekundäranalyse vermehrt für dezidiert psychologische Fragestellungen aufgreift.
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Begriff, Ziele und Varianten
Der Begriff Sekundäranalyse beschreibt eine Strategie, bei der zur Beantwortung einer Forschungsfrage auf bereits vorliegende Daten zurückgegriffen wird. Bei der Sekundäranalyse handelt es sich also um keine Methode im engeren Sinne, d. h. es gibt keine spezifische Verfahrensweise. Stattdessen betrifft sie eine Komponente in der Konstruktion von Untersuchungsplänen: nämlich die Auswahl des empirischen Materials. Alternativ (oder komplementär) zur Erhebung von Daten wird im Zusammenhang einer anderen Untersuchung bereits erhobenes Datenmaterial genutzt. Nichtsdestotrotz impliziert dieses Vorgehen einige methodologische Besonderheiten, die im gesamten Forschungsprozess berücksichtigt werden müssen (dazu Abschn. 3). Abhängig von den konkret zu nutzenden Daten, den Forschungszielen und der methodologischen Ausrichtung der Sekundäranalyse können verschiedene Forschungsdesigns (Einzelfall-, Längsschnitt-, Vergleichs-, Mixed-Methods-Studie) sowie Erhebungs- (z. B. Interviews, Gruppendiskussionen, Beobachtungen) und Auswertungsverfahren (z. B. Inhaltsanalyse, Tiefenhermeneutik) zur Anwendung kommen. Grundsätzlich sind zwei Zielsetzungen der Sekundäranalyse zu unterscheiden: Zum einen wird sie verwendet, um neue oder ergänzende Fragen an bereits vorhandenes Material zu stellen, zum anderen, um Befunde früherer Forschung zu validieren. In Abhängigkeit von dem Grad der Nähe zwischen den Fragestellungen von Primär- und Sekundärstudie benennt Heaton (2004, 2008) drei Varianten der Sekundäranalyse:
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• In der Supra- oder transzendierenden Analyse (supra analysis) werden die Daten unter einer neuen Forschungsperspektive ausgewertet. Sie geht über die im Rahmen der Primärstudie entwickelten Begrifflichkeiten hinaus und verwendet die Daten dieser Studie für neue theoretische, empirische oder methodologische Fragestellungen. • Im Unterschied hierzu geht es bei der ergänzenden Analyse (supplementary analysis) um eine Ausweitung des ursprünglichen Ansatzes. Der ergänzende Charakter besteht in der Untersuchung einzelner Fragen, die in der Originalstudie gestellt, aber nicht oder nicht erschöpfend bearbeitet wurden. Spezifische Themen, Aspekte oder Teile der Daten (z. B. Subset des Samples), die erst im Nachhinein Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses geworden sind (daher auch retrospektive Interpretation, Thorne 1994), werden einer vertiefenden Analyse unterzogen. • Die erneute Analyse der Daten unter der gleichen Fragestellung wird als Reanalyse (re-analysis) bezeichnet und intendiert, die Resultate der ursprünglichen Analyse zu überprüfen bzw. zu verifizieren. Methodologisch lassen sich berechtigte Einwände gegen das Validierungspotenzial von Reanalysen vorbringen (Hammersley 1997). So sind die bisherigen empirischen Beispiele weniger tatsächliche Überprüfungen im Sinne eines schrittweisen Nachvollzugs des originären Forschungs- und Theoriebildungsprozesses. Vielmehr werden alternative oder neue theoretische Sichtweisen an den Daten entwickelt bzw. aufgedeckt, welche Themen in der Primäranalyse nicht erforscht wurden. In diesem Sinne geben Reanalysen wertvolle Hinweise auf die Konstruktionsprozesse, die bei jeder Interpretation von Daten am Werk sind – wie auch die im Folgenden skizzierte Reanalyse exemplarisch illustriert. König (1997) unterzog Datenmaterial zum Fall „Charly“ aus der Bielefelder Rechtsextremismusstudie (Heitmeyer et al. 1992) einer tiefenhermeneutischen Analyse, um die Stichhaltigkeit der durch das Forschungsteam um Heitmeyer entwickelten Desintegrationstheorie zu untersuchen. Während Heitmeyer in seiner sozialstrukturellen Perspektive ökonomische und soziale Desintegrationsprozesse für Charlys (Anfälligkeit für) Fremdenfeindlichkeit verantwortlich machte, arbeitet König heraus, inwiefern auch persönlichkeitsstrukturelle Aspekte, hier vor allem die in familialen Interaktionen stattfindende Identitätsbildung, eine Rolle spielten. So habe Charly nicht nur unter seiner Erwerbslosigkeit, sondern auch unter einer zugespitzten Adoleszenzkrise gelitten, in der unbewältigte Identitätskonflikte der Kindheit wiederbelebt worden seien und deren Bewältigung und Loslösung vom Elternhaus zu scheitern drohte. König ergänzte „Heitmeyers halbierte Sozialisationstheorie“ (König 1997, S. 396) um Erkenntnisse der psychoanalytisch orientierten Entwicklungs- (Erikson 1988 [1968]) und Sozialisationstheorie (Lorenzer 1972). Damit demonstriert diese Reanalyse, wie durch die Anwendung einer anderen Perspektive die (fachspezifisch) einschränkende Fokussierung auf Aspekte aufhebbar wird. Ein Beispiel für die Untersuchung eines vorliegenden Datensatzes für eine neue Fragestellung ist die Sekundäranalyse von Medjedović und Witzel (2005). Hier
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wurde der Datensatz einer Längsschnittstudie über die Biografiegestaltung des Übergangs junger Erwachsener aus der Ausbildung in die Erwerbstätigkeit genutzt für die Frage nach empirischen Belegen für ein neues theoretisches Konzept des Wissenserwerbs von Facharbeiter/innen – das sog. „Arbeitsprozesswissen“ (Fischer 2005). Eine zentrale Frage bestand darin, wie diese zunächst als Konzept formulierte, neue Wissensform durch das Verstehen und Nachvollziehen des Arbeitsprozesses in seiner Ganzheit tatsächlich erlernt wird. Die Ergebnisse der Sekundäranalyse tragen zu einem Erkenntnisgewinn bei, indem zum einen unterschiedliche Formen des Arbeitsprozesswissens beschrieben und zum anderen deren Abhängigkeit von den Gestaltungsweisen der Berufsbiografie demonstriert werden. Ein besonderes Potenzial der Sekundäranalyse ergibt sich aus der Möglichkeit, Daten mehrerer Studien zusammenzuführen. Diese Analysen multipler Datensätze werden eingesetzt, um über die Datensätze hinweg gemeinsame (zusätzliche Evidenz, auch: cross-validation, Thorne 1994) und/oder divergierende Themen (Ergänzungsfunktion) zu untersuchen. Die Vergrößerung oder Ergänzung spezifischer Untersuchungsgruppen kann dazu beitragen, verallgemeinerbare Theorien zu generieren (erweitertes Sampling nach Thorne 1994). Der Vergleich von Datensätzen aus zwei Zeitperioden erlaubt die Untersuchung des Wandels gesellschaftlicher Phänomene. Der Zugriff auf multiple Datensätze ermöglicht also Vergleichsanalysen in vielerlei Hinsicht, wobei Daten relativ flexibel miteinander kombiniert werden können. Heaton (2004, 2008) unterscheidet hier zwei Forschungsdesigns: • In der erweiterten Analyse (amplified analysis) werden zwei oder mehrere bereits vorhandene Datensätze genutzt. • Die kombinierte Analyse (assorted analysis) nutzt verschiedene Datenquellen, indem sie die Sekundäranalyse mit der Erhebung neuer Daten verbindet und/oder einen Mix verschiedener Datentypen verwendet, indem beispielsweise die Analyse von Forschungsdaten mit der Untersuchung naturalistischer Daten (wie Autobiografien, Bilder usw.) ergänzt wird. Wie Sekundär- und Primäranalyse in kombinierter, aber immer auch zielgerichteter Weise zugunsten der Theoriebildung eingesetzt werden können, zeigt Janneck (2008): Sie beschreibt den „verschlungenen Pfad“ eines langjährigen Forschungsprozesses zum Thema soziale Beziehungen in virtuellen Gemeinschaften über mehrere Einzelprojekte hinweg. Das Forschungsteam führte zunächst die Sekundäranalyse einer Studienarbeit über eine virtuelle Studierendengemeinschaft durch, ergänzte diese anschließend durch die Erhebung neuer Daten, nutzte jene in einer weiteren Sekundäranalyse, um dann zuletzt Primärdaten eines anderen Forschungsprojekts zum Thema technischer und organisatorischer Unterstützung von Freelancer-Netzwerken einzubeziehen. Im Verlauf dieses Forschungsprozesses wurden Hypothesen und theoretische Konzepte zu sozialen Identitäts- und Lernprozessen entwickelt und überprüft sowie insbesondere durch den in der letzten Phase stattfindenden Vergleich verschiedener Nutzungskontexte (studentische Lerngemeinschaften vs. professionelle Freiberufler/innen-Netzwerke) weiterentwickelt: Ein zentrales
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I. Medjedović
Ergebnis ist die Ergänzung bestehender Typologien virtueller Gemeinschaften um den „Typus der selbst-organisierten, eng gekoppelten Gemeinschaften“ (Janneck 2008, S. 105). Ein frühes Beispiel für die Sekundäranalyse einer methodenkombinierten Längsschnittstudie ist Glen H. Elders „Children of the Great Depression“ (1974). Elder nutzte die (archivierten) Daten der „Oakland Growth Study“, eine Langzeitstudie zur Erforschung physiologischer, psychologischer und sozialer Aspekte der adoleszenten Entwicklung. Die Studie begleitete in den Jahren 1920–1921 geborene US-Amerikaner/innen (aus Oakland in Kalifornien) von den frühen 1930er-Jahren (der Zeit der „Großen Depression“) durch den zweiten Weltkrieg, die Nachkriegszeit der 1940er- und 1950er-Jahre, bis hinein in die 1960er-Jahre. Sie umfasste unterschiedliche Datenarten wie umfangreiche unstrukturierte und strukturierte Interviews, Fragebögen, Beobachtungen, physische und psychiatrische Testdaten sowie verschiedene psychologische Testverfahren zur Intelligenz- und Persönlichkeitsbeurteilung. Viele Familien, die an der Studie beteiligt waren, befanden sich während der Großen Depression der 1930er-Jahre in einer drastischen sozioökonomischen Deprivation. Im Unterschied zur engeren entwicklungspsychologischen Konzeption des Primärforschungsteams fokussierte Elder seine Analyse auf diesen spezifischen historischen Kontext, indem er die möglichen Auswirkungen der Krisenerfahrungen auf die Familien und insbesondere auf die Entwicklung der Kinder ins Blickfeld rückte.
3
Methodologische Prämissen
Gegenüber einem konventionellen Forschungsprozess zeichnet sich die Sekundäranalyse vor allem dadurch aus, dass der Prozess der Datenauswertung und -interpretation vom Prozess der Datenerhebung entkoppelt ist (Klingemann und Mochmann 1975). Diese Entkopplung geht mit einigen methodologischen Implikationen einher. So werden „Daten“ nicht als objektive und im Feld vorzufindende Entitäten verstanden, sondern als soziale und kontextuell eingebettete Produkte. Dies gilt insbesondere für qualitative Erhebungsverfahren, in denen die soziale Situation (bzw. „soziale Arrangements“, Mey 2000), d. h. die intersubjektive und interaktive Beziehung zwischen forschendem und beforschtem Subjekt, von tragender Bedeutung ist.
3.1
Die methodologische Diskussion
Die Sekundäranalyse unterstellt, dass Daten auch außerhalb ihres unmittelbaren Erhebungskontextes ausgewertet und interpretiert werden können. Diese Annahme ist jedoch nicht unumstritten und bietet die Grundlage für eine methodologische Diskussion, die zum Teil stark polarisiert geführt wurde. Die prominenteste Kritik an der Machbarkeit der Sekundäranalyse stammt von Mauthner et al. (1998). Gestützt auf eigene sekundäranalytische Versuche stellten sie
Qualitative Sekundäranalyse
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die (über historische und methodologische Untersuchungen hinausgehende) erneute Nutzung qualitativer Daten prinzipiell in Frage. Da es unmöglich sei, den ursprünglichen Status, den die Primärforscher/innen hatten, wieder herzustellen, sei die Sekundäranalyse unvereinbar mit einer interpretativen und reflexiven Epistemologie (Mauthner et al. 1998, S. 742–743). Andere Autor/innen sind dagegen der Auffassung, dass der Nachvollzug kontextueller Effekte weniger ein epistemologisches als ein praktisches Problem sei, das sich auch in Primäranalysen stelle. Qualitative Forscher und Forscherinnen hätten häufig mit unvollständigen (Hintergrund-)Informationen umzugehen und abzuwägen, inwieweit ein Aspekt tatsächlich belegt werden könne oder doch verworfen werden müsse (Fielding 2004, S. 99). Eine zweite Form der Replik auf Mauthner et al. (1998) kritisiert deren Verharren in einem Verständnis von Kontext, der statisch und fix in der Vergangenheit angesiedelt werde. Moore (2006) verweist darauf, dass Forschende in der Auseinandersetzung mit den Daten diese immer auch in einen eigenen Kontext setzen. Daher sei es nicht das Ziel, das originäre Forschungsprojekt und den ursprünglichen Status, den die Primärforscher/innen hatten, vollständig nachzubilden. Vielmehr sei die Sekundäranalyse als neuer Prozess der Rekontextualisierung und Rekonstruktion von Daten zu verstehen. Auf Moores Argumentation beruhende Plädoyers, den Dualismus zwischen Primär- und Sekundäranalyse nun endgültig aufzuheben (Bishop 2012), werden aber immer noch zurückgewiesen mit dem Verweis darauf, dass die begriffliche Trennung benenne, dass es sich bei der Sekundäranalyse nun mal um eine besondere Situation handele (Hammersley 2012). Diese Diskussion reflektiert darauf, dass die Kontextsensitivität (oder auch Berücksichtigung der „Indexikalität“, Garfinkel 1973) einen Grundpfeiler qualitativer Forschung darstellt. Die Einsicht in die Kontextabhängigkeit einer sprachlichen Äußerung oder einer Handlung eint alle qualitativen Forschungsansätze und berührt einen wichtigen Punkt im Selbstverständnis dieser Forschungstradition (historisch als Durchsetzungs-„Kampf“ gegenüber dem sog. „normativen Paradigma“ geführt, Wilson 1973). Hinzu kommt, dass qualitative Forschung häufig damit verbunden wird, sich persönlich ins Feld zu begeben, um mit Kontextwissen aus „erster Hand“ die anschließende Analyse und Interpretation der Daten leisten zu können. In Sekundäranalysen fehlt dem Forscher bzw. der Forscherin dieser unmittelbare Bezug zum Kontext. Alternativ können aber Wege der Kontextualisierung aufgezeigt werden. Für die Sekundäranalyse ist hierbei relevant, welche Art von Kontext überhaupt gemeint ist – denn Kontext wird je nach Forschungsansatz unterschiedlich definiert (Goodwin und Duranti 1992, S. 2) und ist somit auch je nach Auswertungsinteresse unterschiedlich relevant.
3.2
Zugang zu Kontextinformationen
Auf der Ebene der einzelnen Interaktion sollte zuallererst der Zugang zu den „Daten selbst“ gegeben sein. In qualitativen Auswertungsverfahren wird der Fallanalyse ein zentraler Stellenwert eingeräumt. Auch in Studien, die allgemeine Aussagen auf der Grundlage von vielen Fällen entwickeln, dient die Rekonstruktion des Einzelfalls in
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der Regel als Ausgangspunkt. Diese Interpretation setzt den Fokus auf den Kontext, den die Beteiligten durch die wechselseitige Bezugnahme aufeinander in der Interaktion selbst erzeugen (kommunikativer Kontext der Konversation). Das heißt, entscheidend ist, wie die Beteiligten das Gespräch führen. Die detaillierte Arbeit am einzelnen Fall erfordert den Zugriff auf Aufnahmen und/oder das Gespräch möglichst präzise erfassende Transkripte; die Einbettung einer einzelnen Sequenz in den Gesamtverlauf der Interaktion oder einer einzelnen Äußerung in den Kontext einer längeren Erzählung erfordert die Vollständigkeit von Aufnahme oder Transkript. Darüber hinaus werden Metainformationen über das Gespräch als soziale Situation (situationaler Kontext) relevant. Eine Interaktion und ihre Akteure sind stets verortet in Raum und Zeit, d. h., dass das unmittelbare Setting bedeutsam sein kann: Soziale Interaktionen können etwa zu unterschiedlichen Tageszeitpunkten unterschiedlich verlaufen. Ebenso können räumliche Bedingungen das Gespräch beeinflussen oder selbst empirisches Material für die Forschungsfrage liefern (z. B. Wohnsituation der Befragten). Ferner mögen die Beteiligten ein gemeinsames Hintergrundwissen haben, das die Interaktion rahmt und von Bedeutung ist, aber nicht explizit im Gespräch artikuliert wird. Beispiele hierfür wären: Merkmale der Beteiligten wie Alter, Geschlecht, Ethnie, soziale Klasse; Informationen über relevante Dritte oder die Anwesenheit Dritter sowie weitere Informationen über die Beziehung zueinander, die etwa durch die Art der Kontaktaufnahme und die Bedingungen, unter denen das Gespräch zustande gekommen ist, beeinflusst wurde (Van den Berg 2005). Derartige Informationen können über Feld- oder Interviewnotizen (sog. „Postskripte“, Witzel 2000; Witzel und Reiter 2012, S. 95–98) für die Sekundäranalyse zugänglich sein. Soziales Handeln – und damit auch die Erhebungssituation – findet immer in einem institutionellen, kulturellen, sozio-politischen und historischen Kontext statt. Dieser extra-situationale Kontext (oder auch „Makro“-Kontext) meint ein Hintergrundwissen, das über das lokale Gespräch und sein unmittelbares Setting hinausgeht. Doch auch dieser Kontext ist kein objektiver Satz von Umständen, der getrennt von den sozialen Akteuren vorliegt, sondern es geht um diejenigen Bestandteile des äußeren Kontextes, die sich empirisch manifestieren bzw. von den Beteiligten in der Interaktion tatsächlich aufgriffen werden. Wenn eine Studie sich etwa für bestimmte soziale Fragen und politische Debatten interessiert, ist es für die Sekundäranalyse von hohem Wert, diese Verknüpfung auch nachvollziehen zu können (z. B. über „graue Literatur“, Bishop 2006). Nicht selten werden qualitative Daten in Kontexten erhoben, die durch eine lokale Kultur (Holstein und Gubrium 2004) charakterisiert sind. Dies kann beispielsweise eine Praxis oder (Fach-)Sprache sein, die innerhalb einer Institution, einer sozialen oder beruflichen Schicht oder eines geografischen Gebiets geteilt werden. Für Sekundäranalysen kann es daher entscheidend sein, den Zugang zu Dokumentationen zu haben, die die Daten in dieser elementaren Weise erst verständlich machen (z. B. Glossar eines Fachvokabulars). Bishop (2006) ergänzt „Projekt“ als besonderen Teil der Situation, weil Forschungsprojekte spezifische Kontextmerkmale als eigenes Subset des Gesamtsettings einschließen. Heruntergebrochen auf die einzelne Situation bedeutet dies, dass Forschende einen (projekt-)spezifischen Erhebungskontext produzieren, vor dessen
Qualitative Sekundäranalyse
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Hintergrund sich Feldinteraktionen vollziehen. Dies umfasst die methodischen Entscheidungen (wie die Wahl der Erhebungsmethode, des Forschungsdesigns), die theoretischen Vorannahmen, den institutionellen Hintergrund etc. Aufgrund der Kürze und Präzision, die Fachzeitschriften und Verlage erfordern, bieten die in Publikationen üblichen Kapitel zu Methodik und Durchführung einer Untersuchung keine ausreichende Erläuterung der methodischen Details. In Ergänzung sollte auf weitere (meist unveröffentlichte) Projektdokumente zurückgegriffen werden, die die wesentlichen Informationen über das Forschungsprojekt enthalten (wie z. B. Anträge, Berichte, Leitfäden, Arbeitspapiere, Forschungstagebücher, Memos; zu den Bestandteilen einer Dokumentation s. auch: Steinke 1999, S. 208–214).
3.3
Analysepotenzial der Daten
Eine Grundprämisse der Sekundäranalyse ist, dass den im Rahmen eines spezifischen Forschungsprojekts erhobenen Daten genügend Potenzial innewohnt, um weitere Forschungsfragen zu bedienen. Die bislang veröffentlichten Beispiele zeigen, dass eine grundlegende Skepsis hinsichtlich des sekundären Analysepotenzials qualitativer Daten unbegründet ist. Aufgrund der Offenheit (Hoffmann-Riem 1980) ihrer Erhebungsmethoden zeichnen sich qualitative Daten durch einen inhaltlichen Reichtum aus, der in einer ersten Analyse häufig unausgeschöpft bleibt und die Anwendung neuer Perspektiven fördert. Die Nutzbarkeit von Daten hängt wesentlich mit ihrem Informationsgehalt zusammen. Auf einer allgemeinen Ebene bestimmt sich dieser durch die Qualität der Daten(-erhebung), also zum einen durch die Qualität des Erhebungsinstruments und zum anderen durch die Qualität der durch dieses Instrument erhaltenen Daten (Bergman und Coxon 2005). Für Sekundäranalysen muss also beurteilt werden, ob bei vorliegenden Daten die dem Gegenstand angemessenen Methoden ausgewählt und diese valide umgesetzt wurden, und ob die auf den Gegenstand bezogenen Sicht- oder Handlungsweisen der Untersuchten in einer angemessenen Tiefe in den Daten repräsentiert sind. Die Qualität der Daten vorausgesetzt bleibt zu prüfen, ob eine Passung der Daten für die konkrete Sekundäranalyse gegeben ist. Hierfür ist entscheidend, dass das Thema der Sekundäranalyse in der Originalstudie abgedeckt ist und deren Methoden die Analyse nicht einschränken. Im Sinne einer praktischen Anleitung wurden in der quantitativen Forschungstradition Fragen formuliert, die im Rahmen einer Sekundäranalyse an die Daten gestellt werden sollten (Dale et al. 1988; Stewart und Kamins 1993). In Anlehnung und Ergänzung dieser Fragen können folgende auch für qualitative Sekundäranalysen übernommen werden: Was ist die Zielsetzung der Studie und ihr konzeptioneller Rahmen? Welche Inhalte werden tatsächlich behandelt? Wie wurden die Daten erhoben (Untersuchungsdesign, Methoden, Sampling)? Wie wurden die Daten aufgezeichnet und transkribiert? Von welcher Qualität sind die Daten? Welches Kodierungsverfahren wurde eingesetzt? Wann wurden die Daten erhoben (Aktualität)? (s. auch „Assessment Tool“ in Hinds et al. 1997, S. 420–421 sowie Heaton 2004, S. 93)
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3.4
I. Medjedović
Sekundäranalyse und Forschungsethik
Sekundäranalysen unterliegen den gleichen datenschutzrechtlichen und ethischen Prinzipien, wie sie allgemein für die Forschung gelten und von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) (1998/2005) formuliert wurden (s. auch Gebel et al. 2015; Liebig et al. 2014; von Unger et al. 2016). Ein verantwortungsbewusster Umgang mit den Daten ist auch geboten, weil der Aufbau einer Vertrauensbeziehung in der qualitativen Forschung eine grundlegende Rolle spielt, um einen Zugang zur Innenperspektive der Forschungssubjekte zu erlangen. Im Vordergrund steht dabei das Prinzip, den „beforschten“ Subjekten selbst (im Sinne des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung) die Entscheidung und die Kontrolle über die Daten, in denen sie repräsentiert sind, zu überlassen. Das heißt, dass die Sekundäranalyse – so wie die Erhebung und Primärauswertung – zuallererst auf der Grundlage der Kenntnis, ausführlichen Information und Freiwilligkeit (sog. „informierte Einwilligung“) vonseiten der Forschungssubjekte stattfinden sollte. Zu den zu treffenden Vereinbarungen gehören Vertraulichkeitszusicherungen seitens der Forschenden, die auch die Anonymisierung beinhalten können. Um einen größtmöglichen Schutz der Forschungssubjekte zu gewährleisten, liegt es nahe, in Ergänzung zur informierten Einwilligung eine Anonymisierung vor der Weitergabe der Daten durchzuführen. Aus methodologischer Sicht gilt es, eine Anonymisierung zu finden, die durch die Löschung oder Veränderung von Informationen die Nutzbarkeit der Daten für die wissenschaftliche Analyse nicht zerstört (Thomson et al. 2005; von Unger et al. 2016, Abs. 14). In diesem Zusammenhang schlagen Kluge und Opitz (1999) ein Anonymisierungskonzept für Interviewtranskripte vor, das die personenbezogenen Daten entfernt und gleichzeitig die relevanten fallbezogenen Kontextinformationen erhält (Medjedović et al. 2010, S. 149–154). Auf Grundlage dieses Konzepts entwickelte Qualiservice ein semi-automatisches Anonymisierungstool, das den Aufwand für Forschende reduziert (Gebel et al. 2015, Abs. 28). Forschende haben immer – egal ob im Primärprojekt oder bei der Sekundäranalyse – eine Verantwortung gegenüber denjenigen, die sie zum „Objekt“ der Forschung erklären. Durch den persönlichen Kontakt fühlen sich Primärforscher/ innen möglicherweise in einer herausgehobenen Stellung gegenüber ihren „Schützlingen“, sodass die (zentrale) Archivierung bzw. Sekundäranalysen durch Dritte als Einfallstor für Missbrauch der zugesagten Vertraulichkeit empfunden werden können (Medjedović 2007; Richardson und Godfrey 2003). Deshalb ist der beschriebene erreichte ethische und datenschutzrechtliche methodologische Qualitätsstandard der Sekundäranalyse so wichtig. Darüber hinaus tangiert der forschungsethische Aspekt die Wahrung der Interessen derer, die die Daten erhoben haben (Medjedović 2007). Daher sollten Sekundäranalysen unter der Bedingung stattfinden, dass (auch) Primärforschende einwilligen und ihr „Urheberrecht“ an den Daten in angemessener Weise (z. B. Verweis auf die Datenquelle bei Publikationen, Regelungen der Autor/innenschaft) berücksichtigt wird.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Die Zahl der seit Mitte der 1990er-Jahre erschienenen internationalen Veröffentlichungen zur qualitativen Sekundäranalyse verweist auf deren wachsende Bedeutung. Anwendungen existieren mittlerweile in diversen Fachdisziplinen (z. B. Geschichtswissenschaft, Psychologie, Soziologie, Kriminologie, Public Health) und zu vielfältigen Forschungsfeldern und -themen. Wie viele der Beispiele zeigen, sind die Möglichkeiten der Sekundäranalyse eng verknüpft mit der Gründung von Archiven, die interessierten Forschenden einen organisierten Zugang zu geeigneten Forschungsdaten schaffen. International gibt es mittlerweile entsprechende Initiativen und Datenarchive (für den europäischen Stand: Neale und Bishop 2011 sowie Valles et al. 2011). Umfangreichere Datensammlungen bieten allerdings nur das Henry A. Murray Research Archive an der Harvard University und der britische UK Data Service. Beide Archive verfolgen einen multidisziplinären Ansatz, wobei insbesondere das Murray-Archiv auf eindrucksvolle Sekundäranalysen zu dezidiert psychologischen Fragestellungen verweisen kann (James und Sørensen 2000). In Deutschland ist mit dem seit 2002 DFG-geförderten psychologischen Datenarchiv (PsychData) des Zentrums für Psychologische Information und Dokumentation zwar ein erstes zentrales Angebot für die Psychologie geschaffen worden, das sich aber auf quantitative Datensätze beschränkt, die im Rahmen der psychologischen Umfrageforschung, der experimentellen Psychologie sowie von Testentwicklungen erhoben wurden. Mit Blick auf qualitativ-psychologische Forschung ist die Grundlegung des Ausbaus des Archivs für Lebenslaufforschung zu einem Datenservicezentrum für qualitative Daten durch eine Machbarkeitsstudie (Medjedović et al. 2010) ein erster Schritt gewesen. Aus den Ergebnissen der Machbarkeitsstudie wurden die Konzeption eines solchen Servicezentrum („Qualiservice“) erarbeitet und erste technisch-organisatorische Schritte für ein Datenmanagement als Grundlage für einen Regelbetrieb realisiert (Kretzer 2013). Qualiservice ist mittlerweile ein vom RatSWD akkeditiertes Forschungsdatenzentrum, das neben dem bisherigen Fokus auf Interviews erstmals auch ethnografische Forschungsdaten für die Sekundärnutzung erschließt.1 (Für die Beschreibung weiterer qualitativer Datenarchive siehe Huschka et al. 2013; Medjedović et al. 2010, S. 88–93; sowie RatSWD 2018) Der Aufbau von nutzungsfreundlichen Datensammlungen hat zusätzliche Bedeutung durch parallele Entwicklungen in den Wissenschaften insgesamt gewonnen. Zum einen fordern Wissenschaftsorganisationen einen offenen und organisierten Zugang zu allen Informationsquellen, so auch Forschungsdaten, weil sie eine zentrale Rolle im Zusammenhang mit innovativen Formen des wissenschaftlichen Arbeitens in einer E-Science-Umgebung spielen (Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen 2015; OECD 2007). Zum anderen wird unter dem Stichwort
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https://www.qualiservice.org/de/news/pressemitteilung-der-universitaet-bremen.html. Zugegriffen am 29.09.2019.
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Forschungstransparenz der Rückgriff auf Originaldaten eingefordert und Wissenschaftler/innen werden dazu angehalten, ihre Daten über einen längeren Zeitraum für Reanalysen zu sichern (DFG 2013, S. 21–23; RatSWD 2015). Auch die Diskussion in der deutschsprachigen qualitativen Forschung greift diesen letzten Punkt auf. Angesichts eines verschärften Wettbewerbs um Forschungsgelder sieht Reichertz (2007) eine neue Notwendigkeit für die qualitative Forschung, ihre Anerkennung und praktische Relevanz im Wissenschaftsbetrieb zu behaupten. Die Archivierung und Bereitstellung für Sekundäranalysen sei in diesem Zusammenhang ein Instrument, um qualitative Forschung der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit zugänglich zu machen und darüber wissenschaftliche Gütestandards qualitativer Forschung fest zu etablieren (Reichertz 2007, S. 200). Kritische Stimmen sehen in derart verstandenen Sekundäranalysen dagegen das „normative Paradigma“ und die „‚Logik‘ standardisierter Sozialforschung“ (Hitzler 2016, S. 172) durchscheinen. Ungeachtet dessen, dass die Frage der Qualitätsstandards qualitativer Forschung selbst eine andauernde Kontroverse darstellt (z. B. die Diskussion in Erwägen – Wissen – Ethik, 18(2) sowie die FQS-Debatte „Qualitätsstandards qualitativer Forschung“), ist die Forderung nach Archivierung zwecks Überprüfung ein sensibles Thema. Die Befürchtung, dass andere Forscherinnen und Forscher die eigene Forschung infrage stellen könnten, ist ein Motiv für Skepsis oder Ablehnung gegenüber der Bereitstellung von Daten für die Sekundäranalyse (Medjedović 2007; Parry und Mauthner 2004). Die Etablierung eines Data Sharing hängt daher auch an der Bereitschaft der qualitativen Forschungsgemeinschaft, die bislang gewohnte Interpretationshoheit aufzugeben und sich ein stückweit angreifbarer zu machen. Die Frage der Schaffung von Infrastrukturen für die qualitative Forschung erhielt jüngst eine neue Dynamik. So erkennt auch der Wissenschaftsrat (WR) für Deutschland einen Nachholbedarf im Bereich der Archivierung qualitativer Forschungsdaten und empfiehlt eine verstärkte Förderung von Mixed-Methods-Projekten, die auch der Langzeitverfügbarmachung von qualitativen Forschungsdaten dienen soll (WR 2011, 2012). Diesen Empfehlungen folgend rücken vor allem die Aktivitäten des Rat für Sozial- und WirtschaftsDaten (RatSWD) die Entwicklung in eine neue Perspektive: Gingen die bisherigen Bemühungen um den Aufbau von qualitativen Datenarchiven vornehmlich von Akteuren aus der qualitativen Forschungscommunity aus, bietet sich nunmehr die Chance, qualitative und quantitative Forschungsund Dateninfrastrukturen zu integrieren und damit die Bemühungen auf eine breitere Basis zu stellen (Huschka et al. 2013). In seiner im Juni 2015 ergangenen Stellungnahme hat sich der RatSWD ausdrücklich für eine Kultur der Datenbereitstellung der qualitativen Sozialforschung ausgesprochen (RatSWD 2015, S. 9). Zusammen mit seinen in den letzten Jahren geförderten Aktivitäten rund um offene Fragen der Infrastrukturen, des Datenschutzes und der Forschungsethik zeitigt diese forschungspolitische Absicht bereits erste praktische Auswirkungen – nimmt man allein die Tatsache der mittlerweile acht vom RatSWD akkreditieren Datenzentren mit qualitativen Datenbeständen (www.ratswd. de/forschungsdaten/fdz/qualitativ).
Qualitative Sekundäranalyse
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Ein allgemeines Data Sharing auch von qualitativen Daten zu erleichtern, geht allerdings mit dem Desiderat einher, geeignete Standards des Projekt- und Datenmanagements für die qualitative Forschung zu implementieren. Denn Aspekte wie eine angemessene Kontextualisierung und Anonymisierung – zudem für die recht unterschiedlichen qualitativen Datenarten – stellen neue Anforderungen an die bisherige Forschungspraxis dar. Es bleibt also abzuwarten, inwieweit die qualitative Forschungscommunity sich auf diese neuen Anforderungen einlässt.
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Qualitative Online-Forschung Timo Gnambs und Bernad Batinic
Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Methodische Varianten der qualitativen Online-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Aktueller Stellenwert von Online-Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Beispiele qualitativer Online-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ethische Überlegungen zur Online-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Stärken und Schwächen Qualitativer Online-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Innerhalb von wenigen Jahrzehnten hat das Internet zahlreiche Lebensbereiche einschneidend verändert. Dieser Beitrag beleuchtet entsprechende Auswirkungen auf die psychologische Forschung und diskutiert Möglichkeiten qualitativer Forschungsvorhaben mithilfe internetbasierter Ansätze. Insbesondere die Besonderheiten von qualitativen Online-Interviews und Online-Beobachtungen werden näher beleuchtet und traditionellen Forschungsmethoden gegenübergestellt. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf künftige technologische Entwicklungen wie Echtzeitmessung mittels Smartphones und der Analyse von Big Data in der Psychoinformatik, welche den Methodenkanon für qualitativ tätige Forschende erweitern. T. Gnambs (*) Johannes Kepler Universität Linz, Linz, Österreich Leibniz Institut für Bildungsverläufe, Bamberg, Deutschland E-Mail: [email protected] B. Batinic Johannes Kepler Universität Linz, Linz, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_24
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T. Gnambs und B. Batinic
Schlüsselwörter
Internet · Interview · Chat · Fokusgruppe · Virtuelle Welten
1
Einleitung
Das Internet hat in den letzten beiden Jahrzehnten zweifelsohne die psychologische Forschung einschneidend geprägt und die Art und Weise beeinflusst, wie Forschungsvorhaben geplant und durchgeführt werden (für Überblicksarbeiten s. Gosling und Mason 2015; Tippins 2015). Prinzipiell ist die Nutzung des Internets in allen Stadien des Forschungsprozesses möglich (Lee et al. 2008): Von der Literaturrecherche über wissenschaftliche Suchmaschinen und Online-Datenbanken, die zeit- und grenzüberschreitende Kollaboration internationaler Forschungsgruppen per E-Mail oder VideoKonferenzsystemen, die Durchführung des eigentlichen Forschungsvorhabens über das Internet (siehe dazu das „Many Labs Project“ einer internetbasierten Forschungskooperation mit weltweit verteilten Standorten; Klein et al. 2018), der Verschriftlichung der Resultate mittels Online-Textverarbeitungsprogrammen, an denen verschiedene Personen zeitgleich zusammenarbeiten, der Veröffentlichung von Texten im Internet (vgl. dazu die zunehmende Verbreitung von Open-Access-Publikationen; Mey und Mruck 2007) bis hin zur Bereitstellung der Daten zur weiteren Nutzung durch die Fachöffentlichkeit in entsprechenden Online-Datenbanken (siehe dazu Kommentare von Nosek et al. 2015; Wicherts 2013) und vieles mehr. Besondere Bedeutung hat das Internet zunehmend auch für die Zwecke der Datenerhebung in der qualitativen Forschung erlangt, da online vergleichsweise ökonomisch umfangreiche Informationen auch von spezifischen Subpopulationen erfasst werden können, die auf traditionellem Weg nicht oder nur sehr schwer zu rekrutieren wären, beispielsweise Personen, die unter einem spezifischen Krankheitsbild leiden (Synnot et al. 2014), oder Personen mit extremistischen Einstellungen (Holtz und Wagner 2009). Die Ursprünge des heutigen Internets in Form des ARPA (Advanced Research Projects Agency) Netzes gründen in einem frühen Forschungsprogramm des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums mit primär militärischen Zielsetzungen (Cohen-Almagor 2011; Musch 1997). Mit dem Ausbau zum World Wide Web entwickelte es sich ab den 1990er-Jahren dann allmählich in ein tatsächlich weltumspannendes Kommunikations- und Kollaborationsnetzwerk mit universellem Anwendungscharakter für akademische, kommerzielle, politische und zahlreiche andere Zwecke. In der Psychologie gibt es eine lange Tradition, frühzeitig neue Technologien, die zur Verfügung stehen, in den Forschungsprozess zu integrieren. Man denke etwa an das Aufkommen von Computerprogrammen zur Analyse qualitativer Daten (Woods et al. 2016) oder an die Ton- bzw. Videoaufzeichnung von Interviews zur detaillierten Analyse nuancierter Kommunikationsmerkmale (Drisko 2013; Moylan et al. 2015). In diesem Sinne dauerte es nicht lange, bis auch das Internet als weiteres Element technologiebasierter Datenerhebung Eingang in den Methodenkanon der Psychologie gefunden hatte. Mancherorts herrschte allerdings (und herrscht zum Teil auch heute noch) eine gewisse Hemmschwelle bezüglich der
Qualitative Online-Forschung
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Anwendung von Online-Methoden vor, da diese den Erwerb neuer technischer Fertigkeiten erfordern; beispielsweise um Computeralgorithmen zu entwickeln, mithilfe derer im Internet vorliegende Informationen (z. B. in Form von Dialogen in Online-Diskussionsforen) automatisiert extrahiert und in ein analysierbares Format übertragen werden können. Aus instrumenteller Perspektive stellte das Internet somit zunächst lediglich ein Werkzeug zur Sammlung qualitativer Daten dar und repräsentierte lediglich ein Substitut einer Reihe unterschiedlicher technologieunterstützter Datenerhebungsmethoden (mit Tonbandgeräten, Telefon, Personal Digital Assistants etc.), welche über das Internet, in der Regel über den Webbrowser am eigenen Computer, gestaltet werden. Auf der anderen Seite wird unter dem Begriff der Online-Forschung vermehrt auch eine phänomenologische Perspektive subsumiert, bei der das Internet nicht nur als Untersuchungsinstrument, sondern explizit auch als Untersuchungsgegenstand betrachtet wird. Im Sinne virtueller Ethnografie („netnography“, Kozinets 2015) wird das Internet nicht mehr nur als einfaches Kommunikationswerkzeug begriffen, sondern als ein Ort sozialer Begegnung, in dem Personen interagieren, soziale Beziehungen aufbauen und pflegen (z. B. in Online-Communities wie Facebook, Twitter, oder Instagram), die keineswegs weniger reichhaltig ausfallen als vergleichbare Beziehungen in der realen Welt (Domínguez et al. 2007; Subrahmanyam et al. 2008). Derart eröffnen sich mannigfaltige neue Möglichkeiten für die Psychologie, menschliches Handeln und Erleben zu beobachten und zu analysieren. Bei der Diskussion von Online-Forschung werden die instrumentelle und phänomenologische Perspektive manchmal nur unzureichend differenziert, obwohl sie unabhängige Ebenen betreffen. So müssen Online-Phänomene, beispielsweise zu Selbstpräsentationsstrategien in virtuellen, sozialen Netzwerken, nicht zwangsläufig auch mit internetbasierten Methoden untersucht werden. Der Forschungsgegenstand kann mit traditionellen persönlichen Interviews ebenso wie mit Online-Interviews bearbeitet werden. Häufig sprechen jedoch dezidierte Gründe für den einen oder den anderen Zugang (z. B. können über das Internet einfacher heterogene Stichproben rekrutiert werden; Gosling et al. 2010). Gleichermaßen implizieren Online-Methoden nicht notwendigerweise die Untersuchung von primär internetbasierten Phänomenen. Die Eignung von Online-Methoden für qualitative Forschungsprojekte ist daher für jede Fragestellung erneut zu beurteilen und deren Stärken und Schwächen gegenüber alternativen Zugängen abzuwägen.
2
Methodische Varianten der qualitativen Online-Forschung
Das Internet stellt für die qualitative Forschung grundsätzlich keine komplett neuen Erhebungstechniken zur Verfügung, die über Fragen und Beobachten hinausgehen würden. Aufgrund der neuartigen Rahmenbedingungen treten diese jedoch in mediumspezifischer Abwandlung zutage. Online-Verfahren können im Allgemeinen anhand zweier Dimensionen differenziert werden: hinsichtlich des Ausmaßes ihrer Synchronizität und ihrer Reaktivität (s. Tab. 1). Bei synchronen Methoden treten die Forschenden und an der Studie Teilnehmenden in eine zeitgleiche Interaktion
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T. Gnambs und B. Batinic
Tab. 1 Qualitative Online-Methoden reaktiv
non-reaktiv
Asynchron E-Mail Diskussionsforum Offene Online-Befragung Diskussionsforum Weblog Homepage Soziale Netzwerke
synchron Chat Videokonferenz Multiplayer-Online-Spiele Virtuelle Simulationen
(z. B. in internetbasierten Chats), während asynchrone Ansätze durch zeitversetzte Reaktionen (z. B. Frage- und Antwortrunden per E-Mail) gekennzeichnet sind. Bei reaktiven Verfahren wiederum haben die Teilnehmenden explizit auf von den Forschenden gesetzte „Reize“ (im einfachsten Fall die Items eines Fragebogens) zu reagieren, indem sie z. B. ihre Antworten in ein offenes Textfeld eingeben, während bei nicht-reaktiven Verfahren keine aktive Intervention gesetzt wird, sondern eine Analyse der „Verhaltensspuren“ der Nutzenden im Internet erfolgt (z. B. der Kommentare in einem Weblog).
2.1
Synchrone Verfahren
Synchrone Interviews werden im Internet über Web-Chats, Instant-Messenger-Systeme oder Videokonferenzanwendungen realisiert. Im einfachsten Fall erfolgt die Kommunikation ausschließlich auf schriftlichem Weg. Die Gesprächspartner/innen schreiben ihre Kommentare in entsprechende Textfelder, welche zeitgleich über das Internet an das Gegenüber übertragen werden. Dieser Zugang stellt die bislang dominante Online-Interviewform dar, da sie die geringsten technischen Anforderungen auf Seiten der Interviewten voraussetzt. Textbasierte Chats können einfach in üblichen Webbrowsern realisiert werden und erfordern keine aufwändige Installation zusätzlicher Software. Dadurch ermöglichen sie auch technisch weniger versierten Personen die Teilnahme an Online-Interviews. Ausgereifte Chat-Systeme sind zudem in der Lage, zeitgleich multimediales Stimulusmaterial (z. B. Bilder oder Animationen) darzustellen. Dadurch können Interviewende im Gesprächsverlauf nach Belieben zusätzliche Informationen darbieten, um im Weiteren darauf eingehen zu können. Anwendungen in Form von Whiteboards bieten sogar Zeichenflächen, auf denen die Teilnehmenden wie auf einem Blatt Papier zeichnen können, um beispielsweise im Rahmen von Online-Gruppendiskussionen Zusammenhänge zu visualisieren oder Mindmaps zu generieren. Obgleich derartige Anwendungen über das Internet technisch zweifellos realisiert werden können, ist derzeit noch fraglich, inwiefern die Internetnutzenden ausreichend im Umgang mit der Computermaus geübt sind, um derartige Zeichnungen am Computerbildschirm einfach umsetzen zu können. Für viele Personengruppen muss wahrscheinlich angenommen werden, dass Whiteboards aufgrund ihrer ungewohnten Bedienung häufig noch zu komplexe Anwendungen darstellen und den Interviewprozess eher stören als unterstützen. Mit
Qualitative Online-Forschung
101
zunehmender Medienkompetenz vieler Bevölkerungsschichten werden diese aber künftig Interviews bereichern (können). Mit der weiteren Verbreitung von InternetTelefonie (insbesondere auch Video-Telefonie) können internetbasierte Interviewsituationen zudem stetig natürlicher gestaltet werden, sodass für die nahe Zukunft eine Abkehr von rein schriftlichen Interviewformen (über Text-Chat) hin zu verbalen Dialogen (über Videosysteme) zu erwarten ist (Deakin und Wakefield 2014). Synchrone Verfahren erscheinen im Vergleich zu asynchronen Alternativen häufig aufgrund ihrer kürzeren Latenzzeit vorteilhaft, da wie im persönlichen Gespräch auf gestellte Fragen eine unmittelbare Reaktion ohne Zeitverzögerung zu erwarten ist. Allerdings muss konstatiert werden, dass internetbasierte Chat-Interviews in der Regel fast doppelt so lange wie vergleichbare persönliche Interviews dauern (Reid und Reid 2005). Bei synchronen Befragungen werden die Antworten somit stark von der Lese- und Tippgeschwindigkeit der Interviewten beeinflusst. Dies verdeutlicht auch ein Methodenexperiment von Erdogan (2001), die persönliche und OnlineErhebungen gegenüberstellte. Im persönlichen Gespräch produzierten die Teilnehmenden der Gruppendiskussionen einen bis zu drei Mal längeren Redebeitrag als in den Internetgesprächen. Andererseits meldeten sich die Teilnehmenden im Chat häufiger zu Wort. Chat-Interviews führen demnach zwar zu einer höheren Frequenz der Wortmeldungen, wobei insgesamt weniger Wörter produziert werden.
2.2
Asynchrone Verfahren
Im Gegensatz dazu zeichnen sich asynchrone Interviewformen durch zeitversetzte Frage-Antwort-Runden aus, d. h. die Gesprächspartner/innen müssen nicht zur selben Zeit am Computer im Internet sein. Asynchrone Interviewvarianten werden über E-Mail, Mailinglisten oder internetbasierte Diskussionsforen durchgeführt. Bei E-Mail-Befragungen werden den Befragten Fragen einzeln oder in thematischen Blöcken zur Beantwortung übermittelt. Dabei ist darauf zu achten, nicht zu viele Fragen auf einmal zu stellen, um die Antwortenden nicht zu überfordern. Offen zu beantwortende Fragen werden in der Regel als anstrengender erlebt als vergleichbare Fragen mit vorgegebenen Antwortalternativen. Um Befragte nicht mit einer zu langen Frageliste zu entmutigen (z. B. durch Ermüdung oder Frustration), ist auf ein ausgewogenes Verhältnis von Fragen und Befragungsepisoden zu achten. E-Mail ist eine Kommunikationsform, die auf eher kurzen, in sich geschlossenen Texteinheiten aufgebaut ist (Bampton et al. 2013). Dies wird umso wichtiger, wenn Mobiltelefone zur Datenerhebung eingesetzt werden, bei denen die Teilnehmenden per SMS auf Fragen zu reagieren haben. Lange Antworten sind per SMS schon aufgrund technischer Einschränkungen nicht möglich. SMS-Befragungen eigenen sich besonders, um individuelle Eindrücke in längsschnittlichen Designs zu erheben, in denen Personen z. B. über einen längeren Zeitraum täglich kurze Stimmungs- oder Einstellungsstatements zeitnah nach ihrem Auftreten beantworten, statt dass diese erst nach längerer Zeit retrospektiv rekonstruiert werden müssen (Trull und EbnerPriemer 2013, 2014). Methodenübergreifende Vergleichsstudien legen nahe, dass derartige Tagebuchverfahren per SMS in der Regel schneller verschickt werden als
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T. Gnambs und B. Batinic
vergleichbare internetbasierte Tagebücher; allerdings werden von den Teilnehmenden die internetbasierte Varianten bislang gegenüber Handybefragungen deutlich vorgezogen (Lim et al. 2010).
2.3
Non-reaktive Verfahren
Non-reaktive Formen der Datenerhebung sind im Rahmen der qualitativen OnlineForschung besonders populär, da Personen häufig freiwillig umfangreiche persönliche Informationen im Internet zur Verfügung stellen, die Einblick in deren Alltagserfahrungen und subjektives Erleben ermöglichen. Diese werden in Form multimedialer Dokumente meist schriftlich, manchmal aber auch als Audio- oder Videobotschaft, als autobiografische Erzählungen oder Tagebücher auf persönlichen Homepages oder Weblogs, aber auch in persönlichen Profilen sozialer Netzwerkdienste wie Facebook oder Twitter veröffentlicht. Allerdings werden ethische Implikationen, die sich aus der Nutzung derartiger Datenquellen ergeben, bislang noch kontrovers diskutiert (s. Abschn. 5). Besondere Bedeutung hat das Internet vor allem auch für ethnografische Studien erlangt, bei denen sich das Forschungsinteresse auf Interaktionen von ganzen Personengruppen in virtuellen Umgebungen richtet. In internetbasierten Diskussionsforen oder Mailinglisten lassen sich ganze Konversationen mitverfolgen (man spricht hier von sogenanntem lurking). Dabei ist es oft so, dass sich Forschende gar nicht zu erkennen geben müssen, wodurch dann aber auch die spezifische Beteiligung fehlt, die für ethnografische Forschung häufig als notwendig erachtet wird, um ein tieferes Verständnis für das Geschehen zu erlangen. Ethnografischen Arbeiten richten sich zumeist auf Interaktionen in Newsgroups, Chats und internetbasierten Diskussionsforen, die verschiedene Personen ortsunabhängig zusammenführen und dadurch neue, virtuelle Gruppen generieren, die häufig keine Entsprechung in der realen Welt haben. Im Allgemeinen werden fünf Haupttypen internetbasierter Gruppen differenziert (Herring 2008): 1. Interessensgruppen (z. B. Buchliebhaber/innen), 2. Supportgruppen (z. B. Angehörige von Krebspatient/innen), 3. aufgabenbezogene Gruppen (z. B. Entwickler/innen eines Softwareprodukts), 4. geografische Gruppen (z. B. Bewohner/innen einer bestimmten Region/Stadt) und 5. kommerzielle Gruppen (z. B. Kund/innen, die auf einer Produktwebseite interagieren). Virtuelle Gruppen sind nicht notwendigerweise auf rein textbasierte Interaktionen beschränkt. Seit einiger Zeit werden sogenannte virtuelle Multiuser-Umgebungen (multi-user virtual environments) wie „World of Warcraft“ zunehmend populär, an denen sich Akteure aus der gesamten Welt über das Internet beteiligen können. Das Ziel derartiger Anwendungen ist es ein Gefühl von Präsenz zu erzeugen; d. h. einen virtuellen Ort zu generieren, der unabhängig von der aktuellen physikalischen Umgebung der Nutzenden existiert und der es ihnen dennoch erlaubt, mit und vor allem auch in dieser virtuellen Umgebung zu interagieren (Schroeder 2006). Derartige Anwendungen visualisieren ganze virtuelle Welten am Bildschirm der Nutzenden. In diesen wird die eigene Person in Form einer grafischen Spielfigur (soge-
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nannter Avatare) repräsentiert, welche die Teilnehmenden mit der Maus durch die Online-Umgebungen lenken, bestimmte Spielhandlungen setzen (z. B. Aufstöbern verborgener Schätze) und vor allem auch in Interaktion mit anderen Teilnehmenden treten lassen können. Der Gegenstand der Beobachtung ist im Vergleich zu rein textbasierten Gruppen ungleich reichhaltiger, da sie sich nicht nur auf schriftliche Äußerungen beschränken. Dies können Merkmale der von den Teilnehmenden gestalteten virtuellen Umgebung selbst ebenso wie Gestaltungsaspekte des eigenen Avatars sein bis hin zu Merkmalen des verbalen wie non-verbalen Interaktionsverhaltens zwischen den Teilnehmenden (O’Connor et al. 2015; Williams 2007). In jüngster Zeit und mit Hilfe von „Augmented-Reality-Brillen“ können diese virtuellen Welten in Form von Hologrammen mit der realen Welt verbunden werden. Der Träger des Headsets sieht hierbei mit Hilfe von Kameras zum einen ein Abbild seiner „wirklichen“ Umgebung und anderseits eine dreidimensionale, in eben diese Umgebung hineinprojizierte, Computeranimation. Beispielhaft ist hier das von Microsoft im Jahr 2015 vorgestellte System „HoloLens“ zu nennen (s. Arth et al. 2015 für einen historischen Überblick).
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Aktueller Stellenwert von Online-Methoden
Die Ausgangslage für internetbasierte Methoden in der (qualitativ-)psychologischen Forschung erweist sich als ausgesprochen günstig. Die ARD/ZDF-Onlinestudie (2018) weist für die Bevölkerung von Deutschland bereits eine durchschnittliche Internetpenetration von über 90 Prozent aus. Angesichts der zunehmenden Anzahl von Privathaushalten mit Computern und Internetanschluss scheint die Einbindung des Internets zur Rekrutierung und Datenerhebung für die psychologische Forschung nur der nächste logische Schritt zu sein. Die Beurteilung der tatsächlichen Relevanz von Online-Methoden für die qualitativ-psychologische Forschung ist jedoch schwierig, da diesbezüglich bislang nur wenig aussagekräftiges Datenmaterial vorliegt. Eine indirekte Abschätzung der Verbreitung von internetbasierten Erhebungsverfahren ermöglichen Erfahrungswerte aus der kommerziellen Marktund Meinungsforschung. Dort haben Web-Befragungen innerhalb von fünfzehn Jahren einen Marktanteil von fast 40 Prozent aller Marktforschungsprojekte erobert (ADM 2018); bei den qualitativen Studien, die ca. 7 Prozent des Umsatzes der ADM Mitgliedsinstitute ausmachen, wird der Anteil internetbasierter Erhebungen nicht explizit ausgewiesen (Abb. 1). Zeitgleich findet dieser Wandel, wenn auch in deutlich bescheideneren Ausmaß, Niederschlag in wissenschaftlichen Fachpublikationen. Skitka und Sargis (2006) schätzen den Anteil von APA-Zeitschriften, die zumindest einen Artikel mit internetbasierten Erhebungsmethoden veröffentlicht haben, für die Jahre 2003/04 auf rund 21 Prozent. Qualitative Studien machen davon allerdings nur rund vier Prozent aus. Aufgrund der generell starken Unterrepräsentation qualitativer Forschungsarbeiten in APA-Zeitschriften darf jedoch angenommen werden, dass der tatsächliche Anteil qualitativer Online-Methoden in der heutigen Forschungspraxis deutlich höher ist.
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Abb. 1 Anteil der Internetnutzer an der Gesamtbevölkerung (aus ARD/ZDF 2018) und Anteil der online Interviews an allen Marktforschungs-Interviews (aus ADM 2018) in Deutschland
Die Anwendung qualitativer Methoden im Internet stellt keine Randerscheinung psychologischer Forschung mehr dar, sondern zählt zum Methodenkanon einer Vielzahl unterschiedlicher Fachrichtungen. Diese reichen von klinischen Fragestellungen beispielsweise zu Prädiktoren von riskantem Sexualverhalten bei TransgenderPopulationen (Feldman et al. 2014) oder Merkmalen exzessiven Computerspielens als Suchterkrankung (Beranuy et al. 2013) über sozialpsychologische Themen wie die Etablierung von Regeln sozialer Interaktion in Multiplayer-Online-Spielen (Griffiths et al. 2011) oder Selbstpräsentationsstrategien in Weblogs (Huffaker und Calvert 2005) bis hin zu Anwendungen in der pädagogischen Psychologie (z. B. zu geschlechtsspezifischen Verhaltensmustern in internetbasierten Lernanwendungen; Hou 2012) und in der Entwicklungspsychologie (z. B. über Online-Erfahrungen von Jugendlichen mit interethnischen Themen; Tynes 2007).
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Beispiele qualitativer Online-Forschung
Untersuchungen zu sozial negativ konnotiertem Verhalten sind im direkten Gespräch häufig nur schwer zu realisieren, da in der persönlichen Kommunikation von Angesicht zu Angesicht insbesondere bei gesellschaftlich tabuisierten oder sogar kriminalisierten Themen häufig keine oder nur sehr verzerrte Äußerungen
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der Teilnehmenden zu erwarten sind. Mit derartigen Schwierigkeiten sehen sich in der Regel auch Studien aus dem Bereich der Vorurteilsforschung konfrontiert. Insbesondere Personen mit extrem xenophoben oder sogar rassistischen Einstellungen sind zum einen oft nur schwer zur Teilnahme an wissenschaftlichen Untersuchungen zu motivieren und reagieren zum anderen bei direkten Fragen häufig stärker sozial konform, als es ihrer tatsächlichen Werthaltung entsprechen würde. Um auch derartige, vergleichsweise spezifische Personengruppen erreichen und möglichst unaufdringlich untersuchen zu können, bieten sich in vielen Fällen internetbasierte Forschungsmethoden an. Billig (2001) berichtet zum Beispiel von einer diskursanalytischen Studie von drei Webseiten, die rassistische Witze sammeln und Sympathie für den Ku Klux Klan zeigen. Dabei arbeitet er den Metadiskurs dieser Seiten heraus und zeigt, wie Humor als Mittel eingesetzt werden kann, um Hass auszudrücken. Eine sozialpsychologische Untersuchung von Holtz und Wagner (2009) zu einem verwandten Thema ging der Frage nach, inwiefern bestimmte, essenzielle Unterschiede, die einer Outgroup (z. B. Juden und Jüdinnen) gegenüber der Ingroup (z. B. Deutsche) zugeschrieben werden, als Rechtfertigung aversiver Handlungen gegen diese Outgroup dienen. Häufig werden ausgesprochen rassistische Ansichten sehr offen ausgedrückt – zumindest unter Gleichgesinnten. Seit Mitte der 1990er-Jahre haben sich im Internet zahlreiche Webseiten, Mailinglisten und Diskussionsforen etabliert, die dem Gedankenaustausch derartiger Gruppen gewidmet sind (Franklin 2010). Solche Foren finden sich häufig frei zugänglich im Internet. Darin werden umfangreiche Gesprächsverläufe, auch über mehrere Jahre hinweg, gleichsam dokumentiert und hinterlassen vielfältige Informationen nicht nur über den inhaltlichen Diskurs selbst, sondern auch über die beteiligten Personen, die über sog. Nicknames identifiziert werden können. Holtz und Wagner (2009) zogen für ihre Studie fast 5000 Diskussionsbeiträge aus einschlägigen Internetforen heran, die im ersten Schritt semi-automatisch aus dem Forum extrahiert wurden, um sie anschließend in ein Auswertungsprogramm zu übertragen. Die Datengrundlage ihrer inhaltsanalytischen Auswertungen stellten somit nicht-reaktiv gewonnene Informationen dar, also Daten, die nicht aufgrund spezifischer Fragen der Forschenden, sondern in Form „normalen“ Verhaltens der Beteiligten erhoben wurden. Im persönlichen Gespräch wären derartige Konversationen nur schwer zu erfassen gewesen. Ähnlich realisierten Glaser und Kolleg/innen (2002) ein qualitatives Online-Experiment, um angegebene Gründe von extremistischen Gruppen zu explorieren, Gewaltakte gegen Minderheiten zu unterstützten (z. B. ökonomische Bedrohungen wie Jobverlust oder „genetische Bedrohung durch Mischehen“). Die Forschenden gaben sich dabei als normale Chat-Besuchende aus und ließen in der Konversation vorab festgelegte Szenarios zu verschiedenen Bedrohungsszenarios einfließen. Den anderen Teilnehmer/innen war dabei nicht bewusst, dass sie an einer Untersuchung teilnahmen, sondern sie betrachteten die Dialoge als Gespräche unter Gleichgesinnten. Die Antworten wurden hinsichtlich des Ausmaßes, indem sie Gewaltakte gegen Minderheiten befürworteten, kodiert, um so Aussagen zu treffen wie verschiedene Bedrohungsszenarien Gewalttaten begünstigen.
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Ethische Überlegungen zur Online-Forschung
Inwiefern Daten aus Diskussionsforen oder Online-Chats eine private Kommunikation darstellen, welche aus ethischen Erwägungen nicht ohne Einwilligung der Beteiligten analysiert werden dürfen, oder physische Spuren im Sinne von Döring und Bortz (2016), wird bislang kontrovers diskutiert. Diesbezüglich lassen sich drei Sichtweisen unterscheiden (Hookway 2008): Manche Autor/innen akzeptieren deren Verwendung für Forschungszwecke, wenn keine expliziten Zugriffsbarrieren (z. B. durch Passwortschutz) diese Informationen schützen, sondern sie frei zugänglich im Internet verfügbar sind, und wenn Nutzungsbedingungen (AGBs) des Forenbetreibers der Verwendung nicht explizit widersprechen. Andere Autor/innen gehen davon aus, dass internetbasierte Beiträge – selbst wenn sie öffentlich zugänglich sind – von den Verfasser/innen als private Kommunikation betrachtet werden und deshalb von Forschenden auch solcherart gehandhabt werden müssten, also eine explizite Einwilligung der Verfasser/innen und/oder des Forenbetreibers notwendig ist. Schließlich wird von einer dritten Gruppe postuliert, es seien keine allgemeingültigen Aussagen möglich, da das Internet gleichsam publicly-private und privatelypublic (Waskul und Douglass 1996, S. 131) sei. Forschende müssten deshalb stets berücksichtigen, unter welcher Erwartungshaltung internetbasierte Beiträge verfasst wurden. In der Praxis ist es jedoch so, dass häufig eine Einwilligung zur Verwendung von Informationen entweder nicht bzw. nur sehr schwer eingeholt werden kann (Teilnehmer/innen einer archivierten Online-Konversation sind häufig nicht mehr erreichbar, weil sie die Gruppe verlassen haben oder sich die E-Mail-Adresse geändert hat) oder vorab gar nicht eingeholt werden sollte: Bei synchronem OnlineGeschehen (z. B. in Chats oder Multiuser-Online-Spielen) würde die Spontaneität und Natürlichkeit des Geschehens stark beeinträchtigt, wenn vorab eine Einwilligung zur Beobachtung von den Teilnehmenden erbeten würde. Aus pragmatischen Erwägungen hängen die meisten Forschenden wahrscheinlich vornehmlich erster Sichtweise an und nutzen internetbasierte Diskussionsbeiträge ohne explizite Einwilligung der Verfasser/innen. Ein weiterer Punkt, der in diesem Zusammenhang besondere Beachtung verdient, ist die Wahrung des Datenschutzes und der vertrauliche Umgang mit im Internet erhobenen Informationen. Die Verwendung von Pseudonymen ist häufig nicht ausreichend. So können Beiträge eines Nutzers bzw. einer Nutzerin durch einen individuellen Schreibstil oder eine spezifische Wortwahl geprägt sein, sodass selbst bei Verwendung anonymisierter Namen einzelne Personen allein aufgrund exzerpierter Beiträge identifiziert werden könnten. Letztendlich muss die Frage nach der Zulässigkeit von qualitativer Forschung in Online-Medien unter besonderer Würdigung des jeweiligen Einzelfalls beantwortet werden. Als Hilfestellung kann dazu die systematische Beantwortung von 16 Leitfragen von Buchanan und Williams (2010) dienen. Diese Fragen beziehen sich unter anderem auf die Identifizierbarkeit der Untersuchungsteilnehmenden und die Datensicherheit und sollen helfen die ethischen Implikationen des eigenen Forschungsvorhabens zu konkretisieren. Darüber hinaus stellen wissenschaftliche Fachgesellschaften und durch diese legitimierte Ethikkommissionen allgemeine Richtlinien für die Durchführung von qualitativen Online-Forschungsvorhaben bereit. Beispielhaft
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ist hier die „Soziale Medien Richtlinie“ der deutschen Marktforschungsverbände zu nennen (ADM et al. 2014). Es ist zu erwarten und zu begrüßen, dass sie Entwicklung hier weiter voranschreitet und sich letztendlich allgemeine und anerkannte Standards für das Forschen im Internet etablieren.
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Stärken und Schwächen Qualitativer Online-Forschung
Zu den Vorteilen internetbasierter Methoden zählen u. a. Kosten- und Zeitersparnisse aufgrund (teil-)automatisierter Datenerhebungen und wegen des Wegfalls potenzieller Kosten für Anreise, Räumlichkeiten und Transkription, die bei persönlichen Interviews entstehen können (Opdenakker 2006). Durch die weltweite Verfügbarkeit des Internets, auch über geografische Grenzen hinweg, eröffnen sich neue Chancen, mit vergleichsweise geringem Aufwand lokal verstreute Teilnehmende und sogar ausgewählte Subgruppen zu erreichen (Schiek und Ullrich 2015). Spezifisch für qualitative Online-Interviews ergeben sich Vorteile hinsichtlich der Offenheit der Befragten: Die erhöhte Anonymität, die man in der Regel bei internetbasierten Interviews erlebt, kann dazu führen, dass Personen aufgeschlossener sind und mehr Informationen über sich selbst Preis geben (Al-Saggaf und Williamson 2004; Tilley und Woodthorpe 2011), insbesondere auch sensible Informationen, über die im persönlichen Gespräch sonst nur ungern gesprochen würde (z. B. in der Sexualforschung, s. Chaney und Dew 2003 oder zum Drogenkonsum, s. Barratt 2012; Gnambs und Kaspar 2015; für ein Gegenbeispiel siehe Gnambs und Kaspar 2017). Erhöhte Anonymität ergibt sich durch das Ausschalten peripherer, biosozialer Merkmale (z. B. Alter oder Geschlecht), aber auch paralingualer Informationen wie Gestik und Mimik, die häufig Konversationen unbewusst mitbestimmen, da sich Personen weniger beobachtet fühlen. So berichten Madge und O’Connor (2002) sogar von einem Enthemmungseffekt bei internetbasierten Fokusgruppen. Werdende Eltern zeigten bei Online-Diskussionen untereinander spontan deutliches Flirtverhalten, was in präsenten Settings so kaum der Fall wäre. Auf der anderen Seite kann sich das Fehlen einer non-verbalen Kommunikationsebene in Online-Interviews auch nachteilig niederschlagen, da Mimik und Körperhaltung häufig helfen, das Gesagte zu interpretieren. Schriftliche Substitute für derartige emotionale Äußerungen in Form von sogenannten Emoticons wie „:-)“ versuchen zwar diesen Mangel auszugleichen, weisen jedoch nur selten die Reichhaltigkeit menschlicher Mimik auf (Mann und Stewart 2002). Außerdem haben dieselben Emoticons häufig in unterschiedlichen Kulturkreisen eine unterschiedliche Bedeutung (Opdenakker 2006), was vornehmlich bei Interviews von Personen mit Migrationshintergrund ein Kommunikationshindernis darstellen kann. Manche Autor/innen stellen auch die Authentizität virtueller Selbstrepräsentationen in Frage; d. h. inwiefern kann man davon ausgehen, dass sich Personen im Internet ehrlich darstellen und wahrhafte Reaktionen zeigen (s. Schiek und Ullrich 2015)? Im Internet ist es einfach möglich, Unwahrheiten über sich und andere zu verbreiten, da kaum direkte negative Konsequenzen zu befürchten sind. Es ist daher auch kaum möglich, den Wahrheitsgehalt internetbasierter Aussagen (z. B. Alter
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oder Geschlecht von Befragten) zweifelsfrei zu verifizieren. Es ist sogar möglich, unter unterschiedlichen „Nicknames“ in einem Forum Beiträge zu veröffentlichen (Evans et al. 2008). In ethnografischen Online-Studien wird man jedoch nur selten Einzelaussagen unreflektiert akzeptieren. In der Regel ergeben sich Möglichkeiten, die Aussagen einer Person in verschiedenen Situationen und auch zu verschiedenen Zeitpunkten zu vergleichen, um die Authentizität der Aussagen dieser Person zu überprüfen und dann als wahrhaft zu akzeptieren oder als unehrlich zu ignorieren. Auf der anderen Seite ergibt sich auch für die Forschenden selbst die Notwendigkeit, sich so darzustellen, dass sie von der Gruppe, die sie zu studieren beabsichtigen, akzeptiert werden (Hine 2008). Rutter und Smith (2005) berichten beispielsweise, dass ihre Teilhabe an einer Online-Gruppe von deren Mitgliedern erst akzeptiert wurde, nachdem einige Mitglieder, mit denen sie persönlich bekannt waren, für diese bürgten. Barratt (2012) empfiehlt bei der Durchführung von Online-Interviews a) sich für das Interview zu legitimieren, b) die eigene Schweigepflicht bezüglich personenbezogener Daten hervorzuheben, c) einen passenden Schreibstil zu verwenden und c) humorvoll das Interview zu führen.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Die grundlegenden technologischen Prinzipien des Internets haben sich in den vergangenen Jahrzehnten nur wenig geändert. Dennoch durchläuft das Internet einen stetigen Wandel im Hinblick auf seinen Funktions- und Angebotsumfang. Dies betrifft u. a. sowohl Internetdienste (z. B. Internet-Telefonie), die neu hinzugekommen sind, als auch Anwendungen innerhalb der einzelnen Internetangebote (z. B. Twitter, WhatsApp). Die Erweiterung der Möglichkeiten führt auch zu neuen Formen der qualitativen Online-Forschung. Beispielsweise bietet die Anbindung von mobilen Endgeräten an das Internet die Möglichkeit, Selbstberichte wie auch Verhaltensbeobachtungen direkt im alltäglichen Lebensumfeld vorzunehmen. So ist die Messung von subjektiven Erfahrungen wie z. B. Furcht oder Zufriedenheit, aber auch von physischen Aktivitäten mittels retrospektiver Selbstberichte in hohem Maße verzerrungsanfällig; solche Verzerrungen können durch eine Echtzeitmessung mittels Handheld-Computern mit automatisierter Befragungsaufforderung vermieden werden. Zudem ermöglicht die Ausstattung derartiger Geräte mit GPS-Empfängern qualitativ Forschenden, (zumindest potenziell) auch Daten etwa in Form von Bewegungs- und Interaktionsmustern der Beteiligten zu erfassen, welche so vorher nicht zugänglich waren (Trull und Ebner-Priemer 2013, 2014). Eine Erweiterung dieses Ansatzes stellen mit dem Smartphone verbundene Uhren bzw. Armbänder, sogenannte Smartwatches bzw. Fitnessarmbänder, dar. Diese Systeme erfassen neben den reinen Bewegungsdaten u. a. auch die Puls- bzw. Herzfrequenz, den Schlafrhythmus, die am Tag zurückgelegten Schritte für einen längeren Zeitraum in Echtzeit. Besondere Bedeutung internetbasierter Forschungsvorhaben wird künftig auch die zunehmende Verknüpfung mit Methoden aus der Softwareentwicklung erlangen. Unter dem Begriff der Psychoinformatik (Yarkoni 2012) werden technologische und
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statistische Ansätze diskutiert, um große Mengen unstrukturierter Informationen („Big data“), die in der qualitativ orientierten Forschung dominieren, zusammenzufassen und zu analysieren. Umfangreiches Datenmaterial wie es beispielsweise in Form von Twitter-Beiträgen vorliegt, macht eine individuelle Kodierung von Textmerkmalen zunehmend unökonomisch und nur schwer realisierbar. Stattdessen bieten sich hierzu automatisierte linguistische Analysen an, welche den semantischen Bedeutungsgehalt der vorliegenden Textpassagen mithilfe von Computeralgorithmen zu identifizieren trachten. Entsprechende psychologische Studien konnten bereits zeigen, dass automatisierte computerbasierte Textanalysen von Status Updates und Kommentaren in Facebook, valide Rückschlüsse auf basale psychologische Konstrukte wie emotionales Wohlbefinden (Liu et al. 2015) oder Persönlichkeit (Park et al. 2015) erlauben. Den qualitativ tätigen Forschenden bieten sich somit bereits heute zahlreiche Ansätze, das Internet nicht nur als Untersuchungsgegenstand, sondern generell als Erhebungsmethode zu nutzen. Mit der fortschreitenden technologischen Entwicklung internetgestützter Endgeräte und der weitflächigen Verbreitung werden sich jedoch künftig für die qualitative Forschung noch eine Reihe weiterer Möglichkeiten etablieren, die bislang nur schwer abzuschätzen sind.
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Partizipative Forschung Jarg Bergold und Stefan Thomas
Inhalt 1 Einleitung: Entstehungsgeschichte, historische Relevanz und (sub-)disziplinäre Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische und methodologische Grundannahmen partizipativer Forschung . . . . . . . . . . . 3 Der partizipative Forschungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Um einen Überblick über den Forschungsstil der partizipativen Forschung zu ermöglichen, wird zunächst die Entstehungsgeschichte nachgezeichnet, die stark durch einen politischen Anspruch geprägt ist. Das gleichberechtigte Miteinander der unterschiedlichen Forschungspartner/innen und die Analyse der Machtstrukturen stellen zentrale Elemente dar. Die Eröffnung eines kommunikativen Raumes, in dem Perspektivenverschränkung und Selbstreflexion möglich sind, wird daher als Ort der gemeinsamen Forschung angestrebt. Dafür ist es auch notwendig, die Kontextbedingungen der Forschung kontinuierlich zu reflektieren. Sowohl Datenerhebung als auch Datenauswertung sollen im Idealfall gemeinsam stattfinden. In diesem Rahmen kann sich dann ein spiralförmiger Forschungsprozess entwickeln, der so lange fortgesetzt wird, bis ein für alle Teilnehmenden befriedigendes Ergebnis erreicht ist. J. Bergold (*) Fachbereich Erziehungswissenschaften und Psychologie, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Thomas Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften, Fachhochschule Potsdam, Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_25
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J. Bergold und S. Thomas
Schlüsselwörter
Partizipation Demokratie Macht Aktionsforschung Perspektivenverschränkung Reflexion Stufen des Forschungsprozesses Gütekriterien Methodenprobleme
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Einleitung: Entstehungsgeschichte, historische Relevanz und (sub-)disziplinäre Einordnung
Nicht Forschung über Menschen und auch nicht für Menschen, sondern Forschung mit Menschen – dies ist der Anspruch und die grundlegende erkenntnistheoretische Position von partizipativer Forschung. Der Einbezug der Forschungspartner/innen in den Untersuchungsprozess scheint in der Psychologie allerdings begründungspflichtig zu sein. Die Anwendung von partizipativen Strategien ist gerade nicht eine verbreitete Selbstverständlichkeit; vielmehr melden sich schnell skeptische Stimmen, welche die wissenschaftliche Dignität von Forschungsergebnissen infrage stellen, denen auf den ersten Blick die Erkenntnisdistanz zum Alltagswissen fehlt. Wir geben demgegenüber zu bedenken, dass sozialwissenschaftliche Forschung immer mehr in der Pflicht steht, die reale Lebenswelt der Menschen zum Gegenstand zu nehmen und in ihrem Anwendungsbezug an soziale Lebenspraxen anschlussfähig zu sein. Allerdings verbirgt sich hinter dem Begriff der „partizipativen Forschung“ keine eigenständige Methode, sodass besser von einem Forschungsstil oder einer Forschungsstrategie gesprochen werden sollte. Das bedeutet, dass an verschiedenen Entscheidungspunkten immer wieder die Frage aufgeworfen werden muss, inwieweit und in welcher Form die Akteure und Praktiker/innen als Expert/innen ihrer sozialen Lebenswelt am Forschungsprozess als kollaborative Mitforschende partizipieren können. Zugleich ist partizipative Forschung von ihren Anfängen an durch Interdisziplinarität, unterschiedliche Kulturen und Problemstellungen gekennzeichnet. In der Einleitung zum „Handbook of Action Research“ stellen Reason und Bradbury (2008) fest, dass die Quellen partizipativer Forschungsstrategien so vielfältig sind, dass es kaum möglich ist, sich auf eine klare Herkunft zu beziehen. Mit besonderem Blick auf die Psychologie wollen wir jedoch einige Entwicklungslinien herausarbeiten. In den Anfängen der Experimentalpsychologie, aber auch bei den Gestaltpsychologen Wertheimer und Köhler wurde die „Versuchsperson“ als qualifizierte/r und wissenschaftlich geschulte/r Partner/in am Forschungsprozess angesehen. Es war Moreno, der die „Soziometrie“ zur Untersuchung der Dynamik und Beziehungsstruktur von Gruppen entwickelt hat. Die Beteiligung der Gruppenmitglieder sowie eine gemeinsame Veränderung der Gruppendynamik werden explizit zum methodischen Prinzip erhoben (Moreno 1934). Insbesondere hat Kurt Lewin durch die von ihm entwickelte Methodik des Action Research (Handlungsforschung) wichtige Impulse zur Entwicklung von partizipativen Forschungsansätzen gegeben. Ausgehend von dem Grundgedanken, dass Theorie und Praxis ein notwendiges Verhältnis
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bilden, ging es ihm um die Durchführung „wirklicher Experimente innerhalb ‚natürlich‘ vorkommender sozialer Gruppen“ (Lewin 1963, S. 201) unter dem Motto: „Nicht ist so praktisch wie eine gute Theorie“ (Lewin 1963, S. 205). In Deutschland trug zur Verbreitung partizipativer Methoden speziell die „Aktionsforschung“ bei, die in den 1970er-Jahren ihre Blütezeit erlebte (Altrichter und Gstettner 1993). Vor dem Hintergrund der methodologischen Kritik des Positivismus und der Infragestellung der nomothetischen Psychologie wurde – oftmals in Bezug auf marxistische Ansätze – eine Methodik entwickelt, die über die Wissensproduktion nicht nur Partei ergreift, sondern ebenso für praktische Veränderungen eintritt. Aktionsforschung verstand sich unter dem Anspruch der Demokratisierung und Emanzipation von ungerechten, menschenunwürdigen, repressiven Verhältnissen daher als „Methode sozialer Veränderung“. Die Verbesserung der Lebensumstände von sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen machte es demzufolge notwendig, diese als aktiv Mitwirkende in den Forschungsprozess einzubeziehen, wohingegen die Forschenden ihre Dominanzrolle aufgeben sollten. Etwa zur gleichen Zeit entstand in Lateinamerika auf dem Hintergrund der Erfahrung von Armut und Unterdrückung sowie von Initiativen, die dagegen ankämpften, ebenfalls ein partizipativer Forschungsansatz. Ziel war es u. a., „enlightenment and awakening of common peoples“ (Fals-Borda und Rahman 1991, S. vii) zu ermöglichen. Die Entwicklung wurde auch durch die Gemeindepsychologie vorangetrieben, deren grundlegende Konzepte von Partizipation und Empowerment partizipative Forschungsstrategien nahelegten. Dies betrifft vor allem Studien über Empowerment, in denen zusammen mit den beteiligten Subjekten Formen der Selbstermächtigung untersucht wurden. Durch das Mitreden und Gehörtwerden sollten sie in die Lage versetzt werden, eine eigene Stimme zur Artikulation ihrer Interessen zu entwickeln, um bewusst auf ihre Lebenspraxen Einfluss zu nehmen. (Einen internationalen Überblick geben Reich et al. 2001). Bergold (2000) hat mit den Stichworten Alltagsnähe und Komplexität, Mehrperspektivität, Parteilichkeit, Partizipation, Empowerment und Prozesshaftigkeit die enge konzeptuelle Verzahnung von qualitativen und partizipativen Forschungsmethoden sowie der Gemeindepsychologie aufgezeigt. Einen weiteren, grundlegenden Anstoß zur Entwicklung gaben feministische Forschungsansätze (Frisby et al. 2009; Lykes und Hershberg 2019). Besonders durch das Konzept der Parteilichkeit wurden Neutralität und Werturteilsfreiheit von Forschung prinzipiell infrage gestellt (Harding 1986). Ebenso erlangte für die Kritische Psychologie die methodische und theoretische Qualifizierung der „Versuchsperson“ als Mitforscher/in mit dem Ziel der Schaffung eines metatheoretischen Verständigungsrahmens besondere Wichtigkeit (Markard 2000). Auch aus den Notwendigkeiten der Praxis entstand eine Reihe von partizipativen Ansätzen. In England wurde auf einem humanistischen Hintergrund und auf Grundlage von Arbeiten zu Action Science (Argyris und Schön 1974) der Ansatz der Co-Operative Inquiry entwickelt (Reason und Bradbury 2008). In Deutschland entstand der Ansatz der „Praxisforschung“ (Beerlage und Fehre 1989; Heiner 1988; Moser 2015). Hier wurden Funktions- und Wirkungsweise professionellen Handelns unter der Perspektive ihrer sachgerechten Reflexion, Anpassung und Weiterentwicklung untersucht.
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Aktuell wird unter einer sozialkritischen, feministischen, postkolonialen und phänomenologischen Perspektive ein besonderer Nachdruck auf Subjektivität, Erleben, biografische Erfahrung und individuelle Sichtweisen gelegt (Denzin und Lincoln 2017). Unter dem Anspruch performativer Sozialforschung wird eine Verbindung von Forschung mit politischem, kulturellem und künstlerischem Engagement befürwortet (Schreier 2017). In der Autoethnografie verschmelzen schließlich die arbeitsteilig getrennten Rollen von Forscher/in und Informant/in (Ellis et al. 2010) Dies gilt auch für die Methode der Introspektion, einer frühen Tradition psychologischer Forschung, die von der Arbeitsgruppe um Kleining wieder aufgenommen wurde (Burkart et al. 2010) Vor allem in der Gesundheitsforschung hat sich eine besondere Fokussierung partizipativer Forschung auf die Zusammenarbeit von universitärer Forschung und Kommunen unter dem Titel „Community Based Participative Research“ (CBPR) in den USA und in Kanada (Wallerstein und Duran 2010) und zunehmend auch in Deutschland (von Unger 2012, 2014) entwickelt. Diese Partnerschaft soll der Beseitigung von Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung dienen (Israel et al. 1998). Zudem ist eine Wiederentdeckung von partizipativen Forschungsstrategien im Rahmen der Evaluationsforschung zu beobachten (Flick 2009). Hier lassen sich zwei recht verschiedene Positionen registrieren. Auf der einen Seite finden sich im USamerikanischen Raum Vertreter/innen einer Position, die durch eine konsequente Beteiligung von Betroffenen eine Zunahme an Selbstbestimmung und Selbstreflexion (Fetterman 2002) erwarten. Auf der anderen Seite ist im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, in der partizipative Strategien durch die Weltbank und in Deutschland durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) bereits seit vielen Jahren gefordert werden, ein eher pragmatischer Umgang zu finden (Caspari 2006). Ähnliches lässt sich bei den inzwischen groß angelegten Evaluationen von sozialpolitischen Programmen (z. B. Haubrich 2009) und in der Gesundheitsforschung (z. B. von Unger 2014) beobachten. In der Kindheitsforschung finden sich eine Vielzahl an Beiträgen, in denen junge Menschen eingeladen werden, sich anhand „wissenschaftlicher“ Methoden aktiv mit für sie relevanten Lebensbereichen – Kindergarten, Schule, Ausbildung, StatusPassagen – auseinanderzusetzen (Wöhrer et al. 2017). Partizipative Forschung schlägt durch den Einbezug von Kinder und Jugendlichen nicht nur eine Brücke zu den Erfahrungen der jeweils Gleichaltrigen (McCartan et al. 2012; Sauer et al. 2018), sondern öffnet den Blick der Forschung auf Themen, die den erwachsenen Forschenden unvertraut und fremd geworden sind (Clark 2010). Dies schließt oftmals eine sozialpolitische Auseinandersetzung mit dem untersuchten Lebensbereich ein (Akom et al. 2014; Dentith et al. 2012). Insbesondere wird partizipative Forschung in Bereichen wichtig, in denen Menschen sozialen Ausschluss erfahren, was impliziert, dass ihre Perspektive auf soziale Wirklichkeit keine bzw. unzureichende Anerkennung erlangt (Goeke und Kubanski 2012). Speziell unter dem Methodenansatz der Disability Studies finden sich vielfältige Versuche, die von Behinderungen betroffenen Menschen in den Forschungsprozess einzubeziehen (z. B. Cook und Inglis 2012, Hedderich et al. 2015).
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Ein Ansatz, der das bisher diskutierte Konzept von partizipativer Forschung überschreitet und eine qualitativ neue Stufe darstellt, ist die nutzer-kontrollierte Forschung, wie sie vor allem in England entwickelt wurde, aber inzwischen auch in Deutschland an Bedeutung gewonnen hat (Krämer und Rose 2017; Russo 2012). Ausgehend von der Forderung, dass die unmittelbar Betroffenen an allen Entscheidungspunkten im Forschungsprozess nicht nur teilnehmen, sondern die letztendliche Entscheidungsmacht besitzen sollten, ändern sich die Rollen von akademisch ausgebildeten Forschenden vollständig. Sie werden zu Beratenden bei der Erarbeitung der Forschungsfrage, der Formulierung der Forschungsanträge, des methodischen Vorgehens, der Publikation usw., haben aber an den jeweiligen Punkten des Prozesses kein Entscheidungsrecht. Es wird argumentiert, dass sich nur so sicherstellen ließe, dass die Perspektive der betroffenen Menschen gegenüber den eingespielten Machtverhältnisse eine Chance habe sich durchzusetzen. Interessant erscheint, dass partizipative Strategien inzwischen in viele Forschungsfelder Eingang gefunden haben, in denen die unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten wichtig sind, beispielsweise in der der Sozialgeografie, den Agrarwissenschaften, der Zukunftsforschung, dem Managementbereich usw. Die einzelnen Beiträge, die sich im Gesamtpanorama partizipativer Ansätze einordnen ließen, können hier aus Platzgründen nicht einmal zitiert werden. Auch bei den Veröffentlichungen hat sich die Idee der Partizipation durchgesetzt (z. B. Hedderich et al. 2015; Hermann et al. 2004; Mohammed et al. 2019). Zudem lässt sich feststellen, dass viele Beiträge im Internet publiziert werden, da so Zugänglichkeit und eine offene Diskussion besser gewährleistet sind. Die nachfolgende Grafik soll einen Eindruck der Vielfalt von Bereichen vermitteln (Abb. 1). Innovative soziale Programme Entwicklungsforschung
politische Bildung
Management juristische Auseinandersetzungen Institutionsanalyse
Interkulturelle Forschung
Evaluation
Ethnologie / Ethnographie Grundlagenforschung
Soziale Geographie
Psychosoziale Institutionen
Felder partizipativer Forschung
Soziologie Gemeindepsychologie
medizinische Forschung
Forschung in der Gemeinde pädagogische Forschung
Rehabilitation
Behinderte Menschen
Forschung in der Praxis
Therapie & Beratung Sozialarbeit Umweltforschung Partnerschaft zwischen Universität - Kommune
Psychiatrie Public Health
Sozialpädagogik
Schul- und Unterrichtsforschung
Abb. 1 Anwendungsbereich partizipativer Forschung
Community Stadtteilentwicklung Development
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2
J. Bergold und S. Thomas
Theoretische und methodologische Grundannahmen partizipativer Forschung
Partizipative Strategien zielen auf einen gemeinsamen Erkenntnisprozess von Forschenden und Mitforschenden, der über Kommunikation gesteuert wird (Kemmis et al. 2014). Durch die Initiierung eines „Research Forums“ soll ein methodologischer Verständigungsrahmen etabliert werden, in dem Wissenschaft und Lebenswelt zu einem produktiven Austausch zusammenkommen können (Thomas et al. 2019). Partizipative Forschung bedeutet daher, mit den Forschungspartner/innen in ein Gespräch über ihre Lebenspraxen zu gelangen, um das, was die Praxis implizit und praktisch längst weiß, zu explizieren, von pragmatischen Verkürzungen zu befreien und in einer systematischen Begrifflichkeit aufzuheben. Wenn es der Wissenschaftsseite gelingt, den Entscheidungsund Handlungsdruck zu mäßigen und aus dem kooperativen Forschungsprojekt zurückzudrängen, kann im Idealfall ein Arbeitszusammenhang entstehen, in dem Praxiswissen und Theoriewissen in ein produktives Austauschverhältnis zueinander geraten (Moser 2008). Partizipative Forschung setzt zwei Sprachspiele zueinander ins Verhältnis, einerseits die auf eine pragmatische Bewältigung der Wirklichkeit ausgerichteten sozialen Praxen, andererseits die auf Dekontextualisierung und Verallgemeinerung zielende Erkenntnis wissenschaftlicher Praxen. Partizipative Forschung gewinnt durch beide Perspektiven. Die Theorie wird durch das lokale und praktisch erprobte Wissen, die situativen Sinnbezüge der Akteure und den subjektiven Handlungsbegründungen reichhaltiger. Die sozialen Praxen gewinnen durch die wissenschaftliche Theorie und Methodik eine Perspektive, die über die Bewältigung des unmittelbaren Praxisdrucks hinausweist.
2.1
Bestimmung von Partizipation und die Bedeutung von Macht
Zunächst ist Partizipation ein Begriff aus der Demokratietheorie. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie ein möglichst großer Kreis von Stimmberechtigten in alle für sie relevanten Entscheidungen einbezogen werden kann. Dabei ist eine unterschiedlich intensive Beteiligung nicht unabhängig von Unterschieden in der Ressourcenausstattung der Bürger/innen zu sehen. Die Auseinandersetzung mit Partizipation erfordert notwendigerweise die Auseinandersetzung mit institutionellen Machtstrukturen (Gaventa und Cornwall 2001). Partizipative Forschung positioniert sich in der Zusammenarbeit mit sozialen Praxen ganz unwillkürlich innerhalb der feldspezifischen Macht- und Aushandlungskonflikte. Schließlich werden in dem forschenden Erkenntnisprozess Wirklichkeitsdefinitionen ausgehandelt, die nicht folgenlos für das Handeln und nicht neutral zu den praktisch verfolgten Interessen stehen. Die Forschenden entkommen diesen Verwicklungen in den „Politiken des Feldes“ nicht. Neutralität ist angesichts der Vereinnahmungsversuche illusorisch. Demgegenüber sollten sich die Forschenden immer wieder auf ihren wissenschaftlichen Auftrag besinnen: eine Reflexion auf die Möglichkeitsbedingungen der untersuchten Wirklichkeit unter Einschluss sozialer
Partizipative Forschung
119
Macht- und Interessenkonflikte. Schließlich besteht die Chance, dass auch die Akteure neue Handlungsoptionen an die Hand bekommen, um die eigene Praxis weiterzuentwickeln. Eine Analyse der Machtstruktur stellt daher einen notwendigen ersten Schritt bei der Implementierung von partizipativen Forschungsprojekten dar. Es ist zu fragen, in welcher Weise die Machtstruktur das Teilnehmen von Menschen an Entscheidungen und Aktionen erlaubt, verhindert oder unterdrückt und welche Position die Akteure in dieser Machtstruktur einnehmen, über welche Machtressourcen sie verfügen oder welche ihnen ermangeln. Für die partizipative Forschung wird dies wichtig, weil Macht oft nicht direkt sichtbar wird; vor allem strukturelle Macht setzt sich hinter dem Rücken der Beteiligten durch.
2.2
Formen der Beteiligung und ihre Voraussetzungen
Im Gegensatz zur nomothetischen Forschung, die zumeist Wertfreiheit postuliert, geht der partizipative Forschungsansatz davon aus, dass Forschung immer interessengeleitet und wertgebunden ist. Die Momente der Wertentscheidung und der politischen Stellungnahme wurden besonders in frühen Ansätzen der Aktionsforschung in Deutschland herausgearbeitet und spielt auch in der gegenwärtigen Diskussion eine wichtige Rolle (z. B. Boog 2003; Gergen 2003). In die Entscheidung zu partizipativen Ansätzen gehen je nach Position der Vertreter/innen partizipativer Forschung unterschiedliche Grundannahmen ein: • auf der „erkenntnisbezogenen“ (epistemologischen) Ebene wird Kritik an dem gängigen, positivistischen Wissenschaftsmodel geäußert; • unter der „lebensweltlichen“ Perspektive wird die Eigenstrukturiertheit von Alltag und Praxis betont; • vor dem Hintergrund eines „humanistischen“ Menschenbildes wird auf individuelles Wachstum und Selbstverwirklichungspotenziale verwiesen; • auf einer „politischen“ Ebene wird die Frage nach gerechten Lebensverhältnissen, sozialer Teilhabe und demokratischen Einflussmöglichkeiten in den Vordergrund gestellt. Zur Durchführung von konkreten Forschungsprojekten scheint es nützlich, zwei Dimensionen der Beteiligung zu unterscheiden: Es ist zu fragen, ob 1. die institutionellen Rahmenbedingungen die Partizipation fördern oder hemmen und ob 2. einzelne Menschen und/oder Gruppen über ausreichende Ressourcen verfügen, um partizipieren zu können. Ad 1: Die kontextuellen Bedingungen für Partizipation sind vielfältig. Hierzu gehören alltägliche Umgangsformen genauso wie rechtliche Regelungen (von Verwaltungsvorschriften bis zum Verfassungsrecht), aber auch Forschungsmoden. Solche kontextuellen Bedingungen können Einstellungen von Machtträger/innen (z. B. Institutionsleiter/innen, Verwaltungsbeamt/innen, Politiker/innen, DFG-Gutachter/innen usw.), Vereinssatzungen, Hausordnungen, Verwaltungsvorschriften, Gesetze usw. sein. Es ist unabdingbar, sehr
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J. Bergold und S. Thomas
genau zu untersuchen, inwieweit der jeweilige Kontext Partizipation ermöglicht oder verhindert. Ad 2: Hier muss beachtet werden, ob ausreichende Ressourcen bei allen Beteiligten zur Verfügung stehen. So gibt es z. B. divergierende Zeitressourcen und -horizonte von Wissenschaft und Praxis sowie unterschiedliche persönliche, räumliche, zeitliche und finanzielle Voraussetzungen bei allen Beteiligten. Eine asymmetrische Balance ergibt sich allein daraus, da Wissenschaftler/innen für die Forschung viel mehr Zeit zur Verfügung steht, sie die Sprachspiele und die textuelle Produktion, die immer auch Realitäten festschreiben, besser beherrschen und sie sich mit ausreichender kognitiver Distanz über lieb gewonnene Festsetzungen der Praxis hinwegsetzen können. Bei der Frage nach Ressourcen ist auch nach den psychologischen Voraussetzungen zu fragen, welche die Beteiligten mitbringen müssen, um tatsächlich teilnehmen zu können. Allerdings hat die Psychologie ihre eigenen theoretischen Konzepte zum Verständnis von Partizipation noch kaum nutzbar gemacht. Es ginge z. B. darum, inwieweit aufgrund entwicklungspsychologischer und sozialpsychologischer Befunde etwas über Kooperation als Grundlage von Partizipation gesagt werden kann, ob psychologische Überlegungen zur Selbstwirksamkeit zum Verständnis des Partizipationsprozesses beitragen können, ob psychologische Handlungstheorien und sozialpsychologische Theorien über Gruppenprozesse Beschreibungen des gemeinsamen partizipativen Handelns liefern können usw. Partizipation erfolgt nicht nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip. In der Literatur besteht Einigkeit darüber, dass es verschiedene Formen der Partizipation gibt. Dies wird in dem weitverbreiteten Stufenmodell deutlich, das Arnstein bereits 1969 vorgelegt hat. Sie unterscheidet drei Abstufungen, die jeweils noch weiter unterteilt sind: Nicht-Beteiligung/Beratung (Manipulation, Therapie), ScheinBeteiligung (Information, Anhörung/Beratung, Beschwichtigung) und Partizipation (Partnerschaft in Aushandlungssystemen, partielle Entscheidungskompetenzen durch Machtübertragung, volle Entscheidungskompetenz durch Bürger/innenkontrolle). Zusätzlich ist noch zu bedenken, dass sich auch im Laufe des Forschungsprozesses die Art der Teilnahme der Forschungspartner/innen ändern kann. In einem Projekt zur „Partizipation und Kooperation in der HIV-Prävention mit Migrant/inn/ en“, das von von Unger (2012) beschrieben wird, nahmen Partner und Partnerinnen aus der Wissenschaft, der Praxis, der Community, vom Projektbeirat und vom Zuwendungsgeber teil, die jeweils an unterschiedlichen Entscheidungen im Projektablauf z. B. bei der Designentwicklung, einer Befragung, der Auswertung usw. partizipierten. Allerdings ist vor einer zu weiten Verwendung des Begriffs partizipative Forschung zu warnen. Dies scheint uns vor allem deshalb betonenswert, weil scheinpartizipative Ansätze gerade in der Praxis- und Evaluationsforschung sowie in der Politikberatung zunehmend Verbreitung finden (Caspari 2006). Hier wird der Partizipationsanspruch lediglich als Mittel genutzt, um durch den Einbezug von Akteuren und Praktiker/innen Praxiswissen einfacher „abgreifen“ zu können. Befördert wird eine solche Tendenz zur Scheinpartizipation selbst dadurch, dass
Partizipative Forschung
121
Geldgeber und Forschungsinstitutionen mittlerweile Partizipation von den Antragstellenden fordern. Partizipation droht so zu einem Punkt zu werden, der ähnlich wie das Ethikvotum abzuhaken ist.
2.3
Perspektivenverschränkung und Selbstreflexion
Die Grundintention des partizipativen Forschungsprozesses ist die Konstituierung eines kommunikativen Raums, einer öffentlichen Sphäre, in der mit allen Beteiligten und Betroffenen die gelebten Alltags- und Arbeitspraxen erforscht werden können. Unter dem Gesichtspunkt der Partizipation soll die Bereitschaft mitgebracht werden, die Perspektive der jeweils anderen anzuerkennen und einzunehmen, sodass als allgemeines Erkenntnisziel eine gemeinsam erarbeitete Sach-, Handlungs- und Problemanalyse steht. Die Ansprüche an einen offenen Diskurs werden, so die Grundthese, durch die Beteiligung der Wissenschaft gefördert (Kemmis et al. 2014, S. 43–48). Durch sie werden Erkenntnis- und Verallgemeinerungsstandards in den Verständigungsprozess eingeführt, die intersubjektive Nachvollziehbarkeit und prinzipielle Kritisierbarkeit fordern. Entscheidend ist, dass alle Stimmen im Forschungsfeld im Sinne eines multivoicing einbezogen werden, d. h., dass alle Beteiligten ihre Meinung frei äußern, gleichberechtigt teilnehmen und mitentscheiden können. Anstatt Methodisierung und „Manualisierung“ steht die Initiierung eines offenen Prozesses der zielorientierten Interaktion und der selbstkritischen Reflexion im Vordergrund. Voraussetzungen hierfür sind die Bereitschaft und die Fähigkeit aller Beteiligten, über die Hintergründe der eigenen Konzepte, Vorstellungen und Ideen zu reflektieren. Dies wird in der neueren Literatur nun stärker thematisiert. Finlay (2002, S. 532) definiert: „Reflexivity can be defined as thoughtful, conscious self-awareness.“ Förderlich für einen reflexiven Prozess ist ein sicherer Raum, ein „communicative space“ (Bergold und Thomas 2012, Abs. 12–16), in dem die Teilnehmenden angstfrei kommunizieren können. Die Reflexion kann sich dann auf unterschiedliche Bereiche beziehen, die voneinander unterschieden werden sollten. Bergold und Thomas (2012, Abs. 55–60) haben aufgrund der Literatur vier Reflexionsrichtungen vorgeschlagen. 1. Die Reflexion der personalen, lebensgeschichtlichen Voraussetzungen Im Vordergrund steht die Reflexion der persönlichen Wahrnehmungsweisen, Erfahrungshintergründe und Wertorientierungen. Diese betrifft sowohl die Reflexion der Alltagspraxen, die im partizipativen Forschungsprozess untersucht werden sollen, als auch die „methodischen“ Entscheidungen im gemeinsamen Forschungshandeln. Beide Entscheidungshorizonte werden von biografischen und sehr persönlichen Erfahrungen beeinflusst, die nicht unmittelbar sichtbar werden, sondern oftmals einen indirekten und vorreflexiven Charakter haben. Dennoch können diese eine starke Dynamik innerhalb der partizipativen Diskussions- und Klärungsprozesse entwickeln. Um diese Voraussetzungen
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J. Bergold und S. Thomas
verstehbar und gemeinsam diskutierbar zu machen, bedarf es der Offenlegung der persönlichen Hintergründe, wie dies bereits von George Devereux (1976 [1967]) aus einer psychoanalytischen Position gefordert wurde. 2. Die Reflexion der sozialen Beziehungen unter den Forschungspartner/innen Die unterschiedliche Herkunft, die verschiedenen Interessen und die hierarchisierten Machtpositionen der Forschungspartner/innen untereinander führen notwendigerweise zu Konflikten in der Zusammenarbeit. Die daraus resultierende Gruppendynamik kann sich auf alle Entscheidungen im Forschungsprozess auswirken, gerade wenn sich ein strategisches und interessenfixiertes Handeln gegenüber einer auf Verstehen und Verständnis gerichteten Diskussionskultur durchsetzt. Für das Gelingen des partizipativen Gruppenprozesses ist daher auch eine besondere Sensibilität für Gruppendynamik und die Vermeidung sozialer Ausschlussformen erforderlich. 3. Die Reflexion im Forschungsprozess Die reflexive Analyse der vielfältigen Entscheidungsprozesse ist wichtig, weil Handlungen in der Regel aus einem situativen Pragmatismus heraus getroffen werden, deren Richtigkeit bzw. Unangemessenheit sich erst im weiteren Verlauf entscheidet. Die Reflexion des „methodischen und kommunikativen“ Handelns ermöglicht daher eine öffentliche Überprüfung der Forschung und ihrer Ergebnisse. Sie ist somit auch Teil der Sicherstellung der Güte der Forschung. Sie macht für die Rezipient/innen der Forschung den gemeinsamen Konstruktionsprozess sichtbar. Dabei verlangen die verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses unterschiedliche Reflexionsrichtungen. So müssen im Vorstadium beispielsweise über die persönlichen Erfahrungshintergründe hinaus eigene Motivation, Konzepte und Vorurteile, die Themenwahl usw. reflektiert werden. Später muss dies auch für Methodenauswahl, Datensammlungen, Datenanalyse, Interpretation und zuletzt auch für Darstellung und Präsentation geschehen (Breuer 2003; Finlay 2002; Mruck und Mey 2010). Auf das im Forschungsprozess kontinuierlich zu reflektierende Dilemma von Partizipation und Kontrolle der professionell Forschenden (vor allem im Rahmen von Qualifikations- und Auftragsarbeiten) hat Sense (2006) verwiesen. Es entsteht durch den Wunsch, einerseits Einfluss auf den Forschungsablauf nehmen und andererseits notwendige Entscheidungen im Forschungsablauf auf gleicher Augenhöhe zusammen mit den Forschungspartner/innen treffen zu wollen. 4. Kontextuelle Reflexion Die Forschenden werden in ihrem Denken und in ihren Entscheidungen durch den kulturellen und ökonomischen Kontext geprägt, in dem das Forschungsprojekt situiert ist (Naidu und Sliep 2011). Hierzu gehören der kulturelle und ökonomische
Partizipative Forschung
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Kontext, die Geschichte, die Machtstrukturen sowie öffentliche Politiken und Gesetze. In einer solchen soziologischen Selbstreflexion im Sinne von Pierre Bourdieu (2002) muss die gesellschaftliche Bedingtheit der beteiligten Erkenntnissubjekte und des partizipativen Projekts betrachtet werden. Prozedurale Vorkehrungen zur Sicherung von Partizipation müssen daher immer wieder neu ins Spiel gebracht werden. Zur Qualitätssicherung müssen Forschende Reflexions- und Distanzierungsinstrumente zur Verfügung haben, die es gestatten, in den verschiedenen Reflexionsbereichen eine kritische Distanz zum jeweiligen Prozess herstellen zu können. Dazu gehört auch, dass für die professionell Forschenden der hohe Grad des Involviert- und Engagiertseins dazu führen kann, dass sich die beteiligten Wissenschaftler/innen von den Denkweisen und Konzepten des Forschungsfeldes zu stark einnehmen lassen (going native). Zur Forschungsreflexion gehören Verfahren zur Förderung der Selbstreflexion wie Forschungstagebücher, Memos, Forschungssupervision für Einzelne und Gruppen, Forschungswerkstätten (Allert et al. 2014; Mruck und Mey 1998), Austausch mit Kolleg/innen in Kolloquien, interne und externe Audits usw.
3
Der partizipative Forschungsprozess
Zunächst ist festzustellen, dass es in der partizipativen Forschung keine speziellen, nur dort genutzten Forschungsmethoden gibt. Im Prinzip sind alle Verfahren der Datenerhebung und Datenauswertung Teil des Methodenkanons, der im Rahmen partizipativer Strategien eingesetzt werden kann. Dies trifft sowohl für quantitative als auch für qualitative Methoden zu. Häufiger werden allerdings Themenbereiche erforscht, in denen die Perspektiven der betroffenen Menschen im Mittelpunkt stehen über die noch wenig Forschung vorliegt, was explorative, qualitative Untersuchungen erforderlich macht. Die methodischen Entscheidungen in der partizipativen Forschung werden jedoch nicht allein auf Grundlage von Erkenntnisinteresse und Fragestellung getroffen. Es sollten vor allem solche Methoden eingesetzt werden, welche die Mitforschenden verstehen und durchschauen und an deren spezieller Weiterentwicklung im Rahmen der Forschungsfrage sie teilnehmen können. Partizipation erfordert die Vermittlung von analytischen Kompetenzen und theoretischen Konzepten, damit alle Beteiligte „auf gleicher Augenhöhe“ mitreden können. Nützlich ist hier eine Systematisierung des Zusammenhangs zwischen Alltagsmethoden und wissenschaftlichen Methoden, die von Kleining (1995) vorgeschlagen wurde. Ergebnisse und Interpretationen werden, soweit dies möglich ist, in Methodenworkshops gemeinsam erarbeitet. Das Ziel ist es, Akteure und Praktiker/innen in die Lage zu versetzen, ihr praktisches, kontextuelles Wissen auszudrücken, in Form von (Praxis-) Theorien zu verallgemeinern und zu verdichten und über den Gebrauch der Ergebnisse mitzubestimmen.
124
3.1
J. Bergold und S. Thomas
Beispiel: Das Partizipative Forschungsprojekt Offenburg
Als Beispiel für den Versuch, wie in der partizipativen Forschung der „Weg im Gehen“ entsteht, welche Herausforderungen zu bewältigen und welche Fallstricke zu berücksichtigen sind, möchten wir ein Forschungsprojekt skizzieren, dass wir in einem Obdachlosenprojekt durchgeführt haben (Bergold und Thomas 2010). Angeregt wurde das Projekt auf einer Tagung der Gesellschaft für gemeindepsychologische Forschung und Praxis (GGFP), auf der Einrichtungsleitung, Bewohner/innen, ehemalige Wohnungslose und Sozialarbeiter/innen von dem „Offenburger Arbeitsansatz“ berichteten. In einer stationären Wohnungsloseneinrichtung wurde das Prinzip der Partizipation aller Beteiligten durch gleichberechtigtes Mitbestimmungsrecht auf den unterschiedlichsten Ebenen verwirklicht. Der Umstand, dass sich in dem Offenburg-Projekt ein partizipativer Praxisansatz und ein partizipativer Forschungsansatz begegneten, ist sicherlich kein Zufall. Zu Beginn wurden wir als Forschungsgruppe mit der Erwartung konfrontiert, mit wissenschaftlichen Methoden wie einem Fragebogen von außen „objektive Forschung“ durchzuführen. Für das partizipative Vorgehen musste zuerst Verständnis geschaffen werden. Dabei ist es von Anfang an wichtig, die Perspektiv- und Interessendifferenz zwischen Praxis und Wissenschaft mitzureflektieren. Für die Wissenschaftler/innen ergab sich die Möglichkeit, die Wirkungsweise von Partizipation in der psychosozialen Arbeit zu beforschen. Für die Vertreter/innen der Einrichtung war es wiederum wichtig, die Funktions- und Wirkungsweise ihres „sozialen Experimentes“ zu objektivieren, um einen Beleg für das Funktionieren des Ansatzes zu erhalten. Begonnen wurde mit einem ersten Workshop, auf dem gemeinsam die Zielsetzung und Fragestellung des Forschungsprojekts diskutiert und erarbeitet wurden. An den Forschungstreffen beteiligten sich wohnungslose Bewohner/innen, Sozialarbeiter/innen, sozialpolitisch Engagierte und die Berliner Forschungsgruppe. In Folge von Plenumsdiskussionen, Kleingruppenarbeit, Kartenabfragen, Hierarchisieren etc. kristallisierte sich als Leitfrage die nach dem „How-it-works“ des in Offenburg etablierten Arbeitsansatzes heraus. Die Datenerhebung erfolgte analog zur Gruppendiskussionen durch Audioaufzeichnung ergänzt durch Wandplakate und Fotografien. In den nächsten Jahren entstand über die halbjährlichen Treffen hinweg ein Diskussions- und Forschungszusammenhang, der sich zwischen kontextueller Praxisreflexion und wissenschaftlicher Theoriebildung bewegte. Die Wissenschaftler/ innen, die die Moderation der Treffen übernahmen, boten sich als Gesprächspartner/ innen und Mediator/innen des Klärungsprozesses an. Als Forscher/innen legten wir besondere Aufmerksamkeit darauf, von Anfang an möglichst viele Perspektiven in die Diskussion um das „How-it-works“ miteinzubeziehen. So wurde auf dem zweiten Treffen das Projekt auf dem Hausplenum vorgestellt und mit den anwesenden Bewohner/innen diskutiert. Wichtige Wegbereiter, die sich aufgrund von Alter und Krankheit vom aktiven Engagement zurückgezogen hatten, wurden in biografischen Interviews befragt. Vonseiten der Wissenschaftler/innen wurden die Beteiligten durch inhaltliche Inputs zu Themen wie Forschungsplanung, Interviewführung und -auswertung
Partizipative Forschung
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als Mitforscher/innen geschult. Forschungsinstrumente wie der Interviewleitfaden oder das Geschichtsarchiv wurden gemeinsam entwickelt. Die Interviews wurden in der Regel als Tandem-Interviews – unter Beteiligung eines Praktikers bzw. einer Praktikerin und einer Wissenschaftlerin bzw. eines Wissenschaftlers – durchgeführt. Zur Bündelung der Diskussionsergebnisse auf den Workshops brachten die Wissenschaftler/innen immer wieder theoretische Schlaglichter ein. Doch sollen nicht die Probleme und Fallstricke verschwiegen werden. Als Hauptschwierigkeit, die sich im Rückblick wie ein roter Faden durch den Forschungsprozess zog, erwies sich die an uns herangetragene Erwartungshaltung, die Funktion der Legitimationsbeschaffung zu übernehmen. Die Einrichtung musste sich gegenüber vielfältiger Widerstände gerade angesichts ihres sozialpolitischen Engagements rechtfertigen und behaupten. Als Forscher/innen wurden wir in die politischen, organisatorischen und lebensweltlichen Macht- und Konfliktfelder, in denen die Einrichtung agierte, immer wieder hineingezogen. Innerhalb der Forschungsgruppe versuchten wir uns, von den Erwartungshaltungen und den vielfältigen Konfliktfeldern – etwa auch durch externe Forschungssupervision – zu distanzieren.
3.2
Einstieg in das partizipative Forschungsvorhaben
Partizipative Forschung beginnt bereits lange bevor der erste Kontakt zwischen den Forschungspartner/innen stattfindet. Daher muss bei allen Beteiligten zum Wunsch nach Wissen über einen bestimmten Gegenstandsbereich auch die Überzeugung hinzukommen, dass Partizipation in der jeweiligen Forschungssituation angemessen, erkenntnisträchtig und moralisch gerechtfertigt ist, und dass das angezielte Wissen nur gemeinsam mit Anderen hergestellt werden kann. Wie immer in der Forschung stellt der Einstieg ins Feld einen entscheidenden Schritt im Verlauf des Forschungsprozesses dar. Der Beginn der Zusammenarbeit bietet bereits die Chance, viel über das Feld und seine Struktur zu erfahren, insbesondere durch eine Analyse der Machtverhältnisse im Feld (Selvini Palazzoli et al. 1984). Es ist daher immer zu fragen, wie die unterschiedlichen Beteiligten zusammengekommen sind, welche Motive und welche treibenden Akteure dabei beteiligt sind. Es ist zu untersuchen, wer ein Problem mit dem bisherigen Ablauf der Tätigkeiten formuliert, ob dies durch die unmittelbar Beteiligten im Feld geschieht oder aus dem politischen oder Verwaltungskontext, in den das Feld eingebunden ist. In ähnlicher Weise ist zu untersuchen, wer in das partizipative Forschungsprojekt einbezogen wird. Guba und Lincoln (1989) haben das Konzept der Stakeholder in der Evaluationsforschung entwickelt. In Anlehnung daran sind hier drei Gruppen von „Beteiligten“ zu unterscheiden: 1. die professionell Tätigen, 2. die Nutzer/innen und 3. die Opfer. Die ersten beiden Beteiligtengruppen werden traditionellerweise berücksichtigt. Die Gruppe der Opfer, d. h. diejenigen, welche negative Konsequenzen befürchten, werden häufig nicht einbezogen. Die Opfer werden meistens erst dann sichtbar, wenn das Projekt von Mitgliedern dieser Gruppe angegriffen oder sogar verhindert wird.
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J. Bergold und S. Thomas Prozeß der Entdeckung durch Multilog (Bergold & Hermann 2006, modifiziert) Diskussion der Interpretationen
Veränderungsideen generieren
Daten interpretieren
Darstellung, Präsentation
Mythen über den Anderen offen legen
Wer hat welche Interessen?
Wer hat welche Machtressourcen?
Kann ich Dir trauen?
Lernen und Training von Forschungsmethoden
Was hat sich verändert? Dinge anders machen
Fragen stellen Brauchbare Forschungsmethoden finden
Transparenz & Reflexion
Unterschiedliche Perspektiven anerkennnen
Experten für Forschungs Ein als Problem empfundener Zustand tritt ein.
neue Fragen, neuer Durchgang
Daten sammeln
Was soll die Forschungsfrage sein?
methoden / Med
iatoren
Experten für die Praxis und sich selbst
Brauchen wir überhaupt Forschung?
Gemeinsame Sprache finden, Übersetzung
Abb. 2 Der partizipative Forschungsprozess (Bergold und Hermann 2006, angeregt durch Wadsworth 1998)
Der Erkenntnisprozess in der partizipativen Forschung wird typischerweise als spiralförmig charakterisiert. Er beginnt paradoxerweise mit einer Unterbrechung des Routineablaufs der Handlungen (Wadsworth 1998). Irgendetwas läuft nicht so wie erwartet, oder man ist unzufrieden mit dem bisherigen Ablauf. Dies löst Fragen nach den Ursachen aus. Das Feld wird nach Informationen durchsucht, um ein Verständnis der problematischen Aspekte zu entwickeln. Daraus werden Antworten und Veränderungsideen generiert, die umgesetzt und überprüft werden. Dann tritt der Prozess in eine neue Phase und beginnt möglicherweise von vorne, wenn die Veränderungen noch unbefriedigend sind. In der Darstellung (Abb. 2) wurde die Forderung nach „Transparenz“ besonders hervorgehoben, weil anzunehmen ist, dass dies die Voraussetzung für jegliche Partizipation darstellt.
3.3
Datenerhebung
Auf dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen wird verständlich, dass bei der Datenerhebung nicht nur auf „Standardverfahren“ zurückgegriffen werden kann, wie sie in der qualitativen Forschung üblicherweise genutzt werden. Die jeweilige Methode der Datenerhebung muss die Ausdrucksmöglichkeiten der Mitforschenden berücksichtigen. Es wird also eine gemeinsame Kreativität bei der Entwicklung neuer, dem Gegenstand, der Fragestellung und den beteiligten Mitforschenden gemäßer
Partizipative Forschung
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Erhebungs-, Auswertungs- und Darstellungsmethoden gefordert. Aus diesem Grund ist es hier nicht möglich, eine Liste von Erhebungsmethoden anzugeben, sondern nur Anregungen für mögliche Suchrichtungen anzudeuten. Wichtig erscheint es, Datenformen/Informationsmedien aufzugreifen, welche den jeweiligen Forschungspartner/ innen aus ihrem Alltag vertraut sind, und diese gemeinsam mit ihnen weiterzuentwickeln und zu systematisieren. • Im Bereich sprachgebundener Daten lassen sich sicherlich die traditionellen Erhebungsinstrumente wie Interviews und Gruppendiskussionen einsetzen. Es lassen sich aber auch eine Reihe von alltäglichen Kommunikationsformen aufgreifen, z. B. das Erzählen von Geschichten über erlebte Situationen, Ereignisse aus der Vergangenheit usw. Hier eignet sich beispielsweise das Modell der Erzählwerkstätten aus der „Oral History“-Forschung. Auch das Schreiben von Tagebüchern ist u. U. eine vertraute Form des Festhaltens von Erlebnissen und Eindrücken, die heute bei jüngeren Forschungspartner/innen möglicherweise durch das Verfassen von „Blogs“ u. Ä. im Internet abgelöst worden ist. • Dokumente ganz unterschiedlicher Art sind häufig in der Lebenswelt der Forschungspartner/innen verfügbar. Ereignisse haben sich in Form von Briefen, vielfältigem Schriftverkehr, Zeitungsberichten u. Ä. niedergeschlagen, welche genutzt werden können. • Artefakte aus dem Alltag und der Umwelt der Forschungspartner/innen (z. B. Denkmäler, Gebäude und ihre architektonischen Besonderheiten, Einrichtungen von Wohnräumen und Institutionen usw.) können wichtige Informationen über die Geschichte und die Entwicklung bieten. • Performative Erhebungsmethoden geben den Forschungspartner/innen u. U. bessere Möglichkeiten, sich auszudrücken (z. B. Jones et al. 2008; Liamputtong und Rumbold 2008). • Die Fotografie hat sich hier als ein nützliches Medium erwiesen. Fotos können z. B. helfen, überhaupt ins Gespräch zu kommen. • Zeichnungen und Bilder, die speziell als Antworten auf Forschungsfragen hergestellt wurden, lassen sich mit Hilfe der Foto-Voice-Methode gemeinsam herstellen, interpretieren und auswerten (Lykes und Scheib 2015; Wang und Burris 1997).
3.4
Datenauswertung
Die Herausforderungen an Partizipation im Forschungsprozess sind bei der Datenauswertung angesichts der divergenten Zeitperspektiven und des unterschiedlichen Kenntnisstandes sicherlich am größten. Hier wird die Anwendung von pragmatisch gehaltenen Beteiligungsverfahren und reduzierten Auswertungsverfahren notwendig. Bei der Auswertung von numerischen Daten, wie sie z. B. in Fragebögen oder mittels Beobachtungsbögen erhoben werden, stehen die klassischen Statistikverfahren und -programme zur Verfügung. Zumindest in Grundzügen sollte allen Teilnehmenden die Logik dieser Verfahren erläutert werden. Ebenso wichtig sind die Präsentation der Auswertungsergebnisse in verständlicher Sprache und ihre grafische Aufbereitung etwa in Tabellen und Diagrammen (Chambers 2008). Mehr noch werden in der
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J. Bergold und S. Thomas
partizipativen Forschung aber interpretative Verfahren angewandt, die auf die Exploration von Neuland zielen. Die Erarbeitung der Ergebnisse erfolgt hier idealerweise in gemeinsamen Methoden- und Auswertungsworkshops. Auch wenn grundsätzlich analytische Verfahren wie die Grounded-Theory-Methodologie, hermeneutische Verfahren oder die qualitative Inhaltsanalyse für die Auswertung als Leitmodelle dienen, so kommen bei der kollaborativen Auswertungsarbeit eher „abgespeckte“ Versionen zum Einsatz. Wahrscheinlich muss der größere Teil der Aufbereitung der Daten von den professionell Forschenden übernommen werden. Dennoch sollten einzelne Schritte der Kodierung und Kategorisierung immer wieder im Gesamtteam durchgeführt werden. Das angestrebte Ergebnis muss nicht immer eine völlig entwickelte Theorie sein. Oft reicht die Formulierung von Teilbereichstheorien und systematisierten Zusammenhangsannahmen aus, welche Ausschnitte aus dem Phänomenbereich fokussieren.
3.5
Gütekriterien
Partizipative Forschung muss zunächst den Gütekriterien von Forschung allgemein genügen, in diesem Fall vor allem der qualitativen Forschung (Flick 2010; Steinke 1999). Darüber hinaus ist aber eine „Entspezifizierung“ des Forschungsprozesses notwendig, indem die Erfordernisse der „reinen“ Erkenntnisgewinnung pragmatisch mit den konkreten Fähigkeiten und Interessen des Feldes vermittelt werden. Eine Ergänzung durch spezielle Gütekennzeichen, die sich auf den Prozess der Partizipation beziehen, scheint daher sinnvoll. Es sind u. a. zu sichern, • dass im Prinzip alle Betroffene Zugang zu dem Forschungsprozess und den dort anstehenden Entscheidungen haben; • dass die Stimme jedes und jeder Beteiligten gehört wird und in die Entscheidung eingeht; • dass das Ziel der Forschung die Erweiterung des Wissens und der gemeinsamen Handlungsfähigkeit aller Beteiligten ist; • dass die Ergebnisse verständlich und in ihren Konsequenzen durchschaubar sind und allen zur Verfügung stehen; • dass sie nützlich und anschlussfähig an die Praxis und an die wissenschaftlichen Theorien sind.
4
Ausblick: Stand und Perspektiven
Der Grundgedanke partizipativer Forschung, die Einbeziehung aller Beteiligten auf gleicher Augenhöhe, stellt die Stärke und gleichzeitig die Schwäche dieser Forschungsstrategie dar. Die Unterschiedlichkeit der Partner/innen kann den großen Vorteil haben, dass die Chance gegeben ist, ein vollständigeres und tieferes Wissen über den untersuchten Gegenstandsbereich zu erhalten. Sie kann aber auch dazu führen, dass das Selbstverständliche reproduziert wird oder dass man sich auf dem kleinsten gemeinsa-
Partizipative Forschung
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men Nenner trifft und ein Wissen produziert wird, das durch die Machtverhältnisse im Feld verzerrt ist, keine Handlungsrelevanz besitzt und folgenlos bleibt. Problempunkte bei der partizipativen Forschung lassen sich grob in methodologische/methodische, praktische und wissenschaftspolitische unterteilen. Zu den methodologischen/methodischen Problemen zählen die Fragen nach dem erkenntnistheoretischen Status der Befunde, nach der Reichweite ihrer Gültigkeit, nach den angemessenen Qualitätskriterien usw. (z. B. Caspari 2006). Zu den praktischen Problemen zählen Fragen nach der Beteiligungstiefe, d. h., welche Personen in welchem Ausmaß an welchen Punkten beteiligt werden, und ob ihnen für diese Beteiligung ausreichende persönliche, finanzielle, zeitliche, institutionelle usw. Ressourcen zu Verfügung stehen. Wissenschaftspolitische Probleme ergeben sich bei Fragen nach der Anerkennung partizipativer Forschung im Wissenschaftsbetrieb, der von einem nomothetischen Forschungsansatz dominiert wird. Dies hat erhebliche Konsequenzen für die Chancen einer Drittmittelfinanzierung und einer Anerkennung der Forschung im akademischen Rahmen von Qualifizierungsarbeiten und Lehrstuhlbesetzungen. Es deuten sich allerdings auch Veränderungen an. Sichtbar wird dies z. B. am Forschungsansatz des Community Based Participative Research (CBPR), dem erhebliche Praxisbedeutung zugeschrieben wird. Dieser Ansatz hat sich beispielsweise in Kanada soweit durchgesetzt, dass im Bereich der Forschung zu HIV Programme aufgelegt wurden, in denen CBPR Voraussetzung für die Finanzierung der Vorhaben sind. Allerdings zeigen sich hier auch die problematischen Seiten. Guta et al. (2014) diskutieren bisher zu wenig beachtete sozio-technische und makrostrukturelle Faktoren anhand des kanadischen HIV-Forschungsprogramms mit einem Foucault´ schen Theoriehintergrund. Bei solchen Analysen lässt sich zeigen, dass gemeindebasierte Forschungsvorhaben auch der Kontrolle und der Produktion von Herrschaftswissen über die Gemeinde dienen. Dies geschieht „by collecting ‚needed‘ surveillance data and keeping potentially critical voices occupied through increasingly elaborate funding requirements“ (Guta et al. 2014, S. 259). Zu den unumstrittenen Stärken des partizipativen Forschungsansatzes gehört, dass die gewonnen Erkenntnisse lebenswelt- und praxisbasierte Evidenz aufweisen, der Gegenstand durch die Fülle der Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis vollständiger (re-) konstruiert wird und die kooperative Forschungsarbeit zu einer Selbstverständigung, Ermächtigung der beteiligten Personen und einer Verbesserung der Praxis selbst führt. Schließlich gibt es u. E. für Wissenschaftler/innen kaum etwas Spannenderes, als in einem sachlich fundierten Diskurs gemeinsam mit den Akteur/innen und Praktiker/innen die Bedingungen ihrer sozialen Lebenswelt auch in Hinsicht auf Möglichkeiten einer Verbesserung zu erforschen und zu erhellen.
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Qualitative Evaluationsforschung Ernst von Kardorff und Christine Schönberger
Inhalt 1 2 3 4 5
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evaluation hat Konjunktur: zum gesellschaftlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsklärungen und Kontexte der Evaluationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen qualitativer Evaluationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologische Perspektiven in der Evaluation – qualitative Evaluationsforschung in der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Evaluationsforschung als Auftragsforschung: wissenschaftliche, ethische und politische Dilemmata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Seit den staatlichen Reformprogrammen im Bildungs- und Sozialbereich der 1960er-Jahre hat die Nachfrage nach einer wissenschaftlich begründeten Bewertung von Wirksamkeit, Effizienz und (Neben-)Folgen von Programmen, Modellen und Interventionen rasant zugenommen, nicht zuletzt um Akzeptanz und Legitimation zu sichern. In der Psychologie geht es dabei häufig um die Bewertung von Bildungsmaßnahmen, Therapien, Gesundheitsprogrammen und Organisationsveränderungen. Dabei dominiert eine in der experimentellen und messenden Tradition stehende summative Evaluation. Inzwischen hat sich parallel dazu eine eigenständige qualitative Evaluationsforschung herausgebildet, bei der Prozessabläufe und Wirkmechanismen, die unterschiedlichen Sichtweisen aller E. von Kardorff (*) Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Schönberger Hochschule München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_26
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beteiligten Akteure und die Einflüsse aus dem Feld im Mittelpunkt stehen. Entsprechend ihres formativen Charakters geht es um die Dynamik von Veränderungsprozessen und die Partizipation der Zielgruppen bis hin zur Aktionsforschung, angefangen von der Programmentwicklung über die Implementation bis zur Bewertung der Ergebnisse. Diese Merkmale einer qualitativen psychologischen Evaluationsforschung werden im Folgenden im Kontext ihrer Entwicklung, Methoden und Arbeitsfelder beschrieben. Schlüsselwörter
Psychologische Evaluationsforschung Aktionsforschung Rolle der Forschenden Interpretatives Paradigma Gütekriterien
1
Einleitung
Wo immer es sich um Themen gesellschaftlich geforderter Anpassung, um Krisenbewältigung oder individuell erfolgreiche Lebensführung handelt, geht es letztlich um die Suche nach einer befriedigenden Balance zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen. Evaluation(-sforschung) ist nicht nur der Analyse und Bewertung von Interventionen, sondern auch der Begleitung, Rückmeldung und Entwicklung sowie der Suche nach Lösungen verpflichtet. Vor diesem Hintergrund untersucht, begleitet und unterstützt die qualitative Evaluationsforschung die Wirkung von Programmen und Interventionen unter Berücksichtigung von situativen Parametern und Konstellationen auf das Handeln von Personen(gruppen) und das sie umgebende Umfeld; die Zielgruppen werden dabei nicht als Versuchspersonen, sondern als mitgestaltende Teilnehmende gesehen deren subjektive Sichtweisen berücksichtigt und mit denen anderer Beteiligter in Beziehung gesetzt werden. Welchen Effekt hat die Ganztagsbetreuung auf die Konzentrationsfähigkeit von Kindern? Welche Anreize verändern Essgewohnheiten nachhaltig? Wie lassen sich Aggressionen auf dem Schulhof reduzieren? Diese psychologischen Untersuchungsthemen werden zur Evaluationsforschung, sobald sie Teil einer zu überprüfenden Intervention sind und ein Auftraggeber Bewertungen und Empfehlungen erwartet. Spezifisch wird psychologische Evaluationsforschung erst durch eine disziplinbezogene Fragestellung und Rahmung. So ist es ein Unterschied, die psychologischen Mechanismen der Gruppendynamik auf dem Schulhof zu untersuchen, die Gewalt eskalieren lassen, oder soziologisch zu untersuchen, wie gesellschaftliche Verhältnisse Jugendgewalt begünstigen. Die Stärke der psychologischen Ausbildung und damit auch der Herangehensweise an für die Disziplin typische Fragestellungen liegt in der Möglichkeit, Diagnostik, Intervention und Evaluation miteinander zu verknüpfen. Psychologische Evaluationsforschung ist daher vor allem in den Arbeitsfeldern der Angewandten Psychologie zu finden, wo Interventionsmodelle auf ihre Wirksamkeit überprüft werden wie in der Arbeits-, Organisations- und Gemeindepsychologie, in der Pädagogischen Psychologie oder beim Querschnittsthema Gesundheit. Es geht im Kern
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um die Bewertung von Passungsverhältnissen: wie Einzelne oder eine Gruppe in einem spezifischen sozialen Umfeld – Schule, Betrieb, Gemeinde – erfolgreich ihre Bedürfnisse und Vorstellungen mit den gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen zur Deckung bringen und im besten Falle partizipativ mitgestalten. Mit Blick auf die Entwicklung der Evaluationsforschung unterscheiden Guba und Lincoln (1989) vier Generationen, an denen v. a. die Pädagogische Psychologie sowie die Arbeits- und Organisationspsychologie beteiligt waren. In der ersten Phase des Messens vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis Mitte der 1930er-Jahre standen Fragen der Quantifizierung von Schulleistungen im Vordergrund. Die zweite Phase bis Ende der 1950er-Jahre sehen sie vor allem in der Beschreibung der Implementation von Programmen und der Klärung ihrer Wirkungsweisen. Die dritte Phase der Beurteilung befasste sich mit den Auswirkungen nationaler Reformprogramme im Bildungs- und Sozialwesen. Sie ist zugleich der Beginn einer regelrechten Evaluationsindustrie, deren Aufschwung in Deutschland erst in den 1970er-Jahren, ebenfalls im Gefolge staatlicher Reformprogramme begann (Stockmann 2004, 2007). Die Mehrzahl dieser Evaluationsprojekte setzt bis heute überwiegend auf (quasi-) experimentelle Forschungsdesigns, standardisierte Erhebungsverfahren und quantitative Analysemethoden (z. B. Döring und Bortz 2016; Wottawa und ThierauBrunner 2003; Stockmann und Meyer 2014. Qualitative Verfahren werden oft nur in der Anfangsphase zur Felderkundung, als Ergänzung oder illustrativ genutzt. Dies verwundert angesichts eines seit den Anfängen der Psychologie vorhandenen und bis heute weiterentwickelten qualitativen „Unterstroms“ – von der idiografischen Methode William Sterns über die Gestaltpsychologie und Lewins Feldtheorie und erste Ansätze einer Aktionsforschung bis zur Analyse sozialer Repräsentationen (Moscovici 2000), von Biografieanalysen (Jüttemann 2011) und einer psychologischen Diskursanalyse (Potter 2011) bis hin zu sozialkonstruktivistischen Ansätzen (Gergen 2009).1 Die zum Teil von diesen Entwicklungen beeinflusste qualitative Evaluationsforschung wird von Guba und Lincoln als vierte Generation der Evaluationsforschung bezeichnet. Inzwischen hat sich die qualitative Evaluationsforschung, oft in Kombination mit quantitativen Methoden, in der Forschungspraxis etablieren können (Jüttemann 1985; Flick 2006a; Bohnsack und Nentwig-Gesemann 2020; Kuckartz et al. 2016) auch wenn sie bislang weder in der Lehre noch im Mainstream der akademischen Psychologie fest verankert ist. Aus psychologischer Perspektive ergeben sich im Zusammenhang aktueller zivilgesellschaftlicher Ent-
Seit 2004 existiert die Zeitschrift „Qualitative Psychology“, und die „Society for Qualitative Inquiry in Psychology“ bildet eine eigene Sektion in der American Psychological Association. In Deutschland greift die an einem kritisch-reflexiven und interdisziplinären Wissenschaftsverständnis orientierte „Neue Gesellschaft für Psychologie“ auch Fragen qualitativer psychologischer Forschung auf. In die psychologische Evaluationsforschung haben die oben erwähnten qualitativen Ansätze bislang nur wenig Eingang gefunden. So folgt die Mehrzahl der qualitativen Ansätze der psychologischen Evaluationsforschung dem in der Soziologie entwickelten interpretativen Paradigma (Keller 2012) sowie den methodologischen Prinzipien der von Glaser und Strauss (1998 [1967]; Strauss 1991; Strauss und Corbin 1990) erarbeiteten und von Charmaz (2014) und Clarke (2012) weiterentwickelten „Grounded-Theory-Methodologie“ (vgl. auch Mey und Mruck 2011). 1
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wicklungen Anknüpfungspunkte an die von Kurt Lewin (1946) entwickelte Aktionsforschung, die neben qualitativen Forschungsmethoden eine breite Palette kreativer Gruppenverfahren von der Zukunftswerkstatt bis zur Planungszelle nutzt. Hierbei geht es um Methoden der Konsensfindung mit dem Ziel einer transparenten und wirkungsvollen Partizipation (Bergold und Thomas 2012; von Unger 2014). Anders als in der deutschsprachigen Psychologie gilt die Aktionsforschung in den USA als legitime und anerkannte wissenschaftliche Herangehensweise (vgl. das „Journal Action Research“; die „Society for Community Research and Action“ als Unterabteilung bei der American Psychological Association).
2
Evaluation hat Konjunktur: zum gesellschaftlichen Kontext
Das Jahr 2015 wurde von der UN als International Year of Evaluation ausgerufen. Evaluationsergebnisse sind in öffentlichen Diskursen präsent, ob es sich um die Auswahl der besten Schulen, die Beurteilung erfolgreicher Unterrichtsformen, die Suche nach geeigneten Therapien, den Kauf von Produkten, das Monitoring staatlicher Programme oder um die Qualität von Dienstleistungen handelt. Kulturell und mentalitätsgeschichtlich verdankt sich diese Konjunktur dem auf die Aufklärung zurückgehenden Fortschrittsglauben an die technisch-rationale Gestaltbarkeit einer besseren Zukunft. So wird verständlich, dass die Nachfrage nach Evaluation im Zusammenhang mit der Überprüfung und Legitimation staatlicher Reformprogramme und Gesetzesinitiativen entstanden ist. Inzwischen gehört wissenschaftlich fundierte Evaluation zum festen Bestandteil institutionalisierter und ritualisierter gesellschaftlicher Selbstbeobachtung (von Kardorff 2006). Psychologisch ließe sich die gesteigerte Aufmerksamkeit der Individuen für Rankings, Qualitätsvergleiche, Beliebtheitsskalen und Umfragewerte als Reaktion auf die Unübersichtlichkeit der globalisierten Moderne deuten, in der wissenschaftliche Ergebnisse eine gewisse Sicherheit und Orientierung versprechen (Mau 2017). Im politisch-öffentlichen Diskurs fügt sich die Nachfrage nach Evaluationsergebnissen in das Dispositiv beständiger Optimierung im Kontext marktförmiger Wettbewerbsorientierung und einer verschärften Konkurrenz um Vorteile bei der sozialen und ökonomischen Platzierung etwa bei der Bewerberauswahl, bei Leistungs- und Qualitätsvergleichen zwischen Schulen, Kliniken und anderen Dienstleistungsanbietern. Evaluationsforschung soll dabei Vieles leisten: Komplexität reduzieren und Unsicherheit absorbieren, Kosten abschätzen und Transparenz herstellen, also eine Art TÜV für die Zuerkennung von Rationalität, Wirkung, Effizienz, um damit Legitimation und Akzeptanz von Entscheidungen für oder gegen ein Programm gegenüber den Beteiligten und der Öffentlichkeit zu gewinnen. Nachdem sich die direkte Steuerung sozialer Prozesse oder die Beeinflussung von Gruppen vielfach als Illusion und politisch als ambivalent erwiesen hat zeichnen sich gegenwärtig zwei Entwicklungslinien ab: Erstens lässt sich weltweit eine Akzentverschiebung staatlicher Politik von einer vorrangigen Inputsteuerung („Programme“, „Modelle“) zu einer indirekten, mit Anreizen verbundenen und an
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Indikatoren orientierten Outcomesteuerung beobachten, für die im Bildungssystem die PISA-Studien und die Entwicklung nationaler Bildungsstandards, im Bereich der (Kommunal-)Politik das New Public Management und im Gesundheitswesen die evidenzbasierte Medizin und New Public Health (Flick 2002) stehen. Evidenzbasierte Ansätze favorisieren eine quantitative Evaluation, die beansprucht, Effekte eindeutig nachweisen und – idealerweise vermittels des Randomized Control Trail (RCT) – auf das jeweilige Programm zurückführen zu können, Standardisierungen voranzutreiben und Benchmarks zu setzen. Daneben haben sich aber auch Ansätze einer nutzen- und beteiligungsorientierten, intervenierenden, prozessbegleitenden und -entwickelnden Evaluation(-sforschung) herausgebildet, die aus einer zivilgesellschaftlichen Partizipationsperspektive heraus agieren: Den demokratischen Werten von Selbstbestimmung, Autonomie und Willensfreiheit des Subjekts verpflichtet (Chelimsky und Shadish 1997; Fetterman et al. 1994; Guba und Lincoln 1989; Patton 2003; Preskill und Tzavaras Catsambas 2006) ist es ihr Anliegen, den Prozess- und Aushandlungscharakter sozialer Veränderungen unter Einbeziehung aller Beteiligten zum Kern des forschenden Handelns zu machen (Kuipers und Richardson 1999). Diese Evaluationsforschung versteht sich als Strategie „praktischer Klugheit“ wissenschaftlich gut begründeter Plausibilisierung von Evaluationsergebnissen und Entscheidungsgründen im Gefüge vielfältiger Bedingungsfaktoren, Sichtweisen und Interessen (Schwandt 2002); dies ist auch ein Weg um die zivilgesellschaftliche Teilhabe zu stärken (Fetterman und Wandersman 2005). In dieser von einer auf soziale Veränderungen zielenden Sozialarbeit (Saul Alinsky 1999) über die Neuen Sozialen Bewegungen bis zur heutigen Sozialraumorientierung reichenden Traditionslinie finden sich überwiegend qualitative und interpretative Ansätze, Methodologien und Verfahren zur Evaluation, die die Beteiligten und ihre Lebenswelten, ihre Sichtweisen und Interessen, ihre Wahrnehmung des Programms und seiner (Aus-)Wirkungen auf sie selbst und ihr Umfeld sichtbar macht sowie eine partizipative Aktionsforschung, die sich explizit politisch im Sinne einer zivilgesellschaftlichen Veränderungsstrategie begreift (Reason und Bradbury 2007).
3
Begriffsklärungen und Kontexte der Evaluationsforschung
Allgemein bezeichnet Evaluation sowohl den Vorgang als auch das Ergebnis einer Bewertung: der funktionalen oder ästhetischen Qualitäten eines Produkts, der Leistungsfähigkeit und Servicefreundlichkeit einer Organisation, der Leistungen von Menschen in Schule und Beruf oder ihrer Selbstdarstellung im Alltag. Bewertungen sind erstens Ist-Soll-Vergleiche zwischen den bewerteten Objekten, Prozessen und Zuständen auf der einen und den angestrebten Veränderungen oder Normen auf der anderen Seite. Ihre Bezugsgrößen sind Kriterien und Standards, die entweder vorgegeben oder im Evaluationsprozess mit den Beteiligten gemeinsam entwickelt und ausgehandelt werden. Bewertungen sind zweitens VorherNachher-Vergleiche auf einer Dimension (z. B. Lernzuwachs im Unterricht) oder drittens Vergleiche zwischen konkurrierenden Personen, Objekten, Angeboten,
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Programmen oder Zuständen. Spezifischer – und damit kommt die Evaluationsforschung ins Spiel – geht es um den wissenschaftlich begründeten Nachweis der Wirksamkeit, des Nutzens, der Effizienz und des finanziellen wie des sozialen Return-on-Investment von Maßnahmen und Programmen, um Erfolgs- und Misserfolgsbedingungen im Verlauf ihrer Implementation, um Bedingungen ihrer Verstetigung/Nachhaltigkeit; weiter geht es darum, zu klären was wirkt, (z. B. in der Therapieforschung, vgl. Fonagy und Roth 2004) und um das Aufzeigen von Wirkmechanismen und die Rolle externer Einflussgrößen sowie um die Einbettung in das jeweilige institutionelle, organisatorische und soziokulturelle Umfeld. Bei der Wirkungsanalyse werden darüber hinaus unbeabsichtigte Nebenwirkungen (Merton 1936) und kontraintentionale Effekte oder die Wirkung „heimlicher Lehrpläne“ (Jackson 1968) in Organisationen untersucht; so können Programme zur Förderung der Bildungsbeteiligung von der Zielgruppe schlicht abgelehnt oder von ohnehin bereits privilegierten Gruppen genutzt werden,2 pädagogische Interventionen zur Reduktion von Schulabsentismus Reaktanz hervorrufen, oder Erfolge der Gesundheitsförderung gehen nicht auf das Programm zurück, sondern verdanken sich einer Orientierung an gesellschaftlich erfolgreichen Bezugsgruppen (z. B. Kühn 1993 für die Wirkung des Anti-Raucher-Programm in den USA). Evaluationen können summativ (Endpunkt- oder Outcome-Messung) und/oder formativ (prozessbegleitend und ggf. -steuernd) sein. Im ersten Fall werden Ergebnisse meist in quantitativen Kennwerten im Vergleich zum Anfangszustand oder zu anderen Zielgrößen bewertet. Im zweiten Fall werden der Prozess der wechselseitigen Beeinflussung zwischen Programm, beteiligten Gruppen und der Forschung fortlaufend dokumentiert und das Programm angepasst oder Ziele unter Mitwirkung aller oder ausgewählter Interessengruppen, der Stakeholder, korrigiert. Um wissenschaftlich begründete Urteile und Empfehlungen abgeben zu können, greift die Evaluationsforschung – oft eklektisch – auf das gesamte Arsenal der Verfahrensweisen und Instrumente der empirischen Sozialforschung zurück. In der Praxis findet sich daher meist ein Mix aus qualitativen und quantitativen Methoden (Bamberger et al. 2010; Creswell und Plano Clark 2010; Kuckartz 2014), für den es neben praktischen Erwägungen auch methodologische Begründungen gibt, z. B. eine durch verschiedene Formen der Triangulation erreichbare Multiperspektivität (Flick 2011). Kurz: Evaluation ist nicht auf bestimmte Methoden festgelegt; vielmehr erfolgt ihre Wahl danach, ob sie zur Beantwortung von Frage- und Problemstellungen angemessen sind, Kontexte berücksichtigen und auf Zugangsmöglichkeiten und Ressourcen abgestimmt sind. Oft muss eine spezifische Methodenwahl gegenüber dem Auftraggeber gesondert begründet werden, damit lokalhistorische, zielgruppenbezogene und kontextabhängige Gelingens- und Misslingensbedingungen überhaupt erfasst werden können. Evaluator/innen agieren in sozialen Feldern, die durch
2
Ein Beispiel für die Rolle der Evaluationsforschung in bildungspolitischen Kontroversen ist die seit den 1970er-Jahren bis heute anhaltende Diskussion um die Wirksamkeit kompensatorischer Erziehung zur Verringerung herkunftsbedingter Bildungsbenachteiligung (Bernstein 1970; Betz 2010).
Qualitative Evaluationsforschung
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Traditionen, Werte, Gewohnheiten, formale Strukturen und informelle Hierarchien, konkurrierende Interessengruppen und nicht zuletzt durch persönliche Empfindlichkeiten bestimmt sind. Nur eine genaue Kenntnis der Spezifika des Untersuchungsfeldes sichert den Feldzugang und die Kooperationsbereitschaft, erlaubt es, die relevanten Fragen zu stellen, Verborgenes zu erkennen, Antworten kontextsensitiv zu beurteilen und angemessene Schlussfolgerungen zu ziehen (vgl. zum Weg ins Feld: Wolff 2000). Darüber hinaus ist Evaluation(sforschung) unvermeidlich selbst Bestandteil sozialer Veränderungsprozesse, in denen eine Verständigung über Ziele, Umfang der Datenerhebung, Belastungen für die Beteiligten bis hin zur Verwendung und Darstellung der Ergebnisse ausgehandelt werden muss. Diese konstitutive Verstrickung ins Feld stellt zusammen mit der Abhängigkeit vom Auftraggeber und den vertraglichen Vorgaben des Bewertungsauftrags eine Besonderheit evaluierender Forschung dar. Das Aufgabenspektrum der Evaluation(sforschung) umfasst u. a. die Zielklärung (Was soll und was kann auf welche Weise evaluiert werden?), Fragen nach der Umsetzbarkeit („Machbarkeitsanalysen“) und dem Verhältnis von Kosten und Nutzen, nach den Formen der Begleitung von Modellprojekten, Befragungen zu Akzeptanz und subjektiver Erfolgsbeurteilung, die Beratung von Formen der Selbstevaluation professioneller Praxis (König 2000) oder partizipative Projektentwicklung mit Zielgruppen in der Aktionsforschung (von Unger 2014). Meta-Evaluationen schließlich vergleichen vorliegende Evaluationsstudien zu einem Themenfeld anhand von Kriterienkatalogen miteinander (Scriven 2011). Weiterhin ist die Evaluationsforschung eng mit Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement verbunden; hierzu gehören z. B. Audits zu Organisationsabläufen, mehrstufige Befragungsrunden, sog. Delphi-Studien (Häder 2014) zur Generierung von Expertenstandards, Entwicklung und Monitoring von Qualitätsindizes, Soll-IstVergleiche innerhalb einer Organisation oder nationale oder internationale Qualitätsund Leistungsvergleiche wie bei PISA. Schließlich kann Evaluationsforschung nicht unabhängig agieren. Dies ergibt sich grundlegend aus der Abhängigkeit von einem Auftraggeber und führt dazu, dass sich der Mainstream der Evaluationsforschung als Dienstleistung versteht (Beywl 2006). Wie diese Rolle wahrzunehmen ist und auf welcher Seite die Forschenden dabei stehen (Becker 1967) ist Gegenstand kontroverser forschungspolitischer und -ethischer Debatten.3 Kontrovers ist weiterhin das Verhältnis von Forschung und Evaluation (Lüders 2006): Denn „mit ‚Evaluation‘ [wird] gar nicht der Gegenstand sondern der Zweck der Forschungstätigkeit bezeichnet. Gemeint ist eine evaluierende Forschung bzw. eine forschungsgestützte Evaluation“ (Hirschauer 2006, S. 406). Damit wäre Evaluationsforschung von empirischer Sozialforschung nur durch die äußere Zwecksetzung unterschieden. Diese Position verkennt aber, dass gerade die komplexen
Siehe das Special Issue „Ethics in Evaluation“ der Zeitschrift Evaluation and Program Planning (2007), Boman und Jevne (2000), Shaw (2003) sowie die Ethikstandards für Evaluation der DeGEval (www.degeval.de/publikationen/standards-fuer-evaluation/). 3
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Aushandlungsprozesse und die unvermeidliche Verwicklung der Forschenden Evaluationsforschung zu einem eigenständigen Forschungstypus machen, weil die Zielbestimmung alle Akteure in einer oft längerfristigen „Arbeitsgemeinschaft“ verbindet, bei der wechselseitige Abhängigkeiten und Rücksichtnahmen entstehen, Konflikte ausgehandelt und eigenständige Sphären definiert werden müssen. In der Praxis beeinflussen Bewertungsfragen den Forschungsprozess von der Fokussierung der Aufgabe bis zur Präsentation der Ergebnisse. In der formativen Evaluation werden durch beständige Rückkoppelungsschleifen Bewertungen erzeugt, ausgehandelt und reflektiert. Um dies zu kontrollieren und um Seriosität und Glaubwürdigkeit zu belegen, sind methodologische Vorkehrungen wie z. B. Transparenz, Nachvollziehbarkeit, sorgfältige Dokumentation, Supervision und begleitete Plausibilitäts- und Qualitätskontrollen zu treffen. Qualitative Evaluationsforschung enthält sich methodologischer Spitzfindigkeiten oder einer methodolatry (Chamberlain 2000, S. 286), wie dies in der Psychologie mit ihren hoch differenzierten Methoden oft der Fall ist. Pragmatisch ausgerichtet sucht sie wissenschaftliche Strenge mit den Bedingungen der Praxis, Zeitdruck und Mittelknappheit mit vertretbaren Abkürzungsstrategien, Reflexivität mit politischen Entscheidungszwängen, Kontextsensibilität mit der Auswahl generalisierbarer Elemente, wissenschaftliche Deutungen mit alltagsweltlichen Sichtweisen und subjektiven Perspektiven zu verbinden. In Deutschland hat sich die Evaluationsforschung nach angelsächsischem Vorbild (Stufflebeam und Coryn 2014) mittlerweile als eigenständige Disziplin und Profession etabliert: mit eigenen Studiengängen, einer Fachgesellschaft (DeGEval – Gesellschaft für Evaluation e.V.), Standards, Ethikkodizes, einer Fachzeitschrift, Tagungen und Forschungseinrichtungen (Stockmann 2004) sowie Lehr- und Handbüchern (z. B. Döring und Bortz 2016; Flick 2006a; Kuckartz et al. 2016; Stockmann 2007; Widmer et al. 2009; Wottawa und Thierau-Brunner 2003). In ihrer Praxis verfährt sie multidisziplinär und multiprofessionell sowie häufig methodenplural.
4
Grundlagen qualitativer Evaluationsforschung
In qualitativen Ansätzen gelten „externe“ Einflüsse nicht als Fehlergrößen, sondern als konstitutiver und zu analysierender Bestandteil des Zusammenspiels von Feld, Programm, Forschung und Evaluation. Im Spannungsfeld unterschiedlicher Deutungen entsteht eine nachvollziehbare Grundlage für weitergehende Aushandlungsprozesse. Dabei muss qualitative Evaluationsforschung ihre Ergebnisse heute einem Publikum präsentieren, das auf leicht lesbaren Output und eindeutige Kennziffern hin orientiert ist. Komplexe und vielschichtige Ergebnisse erfordern angemessene Darstellungsformen, um sowohl an Denkmuster des untersuchten Feldes als auch an gesellschaftliche Diskurse und die Politik anschließen zu können (Bude 2000). Viele theoretische Grundlagen, methodologische Prämissen und die Mehrzahl der Erhebungs- und Analyseverfahren der qualitativen Evaluationsforschung stammen aus der Soziologie, einige aus Erfahrungen der Gemeinwesenarbeit und sozialer
Qualitative Evaluationsforschung
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Bewegungen. Das im Kontext der Chicagoer Schule entstandene interpretative Paradigma (Keller 2012; Wilson 1970) hat sich als eine zentrale theoretische Grundfigur qualitativer Evaluationsforschung (Patton 2015) etabliert. Daran orientiert entwickelt sich das Methodenspektrum beständig weiter wie etwa Videoanalyse (Zweidler und Sternath 2012), Think-Aloud Protokolle (Buber 2007) oder Eye-Tracking zur Evaluierung der Nutzerfreundlichkeit (Usability) von Programmen und Produkten, die Analyse von Threads in der Internetkommunikation und bei online-basierten Lernprozessen zur Krankheitsverarbeitung oder elektronische Befragungen etwa zur Patient/innenzufriedenheit zeigen. Die Grundelemente des qualitativ-interpretativen Paradigmas in der Evaluationsforschung zeigen sich in ihrem Wirklichkeitsverständnis, ihrem Menschenbild, in methodologischen Prämissen, in ihrer Theoriebildung und ihren Interpretationsmodellen, in der Art ihres Praxisbezugs und in ihren Gütekriterien.
4.1
Wirklichkeitsverständnis
Qualitative Forschung betrachtet Wirklichkeit als Ergebnis soziokulturell fundierter und historisch gewachsener gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse (Berger und Luckmann 1969); sie folgt damit einem schon im Pragmatismus bei James (1907) und Mead (1968 [1934]) angelegten Sozialkonstruktivismus. Dies bedeutet, dass man es mit strukturierten (Giddens 1984) und „multiplen sozialen Wirklichkeiten“ (Schütz 1973) zu tun hat, die von kollektiven Deutungsmustern wie subjektiven Deutungen geprägt und im Rahmen gesellschaftlicher Strukturen und Machtverhältnisse durch kollektives Handeln beeinflussbar sind. Für die Evaluationsforschung bedeutet dies: • Wirklichkeit wird kontextbezogen aus den Sinndeutungen der Akteur/innen rekonstruiert, um zu einem umfassenden Verstehen etwa von Handlungsketten zu gelangen. Dazu dient ein „naturalistisches“ Eintauchen ins Feld (Beobachtung, Gespräche, Dokumente) in der Haltung einer künstlichen Befremdung (Hitzler 1991) und das „Aufschließen“ des Feldes mithilfe sensibilisierender Konzepte (Blumer 1973). • Die Responsivität des Feldes und die Reflexivität der Akteur/innen wird als dynamisches Bestimmungsmoment des zu evaluierenden Programms einbezogen und systematisch reflektiert (Lamprecht 2012; Stake 2004).
4.2
Menschenbild und Akteursmodelle
Menschen sind aktiv handelnde Personen, die Ereignisse und Situationen vor dem Hintergrund sozialer Normen, institutioneller Kontexte, kollektiver und individueller Erfahrungen und wahrgenommener Durchsetzungschancen sinnvoll rahmen, ihre eigenen Lebenspläne, Interessen und Wünsche darauf einstellen und mit relevanten Anderen beständig neu aushandeln (müssen); dabei verändern sich nicht nur Bezie-
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hungen und verschieben sich Interessen(gegensätze), sondern auch Rahmenbedingungen werden durch die Prozesshaftigkeit der wechselseitig aufeinander Bezug nehmenden Handlungen bzw. Handlungsketten verändert, was in der begleitenden Evaluierungsforschung immer in Rechnung zu stellen ist. Den Handlungen und Planungen der am Geschehen Beteiligten werden Annahmen über kausale Wirkmodelle (Kelle 2006) und Interpretationsweisen zu Grunde gelegt, die sich auf individuelle und kollektive, z. B. generationentypische Erfahrungen (Bohnsack und Nentwig-Gesemann 2020; Mannheim 1964 [1928] und allgemeine gesellschaftliche Wissensbestände gründen. In den Entwürfen und Handlungen der Akteur/innen zeigt sich die Agency (Handlungsmächtigkeit) aktiver, empfindender, reflektierender und auf Andere bezogener Subjekte (Hoffmann 2013). Handlungen sind aber immer auch spontan, unterliegen Stimmungen und den Handelnden nicht immer bewussten sozial kodierten Emotionen und Gewohnheiten, den Habits of the Heart (Bellah et al. 1985) ebenso wie sie auf Formen der sozialen Kontrolle reagieren, sich auf neue Erkenntnisse stützen oder der veröffentlichten Meinung folgen. Daher wirken Programme nicht „einfach“ auf die Personen ein: aus der Vielfalt der Reaktionen auf sie und ihre Umwelten lernt Evaluationsforschung am meisten, sowohl über generelle wie spezifische Bedingungen auf die ein Programm wirkt oder an denen es scheitert oder die es selbst verändert.
4.3
Methodologische Prämissen
Für den Erfolg und die Seriosität jeder Evaluation bietet erst eine genaue Feldkenntnis die Chance zu einem umfassenden Verstehen dessen, was in Veränderungsprozessen geschieht. So kann die Gesundheitspsychologie in der Auseinandersetzung mit dem deutungsmächtigen Medizinsystem oder die Gemeindepsychologie in der Auseinandersetzung mit unterschiedlich mächtigen lokalen Interessen alternative Sichtweisen und Konzepte begründet herausarbeiten und die Reaktionen aus dem jeweiligen Feld im Kontext gewachsener Wissensordnungen, Handlungslogiken und Machtkonstellationen interpretieren und einordnen. Zentrale methodologische Prämissen qualitativ-interpretativer Evaluierungsforschung sind: • Kommunikation und Interaktion sind in der qualitativen Evaluationsforschung nicht nur ein Instrument, um zur Mitarbeit zu motivieren, sondern selbst Gegenstand der Analyse, um Widerstände, gängige Praktiken, unbefragte Selbstverständlichkeiten usw. während des Verlaufs der Evaluierung zu identifizieren. • Prozessorientierung. Aus der Annahme des prozessualen Charakters der von den sozial Handelnden beständig in wechselseitiger Interaktion reproduzierten und auch veränderten sozialen Wirklichkeit ergibt sich die Notwendigkeit zu einer laufenden und sorgfältigen Dokumentation aller von den Forscher/innen wie den Projektbeteiligten und den Zielgruppen für bedeutsam erachteten Ereignisse und Veränderungen, um Entwicklungsprozesse, Wendepunkte und Blockaden nachzeichnen zu können.
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• Kontextsensitivität und Entwicklungsgeschichte nehmen die lokal-historische Besonderheit des Untersuchungsfeldes in den Blick; sie berücksichtigen gewachsene Traditionen und Bindungen sowie die Dynamiken lokaler sozialer Netze, eingespielte Selbstverständlichkeiten der Problemwahrnehmung und Kommunikation, etablierte Machtbalancen und die mit der Intervention verbundene Störung auch prekärer Gleichgewichte. • Fallorientierung stellt die Voraussetzung zur Analyse der Eigendynamik des Evaluationsgegenstandes dar. Fallorientierung bedeutet hier, das gesamte Feld und die Intervention als einen „Fall“ zu behandeln. Diese umfassende Sichtweise auf den „Fall“ verhindert, dass eine einzelne Interventionsmaßnahme oder die Zielgruppe auf die sie gerichtet ist, „naiv“ isoliert und empiristisch bewertet wird. • Komplexität und Multiperspektivität tragen zu einer ganzheitlichen Sicht bei. Die Vielfalt der Daten und die Perspektiven der Stakeholder vergleichend abzuwägen und einzubeziehen, ohne vorhandene Widersprüche zu glätten, stellt eine große Herausforderung dar. • Offenheit für alternative Interpretationsangebote und Lesarten. Um Muster identifizieren und plausibilisieren zu können und zu einer schlüssigen Interpretationslinie zu gelangen, sind unterschiedliche Formen der Triangulation erforderlich. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit dienen diese methodologischen Prämissen zur Umsetzung einer gegenstandsnahen, problemzentrierten und „lernenden“ bzw. „experimentierenden“ Evaluation (Heiner 1998).
4.4
Theorieverständnis
Der oft fehlenden theoretischen Fundierung der Evaluationsforschung hält Chen (1997) das Postulat einer theory driven evaluation entgegen. Er betont die Bedeutung von Akteursmodellen und theoriegeleiteten Annahmen z. B. über sozialen Wandel oder Funktionsprinzipien von Organisationen. Nur so ließen sich tragfähige und verallgemeinerbare Erkenntnisse über programminduzierte Wirkungen wissenschaftlich begründen. Das betrifft z. B. die impliziten Annahmen des zu evaluierenden Programms, die der Evaluationsforschung zu Grunde liegenden theoretischen Vorannahmen und die Prämissen der Konzepte, die zur Dateninterpretation herangezogen werden. Erst so erreichen Ergebnisse den Grad an Generalisierbarkeit, der ihnen über die Auftragssituation hinaus Relevanz verleiht. Als Beispiele seien genannt: • Subjektive Theorien von Akteur/innen in ihrem Handlungs- oder Lebensfeld (Straub und Weidemann 2015 aus psychologischer sowie Schütze 2014 aus soziologischer Sicht) – von Lehrer/innen über ihre Schüler/innen, von chronisch Kranken über ihre Krankheit usw. – erschließen innere Handlungslogiken und bieten Erklärungen dafür, warum Menschen mit Veränderungen in einer bestimmten Weise umgehen.
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• Das Wissen um den Einfluss situativer Konstellationen und struktureller Rahmungen kann zeigen, warum z. B. die psychologische Gesprächskompetenz aus der ärztlichen Fortbildung im konkreten Beratungsgespräch kaum umgesetzt wird. • Die Rekonstruktion individueller und familialer Biografien oder kollektiver und generationentypischer Erfahrungszusammenhänge (Bohnsack und NentwigGesemann 2020) erlaubt eine kontextualisierte Analyse, zum Beispiel, weshalb Kinder mit Migrationshintergrund über Gesundheitsprogramme nur schwer erreichbar sind. • Die Identifikation von bereichsspezifischen Interpretations- und Handlungsmustern auf der Grundlage von Datenanalysen ermöglicht systematische Vergleiche, etwa wie ausgebildetes im Verhältnis zu angelerntem Pflegepersonal Heimbewohner/innen wahrnimmt und pflegt. • Theorien über Mechanismen sozialer Reproduktion und Transformation bieten Erklärungen über die oft ungleichzeitige und zuweilen gegenläufige Dynamik von Veränderungsprozessen und Beharrungstendenzen (Hildenbrand 2011). Zur Theorieentwicklung lassen sich vorhandene Konzepte als Heuristik bei der Materialanalyse nutzen, um zu Arbeitshypothesen und Lesarten zu gelangen und zu überprüfen, ob sie an bestehende Theorien/Konzepte anschlussfähig sind, wie etwa Bewusstheitskontext (Glaser und Strauss 1995 [1965]), Verlaufskurven (Corbin und Strauss 2003), Erziehungsstile (Lewin et al. 1939), Heimlicher Lehrplan (Jackson 1968). Um Auswirkungen sozialer Kontexte auf Identität und Verhalten zu analysieren, bieten sich sensibilisierende Konzepte an wie Stigma (Goffman 1973) oder erlernte Hilflosigkeit (Seligman 1979).
4.5
Praxisbezug und Forschendenrolle
Der explizite Prozesscharakter qualitativer Ansätze in der Evaluierungsforschung hat Implikationen für das Verhältnis von Forschung und Praxis und damit für das Rollenverständnis der Evaluierenden. Sie werden unvermeidlich in Erfolge und Stagnation, in Interessenkonflikte und die Dynamiken von Veränderungsprozessen verwickelt. Sie können in Loyalitätskonflikte geraten und sind divergierenden Anforderungen ausgesetzt. Schon bei der Präsentation von Zwischenergebnissen sind sie Akteur/innen, die damit den Fortgang und ggf. die Richtung des Projekts beeinflussen. Evaluationsforschung wirkt an der Entwicklung einer untersuchten Maßnahme immer mit, wie dies der zuweilen verwendete Begriff der Begleitforschung ausdrückt. Damit enthält sie das Potenzial zu einer kreativen Transformation des Projekts, dessen Verlauf und Ergebnisse sie bewerten soll; das kann auch bedeuten, dass die Ergebnisse zwar nicht den ursprünglichen Zielen entsprechen, aber unerwartete neue und besser akzeptierte Lösungen aufzeigen. Die Evaluierenden fungieren dabei als Katalysator/in, als Ermöglicher/in oder als socratic guide (Abma und Widdershoven 2005) und können wie in der Aktionsforschung soziale
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Prozesse gemeinsam mit den Zielgruppen gestalten (Moser 2003; Reason und Bradbury 2007; Bergold und Thomas 2012; von Unger 2014). In den letzten Jahren gewann das Paradigma der Partizipation nicht nur in den Handlungsfeldern der Sozialwissenschaften, sondern auch in Forschung und Evaluation an Bedeutung. So weist etwa von Unger (2012) am Beispiel der Gesundheitswissenschaften auf die Notwendigkeit einer engen Verbindung von Forschung und Praxis und eine interdisziplinäre Kooperation hin. So verfolge das in Norden der USA schon seit den 1990er-Jahren verbreitete Forschungsparadigma des Community-Based Participatory Research auf der Basis von mit Betroffenen gemeinsam erarbeiteten Maßnahmen die Vernetzung von Akteuren zur Sicherung von Nachhaltigkeit und der Vermeidung von Fehlversorgung. Mit dem Partizipationsparadigma verschiebt sich die Forschendenrolle hin zu Beteiligung und Engagement. „Neutralität“ ist hier nicht mehr die vorherrschende ethisch geforderte Haltung. Das zeigt sich in aktuellen Forschungsfeldern wie der Flüchtlingsforschung, wie von Unger (2018) herausstellt, wo die oft desolate Lage der Zielgruppe als Verpflichtung zu aktivem Handeln aufzurufen scheint. Aus forschungsethischer Sicht ergeben sich bei vulnerablen Gruppen wie Flüchtlingen, aber auch bei Menschen in institutionenabhängigen Lebenslagen oder Personen mit kognitiven Einschränkungen jeweils spezifische Herausforderungen in Bezug auf die Sicherstellung von Datenschutz, Freiwilligkeit und „informed consent“, die kontextsensibler und je nach Forschungsauftrag und situativer Gegebenheit individueller Lösungen bedürfen. Damit tritt neben das Ziel des wissenschaftlichen Ertrags die Forderung, sich aktiv für die Verbesserung von Lebensbedingungen einzusetzen (von Unger 2018, Abs. 14). Die Diskussion dieser Aspekte in den letzten Jahren verweist darauf, dass sich Forschende mit differenzierten Anforderungen auseinandersetzen müssen, die zugleich ihre bedeutsame Rolle als Gestalter des Sozialen spiegeln. Das gilt in besonderem Maße für die Evaluationsforschung.
4.6
Generalisierbarkeit und Qualität von Evaluationsergebnissen
Bei vielen Projekten geht es nicht nur um den Erfolg, sondern auch um die Passfähigkeit einer Maßnahme zu ihrem Umfeld. Die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit richtet den Blick darauf, welche Elemente oder methodischen Prinzipien eines Programms sich für wiederkehrende Organisationsabläufe, vergleichbar gerahmte Situationen wie z. B. Erstgespräche als übertragbar erweisen. Evaluationsforschung kann ein umfassendes Bild von Kontexten und Entwicklungen zeichnen, auf der Basis einer Rekonstruktion methodisch präziser Beobachtungen und über Textanalysen latente Muster (etwa die soziale Reproduktion von Konflikten) identifizieren und damit Wissen generieren, das alle Beteiligten instruieren und zur kommunikativen Weiterentwicklung auch anderer Programme motivieren kann. In Anlehnung an Patton (2015) gelten für die qualitative Evaluationsforschung folgende Gütekriterien/Qualitätsmerkmale als spezifisch: Glaubwürdigkeit, Durchführbarkeit, Angemessenheit, Nutzen, Genauigkeit, Transparenz und Fairness (Flick 2006b; Tracy 2010). Mittlerweile gibt es eine Reihe von orientierenden Checklis-
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ten.4 Ein routineförmiges Abhaken garantiert Qualität allerdings so wenig oder so viel für die qualitative Evaluierungsforschung wie das Qualitätssiegel eines Altenheims die Lebensqualität seiner Bewohner/innen. Letztlich ist Qualität eine Frage beständiger verantwortungsvoller Reflexion und Abwägung mit den Beteiligten entlang der Programmziele und des Forschungsprozesses (Flick 2006b).
5
Psychologische Perspektiven in der Evaluation – qualitative Evaluationsforschung in der Psychologie
Die qualitative Evaluationsforschung in der Psychologie lässt sich entlang mehrerer Perspektiven betrachten: erstens die psychologischen Aufgaben- und Problemstellungen im Rollenspektrum Evaluierender, zweitens die psychologische Expertise bei disziplinspezifischen Fragestellungen und drittens psychologische Arbeitsfelder, in denen qualitative Evaluationsforschung eine bedeutsame Rolle spielt.
5.1
Psychologische Aufgaben und Problemstellungen
Evaluationsforscher/innen bewegen sich in einem sozialen Kontext, dessen Gepflogenheiten, Beziehungsmuster und Hierarchien sie kennen und verstehen lernen müssen. Dies geht nicht ohne vertrauensvolle Beziehungen als Voraussetzung für eine fruchtbare Kooperation (z. B. Froschauer und Lueger 2006). Gerade bei auftragsgebundener Forschung kann der Feldzugang schwierig sein, denn Mitglieder eines Feldes haben oft Vorbehalte gegenüber Bewertungsverfahren. Evaluator/innen müssen also eine akzeptierte Rolle finden. Typischer Weise wird zu Beginn ihre Loyalität auf die Probe gestellt, indem ihr Umgang mit Informationen genau beobachtet wird (Wolff 2000). Im weiteren Verlauf ist eine Verwicklung in Beziehungen und Konstellationen typisch (Sharkey und Sharpless 2008), wie dies u. a. die systemische Organisationsforschung gezeigt hat (Kühl et al. 2009). Evaluationen lösen Dynamiken aus; so können latente Konflikte aufbrechen, wenn Ziele genau bestimmt werden und sich beteiligte Personen und Organisationen auf Prioritäten und damit auf die Verteilung von Ressourcen und Einfluss einigen müssen. Aufgrund dieser Erfahrungen wird die Forschendenrolle zunehmend weiter gefasst: Evaluierende sollen die von ihrem Vorhaben ausgelösten sozialen Dynamiken mit gestalten und steuern: als responsive evaluators (Abma und Widdershoven 2005, S. 105) antworten sie auf das Feld und gehen mit Widerständen und Vorbehalten um. Dafür eignet sich die Rolle als Moderator/in bei der Präsentation von Zwischenergebnissen, bei Zielbestimmungen in einzelnen Akteursgruppen oder als Begleiter/in bei der Implementation eines Verfahrens. Evaluator/innen müssen Beziehungen regulieren, und so sind Gefühls- und Beziehungsarbeit für das Gelingen von Veränderungsprozessen unverzichtbar (Sharkey und Sharples 2008). Pro4 Z. B. Patton (2003) oder Spencer et al. (2003). Siehe zur vergleichenden Übersicht über evaluation designs Stufflebeam (2004), zu allgemeinen Standards der Evaluationsforschung Sanders (2006).
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zesse zwischen den Akteur/innen erfordern ein fortlaufendes Aushandeln, ihre Motivation braucht immer wieder Impulse, Konflikte müssen versachlicht werden, kurz: jemand muss den Überblick behalten und die Beteiligten in die Mitwirkung einbinden. Unter dem Stichwort negotiation wird die partizipative Gestaltung von Innovationen und Verhaltensänderungen thematisiert, für die Psycholog/innen Kommunikationskompetenzen wie aktives Zuhören, Empathie, Reflexionsfähigkeit, Feedback, Verbalisieren und ganz allgemein emotionale Intelligenz mitbringen. Damit sind sie in besonderer Weise für die Doppelaufgabe als Forscher/in und Kommunikator/in, das heißt hier: als Mitgestaltende sozialer Prozesse mit hoher Dynamik geeignet. Sharkey und Sharples (2008) betonen, dass das Eingehen auf und das Arbeiten mit Emotionen (Klose 2009), zu denen Wertschätzung, Autonomie, Nähe, Anerkennung von Status und Rolle gehören, zum Kern von Aushandlungsprozessen zählen. Evaluator/innen oszillieren zwischen einer Grundhaltung, die Patton (2015) mit empathischer Neutralität bezeichnet hat, und einem engagierten Mitgestalten z. B. durch Veränderungsvorschläge im Sinne der Zielerreichung.
5.2
Die Bedeutung disziplinspezifischen Veränderungswissens
Veränderungen lösen wie alles Neue Ängste und Befürchtungen aus. Psychologen/ innen können in besonderer Weise ihr Wissen und die in der Disziplin dazu vorhandenen Theoreme nutzen. So kann das Konzept der Reaktanz erklären, warum eine Top-Down-Strategie zu geringer Nachhaltigkeit und Selbstverinnerlichung und sogar zu innerer Distanzierung führen kann. Das Wissen über die Mechanismen der Kausalattribution kann negative Selbstzuschreibungen und Sozialisationserfahrungen zueinander in Beziehung setzen und z. B. bei einer Evaluation von Schülerleistungen Erklärungen für individuelle Entwicklungsblockaden liefern. Eine weitere Stärke der Psychologie ist das Wissen über Mechanismen und Situationsbedingungen individuellen und gruppenspezifischen Handelns. Veränderungen und Bewertungen, wie sie mit jeder Evaluation verbunden sind, irritieren das etablierte soziale Ordnungsgefüge und ihre Routinen – mögen die Ziele noch so „positiv“ sein. Sie lösen individuelle und kollektive Orientierungsreaktionen aus, weil es stets auch um soziale Positionierung, Einfluss und Anerkennung geht. Darüber hinaus spielen Interessen- und Verteilungskonflikte, wie etwa die wahrgenommene oder eine tatsächliche oder eine befürchtete Beschneidung bisheriger Privilegien aber auch normative Konflikte eine Rolle bei Widerständen gegen ein Programm. Dies zu berücksichtigen und einen selbstwerterhaltenden Umgang mit den Akteur/innen zu finden trägt erheblich zum Erfolg einer Evaluation bei. Die qualitative Evaluationsforschung kann durch Dokumentation und Analyse von Veränderungsprozessen mit allen ihren Widerständen und Umwegen ein genaues Wissen über Erfolgsbedingungen und Blockaden entwickeln. Interaktionstheoretische und sozialpsychologische Ansätze legen nahe, menschliches Handeln nicht nur individuumszentriert zu sehen, sondern als Austauschprozesse mit Anderen und dabei auch den strukturellen Einfluss des Umfeldes in den Blick zu nehmen. Disziplinspezifische Theoreme der Psychologie lassen sich mit sozialwissenschaftlichen Konzepten aus den Feldern Gesundheit, Pflege, Pädagogik und Gemein-
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wesenarbeit gut verknüpfen. Darüber hinaus ermöglicht qualitative psychologische Evaluationsforschung Einblick in das, was mit dem Begriff der „Prozessqualität“ nur unscharf gefasst ist: das Wie der Herstellung und die subjektive Begründung von Handeln. Erst Interviews geben etwa Aufschluss darüber, wie, mit welchen Techniken, Strategien oder Arbeitsteilungen Familien mit schwierigen Alltagssituationen und Lebenskrisen zurechtkommen – sei es in Pflegekonstellationen oder im Umgang mit einem verhaltensauffälligen Kind. Erst mit diesem Wissen lässt sich einschätzen, wie in einem spezifischen Programm die Zusammenarbeit mit Fachkräften an selbst gefundene Routinen und individuelle Vorstellungen von richtiger Erziehung und guter Pflege angepasst werden muss, um akzeptiert und wirksam zu sein.
5.3
Evaluation in psychologischen Arbeitsfeldern
In der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie stehen vor allem die interpersonalen Beziehungen und ihre Auswirkungen auf Arbeitsklima, Erfolg, Zufriedenheit, Identifikation mit den Unternehmenszielen oder die Leistungsmotivation im Fokus (von Rosenstiel 2009). Die Evaluation von eignungsdiagnostischen Verfahren zeigt z. B. bei der Analyse von Einstellungsinterviews, wie stark die Auswählenden von unbewussten Stereotypen geprägt sind (Kolominski 2009), Studien zur Arbeitszufriedenheit identifizieren die Verletzung von Gerechtigkeitsnormen als einen zentralen Faktor für Unzufriedenheit (Menz 2009) und innere Kündigung (Stahlmann und Wendt-Kleinberg 2008). Die Gemeindepsychologie (Bond et al. 2017; Rappaport und Seidman 2000) verfolgt von Anbeginn einen kontextbezogenen und lebensweltorientierten Ansatz: so hat Sarason (1974) das einflussreiche Konzept des sense of community entwickelt, das sowohl das Feld der „Gemeinde“ für die Forschung aufschließt als auch die Bedeutung subjektiv erlebter Einbettung in den lokalen Lebenszusammenhang hervorhebt. Mit dem Blick auf Ressourcen wird untersucht, wie soziale Netzwerke zur Lösung von Konflikten oder zur sozialen Unterstützung beitragen können (Röhrle et al. 1998). Unter den normativen Perspektiven einer Förderung von Befähigung (Capability), Handlungsmächtigkeit (Agency) und Empowerment nimmt evaluierende Forschung in den Blick, wie und unter welchen Bedingungen dies den Zielgruppen gelingen kann. Rappaport (2000) konnte darüber hinaus mit seinem Konzept der community narratives die identitätsbildenden Aspekte kontinuierlicher lokaler Erfahrungszusammenhänge als Voraussetzung für Engagement und Solidarität beschreiben und zeigen, wo zunächst unverständliche oder verdeckte Konfliktlinien liegen. Ein solcherart vertieftes Verständnis bildet dann eine wichtige Voraussetzung, um Reaktionen von Bürger/innen auf Programme angemessen einzuordnen.
6
Evaluationsforschung als Auftragsforschung: wissenschaftliche, ethische und politische Dilemmata
Evaluierende Forschung ist angewandte Praxisforschung (von Kardorff 2006; van der Donk et al. 2014), die Fragestellungen eines interessierten Auftraggebers aufgreift. Die daraus entstehenden vertraglichen Verpflichtungen haben erhebliche
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Konsequenzen. So kann der Auftraggeber, ggf. in Abstimmung mit zuständigen Ethikkommitees an Kliniken und Universitäten, festlegen, welche zeitlichen Belastungen den Untersuchten zugemutet werden können, welche Dokumente zugänglich oder welche Kooperationsformen vorgesehen sind. Die Ergebnisse „gehören“ dem Auftraggeber; er kann sie verwenden und sogar die Ergebnisdarstellung beeinflussen, etwa in dem negative Aspekte eines eher mäßig erfolgreichen Modellprojekts weggelassen und der Ertrag des Modells als „halbvolles Glas“ hochgezont wird. Die durchführende Forschungseinrichtung erhält für die Leistung eine Vergütung. So entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis, das angesichts des notwendigen Spezialisierungsgrades (Vertrautheit mit dem Untersuchungsfeld) in der Praxis dazu führt, dass einige große Forschungsunternehmen immer wieder für dieselben Auftraggeber, etwa die Krankenkassen, arbeiten. Das erzeugt eine Expertise, die etwa die universitäre Forschung nur selten erreichen kann, bringt aber auch die Gefahr einer verengten Perspektive im Sinne des Auftraggebers mit sich, von dem ggf. die Existenz eines Forschungsinstituts abhängt. Evaluationsforschung muss zudem oft in knapper Zeit und mit wenigen Mitteln Ergebnisse liefern – das steht im Widerspruch zu einer sorgfältigen, diskussionsintensiven Auswertung, wie sie zu guter qualitativer Forschung gehört. Schließlich spielt der Verwendungskontext der Ergebnisse eine wichtige Rolle. Auch und gerade in ihren Anwendungsgebieten muss sich jede Wissenschaft die Frage stellen, für wen und in welchem Interesse sie ihr Wissen zur Verfügung stellt, und welche Konsequenzen damit für die Zielgruppe verbunden sind; Howard S. Becker (1967) hat dies für die gesamte sozialwissenschaftliche Forschung, die ja im besten Fall präzise Einblicke in konkrete soziale Abläufe, Milieus und Interaktionsmuster liefert, in der Frage „Whose side are we on?“ gebündelt (vgl. auch Abschn. 4.6). Dies gilt für die Psychologie in einem besonderen Maß, denn sie stellt Deutungsangebote und Interpretationsrahmen für „richtiges“ und „falsches“ Handeln von oft vulnerablen Individuen und von Exklusion bedrohten sozialen Gruppen bereit. Deshalb muss psychologische Evaluationsforschung benennen, welche ethischen Grundsätze sie ihrem eigenen Handeln zu Grunde legt, und wie sich diese zu den von Fachgesellschaften wie der DeGEval formulierten Prämissen und Standards verhalten (von Unger et al. 2014). Dazu gehört die Reflexion über das Verhältnis einer auftragsgebundenen zu einer unabhängigen Forschung, also darüber, ob sich Forschende als Dienstleister/innen im Sinne der Auftragsgebenden verstehen (Beywl 2006), die die Geschmeidigkeit bei der Umsetzung eines Programms erhöhen, oder ob sie sich eher als Expert/innen betrachten, die Wissen dafür bereitstellen, gemeinsam mit den Zielgruppen in einer Art experimentierender Erprobung für bessere, gerechtere und gemeinsam gestaltete Lebensbedingungen einzutreten. In dieser Perspektive sind Menschen nicht Hindernisse für Programme, sondern Programme ggf. hinderlich für die Entfaltung von Menschen und ihren Bedürfnissen (Kushner 1996). Letzteres heißt konkret, dass man sich die kritische Expertise vorbehält, ein Programm auch ablehnend zu beurteilen. Zum zweiten ist es erforderlich, das Zustandekommen von Bewertungsprozessen selbst zum Thema zu machen (Hirschauer 2006). Als Evaluation der Evaluation (Hager et al. 2000) muss sie das eigene Verhältnis zu dem Spagat zwischen syste-
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matisierender, wissenschaftlicher Analyse und einer immer auch werte- und normgebundenen Beurteilung reflektieren. Dazu gehören Verfahren der Qualitätssicherung wie z. B. eine Forschungssupervision, um zu gewährleisten, dass die in die Beurteilung/Bewertung eingehenden Stimmen und Meinungen von Akteuren und Stakeholdern Gewicht erhalten, ohne dass wissenschaftliche Erkenntnisse zum Spielball von Mehrheitsentscheidungen, machtvollen Interessen, spontanen Befindlichkeiten oder der Durchsetzungsfähigkeit einer lautstarken Minderheit werden. Drittens werden gerade in der qualitativen Evaluation oft sehr intime und auch kritikwürdige Einblicke und personenbezogene Informationen gewonnen; dies kann sensibles gesundheitsbezogenes Wissen sein, die Beobachtung von subversiven Strategien mit denen Arbeitnehmende sich als unbillig beurteilten Anforderungen der Betriebsleitung entziehen oder die Aufdeckung von klüngelnden Netzwerken etablierter, oft männlicher, lokaler Machteliten in Gemeinden, Verbänden, Kirchen usw. (vgl. Hopf 2000). Hier geht es um einen sorgfältigen Datenschutz, aber auch um Entscheidungen, welche Missstände ggf. auch mit dem Risiko eines Konflikts mit dem Auftraggeber öffentlich zu machen sind. In diesem Zusammenhang spielt die Gewährleistung des personenbezogenen Datenschutzes eine zunehmend bedeutsame Rolle; dies zeigt sich auch an den Bestimmungen der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), die 2018 in das deutsche Bundesdatenschutzgesetz übernommenen wurde (https://dsgvo-gesetz.de/bdsg/).
7
Ausblick: Stand und Perspektiven
Evaluationsforschung ist inzwischen eine große Forschungsindustrie mit einer Unzahl privater Forschungsinstitute, die im Auftrag von Wirtschaft, Verbänden und Regierungen und zunehmend von NGOs und internationalen Organisationen arbeiten. Im internationalen Jahr der Evaluation 2015 wurden von den beteiligten Organisationen und Fachgesellschaften als Agenda für die Weiterentwicklung der Evaluationsforschung auf internationaler Ebene unter anderem die enge Verknüpfung mit zivilgesellschaftlichen Anliegen wie Gleichheit, Inklusion, GenderMainstreaming und nachhaltige Entwicklung genannt. (http://mymande.org/evalyear/ Declaring_2015_as_the_International_Year_of_Evaluation) und damit Aspekte einer zivilgesellschaftlichen Rolle akzentuiert, die allerdings von der Alltagsrealität der Evaluationsforschung oft weit entfernt ist. Im gelingenden Fall kann qualitative Evaluationsforschung einen Beitrag zur praktischen Klugheit im Sinne der aristotelischen „phronesis“ (Schwandt 2002) und damit zu besseren Entscheidungen „begrenzter Rationalität“ (Pawson und Tilley 1997) liefern. Ihre Verwicklung in das untersuchte Feld und die beteiligten Interessen erlaubt ihr allerdings nur begrenzt eine Objektivität im traditionellen Wissenschaftsverständnis. Ohne dabei weniger wissenschaftlich zu sein, liegt ihre besondere Qualität darin, Dynamiken in actu zu verfolgen, die vorhandenen Interessen- und Machtkonstellationen sowie die subjektiven Perspektiven der Beteiligten mit triangulativ gewonnenen Daten ins Spiel zu bringen und darüber ein umfassenderes Bild der Wirkungen und der kontextuellen Verankerung von Programmen und Maßnahmen zu erhalten. Als ange-
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wandte Forschung bleibt sie eine wissenschaftliche Kunstlehre (vgl. zur Interpretation qualitativer Daten: Bude 2000; Schwandt 2002). Im Kontext zivilgesellschaftlicher Partizipation kann sie im Medium der Aktionsforschung zum Motor mikrosozialer Veränderungen werden und dazu beitragen, Lebensumstände und Lebenszufriedenheit zu verbessern, Perspektiven zu erschließen und Verständigungsprozesse zu begleiten.
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Mixed Methods Margrit Schreier und Özen Odağ
Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Entstehungsgeschichte der Mixed Methods-Forschung und disziplinäre Einordnung in die Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Mixed Methods-Methodologie: Darstellung ausgewählter Schwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Entwicklungen von Mixed Methods in der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
160 161 164 173 176 178
Zusammenfassung
Mixed Methods bezeichnet im weitesten Sinne die Kombination sowie die Integration von qualitativen und quantitativen Elementen innerhalb einer Untersuchung oder mehrerer aufeinander bezogener Untersuchungen. In den Sozialwissenschaften generell haben Mixed Methods in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen. In der nach wie vor quantitativ dominierten Psychologie ist die Relevanz dieser Forschungstradition insgesamt zwar geringer anzusetzen, aber auch hier werden Mixed Methods inzwischen über verschiedene Teildisziplinen hinweg vermehrt eingesetzt. In diesem Beitrag gehen wir zunächst auf die Entwicklung der Mixed Methods-Forschung allgemein sowie in der Psychologie im Besonderen ein. Anschließend stellen wir zentrale methodologische Bereiche der gegenwärtigen Mixed MethodsDiskussion ausführlicher dar, wie beispielsweise die Definition von Mixed M. Schreier (*) Psychology and Methods, Jacobs University Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] Ö. Odağ Touro College Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_22
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M. Schreier und Ö. Odağ
Methods und die Abgrenzung von Mixed Methods gegenüber verwandten Begriffen. Auch gehen wir in diesem Zusammenhang genauer auf Varianten von Mixed Methods-Designs und Design-Typologien ein, sowohl generell wie auch in der Psychologie. Der Beitrag schließt mit Überlegungen zu Entwicklungsperspektiven, insbesondere hinsichtlich der Relevanz der qualitativen innerhalb der Mixed Methods-Forschung. Schlüsselwörter
Mixed Methods · Mixed Methods-Designs · Triangulation · Multiple Methods · Pragmatismus
1
Einleitung
In den vergangenen Jahren sind Mixed Methods (im Folgenden: MM) zu einem Modethema in der Methodologie der Sozialwissenschaften avanciert: Die Anzahl von Sammelbänden und Lehrbüchern wächst geradezu inflationär an, insbesondere im englischsprachigen Raum (z. B. Bergman 2008a; Creswell 2015; Creswell und Plano Clark 2017; Greene 2007; Mertens 2018; Plano Clark und Ivankova 2016; Poth 2018; Tashakkori und Teddlie 1998, 2008, 2010; Teddlie und Tashakkori 2009; für den deutschsprachigen Raum: Baur et al. 2017; Burzan 2016; Kuckartz 2014; Schreier und Echterhoff 2013; von der Lippe et al. 2011a). Im Jahr 2007 gründeten Abbas Tashakkori und Charles Creswell in einem weiteren Schritt der Institutionalisierung das Journal of Mixed Methods Research. 2013 wurde die Mixed Methods International Research Association ins Leben gerufen, die auch jährliche Tagungen zum Thema MM-Forschung veranstaltet (mmira.org), und 2016 wurde eine Task Force eingesetzt, um Empfehlungen für die weitere Entwicklung der MM-Forschung auszuarbeiten (Mertens et al. 2016). Für die Psychologie mit ihren natur-, geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Anteilen bietet sich die MM als gegenstandsangemessene Methodologie geradezu an. Im Vergleich zu anderen Sozialwissenschaften hat sich die Psychologie jedoch, die nach wie vor in ihrem Mainstream stark vom quantitativen Paradigma dominiert wird, deutlich langsamer für Mixed Methods geöffnet. Dennoch sind auch hier in den vergangenen zwanzig Jahren Forderungen nach einer Nutzung des Potenzials von MM laut geworden, was sich in einer vermehrten Verwendung von MM in der psychologischen Forschung widerspiegelt. Im Folgenden geben wir zunächst einen Überblick über die Entwicklung der MM-Forschung im Allgemeinen sowie der Psychologie im Besonderen. Im nächsten Schritt gehen wir ausführlicher auf methodologische Fragen in Zusammenhang mit MM ein, insbesondere die Begriffsbestimmung und Definition von MM, MM als „drittes Forschungsparadigma“ in den Sozialwissenschaften, Funktionen der MMForschung, und wir stellen ausgewählte MM-Designs an Hand von Forschungsbeispielen aus der Psychologie genauer dar. Anschließend geben wir einen Überblick über die Nutzung von MM in der Psychologie in den letzten zwei Jahrzehnten.
Mixed Methods
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Der Beitrag schließt mit Überlegungen zu Stärken und Schwächen von MM, gerade auch im Hinblick auf eine angemessene Berücksichtigung von Elementen qualitativer Forschung.
2
Entstehungsgeschichte der Mixed Methods-Forschung und disziplinäre Einordnung in die Psychologie
Mixed Methods bezeichnet im weitesten Sinne die Kombination sowie die Integration von Elementen eines qualitativen und eines quantitativen Forschungsansatzes innerhalb einer Untersuchung oder mehrerer aufeinander bezogener Untersuchungen. Die Kombination kann sich auf die zugrunde liegende wissenschaftstheoretische Position und die Fragestellung, auf die Methoden der Datenerhebung oder der -auswertung oder auch auf die Verfahren der Interpretation und der Qualitätssicherung beziehen (Definition in Anlehnung an Johnson et al. 2007, S. 123; Mertens et al. 2016, S. 4). Konstitutiv für MM ist dabei, dass die Kombination qualitativer und quantitativer Elemente über ein bloßes Nebeneinander von Methoden und Daten hinausgeht und eine Integration dieser Elemente stattfindet (s. auch Creswell 2015, S. 2; Kuckartz 2014, S. 33). Historisch gesehen ist die Kombination von qualitativen und quantitativen Elementen in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften nichts Neues (z. B. bereits Thomae 1959). In der als Marienthal-Studie bekannt gewordenen Untersuchung zu den psychosozialen Wirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit wurden beispielsweise qualitative Methoden der Datenerhebung wie Beobachtung, Interviews, Tagebucheinträge und Berichte von Betroffenen mit quantitativen Verfahren wie der Erfassung von Ausleihstatistiken oder der Messung der Gehgeschwindigkeit kombiniert; bei der Auswertung kamen ebenfalls sowohl interpretative als auch statistische Verfahren zur Anwendung (Jahoda et al. 1975 [1933]). Ziel dieser klassischen Untersuchung war es, den sozialpsychologischen Gegenstand Arbeitslosigkeit einschließlich seiner Phänomenologie und handlungsbezogenen Konsequenzen so umfassend wie möglich abzubilden. Auch in anderen klassischen Untersuchungen der psychologischen Forschung wurden qualitative und quantitative Methoden bereits in den 1920er-Jahren selbstverständlich zusammengeführt – etwa in den Hawthorne-Experimenten, die als Meilensteine der Arbeits- und Organisationspsychologie bekannt geworden sind. Zur Erfassung des Einflusses verschiedener Beleuchtungsgrade auf die Produktivität von Angestellten wurden hier Beobachtungen und Interviews in ein experimentelles Design integriert (Roethlisberger und Dickson 1939). Der Hawthorne-Effekt – dass schon das Wissen um die Teilnahme an einer Untersuchung das Verhalten der Teilnehmenden in der Untersuchungssituation verändern kann – wurde somit erstmals im Rahmen einer frühen Form von MM-Studie nachgewiesen. Auch andere klassische Studien in der Sozialpsychologie weisen zumindest Elemente einer Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden auf (für eine Rekonstruktion Fine und Elsbach 2000). Solche Kombinationen qualitativer und quantitativer Methoden in der Frühzeit der Psychologie gehen allerdings nicht notwendig auch mit einer Integration qualitativer und quantitativer Daten einher, wie sie für die heutige MM-Forschung konstitutiv ist (s. oben Abschn. 1).
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Diese selbstverständliche Kombination von Elementen qualitativer und quantitativer Forschung wurde, unter dem Einfluss des Positivismus und des Methodenstreits, abgelöst von einer Phase der Dominanz des quantitativen Paradigmas in den empirischen Sozialwissenschaften (von Tashakkori und Teddlie auch als monomethods bezeichnet: 1998, Kap. 1). Die qualitative Forschung befand sich demgegenüber in einer Position der Marginalisierung, die weitgehend unverbunden neben dem quantitativen Mainstream existierte (Groeben 2006; Nerlich 2004). Für die empirischen Sozialwissenschaften insgesamt ist seit den 1960er-Jahren eine wachsende Desillusionierung mit einem ausschließlich quantitativen Ansatz und einer quantitativen Weltsicht festzustellen, die zunächst zur Postulierung eines „alternativen“, interpretativen Paradigmas führte, das seinerseits gegenüber dem positivistischen Paradigma mit einem „Alleinherrschaftsanspruch“ auftrat (von Tashakkori und Teddlie auch als Phase der Paradigmenkriege bezeichnet; Tashakkori und Teddlie 1998, Kap. 1). Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hat jedoch eine Annäherung der Positionen stattgefunden, unter anderem getragen von einer Abschwächung extremer positivistischer Positionen (zum Post-Positivismus), der Entstehung verschiedener „alternativer“ Paradigmen sowie einer weitgehend pragmatischen Auffassung von Forschungsfragen als Problemen und Methoden als Werkzeugen zu deren Lösung. Im Zuge dieser Entwicklungen wurde auch die Kombination von Elementen qualitativer und quantitativer Forschungsansätze wieder denkbar und – im Rahmen von MM – zunehmend forschungspraktisch umgesetzt (zur Entwicklung s. Greene 2007, Kap. 3; Johnson et al. 2007; für die Psychologie zusammenfassend Gelo et al. 2008; Madill und Gough 2008). Die Psychologie stellt allerdings insofern eine Ausnahme von dieser generellen Entwicklung dar, als hier der quantitative Mainstream die Forschungslandschaft auch weiterhin dominiert, qualitative Ansätze somit nach wie vor als marginalisiert gelten müssen (Groeben 2006; Madill und Gough 2008). Entsprechend haben sich MM in der Psychologie bisher auch weniger etabliert als in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen (Povee und Roberts 2015; Tashakkori et al. 2012; Todd et al. 2004a; Waszak und Sines 2003). So verwenden nur zwischen ca. 1,7 % und 6 Prozent publizierter empirischer Studien ein Design, das explizit als Mixed Methods ausgewiesen ist (Povee und Roberts 2015, S. 42). Auch liegen bisher nur wenige genuin psychologische Sammelbände zum Thema vor (Ausnahmen sind: Mayring et al. 2007; Todd et al. 2004b; von der Lippe et al. 2011a). Teilbereiche der – vor allem angewandten – Psychologie stehen der MM-Forschung jedoch deutlich offener gegenüber als die Mehrzahl insbesondere der Grundlagendisziplinen, mit Ausnahme der Entwicklungspsychologie (von der Lippe et al. 2011a, b; Yoshikawa et al. 2008; zu MM in der Psychologie im Überblick Waszak und Sines 2003). Dahinter steht die Argumentation, dass eine ausschließlich quantitative Psychologie nicht geeignet sei, der Multidimensionalität menschlichen Erlebens gerecht zu werden (z. B. Franz et al. 2013). Andere Autorinnen und Autoren verweisen auf die jeweiligen Spezifika qualitativer und quantitativer Daten, wie etwa die Eignung qualitativer Daten und Methoden zur Beschreibung menschlichen Erlebens und dessen Kontextualisierung oder die Eignung quantitativer Daten und Methoden zur Identifikation von
Mixed Methods
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Kausalzusammenhängen oder für die Verallgemeinerung von einer Stichprobe auf eine Population, und leiten daraus die Wünschbarkeit von MM-Forschung in der Psychologie ab (z. B. Dattilio et al. 2010; Fine und Elsbach 2000; Gelo et al. 2008). Vor allem in den vergangenen zehn Jahren ist entsprechend eine Zunahme an Reviews zur Verwendung von MM in der angewandten psychologischen Forschung zu verzeichnen (zur Klinischen Psychologie und Therapieforschung s. Dattilio et al. 2010; Eubanks Gambrel und Butler VI 2013; Hanson et al. 2005; Rennie und Frommer 2015; zur Pädagogischen Psychologie Powell et al. 2008; zur Sportpsychologie Sparkes 2015; zur Kulturvergleichenden Psychologie Bartholomew und Brown 2012; zur Gesundheitspsychologie Bishop 2015). Darüber hinaus finden sich Reviews in Kombination mit Forderungen nach einer vermehrten Nutzung der Möglichkeiten von MM in je spezifischen Teilbereichen der Klinischen und Psychotherapieforschung, beispielsweise in der Präventionsforschung (Zhang und Watanabe-Galloway 2014), der Traumaforschung (Boeije et al. 2013; Creswell und Zhang 2009) oder der Suizidforschung (Kral et al. 2012). Hinter diesen Forderungen steht in der Regel die Modellierung des jeweiligen Gegenstandes als komplexes Phänomen, dessen Verständnis eine Kombination qualitativer und quantitativer Forschung erfordert (z. B. Harkness et al. 2006; Kral et al. 2012). Angesichts der Dominanz des quantitativen Mainstreams in der Psychologie entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass die Ursprünge der heutigen MMForschung von deren Vertreter/innen ausgerechnet in der quantitativen Psychologie verortet werden, nämlich in Campbell und Fiskes (1959) Entwicklung der MultitraitMultimethod-Matrix als Methode zur valideren Erfassung von Persönlichkeitseigenschaften durch den Vergleich bzw. die Triangulation mehrerer (quantitativer) Instrumente, um so die Schwächen der einen Methode durch die Stärken der anderen auszugleichen, und umgekehrt. Eine Ausdifferenzierung des Triangulationsbegriffs nahm in der Folge Denzin (1970) vor, der zwischen einer Triangulation zwecks wechselseitiger Validierung von Theorien, Forschenden, Daten und Methoden unterschied, wobei die Methodentriangulation entweder (wie bei Campbell und Fiske) innerhalb einer Methode, etwa durch Verwendung mehrerer Skalen, oder aber zwischen verschiedenen Methoden erfolgen konnte. Diese letztere Variante von Triangulation zwischen den Methoden (between oder across methods triangulation) liegt der weiteren Entwicklung von MM zugrunde, wobei die Triangulation zunehmend aus ihrer Funktion einer wechselseitigen Ergebnisvalidierung herausgelöst wurde (vgl. im Überblick Flick 2011, Kap. 1; Flick et al. 2012; Kelle 2001; zur Entwicklung erster Triangulationsdesigns vgl. Jick 1979; Morse 1991; zu weiteren Funktionen von Triangulation und Mixed Methods s. unten Abschn. 3.3 und Flick 2011). Die weitere Entwicklung der MM-Forschung hat sich bisher meist auf den englischsprachigen Raum konzentriert, während im deutschsprachigen Raum eher der Triangulationsdiskurs dominiert (Flick 2011; Kelle 2008). Einige MM-methodologische deutschsprachige Publikationen liegen jedoch durchaus vor (z. B. Burzan 2016; Erzberger 1998; Kelle und Erzberger 1999; Kelle 2008, 2019; Kuckartz und Busch 2012; Schreier und Echterhoff 2013; und einige der Beiträge in Baur
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et al. 2017 sowie Schreier und Fielding 2001), und Udo Kuckartz hat 2014 das erste deutschsprachige Lehrbuch zu MM vorgelegt. Deutschsprachige Beiträge zu MM aus speziell psychologischer Perspektive liegen bisher nur vereinzelt vor (vgl. aber Mayring 2001; von der Lippe et al. 2011a, b), Autorinnen und Autoren aus der deutschsprachigen Psychologie publizieren jedoch durchaus innerhalb des englischsprachigen MM-Diskurses (z. B. Flick et al 2012; Franz et al. 2013; Mayring et al. 2007; Rennie und Frommer 2015).
3
Mixed Methods-Methodologie: Darstellung ausgewählter Schwerpunkte
3.1
Mixed Methods: Begriffsklärungen
Schon der knappe historische Überblick macht deutlich, welch große Zahl an Begriffen innerhalb der MM-Diskussion Anwendung gefunden hat, wie beispielsweise: multitrait-multimethod, mono- und multimethods, multiple methods, blended research,, integrative research, Triangulation, mixed methods, quasi mixed methods, mixed research, hybrids, um nur einige zu nennen (ausführlich: Creswell und Plano Clark 2017; Johnson et al. 2007). Selbst eine verbindliche und allgemein akzeptierte Definition des MM-Begriffs fehlt bisher, wobei es hier genau genommen nicht um eine Definition von Mixed Methods, sondern einer Mixed Methodology geht, also um die Konzeptualisierung und Diskussion einer Herangehensweise an die Kombination von Elementen qualitativer und quantitativer Forschung (s. auch unten Abschn. 3.2 zur Konzeptualisierung von MM als Paradigma). Johnson et al. führten 2007 eine Befragung führender Forscher/innen aus dem Bereich MM zu ihren Begriffsdefinitionen durch. Übereinstimmung ergab sich lediglich dahingehend, dass hier Elemente qualitativer und quantitativer Forschung kombiniert werden (abweichend jedoch: Burzan 2016; Hesse-Biber 2015). Wie diese Kombination im Einzelnen erfolgt, ob MM lediglich eine Kombination von Methoden oder notwendig auch von Designelementen bis hin zu Paradigmen umfasst, und zu welchem Zweck Elemente qualitativer und quantitativer Forschung sinnvoll kombiniert werden können, darüber gingen die Ansichten auseinander. So finden sich beispielsweise unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die Bezeichnung „Mixed Methods“ zwingend mit der Erhebung und Auswertung quantitativer und qualitativer Daten einhergehen muss. Creswell und Plano Clark vertreten in ihrem Lehrbuch (2017) den Standpunkt, dass dies der Fall sein muss. Teddlie und Tashakkori dagegen sehen in ihrer Design-Typologie auch das sog. „Monostrand Conversion“Design vor (2009): Dieses beinhaltet die Erhebung ausschließlich qualitativer oder ausschließlich quantitativer Daten, die im Zuge der Auswertung in den je anderen Datentyp konvertiert werden (etwa eine inhaltsanalytische Studie mit anschließender Bestimmung der Besetzungshäufigkeiten für die verschiedenen Kategorien). Mit der eingangs aufgeführten Definition von MM als Kombination und Integration von Elementen qualitativer und quantitativer Forschung in einer Untersuchung oder in mehreren aufeinander aufbauenden Untersuchungen, ohne die zu kombinierenden
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165
Elemente jedoch inhaltlich zu spezifizieren, orientieren wir uns am Definitionsvorschlag von Johnson et al., mit dem diese ihrerseits versuchen, den unterschiedlichen Definitionen der führenden Forscher/innen gerecht zu werden. Im Folgenden soll der Begriff der MM gegenüber den wichtigsten verwandten Begriffen abgegrenzt werden (Creswell 2015, Kap. 1; Creswell und Plano Clark 2017, Kap. 1; Teddlie und Tashakkori 2009, Kap. 2). Zunächst sind MM- gegenüber Monomethod- und Multiple Method-Studien zu differenzieren. Monomethod-Studien sind dadurch charakterisiert, dass sie ganz in einem Paradigma verankert sind (sei es dem qualitativen oder dem quantitativen), wobei idealtypisch nur jeweils eine Methode der Datenerhebung und eine Methode der Datenauswertung zur Anwendung kommt. Auch Multiple Method-Studien sind meist in jeweils einem Paradigma verankert, es werden jedoch mehrere Methoden der Datenerhebung eingesetzt (z. B. eine ethnografische Studie unter Anwendung von teilnehmender Beobachtung und narrativen Interviews). Je nachdem, wie eng die Definition von MM gefasst wird, zählen auch Studien unter Verwendung qualitativer und quantitativer Methoden und Daten zum Gegenstandsbereich der Multiple Method-Studien, wenn keine Integration dieser Daten erfolgt, wenn es also bei der bloßen Kombination bleibt. Damit sind Multiple Method-Studien zugleich als Triangulationsstudien charakterisierbar, d. h. als Studien, in denen ein Phänomen oder Aspekte eines Phänomens durch mehrere Methoden erfasst werden; worin das Ziel der Triangulation besteht, wird in dieser Definition bewusst nicht festgelegt. Je nachdem, ob die Methoden aus einem Forschungsansatz oder aus verschiedenen Forschungsansätzen stammen und ob eine Integration der Daten aus verschiedenen Forschungsansätzen stattfindet, sind Triangulationsstudien als Multiple Method- (wie eben beschrieben) oder als MM-Studien realisiert. Triangulationsstudien sind also nicht notwendig auch Mixed Method-Studien (und umgekehrt; zur Relation von MM und Triangulation: Flick 2011, Kap. 5; Hammersley 2008; Kuckartz 2014, S. 44–49; s. auch Abschn. 3.3). Der Vollständigkeit halber sei jedoch erwähnt, dass es vor allem im Zuge einer Kritik an der quantitativen Dominanz der MM-Forschung (s. unten Abschn. 5) auch Ansätze dahingehend gibt, das Konzept der Multiple Methods als Oberbegriff zu definieren, der sowohl MM- als auch Triangulationsstudien umfasst (z. B. Burzan 2016, Kap. 2.3). Teddlie und Tashakkori führen darüber hinaus den Begriff der Quasi Mixed Methods-Designs ein (Teddlie und Tashakkori 2009, S. 142–143). Diese sind definiert als Untersuchungsanlagen, in denen zwar qualitative und quantitative Methoden zur Anwendung kommen, wobei jedoch das eine Paradigma und die eine Methode stark dominieren und zudem keine Integration der Ergebnisse stattfindet (z. B. in einer Fragebogenstudie die Ergänzung von geschlossenen um ein oder zwei offene Fragen).
3.2
Mixed Methods als drittes Paradigma? Die Paradigmendiskussion
Paradoxerweise ist die MM-Forschung seit ihren Anfängen eng mit der Frage verknüpft, inwieweit eine Kombination von Elementen aus der qualitativen und der quantitativen Forschung überhaupt zulässig ist (im Überblick: Johnson et al. 2007;
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Teddlie und Tashakkori 2009, Kap. 3–5). Hintergrund dieser Diskussion ist die Postulierung eines interpretativen im Gegensatz zum dominierenden positivistischen Paradigma durch Lincoln und Guba (1988); diese gingen zugleich davon aus, dass die Paradigmen im Kuhn’schen Sinne (1962) inkommensurabel seien. Eine Kombination von Elementen aus den Paradigmen galt folglich als nicht zulässig. Diese Position, auch als Purismus bezeichnet, markiert zugleich den Beginn der sog. Paradigmenkriege. Die Entwicklung von MM wurde erst mit einem „Aufweichen“ dieser extremen Position möglich. Ein Impuls dazu ging von Lincoln und Guba selbst aus, die in ihren neueren Publikationen neben den ursprünglichen eine größere Anzahl an Paradigmen unterscheiden (wie etwa PostPositivismus, Konstruktivismus etc.), die sie partiell auch nicht mehr als unvereinbar ansehen (Lincoln und Guba 1994, 2005). Weiterhin wurde zunehmend infrage gestellt, wie eng der Zusammenhang zwischen epistemologischen Überzeugungen und forschungspraktischem Handeln, insbesondere der Auswahl von Forschungsmethoden, tatsächlich ist (im Überblick Greene 2007; Morgan 2007). Wesentliche Entwicklungen in diesem Zusammenhang sind zunächst die Ausarbeitung des Pragmatismus als epistemologischer Grundlage von MM und die damit einhergehende Postulierung von MM als drittes methodologisches Paradigma in den empirischen Sozialwissenschaften (Johnson und Onwuegbuzie 2004). Der Kern der pragmatischen Auffassung besteht dabei – stark vereinfachend – darin, dass die Wahl der Forschungsmethoden im Hinblick auf die jeweilige Forschungsfrage erfolgt. In den letzten Jahren hat neben dem Pragmatismus zudem das transformative Paradigma nach Mertens (2008) an Bedeutung gewonnen (Mertens et al. 2016, S. 12–18), das auf eine Transformation gesellschaftlicher Wirklichkeit und eine Sichtbarmachung marginalisierter Positionen hin ausgerichtet ist (im Überblick Schreier 2017). Parallel wurde die Tauglichkeit des Paradigmabegriffs, wie Lincoln und Guba (1994, 2005) ihn verwenden, ganz grundsätzlich infrage gestellt. Fasst man Paradigmen mit Morgan (2007, in Anlehnung an Kuhn 1962) nicht im Sinne epistemologischer Annahmen auf, sondern im Sinne von Überzeugungen, die von Forschenden in einem bestimmten Gegenstandsbereich geteilt werden, so relativiert sich auch die Frage der (Un-)Vereinbarkeit von Paradigmen. In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen von Greene (2007), die im Rahmen ihrer Ausarbeitung von MM den Paradigmenbegriff durch das Konzept der mental models ersetzt, die nicht nur methodologische Annahmen beinhalten, sondern unter anderem auch Werte, Praktikabilitätsüberlegungen und substanzwissenschaftliche Theorien. Allerdings ist die Diskussion über die Frage der grundsätzlichen Vereinbarkeit qualitativer und quantitativer Forschung noch keineswegs abgeschlossen. In den letzten Jahren wird wieder Kritik an einer allzu „pragmatisch“ orientierten Vernachlässigung epistemologischer Grundannahmen und damit verbundener methodologischer Stärken und Schwächen qualitativer und quantitativer Forschung laut (z. B. Bergman 2008b; Bishop 2015; Burzan 2016, Kap. 1; Kelle 2008). Erst eine gründliche Reflexion methodologischer Möglichkeiten und Grenzen, so die Argumenta-
Mixed Methods
167
tion, schaffe die Grundlage für eine Kombination von Methoden aus den beiden Paradigmen derart, dass ihre Stärken sich in fruchtbarer Weise ergänzen (s. die Diskussionen in Mey und Mruck 2014, Teil 2).
3.3
Warum überhaupt kombinieren? Funktionen von Mixed Methods
Einen weiteren Schwerpunkt in der aktuellen Diskussion um MM bildet die Frage nach der Funktion einer Kombination von Elementen qualitativer und quantitativer Forschung (Bryman 2006, S. 105–107; Greene 2007, Kap. 6; Greene et al. 1989). Ihren Ursprung hat diese Diskussion im Triangulationsdiskurs bzw. in der ursprünglich angesetzten Validierungsfunktion von Triangulation, wie sie der MultitraitMultimethod-Matrix von Campbell und Fiske (1959) zugrunde liegt. Die Funktion einer Methodenkombination wurde in einer wechselseitigen Validierung der Ergebnisse gesehen, wobei die Konvergenz als Validitätskriterium angesetzt wurde (Kelle 2001). Die Interpretation der Befunde einer Triangulationsstudie hängt jedoch wesentlich davon ab, inwieweit es gelungen ist, die Methoden in der Tat so auszuwählen, dass Stärken und Schwächen einander wechselseitig kompensieren (Fielding und Fielding 1986, S. 33; Hammersley 2008). Wenn zwei Methoden vergleichbare Schwächen aufweisen, dann besagt auch eine Konvergenz der Ergebnisse wenig im Hinblick auf die valide Erfassung des Gegenstandsbereichs. In Reaktion auf diese Kritik und im Zuge der Entwicklung des Triangulationsdiskurses im Kontext von MM wurde Triangulation zunehmend auch als Anwendung mehrerer Methoden auf denselben Gegenstandsbereich verstanden, um auf diese Weise ein umfassenderes Bild des Gegenstandes zu erhalten. Dahinter steht die Annahme, dass jede Methode den Gegenstand unter einer bestimmten Perspektive ko-konstituiert (vgl. das Konzept der systematischen Perspektiventriangulation bei Flick 2011, Kap. 2.5; ähnlich auch Denzin 1989, S. 246; Kelle 2001); in der MM-Diskussion wird dieses Konzept auch unter den Begriff der Komplementaritätsfunktion gefasst (Greene 2007, Kap. 6; Jick 1979). Die Ergebnisse einer Triangulationsstudie können konvergieren, sie können sich zueinander komplementär verhalten, sie können aber auch divergieren (Hammersley 2008). Jick wies bereits 1979 darauf hin, dass eine Divergenz der Ergebnisse – die unter dem Gesichtspunkt einer Validierungsfunktion zunächst als ganz und gar nicht wünschenswert erscheint – gerade Anlass für weitergehende und ganz neue Überlegungen zum Gegenstand sein kann. In einer Untersuchung der Funktionen von MM-Studien erwies sich die bewusste Suche nach Divergenz (initiation; im Folgenden bezeichnet als: Initiierung) in der Tat auch empirisch als bedeutsam (Greene et al. 1989; für ein Beispiel auch Rossman und Wilson 1985). Konvergenz, Komplementarität und Initiierung stellen somit die wesentlichen Funktionen von MM-Studien ausgehend vom Triangulationskonzept dar. Als weitere Funktionen von MM-Studien, die nicht mit dem Triangulationsgedanken
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in Zusammenhang stehen, identifizierten Greene et al. (1989) außerdem Entwicklung (development) und Erweiterung (expansion). Ein Mixed Methods-Design mit dem Ziel der Entwicklung liegt vor, wenn eine Methode dazu dient, eine Untersuchung mittels einer anderen Methode überhaupt erst zu ermöglichen. Das ist beispielsweise der Fall, wenn in einem ersten Schritt eine qualitative Studie zur Exploration des Gegenstandsbereiches durchgeführt und auf dieser Grundlage in einem zweiten Schritt ein Fragebogeninstrument mit geschlossenen Antwortmöglichkeiten konstruiert und anhand einer größeren Stichprobe hinsichtlich seiner psychometrischen Eigenschaften überprüft wird (für ein Beispiel s. Kroman und Oetzel 2003). Ein MM-Design mit dem Ziel der Erweiterung ist darüber definiert, dass die verschiedenen Design-Komponenten sich von vornherein auf unterschiedliche Bereiche im Zusammenhang mit einem Gegenstand beziehen. Dies wäre beispielsweise gegeben, wenn im Rahmen einer Evaluationsstudie quantitative Methoden eingesetzt werden, um die Ergebnisse der Implementierung eines Programms zu erfassen, und qualitative Methoden verwendet werden, um Aufschluss über den Veränderungsprozess zu erhalten (für ein Beispiel s. Greene 2007, S. 104–106). Der Unterschied zwischen MM-Designs mit dem Ziel der Komplementarität und der Erweiterung besteht darin, dass die Methoden beim Komplementaritätsdesign zur Erfassung unterschiedlicher Aspekte desselben Gegenstands eingesetzt werden, beim Erweiterungsdesign dagegen zur Erfassung unterschiedlicher Gegenstände, die jedoch eng miteinander verknüpft sind. Die von Greene et al. (1989) identifizierten fünf Funktionen (Validierung, Komplementarität, Initiierung, Entwicklung und Erweiterung) gelten heute als verbindliche Typologie der Funktionen von MM-Designs in verschiedenen Disziplinen. In der weiteren Diskussion wird diese Typologie in zweifacher Hinsicht ergänzt: erstens um disziplinspezifische Formulierungen der Funktionen von MM (für die Soziologie: Kelle 2008, Kap. 10) sowie zweitens um differenziertere empirische Kategorisierungen von Funktionen (z. B. Bryman 2006). Brymans empirische Analyse der Funktionen von MM-Designs zeigt im Übrigen, dass die Zielsetzung einer Methodenkombination zu Beginn der Untersuchung und die tatsächlich realisierte Funktion nicht notwendig identisch sein müssen; durch Methodenkombination gewonnene Daten werden also vielfach anders genutzt als zunächst intendiert. Die Differenzierung verschiedener Funktionen von MM-Studien ist nicht nur in der methodologischen Diskussion, sondern auch ganz forschungspraktisch bedeutsam. Die Identifikation der Gründe, sich nicht auf das Methodeninventar nur der qualitativen oder nur der quantitativen Forschung zu beschränken, sondern Methoden aus den beiden Traditionen zu kombinieren, bildet den Ausgangspunkt für die Generierung von Forschungsfragen und die Auswahl eines geeigneten Designs (Creswell 2015, Kap. 2). Weiterhin hat eine Analyse von MM-Studien zur Thematik von Kindheitstraumata ergeben, dass solche Untersuchungen, in denen die Autor/ innen eingangs ihre Verwendung von MM unter expliziter Benennung von Funktionen begründeten, im Verlauf auch häufiger eine Integration ihrer qualitativen und quantitativen Daten vornahmen und dem Grundgedanken der MM-Forschung somit besser gerecht wurden (Boeije et al. 2013).
Mixed Methods
3.4
169
Klassifikationsdimensionen für Mixed Method-Designs
Insbesondere in der US-amerikanischen MM-Diskussion liegt ein Schwerpunkt auf der Entwicklung von Designs und Design-Typologien. Dabei ist die Vielfalt verschiedener MM-Designs inzwischen kaum mehr überschaubar: Verschiedene Autor/ innen schlagen je unterschiedliche Typologien vor (z. B. Creswell, 2015; Creswell und Plano Clark 2017; Greene 2007; Morgan 2014; Morse 2003; Nastasi et al. 2010; Teddlie und Tashakkori 2009), die nur mehr schwer zu integrieren sind. Einzelne Autorinnen und Autoren entwickeln ihre Typologien über die Zeit hinweg weiter: So unterscheiden Creswell und Plano Clark in der ersten Ausgabe ihres Lehrbuchs zu Mixed Methods im Jahr 2007 vier Basisformen von MM-Designs. In der zweiten Ausgabe von 2011 kommen zwei weitere Basisformen hinzu, und in seinem neuesten Lehrbuch von 2015 führt Creswell zwar ebenfalls sechs Varianten von MMDesigns auf, die nun aber in Basis-Designs und erweiterte Designs unterteilt und z. T. unterschiedlich benannt sind; beispielsweise wird das Embedded Design aus 2011 in 2015 zum Intervention Design und das Transformative Design zum Social Justice Design (s. ausführlich Abschn. 3.5 s. auch die dritte Auflage des Lehrbuchs von Creswell und Plano Clark aus 2017). Auch werden die Typologien zunehmend komplexer, etwa durch Einbeziehung verschiedener Designphasen (Powell et al. 2008) oder Berücksichtigung der transformativen Perspektive nach Mertens (2008; s. auch Creswell und Plano Clark 2011). Designtypologien werden daher in der Literatur z. T. auch kritisch gesehen (Bergman 2008b; Bryman 2006; Guest 2013; Kelle 2008; Maxwell und Loomis 2003; Schoonenbaum und Johnson 2018). Es sollen daher hier nicht die verschiedenen Typologien dargestellt werden, sondern es soll lediglich ein Überblick über die zentralen Kriterien gegeben werden, die der Erstellung der Typologien zugrunde liegen (s. auch Greene 2007, Kap. 7; Schoonenbaum und Johnson 2018); weiterhin wird im folgenden Abschnitt eine Typologie zur Veranschaulichung genauer dargestellt, nämlich die Typologie von Creswell und Plano Clark in der Version von 2011. Zu den ersten Kriterien, die für die Differenzierung von MM-Designs nutzbar gemacht wurden, zählen die Funktion der Methodenkombination (nach Greene et al. 1989; wie oben dargestellt) und die Untersuchungsphase (Design, Datenerhebung, Datenauswertung: Patton 1990). Kurz darauf entwickelte Morse (1991) eine erste Design-Typologie, basierend auf den Kriterien der Reihenfolge, in der die Methoden implementiert werden (gleichzeitig: bezeichnet als parallele, concurrent oder auch Triangulation Designs; nacheinander, mit qualitativen gefolgt von quantitativen Methoden; nacheinander, mit quantitativen gefolgt von qualitativen Methoden: bezeichnet als sequenzielle Designs) und des Gewichts, mit dem der qualitative und der quantitative Ansatz in das Design eingehen (gleichgewichtig; Dominanz des qualitativen Ansatzes; Dominanz des quantitativen Ansatzes). Das Kriterium der Reihenfolge bzw. des wechselseitigen Bezugs wurde in der Folge noch weiter ausdifferenziert, etwa dahingehend, ob eine oder mehrere aufeinander bezogene Untersuchungen realisiert werden (z. B. Unterscheidung zwischen component und integrated designs: Greene 2007; Unterscheidung zwischen monostrand und multistrand-Designs: Teddlie und Tashakkori 2009, Kap. 7) und in welcher Beziehung die Untersuchungselemente zueinander
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M. Schreier und Ö. Odağ
stehen (z. B. Berücksichtigung von iterativen und eingebetteten Designs: Sandelowski 2000). Weitere Kriterien umfassen die Art und Weise der Kombination (z. B. merging, embedding, connecting: Creswell und Plano Clark 2011), das Vorhandensein einer ideologischen Perspektive als Rahmenkonzeption (Teddlie und Tashakkori 2009, Kap. 7) sowie, speziell innerhalb sequenzieller Designs, die Funktion der vergleichsweise unwichtigeren Forschungstradition (Morgan 2014: als Grundlage für die folgende Untersuchung oder als Follow-up zu der vorausgehenden Untersuchung).
3.5
Mixed Method-Design-Typologien: Ein Beispiel
In Reaktion auf die zunehmende Unübersichtlichkeit der Kriterien und resultierenden Typologien greifen Creswell und Plano Clark (2011) sechs Designs heraus, die sie als Grundformen von MM-Designs bezeichnen und (mit Varianten) genauer beschreiben: das Triangulations-, das eingebettete (embedded), das sequenziell-erklärende (explanatory), das sequenziell-erkundende (exploratory), das transformative (transformative) und das mehrphasige (multiphase) Design. Das Triangulationsdesign ist durch die Erhebung qualitativer und quantitativer Daten mit dem Ziel charakterisiert, so zu einem umfassenderen Bild des Gegenstands zu gelangen (s. oben Abschn. 3.3). Triangulationsstudien haben in der Psychologie eine lange Tradition. Der Befund von Sherif et al. (1961), dass Vorurteile zwischen Gruppen sich in erster Linie durch Kontakt reduzieren lassen, bei dem die Mitglieder der beiden Gruppen übergeordnete, gemeinsame Ziele verfolgen, basiert auf einem Triangulationsdesign: Im Rahmen der „Robbers’ Cave“-Studien erhoben Sherif et al. innerhalb eines experimentellen Designs sowohl qualitative (insbesondere durch teilnehmende Beobachtung) als auch quantitative Daten (Ratings der Beobachter/innen, Häufigkeitsauszählungen ausgewählter Aktivitäten usw.), die gemeinsam in die Auswertung eingingen. Beim eingebetteten Design dominiert der qualitative oder der quantitative Forschungsansatz; Daten aus dem jeweils anderen Paradigma werden lediglich ergänzend und zur Beantwortung einer zusätzlichen Fragestellung erhoben. Im Rahmen einer qualitativen Studie zur Exploration und Beschreibung der Reaktionen in Therapiegesprächen von Therapeut/innen in Ausbildung, Klient/innen und Supervisor/innen wurden beispielsweise ergänzend quantitative Prä- und PostDaten erhoben, um (unter anderem) etwaige Veränderungen der Ängstlichkeit der Auszubildenden und ihrer Erfahrungen von Selbstwirksamkeit zu erfassen (Williams et al. 1997). Die Auswertung der Daten erfolgte getrennt; eine Zusammenführung fand erst im Rahmen der Interpretation statt. Das eingebettete Design ist in der Forschungspraxis deutlich seltener als die anderen Designtypen. Das sequenziell-explanative ist ein zweiphasiges Design, bei dem im ersten Schritt eine quantitative, im zweiten Schritt eine qualitative Untersuchungskomponente realisiert wird, und zwar mit dem Ziel, ausgewählte Aspekte der quantitativen Befunde mittels qualitativer Methoden differenzierter zu erfassen. Creswell und Plano Clark (2007) verweisen als Beispiel auf eine Studie von Way et al. (1994) zur Relation von Drogenkonsum und Depression bei Jugendlichen an innerstädti-
Mixed Methods
171
schen und Vorort-Schulen. Eine erste quantitative Fragebogenstudie ergab, dass ein (positiver) Zusammenhang zwischen Drogenkonsum und Depression nur an vorstädtischen, nicht dagegen an innerstädtischen Schulen nachgewiesen werden konnte. Daraufhin wurden in einem zweiten Schritt Leitfadeninterviews mit den Schüler/innen mit den höchsten Depressions-Scores durchgeführt und inhaltsanalytisch ausgewertet. Die qualitative Studie ergab unter anderem, dass Drogen von den Jugendlichen in den vorstädtischen Gebieten häufiger als Möglichkeit zur Flucht vor den Problemen wahrgenommen wurde, von den Jugendlichen im innerstädtischen Bereich dagegen häufiger als Ursache solcher Probleme. Auch das sequenziell-explorative Design ist zweiphasig aufgebaut, wobei die qualitative der quantitativen Phase vorausgeht. Dieses Design steht in Übereinstimmung mit der „Hilfsfunktion“, die der qualitativen Forschung innerhalb des quantitativen Mainstream bestenfalls zugebilligt wird. Entsprechend findet sich dieses Design in der quantitativ orientierten Psychologie vergleichsweise häufig, beispielsweise bei der Entwicklung von Fragebogeninstrumenten. Creswell und Plano Clark (2011) führen zur Veranschaulichung des explorativen Designs eine Studie von Kroman und Oetzel (2003) an, in der zunächst 13 Interviews mit Angehörigen unterschiedlicher Institutionen zum Thema der Assimilation in Organisationen durchgeführt wurden. Die Interviews ergaben sechs Dimensionen, für die im nächsten Schritt 61 Items konstruiert wurden. Das Instrument wurde anschließend in einer Fragebogenstudie, in Kombination mit drei weiteren Instrumenten, anhand einer umfangreichen Stichprobe von knapp 350 Personen validiert. Das transformative Design ist wesentlich durch eine emanzipatorische Perspektive gekennzeichnet (Mertens 2008; Patton 2015): Die Forscher/innen nehmen gegenüber dem Gegenstandsbereich dezidiert eine wertende Perspektive ein, machen diese Wertungen explizit und beziehen sie in ihre methodologischen Entscheidungen mit ein. Partizipative Forschung, feministische Forschung oder Forschung in der Tradition der Disability Studies stellen Beispiele transformativer Forschung im Sinne von Mertens dar. Ein Beispiel für eine MM-Untersuchung unter Anwendung eines transformativen Designs ist die Studie von Ungar und Liebenberg (2011), in der sie in einer Aufeinanderfolge von zwei Untersuchungssträngen einen Fragebogen zur Erfassung von Resilienz bei Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichen Kulturen unter Einbeziehung sowohl emischer als auch etischer Anteile entwickeln. Die transformative Herangehensweise ergibt sich dabei aus der konsequenten Umsetzung einer Perspektive der Offenheit und Sensibilität gegenüber unterschiedlichen Kulturen sowie der Einbeziehung der Sichtweisen der Kinder und Jugendlichen selbst. Die erste Phase des Projekts ist qualitativ angelegt, dient der differenzierten Erfassung der Perspektiven der Kinder und Jugendlichen und der Entwicklung eines Fragebogens. In der zweiten Phase wird der Fragebogen einer quantitativen (Fragebogenitems mit numerischen Skalen) und einer parallel realisierten qualitativen Testung (Fokusgruppen) unterzogen. Bei Mehrphasen-Designs schließlich handelt es sich um die komplexeste Variante von MM-Designs, in denen mehr als zwei aufeinander aufbauende Untersuchungsphasen realisiert werden, beispielsweise im Rahmen von Evaluationsstudien. Als Beispiel verweisen Creswell und Plano Clark (2011) hier auf eine hochkomplexe
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Studie von Nastasi et al. (2007) mit dem – transformativ orientierten – Ziel der Entwicklung kulturangemessener und evidenzbasierter Maßnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit von Schulkindern in Sri Lanka. Das Gesamtprojekt gliedert sich in mehrere rein qualitative, rein quantitative und gemischte Phasen, die teils sequenziell aufeinander aufbauen, teils iterativ miteinander verbunden sind. Die Beschreibung der Beispielstudien zeigt zugleich, dass die konkrete Vielfalt an MM-Realisationen die Design-Typologien an Komplexität bei weitem übersteigt. So wird in dem oben beschriebenen transformativen Design von Ungar und Liebenberg (2011) zugleich ein sequenziell-exploratives Design realisiert. Weiterhin findet innerhalb der zweiten Untersuchungsphase außerdem eine parallele Erhebung qualitativer und quantitativer Daten statt. Das Design verbindet somit sequenzielle mit parallelen Elementen. Solche komplexen Studien lenken also den Blick darauf, dass eine Kombination qualitativer und quantitativer Methodenelemente nicht nur zwischen Untersuchungssträngen möglich ist, sondern auch innerhalb eines Untersuchungsstrangs. Vor diesem Hintergrund schlägt Guest (2013) vor, MM-Studien nicht nur im Hinblick auf die Gesamtanlage zu beschreiben, sondern jeden methodischen Schritt – Forschungsfrage, Sampling bzw. Fallauswahl, Datenerhebung und -auswertung – unter Berücksichtigung der Kombination von Elementen der qualitativen und der quantitativen Forschungstradition differenziert darzustellen (ähnlich auch Maxwell und Loomis 2003).
3.6
Neuere Entwicklungen in der Mixed Methods-Forschung
Die Mixed Methods-Diskussion der vergangenen Jahre war in erster Linie von Fragen der Definition von MM, einer Diskussion des Paradigmenbegriffs und dessen Bezug zur MM-Forschungspraxis sowie der Entwicklung von MM-Designs bestimmt (Creswell 2009). In Übereinstimmung mit der Forderung nach einer differenzierteren Beschreibung der verschiedenen Untersuchungsphasen zeigt sich in der neueren Literatur nun ein vermehrtes Interesse an deren methodologischer Ausarbeitung, wie etwa Stichprobenziehung bzw. Fallauswahl (Collins 2010; Teddlie und Yu 2007), Datenerhebung und -auswertung (dazu u. a. die entsprechenden Kapitel in Creswell und Plano Clark 2017; Greene 2007; Teddlie und Tashakkori 2009) und Beurteilung der Güte von MM-Studien (Hayvaert et al 2013; O’Cathain 2010; Plano Clark et al. 2010; Tashakkori und Teddlie 2008). Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Integration der Ergebnisse im Rahmen der Auswertung zu, was sich nicht zuletzt aus der konstitutiven Rolle der Integration der qualitativen und quantitativen Daten für die Definition von Mixed Methods herleitet. Zugleich findet diese hohe Bedeutung der Integration in der MM-Forschung bisher zu wenig Berücksichtigung (für Ausnahmen s. Bazeley 2018; Kuckartz 2017), gehen doch nur vergleichsweise wenige Studien über die parallele Darstellung der Ergebnisse quantitativer und qualitativer Forschungsphasen hinaus (z. B. die Kritik in Boeije et al. 2013; Sparkes 2015). Plano Clark et al. (2010) schlagen beispielsweise drei Strategien der Ergebnisdarstellung vor, die sukzessive ein Mehr an Ergebnisintegration erfordern: die narrative Integration im
Mixed Methods
173
Rahmen der Ergebnisdarstellung, die gemeinsame Darstellung quantitativer und qualitativer Ergebnisse in einer Matrix, Tabelle oder Abbildung, und schließlich die gemeinsame Auswertung, entweder mit vorausgehender Quantifizierung qualitativer Daten oder mit vorheriger „Qualifizierung“ quantitativer Daten (Bazeley und Kemp 2012; Kuckartz 2014, Kap. 4; Onwuegbuzie und Combs 2010). In diesem Zusammenhang kommt Software zur Auswertung qualitativer Daten eine wichtige Rolle zu, die bei der Suche nach Schnittbereichen zwischen den qualitativen und den quantitativen Daten hilfreich sein kann (Bazeley 2010; Creswell und Plano Clark 2011, S. 243–247; Kuckartz 2014, Kap. 4; s. auch das Konzept der emergent methods: z. B. Nagy Hesse-Biber und Leavy 2010). Einige qualitativ Forschende haben sich ganz grundsätzlich kritisch zu MM geäußert, weil sie die MM-Forschung nicht als gleichberechtigte Kombination qualitativer und quantitativer Forschungstraditionen sehen, sondern MM letztlich als quantitativ dominiert wahrnehmen (z. B. Giddings 2006; Morse und Cheek 2014; Schreier 2017; Abschn. 3). Als Reaktion auf diese Kritik fordern beispielsweise Morse und Cheek (2014) eine qualitativ orientierte („qualitatively driven“) MM-Forschung. Andere Autorinnen und Autoren haben damit begonnen, methodologische Anknüpfungspunkte ausgewählter qualitativer Designs und Forschungstraditionen für MM-Studien herauszuarbeiten, beispielsweise für die GroundedTheory-Methodologie (Johnson et al. 2010) oder für die Phänomenologie (Mayoh und Onwuegbuzie 2015). Weitere aktuelle Themen umfassen eine vermehrte Beschäftigung mit den Stärken und Schwächen von MM (Johnson et al. 2007), mit der Relation von MM und etablierten Designs, in denen die Anwendung mehrerer Methoden vorgesehen ist (wie Ethnografie oder Fallstudie: Creswell 2009) sowie mit der Frage, ob MMDesigns disziplinübergreifend anzusetzen sind oder vielmehr die Entwicklung je disziplinspezifischer MM-Varianten erforderlich ist (Creswell 2009; Tashakkori und Cressfield 2008; für die Psychologie: von der Lippe et al. 2011b).
4
Entwicklungen von Mixed Methods in der Psychologie
4.1
Mixed Methods-Designs in der Psychologie
Während die Psychologie sich zunächst im Vergleich zu den anderen Sozialwissenschaften nur zögerlich für MM öffnete, finden sich inzwischen vermehrt Forderungen nach einer Nutzung des Potenzials von MM-Studien für ein holistischeres und deren Komplexität angemesseneres Verständnis verschiedener psychologischer Gegenstandsbereiche (u. a. Bartholomew und Brown 2012; Dattilio et al. 2010; Eubanks Gambrel und Butler VI 2013; Fine und Elsbach 2000; Gelo et al. 2008; Harkness et al. 2006; Haverkamp et al. 2005; Kral et al. 2012; McCrudden et al. 2019; Yoshikawa et al. 2008). Für eine vermehrte Öffnung der Psychologie für das Potenzial von MM spricht auch die zunehmende Anzahl von Reviews zur Nutzung von MM in verschiedenen Teilbereichen der Psychologie (s. Abschn. 2).
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Eine Studie zu Einstellungen von Psychologinnen und Psychologen an einer amerikanischen Universität zeigt jedoch, dass die Haltung einer grundsätzlichen Akzeptanz von MM in der psychologischen Forschung für bestimmte Forschungsfragen weiterhin mit einer gewissen Skepsis gegenüber den qualitativen Forschungsanteilen und deren Abwertung im Vergleich zu den quantitativen Komponenten einhergeht (Povee und Roberts 2015; ähnlich auch Wiggings 2011). In ihrem Überblicksbeitrag zu MM-Studien in der Psychologie gelangen Waszak und Sines (2003) ebenfalls zu dem Schluss, dass die Nutzung von MM in der Psychologie letztlich quantitativ geprägt sei. Sie identifizieren zwei dominierende Untersuchungsanlagen: experimentelle Untersuchungen unter Verwendung qualitativer oder einer Kombination qualitativer und quantitativer Daten (wie beispielsweise in der Triangulationsstudie von Sherif et al. 1961; s. Abschn. 3.5) sowie inhaltsanalytische Untersuchungen, bei denen qualitative Daten im Anschluss an die inhaltsanalytische Auswertung durch Häufigkeitsbestimmungen quantifiziert werden, woran sich ggf. weitere (inferenz-) statistische Auswertungsschritte anschließen (vgl. etwa die Untersuchungsbeispiele zu MM in Mayring et al. 2007; s. auch Huber 2007; Schweizer et al. 2007). In beiden Fällen handelt es sich um Designs, in denen der quantitative Ansatz dominiert, die qualitativen den quantitativen Elementen untergeordnet sind. Zu vergleichbaren Schlussfolgerungen gelangen auch Powell et al. (2008) in ihrer empirischen Analyse von MM-Studien in der Schulpsychologie aus den Jahren 2001 bis 2005. Mehr als 75 % der Studien waren so angelegt, dass ein Forschungsansatz dominierte, und dies war – bis auf zwei Ausnahmen – der quantitative Ansatz (ähnlich auch Cameron und Molina-Azorin 2011 für einen Teilbereich der Organisationspsychologie). Creswell und Zhang (2009) berichten in ihrem Review über die Nutzung von MM in der Traumaforschung dagegen, dass hier das explanativsequenzielle Design am häufigsten Verwendung findet, ohne dass damit jedoch eine Dominanz des quantitativen Paradigmas verbunden wäre. Ein noch differenzierteres Bild ergibt sich für die kulturvergleichende Psychologie: Hier kommen unterschiedlichste Designs zur Anwendung, ohne dass dabei das quantitative Element dominieren würde (Bartholomew und Brown 2012). In der MM-Forschung, die eine Nutzung des phänomenologischen Ansatzes beinhaltet, zeigt sich sogar eine tendenzielle Dominanz des qualitativen Paradigmas (Mayoh und Onwuegbuzie 2015). Diese Befunde deuten darauf hin, dass die Psychologie sich über die letzten Jahre hinweg zunehmend mehr für MM geöffnet hat, wobei der Grad der Integration des qualitativen Paradigmas und die Art der verwendeten Designs zwischen den verschiedenen Teilbereichen psychologischer Forschung teils erheblich variieren (für weitere Reviews zur Nutzung von MM in der psychologischen Forschung s. z. B. Bartholomew und Lockhard 2018 für die Psychotherapieforschung; Huynh et al. 2018 für Forschung zu Achtsamkeit). Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Bezeichnung „MM“ vergleichsweise neuen Datums ist, während die forschungspraktische Methodenkombination schon seit den Anfängen des 20. Jahrhunderts realisiert wird (s. Abschn. 2). In der Tat zeigt ein genauerer Blick auf die psychologische Forschungspraxis jenseits des Mainstreams, sowohl innerhalb als auch außerhalb der MM-Diskussion, eine erstaunliche Vielfalt an Varianten der Methodenkombination. Hierzu zählen unter anderem (und ohne Anspruch
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auf Vollständigkeit): das Forschungsprogramm Subjektive Theorien, das in einer ersten qualitativen Phase die Erhebung und Rekonstruktion Subjektiver Theorien und in einer zweiten quantitativen Phase deren Geltungsprüfung vorsieht (Groeben et al. 1988); die numerologisch gestützte Phänomenologie (numerically aided phenomenology) als Verfahren der systematischen Beschreibung und (clusteranalytischen) Klassifikation von Erfahrungskategorien in Erzählungen (Kuiken und Miall 2001); knowledge tracking, ein Netzwerk-Verfahren zur qualitativen Erhebung kognitiver Strukturen, die zunächst in eine quantitative Form überführt und analysiert werden, woran sich die erneute Übersetzung des „besten“ Modells in eine qualitative Form anschließen kann (Janetzko 2001); Q-Methodologie zur Erfassung sozialer Repräsentationen, wobei ein Set von (qualitativen) Stimuli zunächst einer sog. Q-Sort-Prozedur und die resultierenden Sortierungen anschließend einer Faktorenanalyse (über die Untersuchungsteilnehmenden hinweg) unterzogen werden (Brown 1993; für ein Forschungsbeispiel s. Franz et al. 2013). Es werden in der Psychologie also durchaus MM-Designs entwickelt (s. auch von der Lippe et al. 2011b). Diese Entwicklung findet allerdings partiell außerhalb der MM-Diskussion statt, die Autorinnen und Autoren verwenden nicht notwendig auch die MM-Terminologie (s. auch Boeije et al. 2013), und die Verfahren lassen sich teilweise nur schwer in die existierenden Design-Typologien einordnen.
4.2
Mixed Methods-Untersuchungen in der Psychologie: Untersuchungsbeispiel
Der Eindruck, dass die gegenwärtige MM-Diskussion in den empirischen Sozialwissenschaften im Allgemeinen und die MM-Forschungspraxis in der Psychologie im Besonderen partiell unverbunden nebeneinander verlaufen, bestätigt sich auch bei einer genaueren Betrachtung psychologischer Untersuchungen, in denen eine Methodenkombination stattfindet. Dabei können wir im Folgenden aus Platzgründen lediglich eine Untersuchung beispielhaft herausgreifen. Tolman und Szalacha (1999; s. auch den Hinweis in Waszak und Sines 2003) gingen in ihrer Studie der Frage nach, wie heranwachsende Mädchen sexuelles Begehren erfahren und beschreiben. Die Stichprobe war mit N=30 von vornherein so angelegt, dass eine differenzierte Beschreibung der einzelnen Fälle, aber auch eine Anwendung inferenzstatistischer Verfahren möglich war; sie umfasste je 15 Mädchen aus innerstädtischen und aus vorstädtischen Gebieten. Die Datenerhebung erfolgte mittels Leitfadeninterview. Daran schloss sich, in Übereinstimmung mit der Forschungsfrage, zunächst eine erste Phase der narrativen Auswertung sowie die Erstellung einer Matrix zum Vergleich der Mädchen aus den beiden Einzugsgebieten an. Dieser erste Auswertungsschritt ergab, neben einigen Übereinstimmungen, auch Unterschiede zwischen den Sub-Stichproben. Insbesondere stellten Mädchen aus städtischen Gebieten ihr Empfinden von Begehren eher in einen Zusammenhang mit Verletzlichkeit, während Mädchen aus den Vorstädten ihr Begehren eher als eindeutig positiv empfanden. Auf der Grundlage dieses Befundes generierten die Autorinnen neue Forschungsfragen nach der Größe des Unterschieds zwischen den Erfahrungen der Mädchen aus den beiden Einzugsgebieten sowie nach
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der Rolle von Erfahrungen mit sexueller Gewalt für das Empfinden von Begehren. Als Vorstufe für einen zweiten quantitativen Auswertungsschritt wurden die Erzählungen der Mädchen zunächst inhaltsanalytisch ausgewertet, insbesondere dahingehend, ob in den Erzählungen ein positives Erleben oder ein Erleben von Verletzlichkeit dominierte. Chi Quadrat-Analysen ergaben, dass Verletzlichkeit in den Erzählungen der Mädchen aus den vorstädtischen Gebieten ebenso häufig thematisch war wie in den Erzählungen der Mädchen aus den Innenstädten; allerdings handelten die Erzählungen der Mädchen aus den Vorstädten signifikant häufiger von Begehren als einem positiven Gefühl. Unter Einbeziehung von Erfahrungen mit sexueller Gewalt ließ sich dieses Ergebnis noch ausdifferenzieren: Mädchen aus den Vorstädten, die keinerlei Erfahrungen mit sexueller Gewalt hatten, empfanden ihr Begehren signifikant häufiger als positiv im Vergleich zu Mädchen aus beiden Einzugsgebieten, die bereits sexuelle Gewalt erfahren hatten. Daran schloss sich im dritten Schritt die Frage an, wie Mädchen mit und ohne Erfahrungen mit sexueller Gewalt in ihren Begehrens-Erzählungen speziell über ihre Körper sprachen. In Analogie zum ersten Auswertungsschritt wurde wiederum eine narrative Analyse mit anschließender Erstellung einer vergleichenden Matrix durchgeführt. Dieser dritte Auswertungsschritt ergab, dass Mädchen aus den Vorstädten ohne Gewalterfahrungen ihr Begehren als ein Empfinden beschrieben, in dem körperliche und emotionale Aspekte integriert waren. Für die anderen Mädchen – insbesondere Mädchen aus innerstädtischen Gebieten mit Gewalterfahrung – war mit dem Begehren dagegen eine Dissoziation von Körper und Emotionen verbunden. Komplexe MM-Designs sind ebenfalls in den Untersuchungen von Odağ (2007) zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten in den Leseerfahrungen von Männern und Frauen sowie in der Studie von Phinney und Devich-Navarro (1997) zu Mustern bikultureller Identifikation bei Jugendlichen afro- und mexikanisch-amerikanischer Ethnien realisiert. Eine Vielzahl weiterer Beispiele findet sich in den oben genannten Reviews zur Nutzung von MM in Teilbereichen der Psychologie (s. insbesondere Bartholomew und Brown 2012; Zhang und Watanabe-Galloway 2014; sowie die Beiträge in von der Lippe et al. 2011a).
5
Ausblick: Stand und Perspektiven
Die Entwicklung von MM in den vergangenen Jahren hat wesentlich dazu beigetragen, die „Gräben“ zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung zu überwinden. Es werden wieder häufiger qualitative und quantitative Elemente kombiniert, wie dies zu Beginn der Entwicklung der empirischen Sozialforschung bereits der Fall war. Dies trägt zugleich auch zu einer Stärkung qualitativer Forschung in Relation zum quantitativen Mainstream bei. Zwar ist die gegenwärtige MMLiteratur stark von einer Vielzahl an Systematisierungen geprägt, insbesondere von Design-Typologien, die angesichts der früheren Selbstverständlichkeit der Kombination qualitativer und quantitativer Elemente überzogen anmuten kann. Dennoch haben solche Systematisierungen gerade für Nachwuchs-Wissenschaftler/innen eine
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wichtige Funktion, indem sie Kombinationsmöglichkeiten aufzeigen und somit eventuell auch anregen. Auch für die Psychologie ist über die letzten zwanzig Jahre hinweg eine vermehrte Nutzung von MM zu verzeichnen, die jedoch zwischen den Teildisziplinen der Psychologie erheblich variiert und z. T. auch ohne explizite Verwendung der MM-Terminologie erfolgt. Der Erfolg von MM wird jedoch nicht durchgängig positiv gesehen (im Überblick Schreier 2017; Abschn. 3.2). Ein Kritikpunkt, der insbesondere die „pragmatische“ Variante der MM betrifft, wurde oben bereits angesprochen: dass in der gegenwärtigen MM-Forschung Methoden z. T. kombiniert werden, ohne deren jeweilige epistemologische und methodologische Grundlagen hinreichend zu berücksichtigen (Kelle 2008; Shank 2007). Auch kann die Beschäftigung mit MM paradoxerweise dazu führen, Unterschiede zwischen qualitativer und quantitativer Forschung gerade zu akzentuieren, anstatt die Durchlässigkeiten und fließenden Übergänge zwischen den Ansätzen herauszuarbeiten (Bergman 2008b; Madill und Gough 2008). Speziell aus qualitativer Perspektive wird weiterhin die Gefahr gesehen, dass MM der Entwicklung der qualitativen Forschung auf Dauer eher schaden könnte: Im Rahmen von MM wird sie zwar für den Mainstream akzeptabel, aber eben nur in Kombination mit Elementen eines quantitativen Ansatzes. Dies gilt umso mehr angesichts der Kritik an einer postpositivistisch und letztlich quantitativ dominierten Entwicklung von MM (Giddings 2006). Shank (2007) argumentiert daher beispielsweise, dass die Funktionen, wie sie vielfach für MM-Studien angesetzt werden, ebenso gut oder sogar besser durch eine Kombination mehrerer qualitativer Methoden erfüllt werden. Andere Autorinnen und Autoren fordern eine vermehrte Berücksichtigung der qualitativen Komponente bei der Implementierung von MM (vgl. Hesse-Biber et al. 2015; Mason 2006; Morse und Cheek 2014). Dieser Forderung wird vereinzelt durch die Rekonstruktion von Anknüpfungspunkten für MM im Rahmen qualitativer Ansätze wie der Phänomenologie (z. B. Mayoh und Onwuegbuzie 2015) sowie durch die zunehmende Berücksichtigung des transformativen Paradigmas und der Betonung der sozialen Verantwortung der MM-Forschung auch bereits Rechnung getragen (Mertens et al. 2016, S. 12–18). Was die Entwicklung von MM speziell in der Psychologie betrifft, so weisen u. a. von der Lippe et al. (2011b; s. auch Todd und Nerlich 2004) darauf hin, dass MM eben die Anwendung von Elementen quantitativer und qualitativer Forschung beinhaltet und somit auch Kenntnisse in beiden Forschungsansätzen voraussetzt. Während Studierende der Psychologie sowohl international als auch national in erster Linie Kenntnisse in quantitativer Methodenlehre erwerben, werden Kenntnisse in qualitativer Methodenlehre – vor allem in der deutschsprachigen Psychologie – heute, nach der Umstellung der Diplom- auf B.Sc.- und Master-Studiengänge, kaum noch vermittelt (s. Mey 2008). Mit der Umsetzung des Bologna-Prozesses an deutschen Universitäten und Hochschulen sind für die weitere Entwicklung von MM in der deutschsprachigen Psychologie somit schlechte Zeiten angebrochen: Wer qualitative Forschung nicht kennt, kann sie auch nicht mit Elementen quantitativer Forschung verbinden.
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Triangulation Uwe Flick
Inhalt 1 Einleitung: Entstehungsgeschichte und disziplinäre Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Aktuelle Diskussionen: Triangulation und Mixed Methods . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Beispiel der Triangulation in der qualitativer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186 189 193 196 196 197
Zusammenfassung
Die Triangulation von Methoden, Theorien, Daten und Forschenden wird in ihrer Geschichte, den maßgeblichen Diskussionen und Ansätzen vorgestellt. Dabei werden Kombinationen von Methoden, aber auch die Triangulation innerhalb einer Methode am Beispiel des episodischen Interviews behandelt. Triangulation wird dabei den Ansätzen der Mixed Methods-Forschung bei der Verknüpfung qualitativer und quantitativer Methoden gegenüber gestellt. Mit der systematischen Perspektiven-Triangulation wird ein Weg der Verknüpfung von Triangulation und Mixed Methods skizziert. Abschließend wird ein Beispiel der Triangulation innerhalb der qualitativen Forschung dargestellt. Schlüsselwörter
Triangulation · Mixed Methods · Episodisches Interview · Systematische · Perspektiven · Triangulation qualitativer Methoden
U. Flick (*) Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Arbeitsbereich Qualitative Sozial- und Bildungsforschung, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: uwe.fl[email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_23
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186
U. Flick
1
Einleitung: Entstehungsgeschichte und disziplinäre Einordnung
1.1
Methodenpluralismus in der Geschichte der Psychologie
Bei einem Blick zurück in die Geschichte der qualitativen Forschung zeigt sich, dass viele heute als klassische qualitative Studien geltende Untersuchungen zwar nicht mit dem Begriff der Triangulation gearbeitet haben, jedoch nach den heute damit verbundenen Prinzipien und Arbeitsweisen vorgegangen sind. Die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ der Sozialpsychologin Marie Jahoda zusammen mit Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel (1980 [1933]; Jahoda 1995) richtete sich auf die psychische Verarbeitung der Arbeitslosigkeit in einem Dorf in den späten 1920er-Jahren nach dem Zusammenbruch des Hauptarbeitgebers in der Region. Ergebnis waren die Herausarbeitung der Leitformel einer „müden Gemeinschaft“ als verdichtete Charakterisierung des Lebensgefühls und der alltäglichen Handlungsabläufe in dem Dorf sowie verschiedener Haltungstypen als Reaktion auf die Arbeitslosigkeit (z. B. die „Ungebrochenen“, die „Resignierten“, die „Verzweifelten“ und die „Apathischen“). Das methodische Vorgehen, das zu diesen Erkenntnissen geführt hat, wurde von Jahoda (1995, S. 121) in folgenden Regeln zusammengefasst: 1. Zur Erfassung der sozialen Wirklichkeit waren qualitative und quantitative Methoden angezeigt. 2. Objektive Tatbestände und subjektive Einstellungen sollten erhoben werden. 3. Gegenwärtige Beobachtungen sollten durch historisches Material ergänzt werden. 4. Unauffällige Beobachtungen des spontanen Lebens und direkte, geplante Befragungen sollten angewendet werden. In diesen Prinzipien zeigt sich einerseits die Verknüpfung von unterschiedlichen methodischen Zugängen (qualitativ, quantitativ, Befragung und Beobachtung), andererseits von verschiedenen methodischen Perspektiven (objektive Tatbestände, subjektive Einstellungen, Gegenwärtiges und Historisches). In der Beschreibung der Studie (Jahoda et al. 1980 [1933], S. 26–27) wurden als erhobene Daten angeführt: Katasterblätter über knapp 500 Familien, Lebensgeschichten, Zeitverwendungsbögen, Protokolle, Schulaufsätze, unterschiedliche statistische Daten, historische Angaben zum Dorf und seinen Institutionen etc. Lazarsfeld (1960) hat für diese Studie zumindest die Verknüpfung qualitativer und quantitativer Daten und Vorgehensweisen zum Prinzip erhoben: „Wir konnten uns nicht damit begnügen, Verhaltenseinheiten einfach zu ‚zählen‘; unser Ehrgeiz war es, komplexe Erlebniswelten empirisch zu erfassen. Der oft behauptete Widerspruch zwischen ‚Statistik‘ und phänomenologischer Reichhaltigkeit war sozusagen von Anbeginn unser Arbeiten ‚aufgehoben‘, weil gerade die Synthese der beiden Ansatzpunkte uns als die eigentliche Aufgabe erschien.“ (Lazarsfeld 1960, S. 14)
Triangulation
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Bei der Analyse wurden „drei Paare von Daten“ verwendet: „natürliche Quellen“ (Bibliotheksstatistiken) und Daten, die zu Forschungszwecken (Zeitverwendungsblätter) erhoben wurden; „objektive Indikatoren“ (z. B. Gesundheitsstatistiken) und „subjektive Äußerungen“ (Interviews); sowie „Statistik und einfühlende Beschreibung von Einzelfällen“ (Lazarsfeld 1960, S. 15). In eine ähnliche Richtung wie Jahoda und Lazarsfeld argumentierte Thomae Ende der 1950er-Jahre für die Kombination verschiedener Methoden in der Entwicklungspsychologie: „Als Regel entwicklungspsychologischer Forschung darf heute gelten, daß man keine Aussage auf eine einzige Methode allein gründen soll“ (Thomae 1959, S. 62–63, zit. n. Mey 2005, S. 24). In der Bonner Gerontologischen Studie des Alterns (BOLSA) hat Thomae entsprechend neben Testverfahren auch explorative Verfahren, insbesondere semistrukturierte Interviews, eingesetzt. Diese beiden Beispiele sollen zeigen, dass der Bedarf für die Verwendung multipler Methoden in der psychologischen Forschung schon vor der Einführung des Konzepts der Triangulation gesehen wurde – auch wenn qualitative Methoden mehr oder minder deutlich auf die Exploration reduziert wurden. Mit dem Konzept der „Triangulation“ wurde ein Ansatz entwickelt, Methodenkombinationen auch auf einer methodologischen Basis zu begründen.
1.2
Triangulation als Konzept
Der Begriff der Triangulation wurde ursprünglich im Kontext der Psychologie in die allgemeine Methodendiskussion eingeführt durch die Arbeiten von Campbell und Fiske (1959) sowie Webb et al. (1966). Ausgangspunkt war der Gedanke, dass der untersuchte Forschungsgegenstand (auch) von den zu seiner Untersuchung eingesetzten Methoden konstituiert wird. Zum damaligen Zeitpunkt stand jedoch eher die negative Lesart dieses Sachverhalts im Vordergrund: Dass der Untersuchungsgegenstand von den eingesetzten Methoden möglicherweise verfälscht wird, die Ergebnisse somit als Artefakte zu betrachten wären. Leitfrage war – etwa bei Campbell und Fiske (1959, S. 82) –, ob „eine Hypothese die Konfrontation mit einer Serie komplementärer Testmethoden übersteht“. Daran knüpften Überlegungen an, wie einer solchen Verfälschung vorzubeugen sei. Entsprechend wurden „nichtreaktive (unobstrusive) Messverfahren“ (Webb et al. 1966) gefordert. Eine Strategie wurde dabei die Kombination unterschiedlicher Messverfahren und Methoden im Rahmen der sog. multitrait-multimethod-matrix (Campbell und Fiske 1959). In diesem Zusammenhang wurde auch die Metapher der Triangulation aus dem Bereich militärischen Navigation übernommen, mit der eine Strategie bezeichnet wurde, um „von verschiedenen Referenzpunkten aus die exakte Position eines Objektes zu lokalisieren“ (Smith 1975, S. 273; zit. nach Jick 1983, S. 136). In der Folge erfuhr dieses Konzept vor allem durch die Arbeiten von Denzin (1970) in der Soziologie
188
U. Flick
und dabei dann auch in der qualitativen Forschung größere Aufmerksamkeit. Zunächst ging es hier um die Validierung von Ergebnissen durch die Verwendung eines zweiten methodischen Zugangs. Dieses Verständnis wurde in den 1980erJahren vor allem im Rahmen ethnografischer Forschung kritisiert, z. B. von Hammersley und Atkinson (1983) und genereller von Fielding und Fielding (1986). Die Kritik richtete sich darauf, dass Denzin – trotz seiner interaktionistischen Position – davon ausgegangen sei, dass mit verschiedenen Methoden ein und derselbe Gegenstand – in Denzins Formulierung „dasselbe Phänomen“ – abgebildet werde und dass die resultierenden Teilansichten nur noch zusammengesetzt werden müssten. Dabei werde jedoch die Reaktivität von Methoden außer Acht gelassen oder anders formuliert: Dass jede Methode den Gegenstand, der mit ihr erforscht bzw. abgebildet werden soll, auf spezifische Weise konstituiere. Dies habe zur Folge, dass bei der Kombination von verschiedenen Verfahren nicht davon ausgegangen werden könne, dass jeweils der eine Ansatz das Gleiche zutage fördere wie der andere, oder dass bei Diskrepanzen der Ergebnisse das eine (oder das andere) Resultat damit widerlegt sei (s. Abschn. 2.3). Diese Kritik führte bei Denzin (1989) zu einer Reformulierung des Konzepts und der damit verbundenen Ziele. Zentral für seine aktualisierte Version ist der Begriff des sophisticated rigor. Dabei geht es vor allem darum, die Interpretationen, zu denen Forscher/innen gelangen, offen zu legen und das angestrebte Verständnis des Forschungsgegenstandes durch unterschiedliche methodische Zugänge zu erweitern: „Accordingly, data triangulation better refers to seeking multiple sites and levels for the study of the phenomenon in question. It is erroneous to think or imply that the same unit can be measured. At the same time, the concept of hypothesis testing must be abandoned. The interactionist seeks to build interpretations, not test hypotheses.“ (Denzin 1989, S. 244)
Im deutschen Sprachraum erfährt Triangulation besondere Aufmerksamkeit in der erziehungswissenschaftlichen Forschung (Ecarius und Miethe 2010; Kelle 2001). Im Diskurs um die Mixed Methods wird Triangulation insbesondere für die Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden (Kelle und Erzberger 2019) disziplinübergreifend diskutiert, häufig aber auch als Abgrenzungsfolie benutzt (z. B. Tashakkori und Teddlie 2003). Für die qualitative Forschung innerhalb und jenseits der Psychologie ist Triangulation im Kontext der Diskussion um Qualitätskriterien relevant, teils als Kriterium, teils als Alternative zur Formulierung von Kriterien verstanden (Flick 2018).1
Siehe hierzu auch die Debatte zu „Qualitätsstandards qualitativer Sozialforschung“ in der Zeitschrift „Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research“, http://www.qualitativeresearch.net/index.php/fqs/pages/view/quality.
1
Triangulation
2
Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen
2.1
Definition von Triangulation
189
Zur Bestimmung des Begriffs Triangulation sollte zunächst festgehalten werden, was nicht gemeint ist. Bei der Kombination von Methoden geht es nicht darum, dass eine Methode zur Datenerhebung (bspw. eine bestimmte Interviewform) und eine Methode zur Analyse der Daten (bspw. ein Kodierverfahren) eingesetzt werden. Ebenso wenig bezieht sie sich auf die Durchführung einer explorativen Vorstudie mit qualitativen Methoden vor der Durchführung der eigentlichen Untersuchung mit standardisierten Methoden. Insbesondere wenn die Vorstudie nicht als eigener und eigenständiger Teil der Studie gesehen wird, sondern bspw. ausschließlich der Fragebogenentwicklung dient und die Ergebnisse des ersten Schrittes nicht in die Ergebnisse der Studie insgesamt einbezogen werden, bleibt dies hinter einem angemessenen Verständnis von Triangulation zurück. Stattdessen wird folgende Definition der Triangulation vorgeschlagen: „Triangulation beinhaltet die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven auf einen untersuchten Gegenstand oder allgemeiner: bei der Beantwortung von Forschungsfragen. Diese Perspektiven können in unterschiedlichen Methoden, die angewandt werden, und/oder unterschiedlichen gewählten theoretischen Zugängen konkretisiert werden, wobei beides wiederum mit einander in Zusammenhang steht bzw. verknüpft werden sollte. Weiterhin bezieht sie sich auf die Kombination unterschiedlicher Datensorten jeweils vor dem Hintergrund der auf die Daten jeweils eingenommenen theoretischen Perspektiven. Diese Perspektiven sollten so weit als möglich gleichberechtigt und gleichermaßen konsequent behandelt und umgesetzt werden. Gleichermaßen sollte durch die Triangulation (etwa verschiedener Methoden oder verschiedener Datensorten) ein prinzipieller Erkenntniszuwachs möglich sein, dass also bspw. Erkenntnisse auf unterschiedlichen Ebenen gewonnen werden, die damit weiter reichen, als es mit einem Zugang möglich wäre.“ (Flick 2011, S. 10)
2.2
Formen und Stellenwert der Triangulation
Denzin (1970) unterscheidet vier Formen der Triangulation, die für die aktuelle Diskussion weiterhin einen Rahmen abstecken können: • Data triangulation kombiniert Daten, die verschiedenen Quellen entstammen und zu verschiedenen Zeitpunkten, an unterschiedlichen Orten oder bei verschiedenen Personen erhoben werden. • Investigator triangulation kennzeichnet den Einsatz verschiedener Beobachter/ innen bzw. Interviewer/innen, um subjektive Einflüsse Einzelner auszugleichen. • Theorien-Triangulation meint die Annäherung an den Forschungsgegenstand ausgehend von verschiedenen Perspektiven und Hypothesen. • Denzins zentrales Konzept ist die methodologische Triangulation innerhalb einer Methode (within-method, z. B. die Verwendung verschiedener Subskalen in einem Fragebogen) und von verschiedenen Methoden (between-method).
190
U. Flick
Diese Formen können unabhängig voneinander bzw. alternativ eingesetzt werden. Die stärkste Aufmerksamkeit erfährt jedoch die Triangulation von Methoden. Die beiden diesbezüglichen Alternativen sollen kurz erläutert werden.
2.2.1
Methodeninterne Triangulation am Beispiel des episodischen Interviews Vor dem Hintergrund psychologischer Wissens- und Gedächtnistheorien (Bruner 2002; Strube 1989; Tulving 1972) wurde das episodische Interview entwickelt. Die genannten Theorien unterscheiden zwischen narrativ-episodischem und begrifflichsemantischem Wissen. Die erste Wissensform ist stärker auf Situationen, ihren Kontext und Ablauf orientiert. Die zweite Form abstrahiert von Situationen und Kontexten und orientiert auf Begriffe, Definitionen und Relationen. Die erste Form ist eher über Erzählungen zugänglich, die zweite eher über (argumentative) Aussagen. Erzählungen sind in stärkerem Maße kontextsensitiv für den Entstehungskontext von Erfahrungen als andere, etwa semantische Modelle des Wissens. Jedoch bilden sich aufgrund einer Vielzahl von ähnlichen, generalisierbaren Erfahrungen auch Wissensbestände heraus, die von solchen Kontexten stärker abstrahieren – etwa in Form von Begriffs- und Regelwissen. Darin ist – eher als in den auf das Besondere zentrierten Erzählungen – das Normale, Regelhafte, Routinisierte und damit das über eine Vielzahl von Situationen und Erfahrungen hinweg Verallgemeinerte repräsentiert, das dann im narrativen Wissen seine episodische Konkretisierung und Ausfüllung findet: „Rules and maxims state significant generalisations about experience but stories illustrate and explain what those summaries mean“ (Robinson und Hawpe 1986, S. 124). Dieses Wissen ist eher über Fragen nach Begriffen und Zusammenhängen zugänglich. Die hier angesprochenen Bereiche des Alltagswissens werden in Interviews mehr oder minder systematisch erfasst. Der Ansatz der methodeninternen Triangulation legt eine systematische Nutzung beider Wissensbereiche und eine gezielte Verbindung von Zugängen zu beiden Wissensbereichen nahe. Entsprechend diesen Zielsetzungen soll das episodische Interview als Erhebungsverfahren die angesprochenen Bestandteile des Alltagswissens berücksichtigen und erfassen: semantisch-begriffliches Wissen über Fragen (und Antworten), episodischnarratives Wissen über Situationserzählungen. In der Umsetzung des Interviews etwa in einer Studie zu Gesundheitsvorstellungen (Flick et al. 2004) wurden Interviewpartner/innen nach ihrem Gesundheitskonzept befragt und wiederholt gebeten, Situationen zu erzählen, in denen sie Erfahrungen gemacht haben, die sie für ihr Gesundheitsverständnis oder dessen Veränderung als relevant ansehen. Dazu wurde zunächst das Prinzip des Interviews erläutert („In diesem Interview werde ich Sie wiederholt bitten, mir Situationen zu schildern, in denen Sie Erfahrungen mit den Themen ‚Gesundheit‘ gemacht haben.“). Die folgenden Beispiele für Fragen (1.) und für Erzählaufforderungen (2. und 3.) sollen das Vorgehen erläutern:
Triangulation
191
1. „Was ist das für Sie, ‚Gesundheit‘? Was verbinden Sie mit dem Wort ‚Gesundheit‘?“ 2. „Wodurch wurden Ihre Vorstellungen von Gesundheit besonders beeinflusst? Können Sie mir bitte ein Beispiel erzählen, an dem dies deutlich wird?“ 3. „Haben Sie den Eindruck, dass sich Ihre Vorstellung von Gesundheit im Laufe Ihres Berufslebens gewandelt hat? Bitte erzählen Sie mir eine Situation.“ Damit wurden zwei Zugänge zum Thema in einer Methode kombiniert. Es entstanden entweder Erzählungen oder Antworten. In manchen Fällen resultierten auch Mischformen aus Definitionen und Erzählungen, wie im folgenden Beispiel (entnommen aus: Flick et al. 2004, S. 88) deutlich wird: „I: Was ist das für Sie, ‚Gesundheit‘? Was verbinden Sie mit dem Wort ‚Gesundheit‘? IP: Gesundheit ist relativ, denke ich. Gesund kann auch jemand sein, der alt ist und ’ne Behinderung hat und kann sich trotzdem gesund fühlen. Also früher hätte ich, bevor ich in die Gemeinde gegangen bin, immer gesagt, gesund ist jemand, der in einem sehr geordneten Haushalt lebt und wo alles korrekt und supergenau ist und, ich sag mal, absolut sauber. Dessen bin ich belehrt worden, als ich angefangen hab in der Gemeinde zu arbeiten, das war 1981, ich war früher Krankenschwester in der (NAME DER KLINIK) gewesen auf der Intensiv und kam also mit völlig anderen Vorstellungen hierher. Und musste damit erst mal lernen umzugehen, dass jemand eben in seiner Häuslichkeit so angenommen wird, wie er ist. Und deswegen, denk ich, ist Gesundheit – kommt immer darauf an, wie jeder selbst sich fühlt. Ne, also es kann jemand ’ne Krankheit haben und trotzdem sich gesund fühlen, das denk ich schon, dass das so ist.“
Die dabei entstandenen Daten wurden dann in der Regel zusammen und nicht nach Datensorte (Erzählung, Antwort) getrennt ausgewertet.
2.2.2 Triangulation verschiedener Methoden Die mehr oder minder unabhängige Verwendung mehrerer Forschungsmethoden in einer Untersuchung ist die Form der Triangulation, die besonders häufig eingesetzt wird. Beispiele sind die Kombination von teilnehmender Beobachtung und Expert/ inneninterviews oder von Interviews mit Gesprächsanalysen zur Untersuchung therapeutischer Praxis. Im Rahmen der qualitativen Forschung in der Psychologie werden bei der Datenerhebung etwa von Wenglortz im Rahmen einer Fallstudie zur Entwicklung eines autistischen Mädchens über einen Zeitraum von mehreren Jahren verschiedene qualitative Methoden kombiniert – Fotos, Videoaufzeichnungen und Beobachtungen, dokumentiert in Forschungstagebüchern (Mey und Wenglorz 2005). Bei der Triangulation verschiedener Methoden werden diese als eigenständige Verfahren entweder parallel oder nacheinander eingesetzt und die dabei entstandenen Daten auch getrennt ausgewertet. Eine Zwischenform findet sich in vielen ethnografischen Studien, in denen mehr oder weniger flexibel unterschiedliche Arten von Daten in Form von Beobachtungen, Gesprächen oder Dokumenten gesammelt werden (deshalb wird hier gelegentlich auch von „impliziter Triangulation“ gesprochen – Flick 2011, Kap. 4).
192
U. Flick
2.2.3 Theorien-Triangulation In dem Band von Buchholz (1995) werden unterschiedliche theoretische bzw. methodologische Perspektiven am selben Material – einem Therapieprotokoll – trianguliert. Dabei handelt es sich u. a. um Konversationsanalyse, Metaphernanalyse, objektive Hermeneutik, klinische Psychoanalyse und Ethnomethodologie. Durch die unterschiedlichen Perspektiven, die diese Ansätze jeweils auf Therapiegespräche einnehmen, wird deren Komplexität aus verschiedenen Richtungen aufgelöst – einerseits verdeutlicht, andererseits in ihre Bestandteile zerlegt: Die Konversationsanalyse zeigt bspw. die Herstellung der Gesprächssituation an den konkreten Gesprächsbeiträgen, die objektive Hermeneutik und die klinische Psychoanalyse betrachten eher die latenten Konflikte im Hintergrund des verbalen Austausches. In diesem Beispiel wird das Konzept der Theorientriangulation in der Kombination von Forschungsansätzen bei der Analyse von Daten realisiert. Ergebnis sind allerdings mehrere parallele Studien mit unterschiedlichen Ergebnissen. 2.2.4 Investigator-Triangulation als Strategie der Validierung Im Rahmen eines einzelnen Projektes wird die Triangulation von Perspektiven bspw. angewendet, wenn das für verschiedene Verfahren (z. B. die objektive Hermeneutik) vorgeschlagene Prinzip der Analyse von Daten in Gruppen von Forscher/innen ggf. mit unterschiedlichem methodischen oder theoretischen Hintergrund realisiert wird. Von verschiedenen Autor/innen wird dies auch als „argumentative Validierung“ diskutiert (z. B. Döring und Bortz 2016, S. 83). Lincoln und Guba (1985) behandeln die Einholung der Einschätzungen anderer Forscher/innen – und die damit mögliche Investigator-Triangulation – unter dem Stichwort peer debriefing.
2.3
Mögliche Resultate der Triangulation
Die Ergebnisse, die sich aus der Verknüpfung unterschiedlicher Methoden ergeben (hierzu auch Kelle und Erzberger 2019), können übereinstimmen (konvergieren): Interviewpartner/innen verhalten sich in den Beobachtungen entsprechend ihrer Aussagen im Interview, ihre Erzählungen entsprechen ihren allgemeinen Aussagen. Häufiger ist jedoch festzustellen, dass die Ergebnisse sich wechselseitig ergänzen (komplementär sind): Die Beobachtungen zeigen Zusätzliches zu dem im Interview Angesprochenen, und damit finden sich im Interview Antworten zu Themen, die der Beobachtung nicht zugänglich waren, ohne direkt im Widerspruch dazu zu stehen. Schließlich können Ergebnisse auch divergieren: Die Interviewpartner/innen handeln ihren Aussagen aus dem Interview zuwider, wenn sie beobachtet werden. Die erste Variante war ursprünglich als Ziel der Triangulation – nämlich im Sinne einer Validierung von Ergebnissen – formuliert worden (in diesem Sinne verwendet etwa Bryman 2016 das Konzept auch aktuell). Dass diese Übereinstimmung nicht „ohne Weiteres“ zu erwarten bzw. realisieren ist, haben die eingangs erwähnten kritischen Diskussionen in den 1980er-Jahren verdeutlicht. Andererseits rechtfertigen gerade die letzten beiden Varianten eigentlich erst die Verwendung der Triangulation, weil sie dann tatsächlich einen Mehrwert an Erkenntnis bringt, der zudem
Triangulation
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noch nach (theoretischen) Erklärungen für die Diskrepanzen verlangt. Diese Erwartung hinsichtlich der Erweiterung der Erkenntnismöglichkeiten ist in der aktuellen Diskussion um Triangulation in der qualitativen Forschung relevanter als die Validierung von Ergebnissen.
3
Aktuelle Diskussionen: Triangulation und Mixed Methods
Es sollte deutlich geworden sein, dass die Notwendigkeit der Verknüpfung verschiedener (methodischer und/oder theoretischer, qualitativer und/oder quantitativer) Zugänge schon seit Langem diskutiert und praktiziert wird. Das Konzept der Triangulation wurde eingeführt, um diese Verknüpfungen auf eine methodologische Basis zu stellen. Am Ende der 1990er-Jahre hat sich wiederum in Abhebung von diesem Konzept eine Diskussion zur Verbindung vor allem qualitativer und quantitativer Methoden unter dem Stichwort Mixed Methods entwickelt. Dabei ist die Zielsetzung begrenzter als in der vorangegangenen Diskussion um Triangulation: Einerseits ist vor allem eine Kombination (qualitative und quantitative Methoden und nicht unterschiedliche Methoden schlechthin) im Fokus, andererseits eine deutliche Konzentration auf einen pragmatischen Mix von Methoden mit weniger Interesse an methodologischen Fragen und Differenzen.
3.1
Triangulation im Kontext von Mixed Methods
Die Diskussion um Mixed Methods-Ansätze hat sich zunächst in Abgrenzung von existierenden Ansätzen wie der Triangulation entwickelt bzw. weist diesen einen eher begrenzten Stellenwert zu. Bryman (2016) identifiziert elf Varianten der Kombination quantitativer und qualitativer Forschung, wobei er die Logik der Triangulation in der Überprüfung etwa qualitativer durch quantitative Ergebnisse begrenzt sieht. In den Jahren 2008 und 2009 wurden einige doch eher ernüchternde Bestandsaufnahmen nach fünfzehn Jahren Mixed Methods-Forschung veröffentlicht, und zwar nicht von Kritiker/innen, sondern von zentralen Protagonist/innen dieses Ansatzes. So hat Bryman (2006) bei der Analyse von 232 Artikeln aus den Jahren 1994–2003 festgestellt, dass sich die mögliche Vielfalt an kombinierbaren Methoden in einem Großteil der Studien auf Interviews als qualitative Methode und auf Fragebögen als quantitative Methode beschränkt, und dass fast die Hälfte der Studien diese beiden Methoden in einem Querschnittsdesign verwenden. Greene (2008) hat eine Reihe offener Fragen identifiziert. So sieht sie in der Mixed Methods-Forschung die Dimension der Eigenschaften verknüpfter Methoden vernachlässigt: Es gebe kaum konzeptuelle Arbeiten zu den Fragen, wie Methoden für eine gegebene Fragestellung ausgewählt werden sollen oder worauf sich das Mixing in den Ansätzen tatsächlich bezieht und schließlich dazu, wie eine Methodologie der Mixed Methods beschaffen sein sollte.
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U. Flick
In einem Editorial im „Journal of Mixed Methods Research“ hat Creswell (2009) das Feld der Mixed Methods-Forschung abgesteckt und mit den Diskussionen der Mixed Methods-Konferenz in Cambridge 2008 verglichen. Sein Ergebnis: „I was surprised to not find any papers at the conference on theoretical lens and mixed methods research, such as ethnic, racial, disability, sexual orientation and feminist topics as used in mixed methods studies [. . .], that no papers were taking on the issue of validity [. . .] to learn that the conference papers did not continue to probe a definition of mixed methods.“ (S. 97–98)
Diese Bilanzen verdeutlichen, dass Mixed Methods eher hinter den (auch in Abgrenzung zur Triangulation) selbst formulierten Ansprüchen (Tashakkori und Teddlie 2003) zurückbleibt. Eine aktuellere kritische Auseinandersetzung mit der methodologischen Diskussion in der Mixed Methods-Forschung findet sich bei Flick (2017).
3.2
Triangulation als Alternative zu Mixed Methods
In diesem Zusammenhang bekommt Triangulation eine neue Aktualität als Alternative zum Mixed Methods-Trend, gerade wenn es darum geht, die Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden für die Psychologie relevant werden zu lassen. Dabei ist zwischen einem schwachen und einem starken Programm der Triangulation zu unterscheiden: Ersteres versteht Triangulation als Kriterium (wie es teilweise auch bei Lincoln und Guba 1985 oder in früheren Arbeiten von Denzin der Fall ist) bzw. als Ansatz der Überprüfung oder reduziert die Triangulation auf einen pragmatischen Methodenmix, ohne die methodischen und theoretischen Differenzen der Ansätze zu berücksichtigen. Ein starkes Programm der Triangulation versteht diese als Weg der Erkenntnis und Erweiterung von Herangehensweisen bei der Sammlung und Analyse von Daten. Anstatt qualitative und quantitative Ansätze als „Paradigmen“ einander gegenüberzustellen (wie in der Mixed Methods-Forschung), geht es um eine systematische Triangulation von Forschungsperspektiven (Flick 1992, 2011). Ziele bei der Verwendung mehrerer Methoden sind deren gleiche Gewichtung sowie ihre systematische Umsetzung. Dies schließt die Integration und Reflexion des theoretischen Backgrounds der jeweiligen Methoden mit ein. Ihre Triangulation nach diesem Verständnis sollte Zugang zu verschiedenen Ebenen bzw. Dimensionen eröffnen, sodass die kombinierten Methoden etwa Wissen und Handeln in Bezug auf einen Forschungsgegenstand zugänglich machen oder die subjektive Bedeutung (bspw. einer Erkrankung) und die soziale Struktur (bspw. die Verteilung der Erkrankung in der Bevölkerung) erfassen. Die systematische Triangulation unterschiedlicher Perspektiven beinhaltet dann auch die gezielte Auswahl und Verwendung von Methoden. Dieses Verständnis von Triangulation ist dann nicht nur für die Kombination von qualitativer und quantitativer Forschung, sondern auch für die Verknüpfung mehrerer Herangehensweisen qualitativer Forschung relevant.
Triangulation
3.3
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Triangulation als Rahmen für die Verwendung von Mixed Methods
Triangulation und Mixed Methods können als Alternativen oder konkurrierende Ansätze gesehen werden, sie lassen sich aber auch verbinden. In einer Studie zum Umgang mit Schlafstörungen der Bewohner/innen in Pflegeheimen (Garms-Homolová und Flick 2013) haben wir eine systematische Triangulation unterschiedlicher Perspektiven vorgenommen und dabei auch an zwei Stellen Mixed Methods Vorgehensweisen eingesetzt (Flick et al. 2012): Einerseits die Kombination der Analyse von Assessment-Daten zur Häufigkeit und Verteilung des Problems mit Interviews mit Pflegekräften, die in Heimen arbeiten, zur Problemwahrnehmung und Behandlung im eigenen professionellen Alltag. Andererseits die Kombination von Interviews mit Ärzt/innen zu ihrer Verschreibungspraxis hinsichtlich Schlafmedikation mit der Analyse von Verschreibungsprävalenzen anhand von Krankenkassen-Routinedaten. Dabei zeigten sich jeweils Unterschiede zwischen den in den qualitativen Analysen deutlichen werdenden Problemwahrnehmungen der Akteure und den in den quantitativen Analysen identifizierbaren Handlungsbedarfen bzw. Behandlungsroutinen. Die systematische Triangulation von Perspektiven – der verschiedenen Beteiligten, von Wissen und Handeln – kann einen methodologischen Rahmen liefern für die Verwendung von Mixed Methods im Rahmen einer v. a. qualitativ orientierten Studie. „Perspektiven“ bezieht sich dabei auf verschiedene Ansätze ein Problem zu fassen: Bspw. die (subjektiven) Perspektiven von Beteiligten, die sich damit professionell beschäftigen, und die von denjenigen, die sich als Betroffene damit auseinander setzen. „Perspektive“ kann sich aber auch auf die institutionellen Routinen beziehen, mit denen diese Problem oder Umgangsweisen damit deutlich werden (Wie häufig tritt es auch, wie häufig wird es durch eine bestimmte Diagnose dokumentiert, wie häufig durch eine bestimmte Behandlungsform adressiert?). „Perspektive“ bezieht sich darüber hinaus auf methodische Zugänge mit einem spezifischen theoretisch methodologischen Background, die hier verknüpft werden. Damit lassen sich auch die Lücken schließen, die Greene (2008) für die Mixed Methods-Diskussion identifiziert hat („What should a mixed methods methodology look like?“ bzw. „Around what does the mixing happen?“). Insgesamt betrachtet, erfüllt die Verwendung von Mixed Methods in dieser Einbettung die Anforderung, die Burzan formuliert: „Seriöse Überlegungen zu Methodenverknüpfungen müssen sowohl den Forschungsgegenstand als auch methodologische Grundlagen reflektieren.“ (Burzan 2010, S. 98).
3.4
Triangulation innerhalb der qualitativen Forschung
Schließlich sollte bei der Aufmerksamkeit, die die Diskussion um die Verbindung qualitativer und quantitativer Forschung für sich beansprucht, nicht vergessen werden, dass Triangulation sich auch oder vor allem auf die Verknüpfung verschiedener qualitativer Methoden bzw. Forschungsperspektiven beziehen kann, wie die weiter oben genannten Beispiele verdeutlichen.
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U. Flick
Beispiel der Triangulation in der qualitativer Forschung
Die im folgenden Beispiel zugrunde gelegte ethnografische Untersuchung (Flick und Röhnsch 2010) mit chronischen kranken obdachlosen Jugendlichen wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert (FL245-10/2). Dabei wurden parallel zu teilnehmenden Beobachtungen an Szenetreffpunkten einerseits zwölf obdachlose Jugendliche – je sechs junge Frauen und Männer zwischen 14 und 25 Jahren – mit episodischen Interviews sowie fünf Ärzte/Ärztinnen und sieben Mitarbeiter/innen der Sozialarbeit aus unterschiedlichen gesundheitlichen und sozialen Einrichtungen in Expert/inneninterviews befragt. Durch diese Zugänge sollte einerseits ermittelt werden, welche Erfahrungen die Jugendlichen mit der Bewältigung ihrer Krankheit und der Inanspruchnahme von Hilfe machen. Andererseits sollten die Wahrnehmung der Jugendlichen und die Einschätzung des Versorgungsangebots für diese durch die Expert/innen rekonstruiert werden. Es ließen sich jeweils drei Muster finden: Aus der Perspektive der Jugendlichen war der Umgang mit Krankheit durch 1. deren „Ignorieren“, 2. das „Verbittern“ aufgrund der Krankheit und Lebenssituation oder 3. ein „Sich der Krankheit Stellen“ gekennzeichnet, wobei nur im letzten Fall eine aktive Form der Bewältigung auch durch Inanspruchnahme von Hilfeangeboten gesucht wurde. Die Expert/innen benannten ebenfalls „Ignorieren“ als Umgangsform der Jugendlichen mit der Krankheit. Sozialarbeiter/ innen sahen bei einigen Jugendlichen die „Krankheit als Wendepunkt“, die ggf. zu einem Ausstieg aus dem Straßenleben führte. „Inanspruchnahme“ von Hilfeangeboten hieß allerdings häufig, dass die Jugendlichen Rat in der „Szene“ suchten, was dann ggf. zu einer Verschlechterung der Krankheitssituation beitrug. Zusammenfassend zeigte sich, dass sich die Einschätzungen von Betroffenen und Expert/innen zum „Umgang mit chronischer Krankheit auf der Straße“ teils nur graduell voneinander unterschieden, teils auch deutlich voneinander abwichen. Letzteres trifft zum einen zu im Hinblick auf die Bedeutung von Alkohol und Drogen als „Problem lösend“ aus Sicht der Jugendlichen und „Problem verschärfend“ nach Meinung der Expert/innen. Zum anderen unterschieden sich Jugendliche und Expert/innen in ihrer Wahrnehmung des gesundheitlichen Hilfebedarfs, den die Betroffenen als eher gering ansahen, die befragten Ärzte/Ärztinnen und Sozialarbeiter/innen dagegen als hoch. Die drei hier gewählten methodischen Zugänge episodisches Interview, teilnehmende Beobachtung und Expert/inneninterviews machen drei unterschiedliche Perspektiven auf den Gegenstand Umgang mit chronischer Krankheit im Kontext des Lebens auf der Straße deutlich (für Vorgehen und Ergebnisse: Flick und Röhnsch 2008).
5
Ausblick: Stand und Perspektiven
Mit der Triangulation wurde ein konzeptueller Rahmen formuliert, der die in der Forschungspraxis häufig realisierte Erkenntnis, dass sich ein Zugang für viele Themen als nicht ausreichend herausgestellt hat, auf eine methodologische, methodische und theoretische Basis stellt. Dabei umfasst der Begriff „Zugang“ nicht nur
Triangulation
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das gesamte Spektrum einsetzbarer Methoden, sondern auch unterschiedliche Theorien oder Forscher/innen mit unterschiedlichen (theoretischen oder disziplinären) Hintergründen. Die Kombination von Methoden schließt dabei die Berücksichtigung der unterschiedlichen Perspektiven auf das, was untersucht wird, mit ein. Das Konzept der Mixed Methods zielt in eine ähnliche Richtung, vernachlässigt dabei aber andere Kombination als qualitative und quantitative Methoden ebenso wie die theoretisch-methodologischen Differenzen unterschiedlicher Methoden. Daraus und aus der Verwendung des Ansatzes innerhalb der qualitativen Forschung – durch die Verwendung verschiedener qualitativer Methoden und Forschungsansätze – ergibt sich die Aktualität der Triangulation für die qualitative Forschung in der Psychologie. Triangulation bietet für die qualitative Forschung (nicht nur) in der Psychologie eine Perspektive, die Beschränkungen einzelner methodischer Zugänge zu überwinden. Dabei kann sie einerseits einen Ansatzpunkt für die systematische und den jeweiligen Eigenheiten der Ansätze Rechung tragende Kombination von qualitativer und quantitativer Forschung darstellen. Triangulation kann als Teil einer integrierten Sozialforschung (vgl. Flick 2019, Kap. 8) Erkenntnismöglichkeiten erweitern und die gegenstandsangemessene Auseinandersetzung mit Forschungsthemen befördern. Andererseits kann Triangulation aber auch innerhalb der qualitativen Forschung in der Psychologie die Stärken verschiedener Methoden und verschiedener Forschungsperspektiven kombinieren. Ein Problem bei der Anwendung der Triangulation stellt in vielen Fällen der deutlich höhere Aufwand an Ressourcen dar. Neben der zusätzlichen Zeit ist hier vor allem auch die Kenntnis unterschiedlicher Methoden und ihrer Hintergründe zu nennen. Bei der Umsetzung ergeben sich gelegentlich auch Probleme des Zugangs und zusätzliche Planungsfragen (ausführlicher hierzu: Flick 2011). Entsprechend sollte bei der Entscheidung für die Triangulation der erwartete zusätzliche Erkenntnisgewinn benennbar sein – dass also Ergebnisse auf unterschiedlichen Ebenen oder aus unterschiedlichen Blickwinkeln möglich werden. Dazu ist die Frage weiter zu klären, wann mit welchen Methoden und entsprechend wann mit welchen Kombinationen von Methoden gearbeitet werden sollte.
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U. Flick
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Triangulation
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Performative Sozialwissenschaft Günter Mey
Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische und methodologische Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Varianten und Beispiele der performativen Sozialwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Zentrale Fragen und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
In diesem Beitrag werden die seit zwei Jahrzehnten zunehmenden Bemühungen der sich formierenden „performativen Sozialwissenschaft“ dargestellt. Nachdem auf Hintergründe zu deren Entstehen – insbesondere die Kritik an traditionellen Darstellungspraxen von Wissenschaft und deren begrenzter Verbreitung und öffentlicher Wirksamkeit – eingegangen wird, folgen Skizzen ausgewählter Projekte aus der psychologischen Forschung, die mit künstlerisch-ästhetischen Mitteln umgesetzt und für die Öffentlichkeit aufbereitet wurden. Hierbei werden sowohl Präsentationsarten in Textform (Autoethnografie, Fiction, Poetik) als auch Inszenierungen (Theater, Tanz und Musik) und visuelle Darbietungen (Film, Foto) sowie Ausstellungen besprochen. Abschließend werden Bewertungskriterien bezogen auf den Prozess und die Resultate von performativer Sozialwissenschaft diskutiert, die als zentral für die weitere Etablierung einer Verbindung von Kunst und Wissenschaft anzusehen sind.
G. Mey (*) Angewandte Humanwissenschaften, Hochschule Magdeburg-Stendal, Hansestadt Stendal, Deutschland Institut für Qualitative Forschung, Internationale Akademie Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_29
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Schlüsselwörter
Performative Sozialwissenschaft · Autoethnografie · Poetic Transcription · Ethnodrama · Ethnotheatre · Film · Ausstellungen · Qualitative Forschung · Subjektivität · Reflexivität · Partizipation
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Einleitung
Seit Anfang dieses Jahrtausends mehren sich die Versuche, Kunst und Wissenschaft systematischer aufeinander zu beziehen. Unter dem Label „performative Sozialwissenschaft“ – als Begriff wohl erstmals von Norman Denzin (2001) eingebracht – sind sehr verschiedene Ansätze und Umsetzungen zu finden, mit denen Forschungsergebnisse einer breiten interessierten Öffentlichkeit mit künstlerisch-ästhetischen Mitteln zugänglich gemacht werden sollen (Jones 2017). Dass grade performative Sozialwissenschaft eine Affinität zur qualitativen Forschung aufweist und sich innerhalb dieses Feldes ausbreiten und (weiter) entwickeln konnte, überrascht wenig. Besondere Bedeutung kommt hierbei der vor allem im nordamerikanischen Forschungskontext vorgenommenen postmodernen Redefinition qualitativer Forschung zu, wie es sich ab der 3. bis zur heutigen 5. Auflage des „Handbook of Qualitative Research“ von Denzin und Lincoln (2017) fortgeschrieben dokumentiert. Ebenso leitend sind weitergehende Rekurse auf poststrukturalistische Ansätze, die sich kritisch mit dem Verhältnis von sprachlicher Praxis und sozialer Wirklichkeit auseinandersetzen (im Überblick: Winter 2014). Genau dieser Blick auf die Ereignishaftigkeit/Prozessualität sowie die Performativität sozialer Praxis hat performative Sozialwissenschaft als ein eigenes, an künstlerischen Verfahren orientiertes Forschungsparadigma forciert. Dabei lassen sich mit Blick auf den Dialog von Kunst und Wissenschaft grob drei Perspektiven unterscheiden (im Überblick Schreier 2017): Während die künstlerischen Darstellungsformen bei Arts-informed Research primär genutzt werden, um die Ergebnisse von Forschung zu vermitteln, werden bei Arts-based Research die künstlerischen Praktiken stärker zur Erkundung von Phänomenen verwandt, wie dies bei der in den Kunstwissenschaften verankerten Artistic Research zentral ist. Darüber hinaus gibt es eine Fülle an weiteren Begriffen, die für die Verknüpfung von Kunst mit Wissenschaft stehen, so etwa A/r/tography, Alternative Forms of Representation, Aesthetic Research Practice, Living Inquiry, Performative Inquiry u. v. a. m. (Chilton und Leavy 2014, S. 6). Im Folgenden wird der allgemeinere Begriff der performativen Sozialwissenschaft genutzt, da dieser am weitesten zusammenfasst, wie Kunst und Wissenschaft wechselseitig aufeinander bezogen werden (können) und wie auf Praktiken der Kunst zurückzugriffen wird, um Forschungsergebnisse zu „übersetzen“. Auch wenn die performative Sozialwissenschaft erst im letzten Jahrzehnt begonnen hat, sich deutlich auszubreiten – mit einer eigenen Mailingliste ([email protected]) und Foren sowie vielen Publikationen und auch eigenen Tagungen – gibt es schon viel länger die Versuche des Dialogs von Kunst
Performative Sozialwissenschaft
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und Forschung/Wissenschaft. Insofern finden sich auch viele Arbeiten, die nicht unter Begriffen wie Arts-based Research oder performative Sozialwissenschaft firmieren, gleichwohl in diesem Sinne operieren (s. Abschn. 3). Daneben finden sich Versuche, rückliegende Arbeiten als performativ oder als arts-based zu re-interpretieren: So führen Chilton und Leavy (2014) mit Blick auf die Psychologie etwa „Das rote Buch“ von C.G. Jung (2009) an, in dem er von 1914 bis 1930 seine Erkundungen des Unbewussten, versehen mit Illustrationen, zusammenstellte. Das Buch wurde erstmals 2009 im Rubin Museum of Art in New York öffentlich zugänglich gemacht. Gergen und Gergen (2010) wiederum verweisen u. a. auf Jacob Moreno (1947) und dessen Arbeitsweise des Psychodramas, das sie als performative Forschungs- und Darstellungsstrategie werten. Im Folgenden wird zunächst aufgezeigt, dass sich performative Sozialwissenschaft angesichts einer kritischen Auseinandersetzung mit etablierten Wissenschaftspraxen und (als überkommenen erachteten) wissenschaftsimmanenten Gepflogenheiten formiert (Abschn. 2). Daran anschließend werden einige ausgewählte Projekte vorgestellt (Abschn. 3). Im Einzelnen sind dies Vorhaben, die Forschungsergebnisse als Autoethnografie, Fiction oder Poetik anlegen (Abschn. 3.1), in Musik-, Tanz- oder Theateraufführungen umsetzen (Abschn. 3.2), visuell als Film oder als Fotografien darbieten (Abschn. 3.3) sowie im Rahmen von Ausstellungen präsentieren (Abschn. 3.4).1 Abgeschlossen wird der Beitrag mit der Kartierung einiger Herausforderungen, die es mit Blick auf die qualitative Forschungspraxis zu reflektieren gilt, wenn ihre Projekte und Ergebnispräsentationen performativ angelegt sind (Abschn. 4).
2
Theoretische und methodologische Prämissen
Der zunehmende Rückgriff auf künstlerische Praxen innerhalb der qualitativen Forschung wird mit unterschiedlichen Begründungen vorgetragen. Zum einen wird auf die Begrenztheit von traditionellen Ergebnisdarstellungen als alleiniger Präsentationform hingewiesen. So kritisiert Ian Parker (2004, S. 100): „The standard format of a research report is a secure framework for many writers, but it is itself a particular genre of writing that can turn into a constraint and inhibit innovative work.“ Zugleich wird Skepsis formuliert, weil mit der Monokultur sprachlicher Darstellung einerseits eine Begrenzung auf insbesondere innerhalb des Wissenschaftssystems geforderte Klarheit (Eindeutigkeit) und Exaktheit verbunden sei und andererseits nicht alle Sinne angesprochen würden. Barone und Eisner (2012, S. 3) konstatieren entsprechend: „arts based research is a heuristic through which we deepen and make more complex our understanding of some aspect of the world.“
1
Eine andere mögliche Systematisierung wäre die Unterscheidung in darstellende und bildende Künste sowie Literatur und Musik, ebenso wäre möglich, „New Media“ – wie bei Knowles und Cole (2008) – neben „Visual Art“ als eigenen Bereich abzugrenzen.
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Vor allem die Debatte um die „Krise der Repräsentation“ (Berg und Fuchs 1993) und die in ihr aufgerissene Frage wer eigentlich in wissenschaftlichen Texten „spricht“ hat den Weg geöffnet für neue Modi des Schreibens und für textuelle Varianten (Winter 2014). Verbunden ist damit auch die Annahme der Unabschließbarkeit von Deutungen, und es wird auf eine Darstellung abgehoben, die Mehrdeutigkeiten eröffnet und den Rezipierenden eigene Interpretationsspielräume bietet. Mit dieser Perspektive wird berücksichtigt, dass Daten eben nicht einfach „gesammelt“, sondern (ko-)konstruiert werden. Entsprechend hat schon Denzin (2001, S. 24) betont, das Interview sei ein „vehicle for producing performance texts and performance ethnographies about self and society“. In diesem Sinne rekurrieren etwa Gergen und Gergen (2010) auf John Austins Sprechakttheorie (Austin 1972 [1955]). Demnach repräsentieren Untersuchungsergebnisse nicht die Wirklichkeit, sondern sie stellen sie „buchstäblich“ her. Daran anschlussfähig sind auch Überlegungen zum Mimesis-Konzept von Paul Ricoeur (1981), auf das z. B. Uwe Flick (2007) rekurriert, wenn er das in den Literaturwissenschaften gängige Verständnis für qualitative Forschung expliziert. Demnach ist die Rezeption von Forschungsergebnissen als interpretativer Akt zu verstehen: Das „Lesen und Verstehen von Texten wird [. . .] zu einem aktiven Prozess der Herstellung von Wirklichkeit, an dem nicht nur der Verfasser von – in unserem Fall sozialwissenschaftlichen – Texten, sondern auch derjenige beteiligt ist, für den diese geschrieben werden und der sie liest“ (Flick 2007, S. 112). In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen von Umberto Eco (2004 [1990], S. 35–39), der eine Differenzierung zwischen der Intention des Werks (intentio operis), des Autors/der Autorin (intentio auctoris) und der Lesenden (intentio lectoris) kartiert, auf die sich u. a. Jürgen Straub (1999) im Rahmen der Ausarbeitung einer textwissenschaftlichen Kulturpsychologie bezieht (dazu Mey 2000). Darüber hinaus wird kritisiert, dass sich im Wissenschaftssystem eine eigene Sprache durchgesetzt hat, die einem innerwissenschaftlichen Diskurs verpflichtet, der aber für interessierte Lai/innen bzw. Angehörige anderer Fachdisziplinen nicht zugänglich ist – Wissenschaftssprache und Alltagsverständnis sich mithin ausschließen. Dabei wird allenthalben konstatiert, dass Wissenschaft kein Selbstzweck sein sollte, sondern sie ist ein „öffentliches Gut“, das überwiegend aus öffentlichen Mittel gefördert wird (eine Debatte, die wesentlich im Zusammenhang mit dem Open-Access-Paradigma geführt wurde und wird; Mey und Mruck 2007). Auch vor diesem Hintergrund wird aktuell – zumindest an deutschsprachigen Hochschulen – die sogenannte „Third Mission“ als dritte Säule (neben Lehre als 1. und Forschung als 2. Säule) verstanden und verstärkt über die Möglichkeiten und Notwendigkeiten debattiert, Forschungsergebnisse in gesellschaftlichen Nutzen zu übersetzen (Henke et al. 2017). Gefordert (und gefördert) werden Strategien, die es Wissenschaft erlauben, gesellschaftlich unmittelbarer sichtbar und wirksam zu sein. Die Forschungsarbeiten und akademischen Angebote von Hochschulen sollen sich in diesem Sinne „interventionistisch“ verstehen, also die Untersuchungsfelder verändern und den (beforschten) Akteur/innen Handlungsoptionen „anbieten“.
Performative Sozialwissenschaft
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Performative Sozialwissenschaft beansprucht genau dies. Kip Jones (2017, S. 3), einer der renommiertesten Vertreter des Ansatzes, skizziert den Gegenstandsbereich und dessen Potenziale wie folgt: „Performative Social Science embraces the use of tools from the Arts (e.g., photography, dance, drama, filmmaking, poetry, fiction, etc.) by expanding – even replacing – shopworn methods of research and diffusion of academic efforts. A [. . .] potential of these new Artsbased methods of exploration and dissemination is inclusion in these processes of the very communities that we research and/or try to reach with our investigations. When all three elements (Research/Dissemination/Community) are based in an Arts-based approach and are working in tandem, Performative Social Science is at its best.“
3
Varianten und Beispiele der performativen Sozialwissenschaft
Bei der Umsetzung von performativer Sozialwissenschaft ist der Rückgriff auf diverse Kunstformen zu finden. Ebenso ist zu beobachten, dass dieser Rückgriff sehr unterschiedlich ausfallen kann, von eher „traditionell“ bis sehr „experimentell“, und dass dabei auch der Austausch zwischen Kunst (Künstler/innen) und Wissenschaft (Forschenden) stark variiert. Einen Überblick über die Vielfalt im weiten Feld der performativen Sozialwissenschaft geben die mittlerweile vielen – allerdings bislang nur in Englisch verfassten – monografischen Einführungen (Barone und Eisner 2012; Gergen und Gergen 2012; Leavy 2015a; Rolling 2013), editierten Sammelbände (z. B. McNiff 2013) und Handbücher (z. B. Knowles und Cole 2008; Leavy 2017) oder die über 40 Beiträge umfassende Schwerpunktausgabe „Performative Sozialwissenschaft“ (Jones et al. 2008) des Open-Access-Journals „Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research“. Der nachfolgende Überblick beschränkt sich weitgehend auf psychologisch-orientierte Studien (siehe auch das Special Issue zu „Creative Representations of Qualitative Research“ [Chamberlain et al. 2018] der Zeitschrift „Qualitative Research in Psychology“ sowie das Themenheft „Performative Sozialwissenschaft“ [Mey 2020] des „Journal für Psychologie“).
3.1
Autoethnografie, Fiction und Poetik
Als eigener Ansatz innerhalb der qualitativen Forschung hat sich mittlerweile die Autoethnografie etabliert. Sie wird in den meisten Übersichten zur performativen Sozialwissenschaft aufgeführt, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil die Vertretenden der Autoethnografie ebenfalls im weiten Feld der performativen Sozialwissenschaft präsent sind. Autoethnografie meint eine Verbindung von Autobiografie und Ethnografie, wobei zentral ist, dass die eigenen Erfahrungen nicht lediglich als Hintergrundwis-
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sen einfließen, sondern als zentral für die Erkenntnisbildung genutzt werden und das „eigene Material“ so verdichtet wird, dass darüber generalisierbare Aussagen über kulturelle Muster verstehbar werden (Ellis et al. 2010; Ploder und Stadlbauer 2013). Vorreiterin für diesen Ansatz ist Carolyn Ellis (2004), die mit ihrem Ehemann Art Bochner die Autoethnografie einführte und weiter elaborierte (Bochner und Ellis 2016; s. auch Holman Jones 2004). Exemplarisch erwähnt sei der Prozess der Grabpflege für Familienangehörige (Ellis 2003): Erst aufgrund der eigenen Sorge für ein Grab begann Ellis, sich mit der Bedeutung des Friedhofbesuches und den dabei entstehenden Gefühlen zu beschäftigen sowie mit den Bräuchen, die sie sich für ihre eigene Beisetzung wünschte. Anhand der eigenen Geschichte – Ellis übernahm in der Reihe als nächste Frauengeneration die Grabpflege – verdeutlicht ihre autoethnografische Darlegung die Relevanz familiärer Todesrituale und deren Weitergabe über Generationen hinweg. Da Autoethnografien sehr unterschiedlich umgesetzt werden und auch die Darstellungsformen stark differieren und selbst fiktive Elemente enthalten können, sind die Berührungspunkte zur performativen Sozialwissenschaft erkennbar. Aber es gibt auch Gründe, sie weniger als alle anderen Arbeitsformen unter dieses Label zu subsummieren, denn je nach der Referenzialität der innerhalb der Autoethnografien gewählten narrativen Formate werden die Interpretationsspielräume für die Rezipierenden erweitert oder eben verengt (Schreier 2017). Die Wendung hin zum Fiktionalen findet sich besonders bei den Arbeiten von Heather Leavy, die als die Hauptvertreterin des Fiction-based Research gilt (ausführlich Leavy 2013). In ihren Romanen „Low-Fat Love“ (Leavy 2011), „Blue“ (Leavy 2015b) oder „American Circumstance“ (Leavy 2016) übersetzt Leavy ihre Untersuchungsergebnisse in eine narrativ-fiktionalisierte Form. So ist „Blue“ ein auf Interviews und Beobachtungen basierender Roman über die Identitätsentwicklung in den Jahren nach dem Studium. „Blue“ wurde mehrmals für Auszeichnungen nominiert, darunter für den USA Best Books Award 2016 in den Kategorien „Fiction: General Fiction“ und „Fiction: Women’s Literature“ (Schreier 2017). Ein ganz anderes Beispiel, wie Wissenschaft und Literatur ins Gespräch gebracht werden können, zeigt das Buch „sentha – seniorengerechte Technik im häuslichen Alltag“ (Friesdorf und Heine 2007). In diesem werden über die gesamte Veröffentlichung im unteren Textfeld die Ergebnisse der Studie dargestellt, in der oberen Hälfte ist der Roman „Knesebeckstraße oder: Einmal Kuba und zurück“ von Doris Mayer abgedruckt. Der so entstandene „Forschungsbericht mit integriertem Roman“ (so der Untertitel der Publikation) zielt auf die Konfrontation von Textgattungen aus Wissenschaft und Literatur und bietet den Lesenden verschiedene Einstiege und Perspektiven auf Senior/innen, die ihr Leben auch im Alter unabhängig und selbstbestimmt gestalten (möchten). Ferner sei auf eines der ersten performativ umgesetzten Projekte von Kip Jones hingewiesen. Er hat aus den Artikeln vom Kenneth Gergen und Klaus Riegel einen fiktiven Dialog kreiert. Angelegt als ein zufälliges Treffen im Zug von Morgantown nach Pittsburgh reden die beiden nach einer Konferenz über ihre Form, Psychologie zu betreiben. Die Textfassung wurde als Filmskript publiziert (Jones 2012), die Audiofassung inklusive Geräusche und Musik wurde nur zu Dokumentationszwecken
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erstellt. Letztere war Grundlage der Präsentation „The Birth of Constructionism! Or On a Train from Morgantown, West Virginia, 1976, with Klaus Riegel & Kenneth Gergen“ auf einer Konferenz in Berlin 2002, bei der zudem eine Fotodiashow eingespielt und damit die Aufführung als multimodale Installation umgesetzt wurde. Ähnlich experimentell hat Katja Mruck gearbeitet. In ihrer wissenschaftlichen Auseinandersetzung zur Konzeptualisierung von Forschungsobjekt, -subjekt und -prozess in der Geschichte der Wissenschaften findet sich das Kapitel „Von den rekonstruierenden zu den rekonstruierten Subjekten: ein unakademisches Protokoll“. Darin lässt sie in einen imaginären Raum mehrere Personen (u. a. Adorno, Durant, Graumann, Veyne, Vorländer, Wundt) zusammenkommen. Textpassagen aus Werken dieser „Protagonisten“ der Wissenschaft(sgeschichte) werden von ihr verflochten und als ein ethnografisches Protokoll – das sie als teilnehmende Beobachterin „geschrieben“ hat – dargeboten; durch dieses aus wissenschaftlichen Textfragmenten organisierte „Salongespräch“ werden „Raum, Zeit, Sprachgrenzen und auch akademische Konventionen“ (Mruck 1999, S. 52) „spielerisch“ dekonstruiert. In dieser sonst „traditionell“ angelegten akademischen Arbeit findet sich dann noch ein zweites Schreibexperiment: Den Abschluss bildet ein fiktives Selbstgespräch, in dem die Autorin ihre verschiedenen Lesarten und Perspektiven verschiedenen „Charakteren“ (richtiger ist: Anteilen von sich) zuweist, die miteinander und gegeneinander in einem „Gespräch über problematische Beziehungen“ die Frage erörtern, was „Epistemologien mit Subjektivität und Intersubjektivität und der Psycho-Logik von Forschung zu tun [haben]?“ (Mruck 1999, S. 203). Näher an einem traditionellen Ausgangstext bleiben die Ansätze des „Poetry as Method. Reporting Research Trough Verse“ (Faulkner 2009) oder des „Poetic Inquiry“ (Prendergast et al. 2009). Insbesondere in der sogenannten Poetic Transcription werden die Verschriftlichungen von Interviews überarbeitet: Dabei werden einzelne Worte und Teilsätze aus den Transkripten extrahiert und in Form eines Gedichtes präsentiert, das aufgrund seiner Syntax einen eigenen Ausdruck erhält. Das Beispiel „If it rains too much“ von Corrine Glesne (1997) vermittelt einen Eindruck von dem Produkt: If it rains too much
I have to admit I spend money Without giving it too much importance. Maybe I see a book And I'm not going to read that book just now. I buy it, I buy the book. I go to the store, I see something beautiful, A vase or something like that And I buy it Without thinking whether I have the money. That's the reason I have not money for ceiling repairs. (Fortsetzung)
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Just now, it’s all right Because it is not raining. But if it rains too much – Oh well, it comes down. Poetic Transcription: If it rains too much (Glesne 1997, S. 213)
Die Vorgehensweise kann hierbei durchaus variieren. Im Falle einer Researchervoiced Poetry kann die Erstellung der Lyrik allein bei den Forschenden liegen. Bei der stärker partizipativen Participant-voiced Poetry (Prendergast 2009) können, wie im Falle von Rosemary Reilly (2013), auch die Interviewtranskripte von den „Beforschten“ als Gedichte übersetzt werden. Neben dem Ziel der Teilhabe der Forschungsteilnehmenden auch an der Produktion der Ergebnisse erlaubt diese Vorgehensweise gleichzeitig auch eine (kommunikative) Validierung bzw. ein „member checking“ (Steinke 1999). Diese künstlerische Darstellung kann noch erweitert werden, wie das Beispiel von Kip Jones (2004a) zeigt, der ein Interview mit Mary Gergen collagen-artig gestaltet (Abb. 1). Dabei wurde das Transkript (das auch in seiner ursprünglichen Form nachlesbar ist, Jones 2004b), nicht analysiert, „but left open and transparent. Still, the production of the story becomes the creative output and social construction of both the storyteller and the interviewer (the performer and the audience) and, in this case particularly, one story of many stories that could have been told by the person interviewed.“ (Jones 2004a, unpag)
Diese Rezeptionsoffenheit ist nicht nur für Jones ein Kennzeichen „guter“ performativer Sozialwissenschaft.
3.2
Musik, Tanz und Theater
Überarbeitete Transkriptauszüge können auch als Songtexte verwendet werden. Die Bezüge auf Musik finden sich verschiedentlich, etwa als Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen oder als „Verarbeitungsform“. Auch Gergen und Gergen haben bei Vorträgen musikalische Performances dargeboten. Allerdings gilt: „In the conversation about the arts in research [. . .] [t]he voice of music has been relatively mute“ (Bresler 2008, S. 225). Dies gilt insbesondere dann, wenn Musik ohne Texte als Gegenstand der Forschung eingesetzt wird. Schwerpunkte der performativen Sozialwissenschaft richten sich hierbei auf das Hören von Musik als einen anderen – auch leiblichen – Zugang sowie auf Möglichkeiten von Komposition und Improvisation. Lediglich kurz markiert sei quasi als Kontrapunkt zu Musik das Projekt „The Silence Meal“ (http://silenceproject.fi/) der finnischen Künstlerin Nina
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Abb. 1 Ausschnitt aus „Thoroughly Post-Modern Mary. A Biographic Narrative Interview With Mary Gergen“ (Jones 2004a)
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Backman, bei dem „sensory experiences that can be both physical, emotional, spiritual or cultural in nature“, erforscht werden (Mey 2018a). Insofern sind in diesem Genre mehr Vorgehensweisen der Artistic Research zu finden denn die Nutzung von Künsten zur „puren“ Darstellung und Vermittlung von Forschungsresultaten. Ähnlich verhält es sich mit Bezugnahmen zum Tanz, auch dieser wird – neben dem Aspekt der Aufführung – mehr als Explorationsverfahren eingesetzt und diskutiert. So verwendet Jack Migdalek (2015) z. B. Tanz zur Untersuchung von Geschlechternormen: Er und Teilnehmende nutzten eine Toncollage, die entweder eher maskuline oder eher feminine Bewegungen evozierte, um sich entweder eher feminin zu maskuliner und eher maskulin zu femininer Musik zu bewegen oder sich zu „widersetzen“. Anders als im Falle von Musik und Tanz bieten Theateraufführungen die Möglichkeit, direkten sprachlichen Bezug auf die Forschungsergebnisse zu nehmen. So haben Gray und Sinding (2002) ihre Studie zu Brustkrebs, in deren Rahmen sie mit Betroffenen, Angehörigen und Ärzt/innen Fokusgruppen und Interviews geführt haben, in dem 45-minütigen Theaterstück „Handle with Care“ aufbereitet. Dabei wurden zwei Fassungen erstellt, eine, die sich an Lai/innen richtet und eine, die sich an Expert/innen wendet. In dem Stück werden verschiedene Situationen, Problematiken und Herausforderungen thematisiert, auf die Frauen mit metastasierendem Brustkrebs und ihre Angehörigen treffen können: die Verkündung des Befundes, die Suche nach Erklärungen („Warum ich?“), das Verhalten des Umfeldes (Ratschläge, Sorgen), der Austausch mit anderen Betroffenen (Unterstützung), das Verhalten der Professionellen sowie die individuellen Wünsche und Hoffnungen der Betroffenen. Zum Beispiel wird in der Eingangsszene dargestellt, wie die Mitteilung der Diagnose „erlebt“ wird. Die Szenerie ist karg: ein Schreibtisch mit zwei Stühlen, Akten liegen auf dem Tisch. Die Betroffene sitzt dem Arzt gegenüber, dieser verliest in einer Fachsprache die Diagnose. Die Betroffene versteht nur wenig von dem, was ihr gesagt wird. Der Arzt wiederum beachtet die Reaktionen der Patientin nicht. Sie ist schwarz gekleidet, hinter ihr stehen drei weitere Akteur/innen (ebenfalls in schwarz gekleidet), die nun abwechselnd und durcheinandersprechend verschiedene Gedanken äußern (stellvertretend für die Frau bzw. ein verbreitetes Reaktionsmuster vieler Frauen) und immer wiederkehrend sagen: „I can’t belief it!“ Mary Gergen (2003, Abs. 7) befindet zu dieser auf Video aufgezeichneten Theateraufführung, die der Buchfassung beiliegt: „Because ‚real people‘ spoke the lines of the dialogue in the performance, there is a freshness and an emotional appeal, as well as a cross-cutting grain of humor and pathos. It has been assembled in an aesthetically pleasing way. This is not an amateurish construction of intellectual ideas pretending to be drama, pushed through the lips of unwilling actors.“
Ebenfalls sind die Arbeiten von Johnny Saldana zu erwähnen, der theatrale Aufführungen für die Präsentation seiner Studien nutzt (Saldana 2011). Als Grundlage dienen ihm In-vivo-Kodierungen von Interviewtranskripten, und er inszeniert über unterschiedliche Charaktere unterschiedliche Perspektiven in seinem Datenma-
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terial (Saldana 2005). Auch hat Saldana auf Grundlage der Befunde von Finley und Finley (1998) über das Leben und Erleben von fünf obdachlosen Jugendlichen in New Orleans ethnografische Studien vor Ort durchgeführt, die dann in die Produktion des Theaterstücks „Street Rat“ eingeflossen sind (Saldana et al. 2005). In Deutschland ist das 2013–2015 an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführte Projekt „Die Sozialwissenschaften im Theater“ zu nennen, in dessen Rahmen von Ruppel et al. (2020) – die in unterschiedlichsten Lehr- und Forschungssettings zu Kooperationen zwischen (Nachwuchs-)Wissenschaftler/innen und Künstler/ innen einladen – zwei einjährige Lehrforschungsprojekte umgesetzt wurden. In diesen interdisziplinär zusammengesetzten Studierendengruppen wurden ausgewählte Lebens- und Arbeitswelten rund um die darstellenden Künste, insbesondere das Theater, mittels qualitativer Methoden beforscht und die Ergebnisse als Performances – unter Einbezug von Tanz, Film und Installationen – in Kooperation mit den Bad Hersfelder Festspielen sowie dem Forum Freies Theater Düsseldorf (FFT) einer breiten Öffentlichkeit präsentiert und in Publikumsgesprächen diskutiert. Schon lange wird im Zentrum für Performance Studies an der Universität Bremen – zurückgehend auf das 1992 gegründete „Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst“ (TdV) – die inter- und transdiziplinäre Vernetzung unterschiedlicher Wissenskulturen inklusive der Entwicklung neuer Veranstaltungsformate umgesetzt. Im Mittelpunkt der Aktivitäten des TdV steht die Kollaboration von Hochschulangehörigen unterschiedlicher Fachrichtungen mit professionellen Aufführungskünstler/innen. Das Ensemble greift Themen und Fragestellungen aus Seminaren verschiedener Disziplinen auf und setzt diese performativ um. Die daraus hervorgehenden Inszenierungen werden regional wie überregional öffentlich aufgeführt und in diverse Arbeitszusammenhänge (Beruf und Wirtschaft, Schule und Hochschule, Gesundheit, Politik oder Kultur) rückgebunden (Lagaay und Seitz 2018). Innerhalb der performativen Sozialwissenschaft wird zuweilen zwischen Ethnodrama, also der Aufarbeitung der Daten als Skript, und Ethnotheatre als der Aufführung des Datenmaterials unterschieden (Leavy 2015a, S. 182). Mit Saldana lassen sich zudem noch sogenannte Postperformance Sessions anführen, bei denen die Zuschauer/innen ihre Eindrücke über ein Stück diskutieren. Diese Sessions wiederum bieten neben der Information zur Rezeption des Stücks auch die Gelegenheit zur Generierung zusätzlicher Daten, die ggf. im Fortgang weiter analysiert werden und zudem in die weiteren Aufführungen einfließen können (Leavy 2015a; Norris 2009). Die Kollaboration aller Beteiligten bei Theaterdarstellungen ist dann am intensivsten, wenn die Erarbeitung und Aufführung strikt partizipativ ausgerichtet sind, also das Skript und die Inszenierung in Kooperation zwischen Forschenden und Studienteilnehmenden – wie auch im Falle von Gray und Sinding – erstellt werden. Die Möglichkeiten, das Theater neben der Präsentation von Ergebnissen auch für die Erforschung von gesellschaftlichen Phänomenen zu nutzen, lassen sich noch weiterführen (und zukünftige Kollaborationen denken), wenn berücksichtigt wird, dass sich in der Theaterlandschaft ein Wandel zum sog. „Recherchetheater“ abzeichnet. Beim diesem liegt der Fokus nicht auf der Inszenierung, sondern auf dem Prozess, wie Recherchen entstehen, weiterentwickelt und schließlich in ein künstle-
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risches Ergebnis transformiert werden. Recherche wird – z. T. explizit unter Rückgriff auf Methoden qualitativer Forschung – als eine Haltung verstanden, mit der Künstler/innen „in die Wirklichkeit hinausgehen und sich von ihr irritieren lassen“ (Feindel und Rausch 2016, unpag).
3.3
Visuelle Darstellungen im Film und Foto
In Folge des „Visual Turn“ besteht ein Boom am Einsatz von Video-/Filmdaten, wobei überwiegend Forschende mittels Videografie (Tuma et al. 2013) Dokumente erzeugen, dies allerdings vor allem, um alltägliche oder außeralltägliche Ereignisse und Handlungsabläufe zu erfassen, die dann analysiert werden (siehe Moritz und Corsten 2018 zu verschiedenen videoanalytischen Ansätzen). Demgegenüber zielt insbesondere Bina Mohn (z. B. 2002) als eine der wenigen Forschenden auch auf die Erstellung von Videodokumenten auf der Grundlage ihrer eigenen Studien ab, d. h., für sie sind ethnografische(s) Filme(n) Produkt und Forschungstätigkeit. Darüber hinaus finden sich ganz verschiedene Versuche, die Ergebnisse von Forschung in Filmen zu präsentieren und damit Wissenschaft (Forschende) und Film (Regisseur/innen, Filmautor/innen) in einen Dialog zu bringen. Die Spanne reicht von Spielfilmen über Dokumentarfilme bis zu Features; neben Bewegtbildern werden auch Stilbilder für die Ergebnisgenerierung und -präsentation genutzt. Der Spielfilm „Einstweilen wird es Mittag“ von Karin Brandauer (2010) aus dem Jahr 1988 basiert auf der klassischen Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Jahoda et al. (1975 [1933]). Ein Vergleich mit der Originalarbeit zeigt, dass Brandauer viele der Ergebnisse in den Film einfließen lässt. So werden Rahmenbedingungen der Forschungsarbeit wie der konkrete Ort Marienthal (im Film „Weißenfels“ genannt) vorgestellt. Die Vielfalt des methodischen Zugangs – u. a. Beobachtungen, Zeitverwendungsbögen, Schulaufsätze, Befragungen – wird in die Filmerzählung eingeflochten, z. T. durch Kommentierungen der Forschungsarbeit oder Teambesprechungen, oder filmisch dargeboten. Auch die zentralen Ergebnisse (die vier Haltungstypen im Umgang mit Arbeitslosigkeit: resignativ, apathisch, verzweifelt, ungebrochen) werden entfaltet und über Einblicke in den Familienalltag und einzelne Hauptcharaktere anschaulich gemacht; insgesamt wird die mit Massenarbeitslosigkeit verbundene Trost- und Perspektivlosigkeit in Szene gesetzt. Auch wenn sich im Film viele Elemente aus der Studie finden, so ist es keine werkgetreue Wiedergabe. Aufgrund der künstlerischen Freiheiten und um das dramaturgische Narrativ zu entfalten, wurden einige Abläufe geändert: So wird der Abriss der Fabrik im Film am Ende gezeigt, obwohl dieser bereits vor der Durchführung der Studie erfolgte. Die künstlerische Freiheit kommt insbesondere zum Tragen, da der Film im Grunde als Geschichte der Forschungsarbeit und des Forschungsteams angelegt wird. Jahoda (1997) hat dies in einem Interview auch kritisch kommentiert: Die Liebesbeziehung zwischen ihr (Filmname: Ruth Weiss) und Lazarsfeld (Filmname: Robert Bergheim) habe so nicht mehr existiert, und auch die eher skeptische Haltung und Resistenz der Beforschten gegenüber dem Forschungsteam entspräche nicht den „Tatsachen“. Gleichwohl machen dieser Erzählfokus und die gewählte Dramaturgie den Film für die qualitative For-
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schung interessant und auch als „Lehrfilm“ in der Methodenausbildung verwendbar (Kanter und Mey 2020). Explizit unter dem Label performative Sozialwissenschaft entstanden ist der 30-minütige Kurzspielfilm „Rufus Stone“, der die Ergebnisse einer mehrjährigen Studie über die Identität älterer homosexueller Männer und Frauen in England thematisiert (Jones 2013). Er basiert auf biografischen Interviews und Gruppendiskussionen, ergänzt um die Beobachtung von Orten, an denen sich ältere homosexuelle Menschen treffen und leben. Die filmische Umsetzung leistete der Regisseur Josh Appignanesi auf der Basis eines von Kip Jones erstellten Filmskripts, das er als eine „fictive reality“ versteht: „Fictive reality is conceived as the ability to engage in imaginative and creative invention while remaining true to the remembered realities as told through the narrations of others. Several, in fact, may recount a similar incident. When these reports are combined into one person’s story, a ‚fiction‘ is born.“ (Jones et al. 2013, Abs. 18)
Wissenschaftliche Studien oder Auseinandersetzungen mit dem Werk und der Person von Forschenden sind auch Gegenstand dokumentarfilmischer Bearbeitungen. Diese – z. T. auch für ein nicht-fachwissenschaftliches Publikum umgesetzten – Beiträge widmen sich der alltäglichen Arbeitspraxis oder visualisieren wissenschaftliche Erkenntnisse.2 Dabei unterscheiden sich nach Carsten Heinze (2016) dokumentarische Filme hinsichtlich des dramaturgischen Anspruchs an die filmische Umsetzung und Gestaltung noch einmal von ihrer Inszenierung im fiktionalen Film. Allerdings könnten sich dabei auf der narrativen und auch ästhetischen Ebene durchaus Parallelen zwischen der Darstellung und Bewertung von Wissenschaft im Spielfilm und dem dokumentarischen Film finden. Mithin lassen sich Heinze zufolge das Fiktionale (verstanden als filmisches Gestaltungsmittel) und das Dokumentarische in beiden Stilen nicht eindeutig voneinander unterscheiden, „in der Fiktion können sich Arbeits- und Denkansätze symbolisch verdichten“ (Heinze 2016, S. 161). In dem sozialwissenschaftlichen Film „Auf den Spuren von Martha Muchow“ (Mey und Wallbrecht 2016) wird insbesondere mit einem Zusammenschnitt aus Interviews mit Expert/innen gearbeitet, die sich zur Person Muchows und ihrer aus heutiger Sicht als „Hauptwerk“ geltenden Studie „Der Lebensraum des Großstadtkin-
Jenseits der Psychologie finden sich einige Beispiele, etwa: „Die feinen Unterschiede und wie sie entstehen. Pierre Bourdieu erforscht unseren Alltag“ (Zimmermann und de Leuw 1983), eine 45-minütige TV-Produktion, die sich dem bekannten kultursoziologischen Werk von Pierre Bourdieus widmet. Gearbeitet wurde mit unterschiedlichsten Bildmaterialien, Interviews, Alltagsbeobachtungen, Fotografien, die eine dichte Reportage entstehen ließen. Der fast 2½-stündige französische Film „Soziologie ist ein Kampfsport: Pierre Bourdieu im Portrait (Carles 2009) begleitet und beobachtet den französischen Soziologen bei seiner Arbeit in Hörsälen, im Gespräch mit Journalist/ innen, bei Fernsehauftritten etc. und lässt sich als Ethnografie der alltäglichen Wissenschaftspraxis verstehen (zu diesem Film: Heinze 2011). Stärker als biografisches und werkorientiertes Porträt angelegt ist der dokumentarische Film „Claude Levi-Strauss: Selbstbildnis des Ethnologen“ (Boutang und Chevallay 2011).
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des“ (Muchow und Muchow 2012 [1935]) äußern. Die so entstandene Gesprächscollage über die Hamburger Kindheitsforscherin, die im September 1933 angesichts von nationalsozialistischer Hetze und Repressionen Suizid beging und deren Buch bis in die späten 1970er „verschwand“, wird mit historischen Aufnahmen unterlegt. Insbesondere sind dies Ausschnitte aus dem Film „Das Kind und seine Welt“ von Kurt Lewin, der zeitgleich zu Muchows Arbeit unter der Regie von Eberhard Frowein 1935 entstand. Zusätzlich finden sich einige „nachgestellte“ Szenen (Reenactment) und von Schauspielenden eingesprochene Auszüge aus der Studie bzw. zeitgeschichtlichen Dokumenten (u. a. ein Denunziationsbrief, ein nationalsozialistischer Gesetzestext und Briefe) (Miko-Schefzig 2019). Die Dramaturgie des Filmes wurde im Laufe der zweijährigen Studie entwickelt und je nach Material auch immer wieder geändert. Sie orientiert sich an einem Aufsatz über Martha Muchow und der Rezeptionsgeschichte des „Lebensraum“-Bandes (Mey 2001) sowie an den die Filmproduktion flankierenden Forschungsarbeiten (Mey 2013; Mey und Günther 2015; s. auch http://www. qualitative-forschung.de/film_muchow/). Eine Dokumentation über die Entwicklung eines autistischen Mädchens zeigt der Film „Samantha“ von Markus Wenglorz und Werner Deutsch (Wenglorz und Deutsch 1997). Die in vier Kapiteln angelegte Dokumentation – in der das zumeist Gezeigte im Off-Ton beschrieben und kommentiert wird – basiert auf einer mehrjährigen Einzelfallstudie, in der Wenglorz seine Beobachtungen in Forschungstagebüchern, Fotos und Video festgehalten hat (Wenglorz 2001; s. auch Mey und Wenglorz 2005). Aus der Komposition der Bilder und vor allem aufgrund der den Bildern unterlegten Kommentare wird der Charakter eines „Lehrfilms“ erzeugt. Fotomaterial wird überwiegend als partizipatives Element in Studien genutzt, in denen die Beforschten Fotografien erstellen (z. B. Kolb 2008); seltener werden Fotos als Zugang zu Themenfeldern eigens von Künstler/innen für Forschungsprojekte produziert. Letzteres wurde im Rahmen einer Studie zu intergenerationalen Beziehungen an der TU Berlin realisiert, in dem das Thema einer Klasse von Schüler/ innen einer Foto-Design-Schule vorgestellt und der Auftrag erteilt wurde, die Begegnungen von Jung und Alt im städtischen Lebensraum zu „dokumentieren“. Aus den insgesamt 26 erzeugten Fotoreihen wurden einzelne Exponate von elf Fotograf/innen ausgewählt, die sehr verschiedene Motive und Bildsprachen aufwiesen. Diese wurden in einer Ausstellung präsentiert (Mey 2005) und später anlässlich des Rahmenthemas „Dialog der Generationen“ auf der 19. Tagung Entwicklungspsychologie in Hildesheim als Intro-Diashow per Endlosschleife gezeigt.
3.4
Ausstellungen
Interessanterweise finden sich in den meisten Bänden zur performativen Sozialwissenschaft wenig explizite Hinweise auf Ausstellungen bzw. diese werden z. T. nur am Rande erwähnt (z. B. Church 2008; Sullivan 2010, S. 207–210). Dabei bieten Ausstellungen eine besondere Möglichkeit, Wissenschaft und Forschungsergebnisse unter Rückgriff auf textuelles, auditives und visuelles Material zu präsentieren. Die
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Präsentationen unterscheiden sich dabei von kleineren Formaten bis hin zu groß kuratierten Ausstellungen und beziehen in unterschiedlichem Maße Artefakte, Fotos, Filme etc. ein bzw. integrieren in der Ausstellungsarchitektur Klang-, Musikoder Lichtinstallationen. Insbesondere die Arbeiten aus dem Umfeld von Heiner Legewie nutzen das Format der „Bürgerausstellung“ (Böhm et al. 2008; Keppler et al. 2013). Bei diesen werden die Ergebnisse aus Studien (zumeist basieren sie auf Interviews) in Form von Ergebnispostern aufbereitet, in denen zumeist fallorientiert die zentralen Auszüge aus den Interviews zusammengefasst, besonders prägnante Zitate ausgewählt und mit Fotos der Befragten versehen werden. Die so aufbereiteten Poster werden als Ausstellung oder als Rundgang aufgebaut, häufig in für die Bürger/innen zentralen Einrichtungen. Die Ausstellungseröffnung wird teilweise auch unter Einbezug der Befragten gestaltet, die auch auf diese Weise zu Wort kommen sollen. Eine der ersten Arbeiten von Legewie (2003) wurde im Rahmen einer gemeindepsychologischen Studie umgesetzt, in der er die Auswirkungen der Wandlungsprozesse insbesondere des Massentourismus’ und der ökonomischen Aufwertung historischer Wohnquartiere in Berlin und Florenz untersuchte. Hierbei erhob er neben Erfahrungen und Wünschen der Befragten auch deren konkrete Verbesserungsvorschläge für die Lebensbedingungen in ihrem Viertel. Mit der öffentlichen Präsentation der „Bürgerausstellung“ in beiden Städten – und den in dem Begleitkatalog in italienischer und deutscher Sprache erstellten Bewohnerportraits – verband Legewie das Ziel, den vielfältigen Sichtweisen von Bürger/innen und Expert/innen ein Forum zu geben und damit (Denk-)Anstöße für den öffentlichen Diskurs über aktuelle Probleme urbaner Lebensqualität anzuregen. Die Ausstellungsarchitektur kann – auch in Abhängigkeit vom Thema – variieren. So konfrontierten Legewie, Jaeggi und Bergold die Ergebnisse ihrer Studie zu „Kreativität im Alter“, bei der ältere Künstler/innen interviewt wurden, mit deren Werken (http://schoepferisch-im-alter.blog spot.de/). Dieses Format nutzte Legewie ebenso bei der Präsentation seiner Studie „Künstler in Athen – Stadt der Krise“ (Legewie und Eichinger 2017). In dieser wurden griechische Künstler/innen interviewt und bei ihrer Arbeit fotografiert, um aufzuzeigen, wie Kunst, Künstler/innenbiografie und die in Griechenland vorherrschende ökonomische Krise miteinander in Beziehung stehen. Für Ausstellungen im öffentlichen Raum oder als Umnutzung leer stehender Gebäude für temporäre Präsentationen seien die Arbeiten zu „Heimat“ und „Angst (frei)“ von Günter Mey angeführt. Im Rahmen des „Angst(frei)-Festivals“ in Stendal präsentierte er die Ergebnisse einer Interviewstudie zum einen auf großflächigen Fotos mit dem Konterfei der Befragten und einer zentralen Aussage zum Thema Angst. Insgesamt 36 dieser Bilder wurden im öffentlichen Stadtraum für neun Tage installiert. Zum anderen wurden die Studienergebnisse in einem Zellentrakt der leer stehenden JVA in Form von aufbereiteten Interviewdossiers und Hörstationen präsentiert (Mey 2011). Bei der Ausstellung „Heimat“ wurden die Ergebnisse als „skulpturale Collagen“ in einem leer stehenden Kaufhaus im Zentrum der Stadt Stendal umgesetzt, eingebettet in die zweitägige Aktion „Heimatperspektiven“. Verschiedene Installationen (auf die Interviewauszüge projiziert oder akustisch
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eigespielt wurden) und Objekte (mit montierten Zitaten) boten Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit Fragen nach der emotionalen Verbundenheit von Menschen mit Orten/Ideen sowie sozialen und lokalen Besonderheiten für die individuelle Konstruktion von „Heimat“. Letztlich sollte gezeigt werden, wie sich „Beheimatung“ als kontinuierliche Herstellung von Biografie unter einer identitätsbezogenen Perspektive beschreiben lässt (https://www.hs-magdeburg.de/hoch schule/fachbereiche/angewandte-humanwissenschaften/forschung/beheimatenskulpturale-collagen.html). Als museale Ausstellung hat Mey die Studie „Jugendkultur in Stendal: 1950–1990“ umgesetzt. In dem Sonderausstellungsbereich des Altmärkischen Museums wurden thematisch drei Räume – „Der Sound“, „Der Style“, „Die Events“ – gestaltet. In jedem wurden Videocollagen aus über 30 Interviews mit heute 45–80-Jährigen in einer Länge von je 30 Minuten gezeigt, fast hundert Interviewauszüge montiert sowie Originalfotos aus vier Jahrzehnten und auch Artefakte ausgestellt (Mey 2018b; s. auch https:// ausstellung-jugendkultur-stendal-1950-1990.h2.de/). Gänzlich anders angelegt sind Präsentationen, die primär als Kunstausstellungen kuratiert wurden. So zielte etwa „Megacool 4.0 – Jugend und Kunst“ (Richard und Krüger 2012) darauf, Jugendkultur mit den Mitteln zeitgenössischer Kunst darzustellen. Gezeigt wurden Fotografien, Medien- und Videokunst, Malerei, Streetart und Skulpturen verschiedenster internationaler Künstler/innen. Darüber hinaus wurden Objekte und Alltagsgegenstände aus diversen Jugendszenen präsentiert. Zudem wurden Exponate von jugendkulturell „typischen“ Stile (u. a. Gothics, Hipster, Hip-Hopper, Metalheads, Raver etc.) per interaktiver Installationen visualisiert. Auch die Ausstellungen von Bjarne Sode Funch von der Roskilde Universität, die er gemeinsam mit Inge Merete Kjeldgaard vom Esbjerg Kunstmuseum in Dänemark konzipierte, sind kuratierte Präsentationen. In den vier Ausstellungen unter dem Motto „Art in Context“ (2007: „An Sigt“ [„Ein Ziel“], 2008 „The Map is not the Territority“, 2011: „Live Tegn“ [„Lebenszeichen“] sowie 2013: „What I am doing here? An Exhibition on Art and Existence“) wurden jeweils ein Wissenschaftler und ein/e Künstler/in zusammengebracht, um das jeweilige Thema umzusetzen. Für „What I am doing here? An Exhibition on Art and Existence“ waren dies Nina Saunders und Ernesto Spinelli, der als Psychotherapeut im Feld der existenzialistischen Psychologie tätig ist. In der Ausstellung fanden sich Gemälde, Objekte, Installationen und Filme, um sich dem Thema „Existenz“ anzunähern (Esbjerg Kunstmuseum 2013). Zwischen diesen beiden Polen, auf der einen Seite auf Postern aufbereitete Interviews im Rahmen von Bürgerausstellungen und auf der anderen Seite den mit Kunstwerken kuratierten Themenausstellungen, lassen sich die Ausstellungsformate für die öffentliche Präsentation verorten. Es variieren dabei nicht nur die Formate und die Ausstellungselemente, sondern auch die Orte (von Stadtöffentlichkeit, städtischen Sozialeinrichtungen bis hin zu – großen – Museen). Ausstellungen bilden dabei eines der ältesten Formate, die dem Auftrag der Vermittlung und Bildung folgen. Dies wird z. B. besonders deutlich bei den großen Wissenschaftsausstellungen, wie sie im Deutschen Hygiene Museum gezeigt werden. An diesen werden auch sich wandelnde Präsentationskonzepte und Museumauffassungen hin
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zum sog. „konstruktivistischen Museum“ verständlich, wie dies Lepenies (2003) am Beispiel der Wissenschaftsausstellung „Alt & Jung – Das Abenteuer der Generationen (Lepenies 1997) herausstellt. Museen sollen aus dieser Perspektive Orte sein, an denen gelernt, entdeckt und konstruiert werden kann – wenn es gelingt, dass die eigenen Erfahrungen mithilfe der Themen und Objekte der Ausstellung erweitert und hinterfragt werden können“. Es geht nunmehr nicht mehr länger um das „Public Understanding of Science“, bei dem wissenschaftliche Ergebnisse in Form von Fakten und Produkten präsentiert werden, vielmehr soll – im Sinne eines „Public Understanding of (Current) Research“ – ein Verständnis für eine sich im Prozess befindliche Forschung geschaffen werden (Field und Powell 2001).
4
Zentrale Fragen und Herausforderungen
Mit der zuvor vorgenommenen „Werkschau“ performativer Sozialwissenschaft ist trotz der Fülle an Projekten nur ein Ausschnitt an möglichen Präsentationsmodi und einbezogenen Genres vorgestellt worden. Zum einen lassen sich weitere Darstellungen etwa aus dem Bereich der bildendenden Künste (Malerei, Bildhauerei etc.) oder des Web 2.0 (z. B. Blogs und interaktive Webseiten etc.) finden, zum anderen existieren vielfältige Hybridformen. Wie bei Ausstellungen mit Installationen, Texten, Foto/Video etc. werden auch bei Theaterausführungen verschiedene Medien und Genres miteinander „ins Gespräch“ gebracht (Tanz, Lesung, Bühnenbild, Video etc.); literarische Werke wiederum können visuelles Material einbinden oder in Form von Zines oder Comics umgesetzt werden. Entlang der aufgezeigten Praxis wird deutlich, dass performative Sozialwissenschaft keine klar definierte Vorgehensweise ist, für die ein Set an Methoden der Datenerhebung, -aufbereitung und -analyse sowie Präsentation und Verbreitung anzugeben wäre, sondern ein Ansatz, der eine Vielzahl an Realisierungsformen aufweist. Diese reichen von zusätzlich zum eigentlichen Forschungsbericht umgesetzten Disseminationsstrategien bis hin zu gleich zu Beginn und triangulativ angelegten Projekten, bei denen die künstlerischen Mittel nicht nur – im Sinne einer Artsinformed Research – zur „nachträglichen“ Übersetzung, sondern – wie bei der Artistic bzw. Arts-based Research – als Explorationsmethode eingesetzt werden. Die Projekte werden allein von den Forschenden umgesetzt oder sind partizipativ angelegt, d. h., dass Forschende und Beforschte als Mitforschende den Prozess und auch das daraus hervorgehende Produkt verantworten. Und ebenso variieren sie dahingehend, ob Forschende (und Mitforschende) versuchen, die Resultate allein zu übersetzen oder mit professionell arbeitenden Künstler/innen eine Umsetzung realisieren – wobei auch hier zu unterscheiden ist, ob dies im Anschluss an die Forschungsarbeit oder von Beginn an erfolgt. In diesem Sinne firmiert ein sehr heterogenes Feld unter dem Label der performativen Sozialwissenschaft. Gemeinsam aber ist allen Projekten, dass sie über den ursprünglichen Entstehungskontext (Forschung) hinaus einen breiteren Verwertungszusammenhang (Öffentlichkeit) suchen. Kip Jones (2014, unpag.) hält dazu fest:
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„Performative Social Science is not simply writing a poem or putting on a play merely because that happens to be a pastime (or frustration) of an academic. Rather, it is finding the right artsbased method to help answer the research question and/or to disseminate the findings to the public. Ideally, it is about forming collaborations with artists themselves and creating a professional learning and/or dissemination experience, which includes the wider community to engender a meaningful investment in the project, its outputs and outcomes“.
Dass bei dieser Form der Übersetzungsarbeit für die Öffentlichkeit mithin andere Ansprüche und Anforderungen gestellt werden und auch die Ergebnisse anders zu bewerten sind, verweist auf eine der zentralen Diskussionslinien, mit denen sich performative Sozialwissenschaft konfrontiert sieht – die Frage nämlich, wie viel Wissenschaft enthalten ist (und welche Kriterien dazu heranzuziehen sind) und wieviel Kunst sie auszeichnet, und entlang welcher evaluativen Momente dies wiederum zu kartieren ist (z. B. Leavy 2015a, Kap. 8). Grade weil in den letzten zwei Jahrzehnten eine Vielfalt unterschiedlicher Definitionen und Vorgehensweisen entwickelt wurde, scheint die Antwort, was nun an der performativen Sozialwissenschaft Kunst und was Wissenschaft – und im engeren Sinne: qualitative Forschung – ist nur noch schwer möglich. Margrit Schreier (2017) sieht drei Spannungsverhältnisse zwischen performativer Sozialwissenschaft einerseits und qualitativer Forschung andererseits: Dies betrifft erstens die Art des generierten Wissens. Demnach zeichne sich qualitative Forschung durch konzeptuelles und diskursives Wissen aus, während das Wissen in der performativen Sozialwissenschaften prä-konzeptuell und nicht-diskursiv sei. Entsprechend sieht Schreier, „dass qualitative Sozialforschung häufig nach Antworten auf eine Forschungsfrage sucht“, während es bei der performativen Sozialwissenschaft „wesentlich um die Generierung von Problembeschreibungen und alternativen Sichtweisen geht“ (Schreier 2017, Abs. 29). Zudem hat nach Schreier bei der performativen Sozialwissenschaft die Vorläufigkeit und Revidierbarkeit von Wissen Priorität. Damit einher gehe zweitens die unterschiedliche Rolle der Rezeption im Forschungsprozess. Denn in der performativen Sozialwissenschaft sei die Rezeption konstitutiv und essenziell. Wenn die Präsentation keine Reaktion provoziere (nicht „berührt“) oder auch „irritiere“ und nicht zumindest einen – temporären – Perspektivwechsel eröffne, habe sie ihr Ziel verfehlt. Drittens sei performative Sozialwissenschaft auf ein breiteres und auch nichtakademisches Publikum und auf die Veränderung gesellschaftlicher Wirklichkeit ausgerichtet, wie dies innerhalb der qualitativen Forschung am ehesten auf partizipative Ansätze oder Action Research zutrifft. Fragen, die sich daher stellen, zielen auf die Passung des Untersuchungsgegenstands und der gewählten performativen Umsetzung. Auch wenn sich sehr verschiedene Genres innerhalb der performativen Sozialwissenschaft finden, scheinen wenige (bis keine) Vorgaben zu existieren, wann welche Form – etwa als Film, als Theater oder Poetik – zu wählen ist. Die jeweilige Forschungsfrage legt den Präsentationsrahmen nicht fest, mithin liegt es an der Affinität der Forschenden zu den jeweiligen Genres oder die je verfügbaren Ressourcen und Netzwerken sind für das (Nicht-)Zustandekommen von Kollaborationen ausschlaggebend. Gleichwohl soll-
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ten die an diesem Prozess Beteiligten sich fragen (und explizieren), welcher Darstellungsmodus der angemessenste für die erarbeiteten (Zwischen-)Ergebnisse sein könnte. Denn wenn die Darstellung selbst auch (Teil des) Ergebnis(ses) ist, muss reflektiert werden, wie dieses mit welchen künstlerischen Mitteln (und d. h.: warum genau mit den gewählten) „übersetzt“ – hergestellt – wird. Mehr noch: Es gilt auch, die Konsequenzen, die aus dem jeweils gewählten Präsentationsformat und den je gegebenen Produktionsbedingungen resultieren und die die Konstruktion der erhobenen Daten betreffen (können), zu reflektieren. Die Präsentation von Interviews in einem Film nimmt Einfluss auf die Erhebungssituation: Eine „intimes“ Gespräch in einem gut ausgeleuchteten Raum, die Aufzeichnung mit – in der Regel zwei – Kameras, die Vorgabe, eine bestimmte Blickrichtung einzunehmen, die sprachliche Darstellung (Versprecher etc.) und die ggf. „für den Film“ nochmalige Beantwortung einer Frage verändern das Setting. Das Wissen, später „öffentlich“ und „erkennbar“ zu sein, kann das, was (nicht) gesagt wird (und wer sich überhaupt bereit erklärt, Teil des Samples zu sein), erheblich beeinflussen. Auch wenn Filmpräsentationen (via Schnitt etc.) bearbeitete Dokumente sind, ist hier der Verwertungszusammenhang präsenter als bei anderen Modi, bei denen aus den Transkripten durch Überarbeitungen eben Poetik oder ein Skript für ein Theaterstück entsteht. Doch auch für Letztere kann das Wissen, Texte/Aussagen zu produzieren, bereits die Erhebung steuern, um „prägnante“ Sätze zu evozieren. Inwieweit solche Einflüsse minimiert werden können, wenn später die aufbereiteten Interviews von Schauspieler/innen eingesprochen werden (und darüber zusätzlich eine inszenierte Verfremdung erreicht wird), wäre eine zu evaluierende Frage. Wie bei der Erhebung sind bei der Aufbereitung und Auswertung der erzeugten Daten zahlreiche Entscheidungen zu treffen: Welches Material wird überhaupt ausgewählt, welches soll dominant präsentiert werden? Die Analyse im Rahmen eines qualitativen Forschungsprojekts und die Herausarbeitung der Ergebnisse (je nach Auswertungsmethode als Kategorien, Fallstrukturhypothese oder als Typik) und deren systematisierte Darstellung in einem Forschungsbericht folgen einer anderen Logik als das Narrativ eines Films, eines Theaterstücks, das „unterhalten“ – und „ansprechen(d sein)“ will. Damit geht einher, dass sich performative Sozialwissenschaft, wenn sie kollaborativ angelegt ist, inter-/transdisziplinär öffnen muss. Die in den verschiedenen Disziplinen vorherrschenden Arbeitsweisen, die auch von Zeitregimes und verfügbaren (finanziellen) Ressourcen moderiert werden, nehmen stärker Einfluss, als oftmals kenntlich gemacht wird, das „Augenfällige“ kann z. T. ohne eingehende Analyse als das Repräsentative genommen werden. So kann die Präsentation gelungen sein (das Publikum wurde „erreicht“), aber die dahinterliegende Forschung wurde möglicherweise weniger angemessen – etwa mit Blick auf die Geltungsbegründung qualitativer Forschung – umgesetzt. In der Regel fällt die Bewertung „guter“ qualitativer Forschung, „guter“ performativer Sozialwissenschaft und „guter“ Kunst verschieden aus, sie sollte aber nicht gänzlich separat voneinander geleistet werden.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Performative Sozialwissenschaft ist derzeit insbesondere im Feld der qualitativen Forschung zu lokalisieren, auch weil einige der Hauptprotagonist/innen in Personalunion eben qualitativ und performativ arbeiten. Ausschlagend dafür ist aber sicherlich auch, dass qualitative Forschung und performative Sozialwissenschaft einige Analogien aufweisen: Qualitative Forschung versteht sich von jeher als überwiegend „explorativ“, dies gilt mit Blick auf das zentrale „Prinzip der Offenheit“ (HoffmannRiem 1980) sowohl für die Anlage der Studien als auch für Erhebung und Auswertung. Zudem gilt in der qualitativen Forschung, dass „Methodenanwendung“ immer auch „Methodenentwicklung“ ist, um eine angemessen Passung zwischen Erkenntnisinteresse und Erkenntnisprozess zu strukturieren (Flick 2007). Darüber hinaus sind qualitativ Forschende sich zumeist der Interpretationsspielräume bei der Deutung der Materialien/Daten und der eigenen Standortgebundenheit bewusst – sie changieren zwischen „Fremdheit“ und dem „Prinzip der Kommunikation“, d. h. es überwiegt ein Verständnis von „Forschung als Handlung im Kontext“ (z. B. Mruck und Mey 2019). Schließlich ist qualitative Forschung vergleichsweise „alltagsnah“ ausgerichtet – sowohl was Fragestellungen und Problemdefinitionen als auch was die Gestaltung der Forschungssituationen via Gesprächen und Beobachtungen oder den Einbezug von Alltagsgegenständen anbelangt. Zudem ist sie – zumindest in Teilen – auch auf Kritik, Intervention und Einbezug der Beforschten ausgelegt (z. B. Bergold und Thomas 2012; Mey 2018c). Ungeachtet dessen finden sich durchaus auch Berührungsängste aufseiten qualitativ Forschender. Einige der Vorhaltungen gegen die performative Sozialwissenschaft erinnern dabei an jene vor Jahrzehnten von quantitativ Forschenden gegenüber qualitativer Forschung vorgebrachte Kritiken („Ist das – noch – Wissenschaft?“) inklusive Subjektivitätsvorwurf und Impressionsmusverdacht. Ähnlich wie sich qualitative Forschung gegen die Anlegung der klassischen Gütekriterien – Objektivität, Reliabilität, Validität – verwehrte und dem qualitativen Paradigma angemessene Kriterien (wie intersubjektive Nachvollziehbarkeit, Transparenz etc.; Steinke 1999) entwickelte wird es Aufgabe sein, für die performative Sozialwissenschaft Kriterien zu präzisieren, die dem Anliegen und den Zielen dieser Forschungsrichtung entsprechen und berücksichtigen, dass es um Perspektivenvielfalt, Interpretationsangebote und Formen der Innervierung geht. Damit sind zugleich Anforderungen an die weiteren Ausarbeitung der performativen Sozialwissenschaft verbunden, denn mit Blick auf den Anspruch, Adressat/innenkreise auch jenseits von Forschung und Wissenschaft zu erreichen, sind nicht per se alle möglichen Disseminationsformen performativ zu verstehen. Je eindeutiger die Resultate übersetzt werden (ob als Broschüre oder YouTube-Video) und je konventioneller die Realisierung an die jeweils gängige Rezeption angelegt ist und auf schnelle (verständliche) Konsumtion zielt, umso mehr wird der zentrale Anspruch performativer Sozialwissenschaft auf Irritation, Perspektivierung und Einbezug verfehlt – und damit nicht zuletzt ihr subversives Moment. Da sich performativ-sozialwissenschaftliche Arbeiten derzeit überwiegend im englischsprachigen Raum (und hier wiederum vor allem in Großbritannien und
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Nordamerika) und zumeist eben auch vor allem in den Sozialwissenschaften finden, wird sich zeigen, inwieweit sich auch im deutschsprachigen Raum und in der Psychologie, in der qualitative Forschung selbst immer noch oder z. T. schon wieder peripher gehandelt wird, performative Arbeiten durchsetzen können. Und es wird sich zeigen, inwiefern qualitative Forschung das Potenzial, das andere Disziplinen wie z. B. die Theaterwissenschaften mit Blick auf Texterschließung oder Recherchemethoden aufweisen oder Filmwissenschaften/-produktion bezüglich der Gestaltung von Narrativen bereithalten, für sich zu nutzen versteht. Da innerhalb der qualitativen Forschung und im allgemeinen Wissenschaftsdiskurs eine Reihe kontroverser (durchaus auch kritischer) Diskussionen um die Darstellungsformen nicht zuletzt angesichts der „Krise der Repräsentation“ (Berg und Fuchs 1993) virulent ist, stehen die Zeichen für eine weitere Ausarbeitung performativer Sozialforschung – wohl auch innerhalb der Psychologie – ganz gut. Wie lange es aber dauern wird, dass sich künstlerische Forschung in das Methodenrepertoire (gleichberechtigt neben natur-, geistes- und sozialwissenschaftlichen Ansätzen) einschreiben kann, lässt sich dagegen nicht sagen.
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Forschungsethik Mechthild Kiegelmann
Inhalt 1 Historische Relevanz und disziplinäre Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Ethische Grundfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Zentrale Diskussionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
In diesem Beitrag wird Forschungsethik als eine transdisziplinäre Zusammenarbeit von Philosophie und Psychologie vorgestellt. Zweckentfremdung von Ethik für Ressourcenverteilung durch Kontrollgremien und Verkürzung von Ethik auf moralisch beladene Checklisten werden kritisch betrachtet. Stattdessen wird auf die Chancen der Reflexion von Entscheidungsprozessen für ethische Herausforderungen in den tatsächlich eingegangenen Forschungsbeziehungen verwiesen. Ethik als Wissenschaft zur Unterstützung von Entscheidungsprozessen wird vorgestellt. Zentrale Themen der Forschungsethik sind informierte Einwilligung, Freiwilligkeit der Teilnahme, Antizipation und größtmögliche Vermeidung von Schadenrisiken für alle von der Forschung mittelbar oder unmittelbar betroffenen Personen, Vermeidung von Täuschung, die Wahrung der Anonymität und die Vertraulichkeit von Daten, das Beachten der Vereinbarkeit von Ethikrichtlinien mit dem jeweils geltenden Recht, Objektivität und bzw. Selbstreflexion, Prozessethik und interdisziplinäre Diskurse.
M. Kiegelmann (*) Pädagogische Hochschule Karlsruhe, Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_28
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M. Kiegelmann
Schlüsselwörter
Ethik · Forschungsbeziehungen · Entscheidungen · Informierte Einwilligung · Ethikrichtlinien
1
Historische Relevanz und disziplinäre Einordnung
Ethisch begründete Regeln sind in der westlichen Welt seit zweieinhalb Jahrtausenden bekannt. Bereits der Hippokratische Eid legte unter anderem fest, dass nur zum Wohle, nicht zum Schaden und ohne Ansehen der Person behandelt werden muss, und dass die Behandlung der Schweigeverpflichtung unterliegt (Diller 1994). Diese Regeln reflektierten bereits, dass im Falle von Personen, die mit ihrem Wissen in das Leben einer anderen Person eingreifen, ein Machtgefälle existiert. Wie Entscheidungen verantwortungsvoll zustande kommen können, wird im Fach Ethik reflektiert. Da Sozialforscher/innen Forschungsbeziehungen initiieren, pflegen, aufrechterhalten und beenden gehört zu ihren Aufgaben, negative Auswirkungen von Machtgefällen abzuwenden und Schaden für die Forschungsteilnehmer/innen zu vermeiden. Schon im Prozess des Forschungsdesigns sind forschungsethische Fragen mit einzubeziehen. Insbesondere in qualitativer Forschung stehen Forschungsbeziehungen im Mittelpunkt und bedürfen einer laufenden Reflexion über den gesamten Forschungsprozess. Ethische Überlegungen sind nicht mit dem Forschungsdesign oder einer Mittelbewilligung abgeschlossen, sondern werden über den gesamten Forschungsprozess weitergeführt (Kiegelmann 2002a). Hella von Unger greift diese Betonung der Bedeutung der Forschungsbeziehungen auch für die Soziologie auf (von Unger 2014, S. 18). Die mit Hippokrates begründete Diskussion forschungsethischer Fragen gewinnt derzeit in der westlichen Welt vor allem in der Medizin und Pharmakologie große Bedeutung, weil hier Gefährdungen für Forschungsteilnehmende besonders deutlich wahrnehmbar sind. In Anlehnung an die medizinische Ethik wird auch in der Psychologie der Umgang mit Patient/innen und mit Forschungsteilnehmenden geregelt, wobei qualitative Forschungen in der akademischen Psychologie nur ein eher kleines Teilgebiet darstellen (Döring und Bortz 2016; Groeben 2006; Markard 2017a). Dabei sind ethische Fragen für die psychologische Forschung besonders relevant. Bereits einige klassische Experimente, beispielsweise das Milgram-Experiment (Milgram 1975; s. auch Maxwell und Loomis 2003) oder die Gefängnisstudie von Zimbardo1 zeigten dies in aller Deutlichkeit: In beiden Studien handelten Versuchspersonen so, wie sie außerhalb des Forschungskontextes nicht gehandelt hätten; Zimbardo brach seine Untersuchung aus ethischen Gründen deshalb vorzeitig ab.
1
Siehe die aktuelle Multimedia-Darstellung des Experiments: http://www.prisonexp.org/psycho logy/38.
Forschungsethik
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Das Thema Ethik erhält auch institutionelle Bedeutung, weil zunehmend Ethikkommissionen zu einer Instanz werden, die Forschungsdesigns und Forschungsanträge begutachten (Roth 2004 und die FQS-Debatte Ethik). In Nordamerika werden diese von Forscher/innen oft als bürokratische Hürden wahrgenommen (Silverman 2009, Kap. 10.6 „Research Governance“). Auch in Deutschland werden zunehmend psychologische Forschungsvorhaben vorab von Ethikkommissionen geprüft. Viele Forschungsträger verlangen mittlerweile ein positives Ethikvotum als Voraussetzung für die Bewilligung von Fördermitteln, beispielsweise auch die DFG. Die Ethikkommission der Deutschen Gesellschaft für Psychologie stellt Musterordnungen für lokale Kommissionen zur Verfügung.2 Nicht alle qualitativ arbeitenden Psycholog/ innen begrüßen die Arbeit von Ethikkommissionen, weil einige Besonderheiten qualitativer Psychologie übersehen werden können. Baumgartinger (2014) diskutiert im Zusammenhang einer Studie im medizinischen Setting mögliche Belastungen von Forschungsteilnehmenden durch das erforderliche Einholen von Zustimmung. Der Berufsverband der Psycholog/innen (BDP) und die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) haben Ethikrichtlinien verfasst. Darin heißt es: „Psychologische Forschung ist auf die Teilnahme von Menschen als Versuchspersonen angewiesen. Psychologinnen und Psychologen sind sich der Besonderheit der Rollenbeziehung zwischen Versuchsleiterin bzw. Versuchsleiter und Versuchsteilnehmerin bzw. Versuchsteilnehmer und der daraus resultierenden Verantwortung bewusst. Sie stellen sicher, dass durch die Forschung Würde und Integrität der teilnehmenden Personen nicht beeinträchtigt werden. Sie treffen alle geeigneten Maßnahmen, Sicherheit und Wohl der an der Forschung teilnehmenden Personen zu gewährleisten und versuchen, Risiken auszuschließen.“ (Berufsethische Richtlinien des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. und der Deutschen Gesellschaft für Psychologie e.V. zugleich Berufsordnung des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. in der von der Delegiertenkonferenz des BDP am 04.06.2016 und von der Mitgliederversammlung der DGPs am 21.09.2016 beschlossenen Fassung, Abschn. 7.3.1).
Die US-amerikanischen Ethik-Richtlinien der „American Psychological Association“ (APA)3 fordern ausdrücklich eine informierte Einwilligung, den sogenannten informed consent, und legen dessen Inhalt fest (APA Nr. 8.02 und 8.03). Ethik kann jedoch nicht nur auf eine Genehmigungsprozedur verkürzt werden, sondern ist ein Querschnittthema für den gesamten Forschungsprozess von der Planung bis zur Veröffentlichung und praktischen Anwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen (Kiegelmann 2002a). Tomkinson (2015) unterscheidet in diesem Zusammenhang „Procedural and Everyday Ethics“, wobei sie sich mit „procedural“ auf Genehmigungsverfahren und mit „everyday ethics“ auf ethische Entscheidungen während der Durchführungen von Ethnografien bezieht. Innerhalb der Methodendiskussion von qualitativ arbeitenden Sozialwissenschaftler/innen wird die Diskussion um eine Übertragbarkeit des informed consent auf ethnografische Ansätze kontrovers diskutiert (von Unger et al. 2016). In der 2
https://www.dgps.de/index.php?id=188. http://www.apa.org/ethics/code/index.aspx.
3
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M. Kiegelmann
Psychologie haben sich Ethikgutachten auch in Deutschland stark durchgesetzt, eine aktive Beteiligung von qualitativ forschenden Psycholog/innen an der Entwicklung und Ausgestaltung von informed-consent-Verfahren und Begutachtungsprozessen ist unumgänglich. Insbesondere eine Zusammenarbeit von empirisch Forschenden mit Ethiker/innen erscheint sinnvoll. So tragen Scherzinger und Bobbert (2017) aus ethischer Perspektive zur Diskussion um angemessene Kontrolle von Ethikkommissionen bei. Auch eine abschreckende Wirkung von informed-consent-Formularen kann zum Problem werden (Kiegelmann 2002a). Mittlerweile ist es möglich und hilfreich, solche Formulare in leichte Sprache übersetzen zu lassen, da heute professionelle Dienstleistungsangebote für diese Übersetzungsleistung bestehen. Die aktuellen Ethikrichtlinien für Psycholog/innen weltweit sind u. a. das Ergebnis einer transdisziplinären Kooperation zwischen empirischer Psychologie und der philosophischen Subdisziplin „Ethik“. Letztere beschäftigt sich mit dem sittlichen Handeln von Menschen, mit deren Moral und Begründbarkeit. Eine ihrer Grundfragen lautet: Wie können und sollen Handlungen, einschließlich dazugehöriger Absichten und Wertvorstellungen, beurteilt werden? Der kategorische Imperativ von Immanuel Kant (1977) – „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ – hat durch die Forschungsethik Eingang in die wissenschaftliche Psychologie gefunden. Kants zentrale Aussage ist an dieser Stelle, dass ein ethischer Grundgedanke unabhängig von der Benennung konkreter inhaltlicher Werte formuliert werden kann. Übertragen auf ethische Entscheidungen in der Psychologie heißt das: Forschungskriterien können abstrakt formuliert und nicht für jeden Einzelfall neu erarbeitet werden. Regeln für eine Forschung sind dann nicht mehr nur punktuell, sondern auch auf Entscheidungsprozesse anwendbar. Statt also ein konkretes Verhaltensgebot auszusprechen (z. B. „Wenn eine Testperson zu weinen beginnt, muss abgebrochen werden“), kann eine allgemeine Regel zur Entscheidungsfindung formuliert werden (z. B. „Das Wohlbefinden der Proband/innen hat stets Vorrang vor den Forschungszielen“). Eine solche Regel schließt den oben genannten Fall ein, deckt aber darüber hinaus eine Vielzahl anderer möglicher Situationen ab und kann zudem Entscheidungsprozesse innerhalb einer Forschung definieren. Zentraler Fokus bei forschungsethischen Überlegungen ist somit der Prozess des Entscheidens. Mit anderen Worten, nicht eine Liste von konkreten moralischen Inhalten ist gefragt, sondern ethische Entscheidungsregeln, die auf die jeweils konkreten Fälle angewendet werden können. Unter qualitativ forschenden Psycholog/innen gibt es eine Diskussion um Inhalt und Ausgestaltung von Gütekriterien (Flick 2010). Diese berührt auch Fragen der Forschungsethik: In quantitativen Studien gelten Reliabilität, Validität und Objektivität als Kriterien der Geltungsbegründung. Für die qualitative empirische Forschung stellt sich die Frage nach Qualitätsstandards ebenso, wenn auch auf andere und weitergehende Weise. Die Frage nach Nutzen bzw. potenziellem Schaden der Forschungsdurchführung für mittelbar und unmittelbar von der Forschung berührte Personen erhält ein besonderes Gewicht durch die Nähe und Intensität der Forschungsbeziehungen. Auch wenn ein distanzierter Blick von außen auf soziale
Forschungsethik
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Gruppen oder Individuen mit dem Ziel möglichst großer Objektivität der Datenerhebungen und Auswertungen kein zentrales Anliegen qualitativer Psycholog/innen ist, macht es Sinn, dass Forschende versuchen, sich nicht von eigenen persönlichen Wertvorstellungen den Blick auf zunächst unerwartete Forschungsergebnisse verstellen zu lassen. Dieses Problem wird u. a. auch als researcher bias bezeichnet, also die Möglichkeit einer verzerrten Wahrnehmung empirischer Daten durch die forschende Person aufgrund von deren Wertvorstellungen. Statt (vermeintliche) Objektivität anzustreben, legen qualitative Forscher/innen ihre Wertvorstellungen offen, um deren Einfluss überprüfbar zu halten (Maxwell 2013).
2
Ethische Grundfragen
Wer Ethik im Zusammenhang mit qualitativer Sozialforschung diskutiert, muss berücksichtigen, dass es die eine qualitative Psychologie nicht gibt, sondern eine Vielzahl divergierender Ansätze. Reichertz (2007, S. 197) benennt diese Unterschiedlichkeit wie folgt: „Es gibt also aus meiner Sicht keine (kleine) Schnittmenge, die allen qualitativen Methoden gemein ist (z. B. die Ausrichtung auf den Akteur und seine Intentionen), sondern es gibt Ähnlichkeiten und Überschneidungen, aber auch Widersprüche und Gegensätze.“ Ganz grundsätzlich gilt jedoch, dass in qualitativ-psychologischen Studien die Forschungsbeziehungen oft intensiver, die menschlichen Erwartungen, auch vonseiten der Teilnehmenden, größer sind als in vielen quantitativen Untersuchungen. Menschen erwarten, nicht nur austauschbares Mittel zum Zweck der Forschung zu sein (Kiegelmann 2002a), sie gehen soziale Beziehungen ein, die, je länger und intensiver sie sind, im Leben aller Beteiligten Spuren hinterlassen. Bestimmte gesellschaftliche Gruppen werden durch qualitative Forschung genauer beachtet und besser verstanden als dies ohne die Forschung der Fall wäre. Das gilt insbesondere für sogenannte vulnerable Populationen. „Entdeckung“ oder „Entlarvung“ aufgrund der Forschung kann hier Konsequenzen für die Forschungsteilnehmenden haben, auch für ihr soziales Umfeld. Beispielsweise könnten Drogenkonsument/ innen wegen illegaler Handlungen der Polizei bekannt werden, Menschen ohne gültige Aufenthaltsdokumente könnten des Landes verwiesen werden, Angehörige von sexuell missbrauchten Kindern könnten in Maßnahmen zur Beendigung des sexuellen Missbrauchs hineingezogen werden – was sowohl eine Chance für die Opfer des Missbrauchs sein kann als auch ein Problem für ggf. unzulässig beschuldigte Personen. Ziel der psychologischen Forschung muss es daher sein, immer dann, wenn Forschungsbeziehungen eingegangen werden, jenseits des eigentlichen Forschungsziels das Wohl aller Beteiligten im Blick zu haben. Da die Forschenden die Verantwortung für das Eingehen und Aufrechterhalten von Forschungsbeziehungen die Verantwortung für die von ihnen initiierten Beziehungen tragen, obliegt es ihnen, Schaden von Forschungsbeteiligten abzuwenden. Gleichzeitig bleibt es aber auch wichtig, sich nicht selbst zu gefährden.
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Grundsätzliche Themen für die Regelung von Forschungsbeziehungen in der psychologischen Ethikdiskussion sind: die informierte Einwilligung (s. Abschn. 2.1), die Freiwilligkeit der Teilnahme (Abschn. 2.2), die Antizipation und größtmögliche Vermeidung von Schadenrisiken für alle von der Forschung mittelbar oder unmittelbar betroffenen Personen (Abschn. 2.3), die Vermeidung von Täuschung (Abschn. 2.4), die Diskussion um Anonymität und die Vertraulichkeit von Daten (Abschn. 2.5), das Beachten der Vereinbarkeit von Ethikrichtlinien mit dem jeweils geltenden Recht (Abschn. 2.6), Objektivität bzw. Selbstreflexion (Abschn. 2.7), Prozessethik (Abschn. 2.8) sowie die Zusammenarbeit von empirisch arbeitenden Forschenden mit Ethiker/innen (Abschn. 2.9). In der Praxis kann das Bemühen, ethische Kriterien in der eigenen Forschung zu erfüllen, schnell an Grenzen stoßen; Checklisten, die an konkrete inhaltliche Werte gebunden sind, helfen nur bedingt weiter. Die Problemstellungen, die sich bei der Arbeit ergeben, erfordern vielmehr Lösungen, die nicht konkrete Antworten für Beispielfälle geben, sondern Prozesse der Entscheidungsfindung regeln. Die folgenden Ausführungen sollen dies erläutern.
2.1
Informierte Einwilligung
Eine informierte Einwilligung liegt vor, wenn die Forscher/innen genau über die Bedingungen und Auswirkungen einer Teilnahme an einem Forschungsprojekt informiert haben, bevor sich Personen für das Eingehen einer Forschungsbeziehung entscheiden. Dies kann in ähnlicher Weise erfolgen wie die schriftliche Aufklärung über Rechte und Risiken vor medizinischen Eingriffen oder auch durch ausführliche Gespräche. Die US-amerikanischen Ethik-Richtlinien der „American Psychological Association“ (APA) formulieren: „3.10 Informed Consent (a) When psychologists conduct research or provide assessment, therapy, counseling or consulting services in person or via electronic transmission or other forms of communication, they obtain the informed consent of the individual or individuals using language that is reasonably understandable to that person or persons except when conducting such activities without consent is mandated by law or governmental regulation or as otherwise provided in this Ethics Code. (See also Standards 8.02, Informed Consent to Research; 9.03, Informed Consent in Assessments; and 10.01, Informed Consent to Therapy.)“ (American Psychological Association 2010)
Die schriftliche Form der informierten Einwilligung hat den Vorzug der Verbindlichkeit und Nachprüfbarkeit, sie kann allerdings abschreckend und wenig vertrauenserweckend wirken, wenn sie mit dem Kleingedruckten bei Kaufverträgen assoziiert wird. Übersetzung in leichte Sprache kann hier einen Schritt in Richtung mehr Akzeptanz ermöglichen. In vielen Forschungskonstellationen stellt sich darüber hinaus jedoch die Frage nach den notwendigen Voraussetzungen dafür, „informiert“ einwilligen zu können.
Forschungsethik
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Vermeintlich einfache und klare Erklärungen seitens der Forschenden werden möglicherweise deshalb von den Forschungsteilnehmenden nicht verstanden oder beachtet, weil deren Lebenswirklichkeit in die Erklärungen der Wissenschaftler/innen zu wenig einbezogen wurde. Wenn gemeinsam mit Kindern, kognitiv eingeschränkten Erwachsenen oder Kranken Forschung betrieben werden soll, stellt sich die Frage nach deren Einwilligungsfähigkeit auf eine noch grundsätzlichere Weise (Bobbert 2008). Zudem ist es mit Information und Einwilligung zu Beginn eines Forschungsprojekts häufig nicht getan. Nicht immer können Forschende den genauen Verlauf von Untersuchungen im Vorhinein übersehen. Statt vorab definiter Hypothesen stehen zudem in qualitativer Forschung offenere Forschungsfragen im Mittelpunkt. Vorhersagbarkeit des tatsächlich stattfindenden Forschungsverlaufs ist damit nur schwer möglich und kann daher zu Beginn eines Forschungsprojekts noch gar nicht beschrieben werden. In aller Konsequenz heißt das, dass sich Forschungsteilnehmende und Forschende auf Forschungsbeziehungen einlassen (müssen), deren Verlauf vorab nicht genau vorher beschrieben werden kann. Am Fall eines Forschungsprojekts mit wohnsitzlosen Jugendlichen im öffentlichen Raum beschreibt Uwe Flick (2009, S. 38) die hier angesprochene Unvorhersehbarkeit eindrücklich: Treten während der Interaktion zufällig und spontan andere Personen hinzu, stört es den Forschungsprozess, wenn die stattfindenden Interaktionen durch die Einholung einer Einwilligung von diesen neuen Personen unterbrochen werden müssen. Ein unterschriebenes Formular der informierten Einwilligung schützt also nicht vor ethischen Herausforderungen, die sich im Laufe des Forschungsprozesses ergeben können. Ethische Reflexion bleibt im gesamten Forschungsprozess von Bedeutung. Hier bleiben die Bedürfnisse und Rechte sowohl der Forschungsteilnehmenden, aber auch der Forschenden permanent relevant (Kiegelmann 2002c). Von Unger et al. (2016) wenden diese Argumentation auch für die Soziologie und Ethnografie an und betonen, dass ethische Entscheidungen nicht mit dem informed consent zu Beginn von Forschungsbeziehungen abgetan werden können. Sie plädieren darüber hinaus für eine Freiwilligkeit von Ethikevaluationen der qualitativen Forschungsvorhaben. Ethische Reflexionen von Forschungsdesign und Forschungsdurchführung beziehen ausdrücklich nicht nur die Bedürfnisse von Forschungsteilnehmenden mit ein, sondern ein komplexes Netzwerk von Forschungsteilnehmenden, Forschenden, Gatekeepern und indirekt an der Forschung beteiligter Personen. Beispielsweise gehörte zur Ethikreflexion der Feldforschung von Schmallenbach in El Salvador die bewusste Gestaltung von Forschungsbeziehungen und Kontakten zu Gatekeepern in einem sozialen Raum, der für viele der dort lebenden und arbeitenden Menschen lebensbedrohlich war (Schmalenbach und Kiegelmann 2018).
2.2
Freiwilligkeit
Immer dann, wenn Forschung im Kontext von sozialen Gruppen stattfindet, in denen zwischen den Beteiligten Abhängigkeitsbeziehungen bestehen, wird der Begriff der Freiwilligkeit unscharf. Dies gilt insbesondere für die Arbeit in sozialen Organisa-
234
M. Kiegelmann
tionen. Selbst wenn die Personen einer Forschungsteilnahme zustimmen, ist der Grad der Freiwilligkeit unter Berücksichtigung von möglichem Gruppendruck oder hierarchischen Abhängigkeitsbeziehungen zumindest kritisch zu hinterfragen. Ist die Einwilligung zur Teilnahme an einer Forschung einmal erfolgt und sind die Daten gesammelt und veröffentlicht, können Forschungsteilnehmende ihre Zustimmung in der Regel nicht mehr einfach zurückziehen. Denn spätestens in Zeiten des Internets können einmal veröffentlichte Informationen nicht mehr aus dem Umlauf zurückgenommen werden. Einmal veröffentlichte Daten entziehen sich also der Kontrolle der Autor/innen, selbst wenn ab einem bestimmten Zeitpunkt die weitere Verbreitung abgebrochen wird.
2.3
Vermeidung von Schaden
In der Forschung kann es vorkommen, dass Forschungsteilnehmer/innen, ggf. sogar die Forschenden selbst, Schaden nehmen (McCosker et al. 2001). Eine konstruktive ethische Reflexion kann schon in der Phase der Erstellung von Forschungsdesigns helfen, potenzielle Auswirkungen der Art und Weise, wie Forschende in qualitativer Sozialforschung Beziehungen eingehen, verantwortlich zu planen (Kiegelmann 2002a). Ziel von qualitativer psychologischer Forschung sind häufig Fragestellungen, bei denen Menschen zur Selbstreflexion eingeladen und angeregt werden, eigene Selbsttäuschungen zu erkennen und zu überwinden. Geschieht dies innerhalb von Forschungsbeziehungen mit vulnerablen Populationen, ohne dass gleichzeitig für eine Vermittlung von ggf. benötigter psychologischer Betreuung und Begleitung gesorgt wird, kann bleibender Schaden entstehen. Zudem kann nicht immer vorhergesehen werden, welche Dynamiken sich im Forschungsverlauf entwickeln. Wird innerhalb bestimmter sozialer Gruppen geforscht, kann es passieren, dass durch die Intervention in der Gruppe Themen angesprochen werden, die vorher tabuisiert waren, wodurch nun offene Konflikte ausgelöst werden können. Auch Personen aus dem Umfeld der Beforschten, die keinen direkten Kontakt zum Forschungsteam haben, können Nachteile dadurch erleiden, dass sich ihre Bezugspersonen durch die Beziehung zum Forschungsteam verändern. Der potenzielle Schaden für gar nicht antizipierte Forschungsteilnehmende ist im Vorhinein schlecht zu benennen und folglich auch nicht auszuschließen. Nespor und Groenke (2009) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Individuen und soziale Gruppen auch vom Fehlen von Forschung zu ihren Problemen berührt werden können. Die Frage der Reichweite von Forschungsbeziehungen ist also ebenso ethisch zu reflektieren. Herausforderungen aufseiten von Forschenden illustriert Tietel (2000) beispielhaft, indem er komplexe Prozesse von Enttäuschung und Abwertung der Kompetenz der Forschenden in einem qualitativ-psychologischen Forschungsprojekt diskutiert. Kommt es in einer Forschungsbeziehung zu Irritationen und Verletzungen der beteiligten Personen, steht die Zumutbarkeit der Interaktion infrage. Es entsteht eine Situation von hoher ethischer Brisanz.
Forschungsethik
2.4
235
Täuschung
Grundsätzlich ist Täuschung eher ein Phänomen, das in Bezug auf quantitative Studien diskutiert wird (Hertwig und Ortmann 2008). Sie ist dort gewollt, wenn versucht wird zu vermeiden, dass Untersuchungsteilnehmer/innen ihr Verhalten aufgrund der Kenntnis der Forschungsfragen beispielsweise im Sinne von sozialer Erwünschtheit anpassen. Ethisch ist die gezielte Täuschung von Proband/innen fragwürdig und wird auch von quantitativ orientierten Psycholog/innen kontrovers diskutiert (Lindsey 1984). Schließlich stehen Informationspflicht für die informierte Einwilligung und Täuschung im Widerspruch. Obwohl Täuschung in der Sozialforschung höchst umstritten ist und häufig abgelehnt wird, können sich qualitative Psycholog/innen nicht einfach auf einem Vorteil von täuschungsfreier Forschung ausruhen. Denn es kann auch in qualitativen Untersuchungen sinnvoll und wichtig sein, dass Forschende ihr Gegenüber bezüglich der „eigentlichen“ Ziele und Analyseschritte der Forschung im Unklaren lassen. Schon allein, um Forschungsbeteiligte nicht durch die eigene Wortwahl für bestimmte Phänomene zu beeinflussen, werden Interviewfragen oft sehr offen und damit aber auch unpräzise in Bezug auf die Forschungsabsichten gestellt. Dies kann beispielsweise bei der Biografieforschung der Fall sein, wo die Interviewten ihre Geschichte ganz unbeeinflusst von den Interviewer/innen erzählen sollen. Duncombe und Jessop (2002) sprechen in diesem Zusammenhang von geheuchelter Freundschaft. Hier ist sorgfältig und verantwortungsbewusst abzuwägen.
2.5
Anonymität
Vollständige Anonymität zuzugestehen, ist nicht empfehlenswert, weil solch ein Versprechen sehr schwer einzuhalten ist. Besser ist es, Forschungsteilnehmenden eine vertrauliche Behandlung von Daten zuzusagen. In einigen Ländern bestehen z. B. Gesetze über eine Meldepflicht für den Fall, dass sich ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch von Minderjährigen ergibt. Psycholog/innen, die dieser Meldepflicht unterliegen, machen sich strafbar, wenn sie solchen Hinweisen nicht nachgehen – ob sie Anonymität zugesichert haben oder nicht. Forscher/innen haben durch ihre Tätigkeit in der Wissenschaft kein Recht auf Zeugnisverweigerung und können so in Konfliktfällen nicht wie Ärzt/innen auf einer vertraulichen Behandlung der Informationen bestehen (Hopf 2000, S. 595). Hopf (2000) weist außerdem darauf hin, dass der Schutz von personenbezogenen Daten in der qualitativen Forschung besonders aufwendig ist, weil beispielsweise die Anonymisierung nicht einfach durch das Weglassen von Namen und Orten erreicht werden kann; manchmal sind es Kleinigkeiten, die eine Person tatsächlich oder vermeintlich identifizierbar machen: Ich wurde z. B. einmal von einer Forschungsteilnehmerin gebeten, ein Kleidungsstück ihrer Mutter unbedingt nicht zu nennen. Ohne diesen Hinweis wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dass ich ein identifizierendes Detail erwähnt hatte. Ähnlich können typische Redewendungen in ver-
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M. Kiegelmann
meintlich anonymisierten Daten einen Rückschluss auf die Identität von Sprechenden ermöglichen. Insbesondere aufgrund der ausführlichen Datenerhebung mit viel Raum für eigengewählte Formulierungen können in der Biografieforschung „typische“ Formulierungen einzelner Personen in den Daten auftauchen, die von den Forschenden als personenidentifizierend nicht leicht erkannt werden. Gegebenenfalls müssen in Interviewtranskripten Änderungen eingebracht werden, um die Vertraulichkeit der Aussagen zu schützen. Es gilt also, sorgfältig zu antizipieren, welche Risiken zur Identifikation von Teilnehmer/innen im Rahmen einer Forschung bestehen.
2.6
Ethikrichtlinien und Recht
Es ist selbstverständlich, dass Ethikrichtlinien für Forschungsprojekte mit dem bestehenden Recht abzugleichen sind. Die psychologische Forschung interessiert sich jedoch häufig auch für Milieus am Rande der Legalität. Sobald Regeln für Forschung, die ihre Grundlage in der westlich-rationalistischen Wissenschaft haben, auf das Recht von Ländern anderer kultureller und/oder religiöser Traditionen treffen, ergibt sich Konfliktpotenzial. Ziel der Forschenden muss es in diesen Fällen sein, Lösungen innerhalb des Forschungskonzepts zu finden, welche nationales Recht, Respekt vor unterschiedlichen kulturellen Traditionen und die Ziele der Forschung integrieren.
2.7
Objektivität und Selbstreflexion
Jenseits der Reflexion des Verhältnisses zwischen Forschenden und Beforschten erlaubt die transdisziplinäre Kooperation von Psychologie und philosophischer Ethik eine grundlegende Reflexion über die Bedingungen und Ziele empirischer Forschung. Vielen Ansätzen innerhalb der qualitativen Sozialforschung kommt das Verdienst zu, die Beziehungen zwischen Forschenden und Forschungsteilnehmer/ innen gezielt zu analysieren (s. zusammenfassend für die Ausgaben der Zeitschrift FQS4 zum Thema Subjektivität und Selbstreflexivität Mruck und Breuer 2003). Die explizite Offenlegung eigener Vorannahmen und der ihnen zugrunde liegenden Wertvorstellungen ist kennzeichnend für viele qualitativ-empirische Studien (Maxwell 2013). Redwood und Todres (2006) beispielsweise legen einen Prozess ethischer Entscheidungsfindung in qualitativer Forschung offen. Statt Objektivität der Forschung zu postulieren, um Gütekriterien zu erfüllen, hinterfragen viele qualitative Forscher/innen den Anspruch auf und das Streben nach Objektivität. Sie diskutieren das Phänomen der Selbstreflexivität und zeigen Möglichkeiten auf, die
4
http://www.qualitative-research.net/.
Forschungsethik
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subjektiven Perspektiven der Forschenden ausdrücklich für den Forschungsprozess nutzbar zu machen (Mruck und Breuer 2003). Die Frage nach einer Alternative zu den in quantitativen Studien verwendeten Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität wurde und wird ausführlich diskutiert (Flick 2010). Maxwell (2013) schlägt vor, zur Validitätssicherung qualitativer Forschung die eigenen Interessen selbstkritisch zu prüfen. Lather (2008) geht noch einen Schritt weiter, wenn sie das kritische Hinterfragen der eigenen Perspektive als genuinen Prozess der qualitativen Forschung gerade dann als konstruktiv einschätzt, wenn der eigene Standpunkt hierbei aufgelöst wird. Sie spricht hier von einer Methode des getting lost, also der ausdrücklichen Infragestellung der eigenen, bisher vertrauten Denkweisen und Selbstverständlichkeiten.
2.8
Prozessethik
Wenn Gutachten aus Ethikkommissionen Voraussetzung für die Einreichung von Anträgen auf Forschungsgelder sind oder positive Ethikvoten für die Veröffentlichung von Manuskripten verlangt werden, kann Forschungsethik leicht als Instrument von politisch motivierter Ressourcenverteilung missverstanden werden (Roth 2004). Stattdessen bietet jedoch eine transdisziplinäre Zusammenarbeit von Psychologie und Ethik die Chance einer sinnvollen Zusammenarbeit. Konstruktiv ist hierbei, Ethik auch in Bezug auf Entscheidungsprozesse und -verfahren zu reflektieren (Gahleitner und Kiegelmann 2005; Mieth 2004; Welch 1992). Ähnlich wie im Zusammenspiel von quantitativer und qualitativer psychologischer Diagnostik kann auch zwischen prozessbezogener und inhaltlicher ethischer Reflexion unterschieden werden. Moral kann auf statischen Inhalten und Normen aufbauen (normatives Denken bezüglich konkreter Wertvorstellungen) oder aber Ethik kann Prozesse menschlichen Erlebens in den Blick nehmen und unterstützen. Ziel einer Prozessethik ist es, Entscheidungswege zu reflektieren und festzulegen. So ist es möglich, auch bei unerwarteten ethischen Herausforderungen Entscheidungen zu fällen, selbst wenn für die konkrete Frage noch keine Verhaltensregel vorgegeben ist. Wenn solche Vorteile von Prozessethik bei der Erstellung von Forschungsdesigns genutzt werden, können schon in der Planungsphase Verfahren vorausschauend eingeplant werden, mit denen im Forschungsprozess ggf. auftretende ethische Herausforderungen begegnet werden kann Prozesse stehen im Mittelpunkt qualitativer Forschung und unterscheiden sich vom Vergleich von Varianzen als zentraler Analyse in quantitativer Forschung (Maxwell 2013). Auch in einer Ethik als Theorie über Prozesse der Entscheidungsfindung stehen Prozesse im Mittelpunkt (Mieth 2004). In der wissenschaftlichen Ethik wird in diesem Zusammenhang zwischen Moral als inhaltsbezogen und Ethik als entscheidungsprozessbezogen unterschieden (Hübner 2014). Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit bietet sich somit an, sowohl für die Arbeit von Ethikkommissionen, als auch deren Überprüfung (Scherzinger und Bobbert 2017).
238
2.9
M. Kiegelmann
Interdisziplinärer Diskurs zwischen Philosophie und Psychologie
Wie fruchtbar die große inhaltliche Nähe zwischen philosophischer Ethik und Psychologie sein kann, zeigt sich beispielhaft in der Moralpsychologie. Aufbauend auf Kant hat sich Kohlberg mit der Entwicklung von moralischen Urteilen befasst (Kohlberg 1981) und seine theoretischen Grundannahmen zum Konzept von Moralentwicklung gehen zurück auf Piagets (1972) Erklärungen zur Kognitionsentwicklung. Komplexes moralisches Denken zeichnet sich bei Piaget und Kohlberg durch die Freiheit von Fremdbestimmung und durch Autonomie aus (Kohlberg et al. 1996). Gilligan (1999) entwickelte die theoretischen Grundannahmen von Kohlberg und Piaget weiter. Sie sieht bei Kohlberg die grundlegende Eingebundenheit von Menschen in soziale Bezüge in der Betonung von Autonomie als Entwicklungsziel vernachlässigt. Diese Verkürzung kritisiert sie als Ausdruck einer unhinterfragten Übernahme von westlichen Werten, insbesondere Autonomie und Streben nach Unabhängigkeit stünden für die geringe Reflexion von soziokulturell bedingten Annahmen aufseiten der Forschenden (Gilligan 1999; Kiegelmann 2009). Übertragen auf die forschungsethische Diskussion unterstützt Kohlbergs Autonomiegedanke die wissenschaftliche Zielperspektive, sich frei von Zwängen z. B. durch theoretische Schulenbildungen oder unabhängig von inhaltlichen Ergebniswünschen von Geldgebern bewegen zu können. Gilligans Betonung von Beziehungen und sozialer Eingebundenheit, angewendet auf die Ethikdiskussion, verweist darauf, dass Forschungsbeziehungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene reflektiert werden müssen. Die psychologisch-philosophische Lehre der Moralentwicklung kann also dazu beitragen, die Forschungsprojekten zugrunde liegenden Wertvorstellungen und Forschungsziele kritisch zu hinterfragen, auch beispielsweise hinsichtlich ihrer impliziten Perspektiven auf Entwicklungsziele. Die genannten Beispiele zeigen, dass die ethische Betrachtung von qualitativer Psychologie für jedes spezifische Forschungsprojekt eigens durchzuführen ist und schlecht mithilfe von einfachen, generalisierten Wertsetzungen gelöst werden kann.
3
Zentrale Diskussionen
3.1
Ethik als Herausforderung nicht nur vor der Empirie
In Deutschland wird die Einhaltung von ethischen Richtlinien zunehmend institutionell überprüft. So verlangt beispielsweise die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) für Projektanträge bei Forschungen am Menschen das Einreichen eines Ethikvotums. Ethikkommissionen in den großen Standesorganisationen haben Richtlinien für Forschung und psychologische Praxis verfasst.5 Sie sind mit weit5
https://www.dgps.de/fileadmin/documents/Empfehlungen/berufsethische_richtlinien_dgps.pdf. Zugegriffen am 10.09.2017.
Forschungsethik
239
reichenden Kompetenzen ausgestattet und können bei Verstößen gegen die EthikCodes Mitglieder ausschließen oder Forschungsgenehmigungen verweigern. Da die einzelnen Hochschulen mittlerweile eigene Kommissionen einrichten, um Ethikvoten für Forschungsanträge abgeben zu können, stellt die Deutsche Gesellschaft für Psychologie Musterordnungen für die Einrichtung von örtlichen Ethikkommissionen zur Verfügung.6 Ethikkommissionen sind jedoch aus verschiedenen Gründen auch umstritten: Wird ein so wichtiger Aspekt wie der der Ethik in der Forschung an Institutionen mit erheblichen Befugnissen delegiert, kann ein Klima der Kontrolle entstehen, das eher vorauseilenden Gehorsam fördert als zur kritischen Auseinandersetzung oder zum transdisziplinären Dialog mit Theorien und Erkenntnissen aus der philosophischen Ethik anregt. Die bürokratischen Abläufe können wichtige Energie verbrauchen. Zudem können Ethikkommissionen nur dadurch, dass sie Forschungsdesigns überprüfen und Forschung genehmigen, letztlich keineswegs sicherstellen, dass ein Forschungsprojekt tatsächlich nach ethischen Standards durchgeführt wird. Ähnlich kritisch sind Checklisten zum Thema, in denen beispielsweise der informed consent gefordert wird. Solche Listen können suggerieren, dass der Komplex Forschungsethik zu einem bestimmten Punkt, meist zu Beginn der Forschung, „abgehakt“ werden kann. Ethische Herausforderungen sind jedoch kontextgebunden und nicht auf die Forschungsplanung zu begrenzen. Beispielsweise berichten Mugisha et al. (2011) aus Norwegen am Beispiel eine Studie über kultursensible ethische Herausforderungen, die im Verlauf ihrer qualitativen Studie über Einstellungen zu Suizid in Uganda entstanden sind. Rippe (2007) weist darauf hin, dass politische Entscheidungen zur Einrichtung von Kommission in den jeweiligen sozialen Kontext eingebunden sind. So deckten in den 1960- und 1970er-Jahren Medien in den USA medizinische Versuche an Afroamerikaner/innen auf und trafen bei einer für Rassismus sensibilisierten Öffentlichkeit auf Gehör. Rippe führt aus, wie soziale Proteste mit dazu beitrugen, dass Ethikkommissionen in der Wissenschaft eingeführt wurden. Weil das Interesse qualitativ-forschender Psycholog/innen jedoch auf die psychischen Prozesse von Individuen in den jeweiligen sozialen Kontexten (insbesondere hierbei auf das subjektive Erleben) gerichtet ist, sind sie auf das Vertrauen der Forschungsteilnehmenden angewiesen. Forschungsethische Überlegungen beim Design und während der gesamten Durchführung von Untersuchungen bilden deshalb eine Grundlage für aussagekräftige Daten und Analysen und tragen so zur Qualität der Forschungsergebnisse bei. So wenig es ausreicht, das Thema Ethik mittels Kommissionen zu erledigen, so wenig zielführend wäre es zu versuchen, diese Instrumente zu umgehen. Vielmehr sollten Forschende die Chancen einer konstruktiven Auseinandersetzung mit und um Ethik über den gesamten Forschungsprozess nutzen.
6
https://www.dgps.de/index.php?id=188. Zugegriffen am 10.09.2017.
240
3.2
M. Kiegelmann
Machtgefälle
Das Machtgefälle zwischen Forschenden und Beforschten ist seit Hippokrates ein Thema. Die sozialen Bewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben es verstärkt in den Fokus genommen. Neben den Bedingtheiten der Rollenzuordnung hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass auch die soziale und kulturelle Verwurzelung der Forschenden Macht induzieren können. Insbesondere soziale Strukturen mit ungleichen Ressourcenverteilungen und Diskriminierungserfahrungen bei den beteiligten Personen bedürfen einer kritischen Bezugnahme. Ein möglicher Weg damit umzugehen, ist der Versuch, das Machtgefälle zu reduzieren oder gar zum Verschwinden zu bringen. Vertreter/innen der kritischen Psychologie beispielsweise messen der subjektiven Perspektive von Forschungsteilnehmenden eine zentrale Rolle bei. Statt bestehende Machtunterschiede zu verfestigen, laden sie Forschungsteilnehmende zur aktiven und verantwortlichen Teilhabe an den Forschungsprozessen ein. Rückmeldungen der Forschungsteilnehmenden werden gezielt zur kommunikativen Validierung der Ergebnisse eingesetzt (Held 1989). Manche Anthropolog/innen beschreiten den Weg des going native. Going native bedeutet hier, dass Forschende im Verlauf z. B. einer Feldforschungsstudie aufhören, Personen oder eine bestimmte soziale Gruppe nur zu beobachten und stattdessen versuchen, Mitglied der vormals beobachteten Gruppe zu werden. Das Phänomen des going native ist auch für qualitative Studien in der Psychologie denkbar. Jedoch halte ich es aufgrund der Möglichkeit eines späteren Wiederausstiegs aus der Gruppe für unmöglich, potenzielle Machtgefälle aufzuheben, selbst wenn die forschende Person zum Gruppenmitglied wird. Die ehemaligen Psycholog/innen verfügen auch weiterhin über potenziellen Zugang zu ihren ursprünglichen sozialen und gesellschaftlichen Netzen und werden den Mitgliedern der beforschten Gruppe daher nie ganz gleich. Es gibt Ansätze in der qualitativen Psychologie, bei denen sich die Rollen von Forschenden und Erforschten sehr stark überlappen, genannt sei hier die Aktionsforschung (Heiner 1988; Lewin 1946) oder parteiliche Forschung, die stark in soziale Bewegungen eingebunden ist (etwa femnistische Ansätze, dazu Sieben 2010), Autoethnografie (in der die Forschenden sich selbst gleichzeitig zu Forschungsteilnehmenden machen, Ellis et al. 2010) oder Arbeiten aus dem Zwischenbereich von Wissenschaft und darstellender Kunst, der sogenannten performativen Sozialforschung (Gergen und Gergen 2010; Mey 2020). Aufgrund der verschiedenen Perspektiven von Forschenden und Forschungsteilnehmenden gehe ich allerdings davon aus, dass das Überwinden von Differenzen für die meisten Forschungsprojekte nur schwer möglich sein wird und plädiere daher für ein Offenlegen von Unterschieden (Kiegelmann 2002b). Machtunterschiede können nicht durch starke Identifizierung mit Forschungsteilnehmenden bis hin zum going native überwunden werden, denn die Ressource für einen potenziellen Ausstieg aus dem beforschten Feld verhindern völlige Gleichstellung von Forschenden und Beforschten. Selbst wenn Forschende aus einer sozialen Bewegung heraus ihre Forschungsfragen entwickeln und sich mit der Forschung für die Belange bestimmter Gruppen einsetzen, entfernen
Forschungsethik
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sie sich eben durch ihre Forschungstätigkeit auch weg von ihrer ursprünglichen Gruppe. Ressourcen wie Forschungsgelder, Stipendien oder akademische Titel dienen hier sowohl der „beforschten“ sozialen Bewegung, führen aber gleichzeitig auch dazu, dass die Forschenden Privilegien aus akademischen Netzwerken erhalten, die sie von eben dieser sozialen Bewegung distanzieren. Die Herausforderung besteht hierbei darin, Machtgefälle und Ressourcenungleichverteilung weitest möglich abzubauen und zu vermeiden. Trotzdem bestehende Ungleichheiten sind jedoch aktiv offenzulegen statt zu verharmlosen oder zu verschweigen.
3.3
Forschen und Helfen
Immer dann, wenn Forschung dort stattfindet, wo Psycholog/innen auch helfend tätig sind, also etwa in der klinischen, der Arbeits- und Organisations- und der pädagogischen Psychologie, kann es zu einem Konflikt zwischen forschendem Handeln und Helfen kommen. Gerät ein/e Forscher/in in einen Interessenskonflikt aufgrund der verschiedenen Rollen, die Helfen und Forschen erfordern, erscheint es geboten, die Situation abzuwägen und ggf. die Forschung zu unterbrechen und sich zunächst ganz auf die Anforderungen des Helfens zu konzentrieren, um Notsituationen abzuwenden. Beispielsweise können Forschungsteilnehmende durch ihre Mitarbeit in einem Forschungsprojekt an ihre psychischen Grenzen kommen und einen Bedarf an psychotherapeutische Betreuung entwickeln. Diesen Bedarf kann eine Forscher/in jedoch nicht decken. Statt sich unbeirrt mit der Forschung weiter zu beschäftigen, ist es für Forscher/innen in einer solchen Situation sinnvoll, zunächst die hilfsbedürftigen Personen an kompetente Psychotherapeut/innen zu vermitteln (Gahleitner und Kiegelmann 2005; Kiegelmann 1997). In diesem Zusammenhang bietet beispielsweise das Projekt „kultursensible sexuelle Orientierung“ der Türkischen Gemeinde Baden Württemberg die Möglichkeit, dass Interviewteilnehmer/innen ihre Forschungsteilnahme beenden oder zumindest unterbrechen, um ein Beratungsgespräch mit einem bereitstehenden qualifizierten Psychotherapeuten in Anspruch zu nehmen.7 Gerade bei sensiblen Themen wie der Reflexion von psychischen Belastungen im Zusammenhang mit sexueller Vielfalt und Migration kann es sinnvoll sein, Hilfe vor Datensammlung zu stellen. Ich plädiere für eine strikte Trennung von Forschen und Helfen in der Psychologie und schlage vor, potenzielle Interessenkonflikte zwischen Forschungsteilnehmenden und Forschenden bei der Gewinnung von Forschungsteilnehmenden ausdrücklich mit zu beachten.
7
https://www.tgbw.de/wp-content/uploads/2018/07/Berichto%CC%88bungsheft_Andrejistander sundSalmaliebtSandra_Onlineversion_Juni2018.pdf%20). Zugegriffen am 24.11.2019.
242
3.4
M. Kiegelmann
Kontextgebundene Ethikdiskussion
Forschung in unvertrauten sozio-kulturellen Räumen stellt nochmals erhöhte ethische Anforderungen an die Forschenden und ihre Designs. Gemeint sind hier nicht nur unterschiedliche Milieus und Ethnien, sondern alle sozialen Gruppen, die sich durch Wertesysteme konstituieren, die von denen der Forschenden abweichen können. Das können Straßenkinder oder Erzieher/innen sein, aber auch Angehörige alter Adelsfamilien oder Soldat/innen. Insbesondere Untersuchungen über Menschen am Rande der jeweiligen Gesellschaft werden oft mit qualitativen Methoden durchgeführt. Dies liegt auch daran, dass Techniken der Gewinnung von Forschungsteilnehmer/innen (Sampling) der quantitativen Psychologie oft kaum in der Lage sind, Forschungskontakte zu sogenannten vulnerablen Populationen aufzubauen (Lee 1993, Kap. 4). Denzin (2003) kritisiert, dass die Grundlagen ethischer Entscheidungsfindungen insbesondere in fachwissenschaftlichen Ethikkommission in den USA von westlicher, d. h. rationalistischer, von den Prinzipien der Aufklärung geprägter Kultur bestimmt sind und damit den Entscheidungstraditionen anders geprägter Kulturen nicht gerecht werden können. In Anlehnung an die Argumentation von Christians (2000) empfiehlt er, die Interessen und Traditionen von Forschungsteilnehmenden und Kulturen ausdrücklich in die ethischen Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen. Nimmt man jedoch die normative Festlegung von inhaltlichen moralischen Werten kritisch in den Blick, erscheint es mir fraglich, ob der erwünschte Effekt, in diesem Fall einer Entkolonialisierung der verwendeten Entscheidungsprozesse, durch einfache Addition von moralischen Inhalten und Werten weiterer Kulturen erreicht werden kann. Eine schlichte Addition von Werten wäre jedenfalls nicht in Denzins Sinne. Furness et al. (2016) stellen exemplarisch dar, wie indigene ethische Überlegungen in die Forschungsbeziehungen und Forschungspraxis in Kontext von Maori in Neuseeland in postkolonialer Psychologie eingebracht werden können. Sie betonen, dass die intensive Auseinandersetzung mit indigenen ethischen Entscheidungstraditionen ein wesentlicher Bestandteil einer postkolonialen Forschungstätigkeit ist.
4
Ausblick: Stand und Perspektiven
Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Beachtung von Forschungsethik empirische Arbeiten stärken kann, insbesondere, wenn ethische Überlegungen bereits in das Forschungsdesign eingehen. Eine aktive Auseinandersetzung mit Forschungsethik in qualitativ-psychologischer Forschung ist zwar eine aufwendige, transdisziplinäre Aufgabe, die sich aber im Verlauf der Forschungsdurchführung darin auszahlt, dass Entscheidungswege bei vorhersehbaren und vor allem unvorhersehbaren ethischen Herausforderungen vorab geklärt werden konnten. Die Stärke einer bewussten Auseinandersetzung mit Forschungsethik ist, dass ein unbedarftes Hineinstolpern in moralische Dilemmata vermieden werden kann. Manche Forscher/ innen brechen zwar aufgrund von sich ergebenden ethischen Problemen ihre For-
Forschungsethik
243
schung ab und veröffentlichen dann lediglich eine Beschreibung von aufgetretenen Problemen. Durch solch einen Bericht können zwar die Veröffentlichungslisten der Autor/innen erweitert werden, die ethischen Probleme, die zum Scheitern einer Forschung beigetragen haben, werden jedoch nicht gelöst. Beispielsweise ist der Inhalt des Berichts von Millstein et al. (1994) vor allem eine Beichte über eine Forschung, die aufgrund von unethischem Verhalten abgebrochen wurde, statt eines wissenschaftlichen Beitrags. Den Schaden tragen die Forschungsteilnehmenden, wenn die Forschenden sich aus dem Feld herausziehen und sich lediglich der Veröffentlichung ihrer Erfahrungen widmen. Hindernisse für eine angemessene Berücksichtigung forschungsethischer Belange resultieren vor allem aus den verwaltungstechnischen und forschungspolitischen Rahmenbedingungen. Zum einen kann der Versuch der Vereinfachung durch Nutzung von Checklisten eine reflektierte Auseinandersetzung mit ethischen Lösungsprozessen und Entscheidungswegen überlagern, wenn nicht sogar verhindern. Zum anderen besteht die Gefahr, dass Ethikkommission mit dem Genehmigungsverfahren auch die Verteilung von Ressourcen steuern und dabei Kriterien ansetzen, die wenig mit Ethik zu tun haben. Zu wünschen bleibt eine ausdrückliche Schulung von Nachwuchswissenschaftler/innen in Grundgedanken philosophischer Ethik, die dann von den Psycholog/ innen als Basis für die Erlangung der Kompetenz zur Forschungsplanung und Forschungsdurchführung genutzt werden kann, in der ethische Entscheidungsprozesse ein immer mitlaufendes Querschnittsthema sind.
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Gütekriterien qualitativer Forschung Uwe Flick
Inhalt 1 Einleitung: Entstehungsgeschichte und disziplinäre Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Diversifizierung qualitativer Forschung als Kontext der Kriteriendiskussion . . . . . . . . . . . . . 4 Anwendungsfelder als Bezugspunkt für die Bewertung qualitativer Forschung . . . . . . . . . . 5 Neuere Vorschläge für Kriterien in der qualitativen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Checklisten und Agenden als Bewertungsansatz qualitativer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Zur Bestimmung der Qualität qualitativer Forschung werden verschiedene Ansätze verfolgt, z. B. die Anwendung „klassischer“ Kriterien (Validität, Reliabilität, Objektivität) oder deren Reformulierung an den Prinzipien qualitativer Forschung orientiert, für die als Beispiel die kommunikative Validierung behandelt wird. Darüber hinaus werden neue methodenangemessene Kriterien formuliert, für die als Beispiel die Glaubwürdigkeit qualitativer Forschung diskutiert wird. Vorschläge für Standards nicht standardisierter Forschung sind ein weiterer Ansatz. Die Diversifizierung qualitativer Forschung und die Ausrichtung an Anwendungsfeldern (z. B. Gesundheitspsychologie oder Evaluation) werden als Bezugspunkte für die Bewertung qualitativer Forschung behandelt. Abschließend werden neue Vorschläge für Kriterien, eine Systematisierung von
U. Flick (*) Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Arbeitsbereich Qualitative Sozial- und Bildungsforschung, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: uwe.fl[email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_30
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vorliegenden Checklisten sowie die Formulierung einer Agenda für die Bewertung qualitativer Forschung vorgestellt. Als Fazit ergibt sich, dass die vorliegenden Ansätze zur Formulierung von Kriterien ihre Aufgabe nur begrenzt erfüllen können, weshalb Strategien des Qualitätsmanagements in der qualitativen Forschung weiter diskutiert werden sollten. Schlüsselwörter
Kriterien qualitativer Forschung · Kommunikative Validierung · Checklisten zur Bewertung qualitativer Forschung · Grenzen von Kriterien qualitativer Forschung · Qualitätsmanagements in der qualitativen Forschung
1
Einleitung: Entstehungsgeschichte und disziplinäre Einordnung
1.1
Kriteriendiskussion als durchgängiges Thema
Der Ansatzpunkt und die Vorgabe für diesen Beitrag sind Gütekriterien qualitativer Forschung in der Psychologie. In anderen Kontexten wird zwar mittlerweile ein breiterer Zugang zu der im Hintergrund virulenten Fragestellung gewählt. So beschäftigt sich Seale (1999) explizit mit der Qualität qualitativer Forschung,1 und diese wird auch im Fokus des Qualitätsmanagements in der Forschung weiterverfolgt (Flick 2018). Im Kontext qualitativer Forschung in der Psychologie wird jedoch der Ansatzpunkt der Kriterien häufiger gewählt (Steinke 1999, 2019). Dies und die nach wie vor im Raum stehende und auch von außen an die qualitative Forschung herangetragene Frage nach Kriterien lassen es sinnvoll erscheinen, in diesem Beitrag die Problematik der Qualität qualitativer Forschung unter der Überschrift und mit dem Fokus „Kriterien“ zu behandeln. Die Frage nach der Bewertung bzw. Qualität qualitativer Forschung stellt sich seit Langem (vgl. die relativ frühen Diskussionen, die in dem Band von McCall und Simons (1969) zusammengefasst wurden). Nachdem die auch in der Psychologie vorliegenden phänomenologischen bzw. verstehenden Forschungsansätze zunächst durch die Entwicklung standardisierter Ansätze zurückgedrängt worden waren und qualitative Forschung dann in den 1970er-Jahren wieder an Bedeutung gewonnen hatte, wurde die Qualitätsfrage immer wieder neu gestellt. Die Auseinandersetzung mit der Qualität qualitativer Forschung vollzieht sich vor dem Hintergrund eines
Siehe hierzu auch die Debatte zu „Qualitätsstandards qualitativer Sozialforschung“ in der Zeitschrift „Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research“, http://www.qua litative-research.net/index.php/fqs/pages/view/quality.
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weitgehenden Konsenses in der quantitativen Forschung über die zu erfüllenden „klassischen“ Gütekriterien Reliabilität, Validität und Objektivität, die dort für alle Ansätze als akzeptiert anzusehen sind. Inwieweit dieser Konsens auf die sozialwissenschaftliche Forschung insgesamt – also einschließlich qualitativer Ansätze – übertragen werden kann, ist eine Kernfrage der Diskussion.
1.2
Kriteriendiskussion als spezifisches Thema der Psychologie
In der Psychologie stellt sich die Frage der Kriterien bzw. Qualität qualitativer Forschung noch einmal besonders zugespitzt, da die Psychologie sich durch ihr elaboriertes Methodenverständnis von den Nachbar-Disziplinen abgrenzt. Da hier Gütekriterien nicht nur in Bezug auf die Haltbarkeit von Forschungsergebnissen, sondern auch in Bezug auf die Verlässlichkeit diagnostischer Entscheidungen auf der Basis von Forschungsinstrumenten (z. B. Tests) relevant werden, hat sich in der Psychologie der Kriteriendiskurs besonders stark entwickelt (s. Steinke 1999 als Überblick für die qualitative Forschung). Vor diesem Hintergrund ist in der Psychologie eine eigene, z. T. sehr spezifische Diskussion entstanden, gerade wenn es um die Fragen der Geltungsbegründung und Qualitätssicherung qualitativer Forschung geht, die von den anderen Disziplinen in der Landschaft qualitativer Forschung nur begrenzt aufgegriffen wird. Dabei haben sich eigenständige Ansätze wie das „Forschungsprogramm Subjektive Theorien“ von Groeben und Scheele (z. B. 1982) herausgebildet. In solchen Kontexten wird die Frage der Kriterien in besonderer Weise beantwortet.
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Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen
2.1
Subjektive Theorien als spezifisches Thema qualitativer Forschung in der Psychologie
Qualitative Forschung in der Psychologie hat sich mit besonderem Interesse Fragen der Subjektivität und insbesondere der Rekonstruktion von Alltagswissen gewidmet. Hierbei lässt sich eine Entwicklungslinie von Kellys (1955) Idee des „Menschen als Wissenschaftler“ bis hin zum „Forschungsprogramm Subjektive Theorien“ ziehen: Im Vordergrund steht die Frage, wie Individuen sich einen bestimmten Gegenstandsbereich erklären und welche Rolle solche Erklärungen für ihr Handeln spielen. Eine subjektive Theorie wird dabei verstanden als „ein Aggregat (aktualisierbarer) Kognitionen der Selbst- und Weltsicht mit zumindest impliziter Argumentationsstruktur, die eine (zumindest partielle) Explikation bzw. Rekonstruktion [. . .] in Parallelität zur Struktur wissenschaftlicher Theorien erlaubt“ (Groeben und Scheele 1982, S. 16). Bei der entsprechenden Forschung werden zur Datenerhebung v. a. Leitfadeninterviews eingesetzt.
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Anwendbarkeit der klassischen Kriterien
Inwieweit subjektive Sichtweisen, Alltagswissen (oder andere Gegenstände qualitativer Forschung) verlässlich ermittelt werden und darüber Aussagen mit einer ausreichenden Gültigkeit zum Untersuchungsthema getroffen werden können (um die Grundbedeutung von Reliabilität und Validität heranzuziehen), stellt sich als Frage für jede Untersuchung. Auch sollten im Sinne traditioneller Gütekriterien die erhobenen Daten und gezogenen Schlussfolgerungen in ausreichendem Maße unabhängig sein von der konkreten Person, die sie erhoben bzw. gezogen hat (als ganz allgemeine Bedeutung der Idee der Objektivität von Forschung). Wenn dies akzeptiert wird, ist das Problem eher, inwieweit die in anderen Zusammenhängen zur Beantwortung dieser Fragen verwendeten Kriterien sich mit den Besonderheiten bzw. Eigenschaften qualitativer Forschung vereinbaren lassen. Entsprechend diskutieren Steinke (1999) oder Kirk und Miller (1986) Reliabilität und Validität in ihrer Anwendbarkeit für qualitative Forschung. Zum einen wird dabei deutlich, dass die Reliabilität von Daten und Verfahren im traditionellen Sinne – als die Stabilität von Daten und Ergebnissen bei mehreren Erhebungen – für die Bewertung qualitativer Daten eher ungeeignet ist: Die identische Wiederholung einer Erzählung bei wiederholten narrativen Interviews ist eher ein Hinweis auf eine „zurechtgelegte“ Version als auf die Verlässlichkeit des Erzählten. Validität wird ebenfalls häufiger für die qualitative Forschung diskutiert (Kvale 1995). Kirk und Miller (1986), S. 21 fassen die Frage der Validität darin zusammen, ob die Forschenden sehen, was sie zu sehen meinen. Hier ergeben sich ebenfalls Probleme bei der unmittelbaren Anwendung klassischer Validitätskonzeptionen. Interne Validität wird etwa erhöht bzw. sichergestellt, indem ausgeschlossen werden soll, dass andere als die in der Untersuchungshypothese enthaltenen Variablen den beobachteten Zusammenhang bestimmen (z. B. Döring und Bortz 2016, S. 195). In diesem Verständnis liegen bereits die Probleme bei der Übertragung auf qualitative Forschung begründet: Interne Validität soll durch eine möglichst umfassende Kontrolle der Kontextbedingungen in der Untersuchung erhöht werden. Zu diesem Zweck wird die weitgehende Standardisierung der Erhebungs- bzw. Auswertungssituation angestrebt. Der dafür notwendige Grad an Standardisierung ist jedoch mit dem größten Teil der gängigen qualitativen Methoden nicht kompatibel bzw. stellt ihre eigentlichen Stärken infrage. Ähnlich lässt sich für die anderen Formen der Validität aufzeigen, warum sie nicht direkt auf qualitative Forschung übertragen werden können (Steinke 1999, Kap. 5). Objektivität wird als Kriterium auf qualitative Forschung eher selten angewendet. Von Madill et al. (2000) wird Objektivität ausschließlich an der Analyse qualitativer Daten festgemacht und mit der Frage, ob zwei Forschende zu gleichen Ergebnissen bei der Analyse vorliegender qualitativer Daten kommen und damit mit der „Konsistenz der Bedeutung durch die Triangulation der Ergebnisse zweier unabhängiger Forscher“ (Madill et al. 2000, S. 17) gleichgesetzt. Insgesamt findet sich zwar gelegentlich der Anspruch, qualitative Forschung müsse sich zumindest den Fragen stellen, die mit Konzepten wie Reliabilität und Validität (z. B. bei Morse 1999,
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S. 717) oder Objektivität (Madill et al. 2000) verknüpft sind. Jedoch wird die Anwendung klassischer Kriterien auf qualitative Forschung seit Längerem infrage gestellt, da „das ‚Wirklichkeitsverständnis‘“ beider Forschungsrichtungen dafür „zu unterschiedlich“ (Lüders und Reichertz 1986, S. 97) sei. Ähnliche Vorbehalte finden sich schon bei Glaser und Strauss (1979), die „bezweifeln, ob der Kanon quantitativer Sozialforschung als Kriterium [. . .] auf qualitative Forschung [. . .] anwendbar ist. Die Beurteilungskriterien sollten vielmehr auf einer Einschätzung der allgemeinen Merkmale qualitativer Sozialforschung beruhen – der Art der Datensammlung [. . .], der Analyse und Darstellung und der [. . .] Weise, in der qualitative Analysen gelesen werden.“ (Glaser und Strauss 1979, S. 92)
Diese Skepsis hat zu zwei Alternativen der Auseinandersetzung mit Gütekriterien in der qualitativen Forschung geführt: einerseits die Modifikation oder Reformulierung der Konzepte, andererseits Vorschläge, „methodenangemessene Kriterien“ (Flick 1987) zu entwickeln und diese an die Stelle von Kriterien wie Objektivität, Validität und Reliabilität zu setzen. Diese Diskussionen werden in der qualitativen Forschung über die Disziplingrenzen hinweg geführt etwa in der Soziologie, Erziehungswissenschaft oder Ethnologie, können aber auch für die Psychologie und ihre qualitative Forschung relevant werden.
2.3
Reformulierung herkömmlicher Kriterien
Die Reformulierung von Reliabilität im Sinne einer stärker prozeduralen Konzeption zielt darauf ab, das Zustandekommen der Daten so zu explizieren, dass überprüfbar wird, was Aussage noch des jeweiligen Subjekts ist und wo die Interpretation der Forschenden schon begonnen hat. Hierzu gehören etwa exakte und einheitliche Vorgaben, wie Interviews oder Gespräche transkribiert werden sollen (Kowall und O’Connell 2019) oder die Kennzeichnung von wörtlich wiedergegebenen Aussagen in Feldnotizen in Abhebung von Zusammenfassungen oder Paraphrasen durch die Forschenden. Schließlich soll sich die Reliabilität im gesamten Prozess durch dessen reflexive Dokumentation erhöhen (Seale 1999). Speziell in der Psychologie wird als eine Reformulierung der Validitätsbestimmung die Analyse der Interviewsituation ausgehend von Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns (1981) vorgeschlagen (Legewie 1987). Geltungsansprüche im Interview werden dabei differenziert in den Inhalt des Gesagten, die Angemessenheit der Beziehung und die aufrechte Selbstdarstellung der Interviewpartner/ innen. Validierung erfolgt über eine Analyse der Interviewsituation auf Auffälligkeiten und Verzerrungen und auf das Vorliegen eines Arbeitsbündnisses und einer nicht-strategischen Kommunikation. Ein Problem bei diesem Ansatz ist die (zumindest implizite) Annahme einer „richtigen“ bzw. „gültigen“ Version der Erzählung, wodurch sich die Validitätsfrage auf die Bestimmung der Abweichungen von dieser Version bzw. auf die Identifizierung von Hinweisen auf potenzielle Abweichungen („Verzerrungen“) reduzieren lässt.
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Kommunikative Validierung – das „Forschungsprogramm Subjektive Theorien“ als Beispiel
Die Zustimmung der Untersuchungsteilnehmer/innen nach Abschluss des Interviews – als kommunikative Validierung oder member checks (Lincoln und Guba 1985) bezeichnet – wird als eine weitere Form der Validierung diskutiert (für allgemeinere Diskussionen s. Terhart 1995, S. 388–393). Im eingangs erwähnten „Forschungsprogramm Subjektive Theorien“ von Scheele und Groeben wird dies zu einem ersten Ansatzpunkt der Validierung. Dabei gehen Scheele und Groeben davon aus, dass eine subjektive Theorie nach ihrer Rekonstruktion (mittels eines Leitfaden-Interviews) einerseits einer kommunikativen Validierung mit dem oder der Befragten unterzogen, andererseits aber auch einem „Validierungsexperiment“ (Wahl et al. 1983) durch standardisierte Beobachtung ausgesetzt werden sollte. Darin wird das „falsifikationstheoretische Wahrheitskriterium der externen Beobachtung, [das] die empirische Methodologie der heutigen Psychologie prägt“ (Scheele und Groeben 1988, S. 24), angewendet. Somit wird ein „qualitativ-interpretatives“ Verfahren zur Erhebung der subjektiven Theorie(n) (Scheele und Groeben 1988, S. 68) verwendet: Methodischer Zugang ist ein teilstandardisiertes Interview sowie eine „dialog-hermeneutische“ Lege-Technik. Dabei werden den Befragten ihre Aussagen noch einmal vorgelegt mit der Bitte, diese zu konsentieren (zu akzeptieren, ggf. zu modifizieren oder zurückzuweisen). Liegt die Zustimmung vor, wird dies als eine kommunikative Validierung der Interviewaussagen und damit der Daten durch die Befragten verstanden. Basis ist der Dialog-Konsens mit den Befragten. Der Gültigkeitsanspruch dieser Validierung wird auf die „Rekonstruktionsadädquanz“ beschränkt, nicht jedoch auf die eigentlich zu prüfende „Realitätsangemessenheit“ der subjektiven Theorie bezogen. Letzteres wird wiederum an der Frage festgemacht, ob die Befragten ihrer subjektiven Theorie entsprechend handeln. Um dies zu beantworten, wird „externe Beobachtung“ in einem standardisierten Design im Rahmen von „Korrelations-, Prognose- und Veränderungsstudien“ (Scheele und Groeben 1988, S. 24) eingesetzt. Im ersten Fall wird untersucht, ob sich zwischen den Bestandteilen einer subjektiven Theorie und beobachteten Verhaltensweisen Korrelationen ergeben, mit denen die Bestandteile der subjektiven Theorie im Handeln bestätigt werden können. Im zweiten Fall werden aus (Bestandteilen) der subjektiven Theorie Prognosen abgeleitet und es wird untersucht, ob diese sich im (zukünftigen) Handeln bestätigen. Im dritten Fall wird versucht, die subjektive Theorie gezielt (etwa durch Fortbildung etc.) zu verändern und daraufhin entsprechende Änderungen im Handeln nachzuweisen. In allen Fällen ist jedoch von vornherein festgelegt, dass das interpretative Verfahren und seine Ergebnisse – die rekonstruierte subjektive Theorie – einer Validierung unterzogen werden. Das Beobachtungsexperiment dient dabei der externen Validierung der vorangegangenen Rekonstruktion – es ist nicht nur zeitlich nachgeordnet, sondern auch von seinem Stellenwert her übergeordnet (Scheele und Groeben 1988). Ergeben sich Diskrepanzen, so werden diese einseitig ausgelegt – die vorangegangene Rekonstruktion der subjektiven Theorie ist damit falsifiziert. Nicht infrage stehen dabei jedoch Aussagekraft und Angemessenheit der Beobachtungs-
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daten. Damit ist jedoch die prinzipielle Zirkularität externer Validierung per VorabSetzung und nicht durch eine inhaltliche Begründung ausgeschaltet. Die Zirkularität bezieht sich auf die Tatsache, dass beim Rückgriff auf andere Methoden und Ergebnisse zur Validierung einer Methode und ihrer Ergebnisse immer unterstellt werden muss, dass die andere Methode valide Ergebnisse produziert hat. Um mittels Verhaltens-Beobachtung die rekonstruierten subjektiven Theorien zu verifizieren bzw. zu falsifizieren, muss man unterstellen, dass die Beobachtungsdaten valide und dem untersuchten Gegenstand gerecht geworden sind, um damit die angepeilte Entscheidung treffen zu können. Die andere Möglichkeit – dass die subjektive Theorie angemessen rekonstruiert ist, obwohl sie dem Falsifikationsversuch durch Verhaltensbeobachtung nicht standgehalten hat – schließen Scheele und Groeben per definitionem aus, indem sie die Verhaltensbeobachtung von vorneherein „überordnen“ und in diesem Fall die Validität nicht infrage stellen. Nun ließe sich einwenden, dass die Entscheidung, ob die Beobachtungsdaten valide sind, ebenfalls über den Rückgriff auf andere Methoden und Ergebnisse getroffen werden könnte. Doch damit verschiebt sich das Problem nur, da sich auch hier das Problem der ersten Validierungsschleife wiederholt: Der Rückgriff auf andere Methoden und Ergebnisse zur Validierung setzt voraus, dass diese valide sind etc. Solche Schleifen lassen sich prinzipiell fast unbegrenzt einführen, bis zum Schluss nur noch ein Außenkriterium übrig bleibt, für das es dann keine Möglichkeit zur Hinzuziehung weiterer Außenkriterien mehr gibt. Scheele und Groeben legitimieren ihre Vorab-Setzung und ihre Validitäts-Unterstellung für das gewählte Außenkriterium nicht zuletzt darüber, dass sie auf eine Methode zur Validierung zurückgreifen, die die „empirische Methodologie der heutigen Psychologie prägt“ (Scheele und Groeben 1988, S. 24). Damit werden ihre Ausführungen jedoch auch zum Beleg für die Feststellung von Wilson (1982), S. 502, dass „objektive Erkenntnis nicht aus Aussagen mit einem verbrieften Wahrheitsanspruch besteht, sondern aus dem, was eine gegebene wissenschaftliche oder gelehrte Gemeinschaft ihren Mitgliedern als ernstzunehmende Ausgangspunkte für ihre eigene Arbeit zumutet“. Ähnlich kritisiert etwa Terhart (1981) an der Umsetzung des Ansatzes von Scheele und Groeben bei Wahl et al. (1983), dass „eine festgestellte Deckung von Prognose und Handlung nicht mit Sicherheit die korrekte Rekonstruktion“ (Terhart 1981, S. 778) der subjektiven Theorie belegen könne, da diese durch den Forschungsprozess „in Aufbau sowie Inhalt“ verändert werde und damit keine „stabile Basis für Ableitungen und Prognosen vorhanden“ (Terhart 1981, S. 778) sei. Das heißt, damit die subjektive Theorie im skizzierten Validierungsprozess geprüft werden kann, muss sie künstlich festgeschrieben und „objektiviert“ werden – allein schon für die Durchführung der notwendigen Korrelationen. Für eine allgemeinere Anwendung solcher Strategien sind drei Fragen noch nicht befriedigend beantwortet: 1. Wie ist das methodische Vorgehen bei der kommunikativen Validierung zu gestalten, damit es den untersuchten Sachverhalten und der Sicht der Subjekte tatsächlich gerecht wird? 2. Wie lässt sich jenseits der Zustimmung der Subjekte die Frage der Geltungsbegründung weitergehend beantworten? Hierzu sind andere Qualitätsprüfungen notwendig, die kommunikative Validierun-
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gen ergänzen, auch wenn diese möglicherweise nicht den Vorschlägen von Scheele und Groeben entsprechen müssen. 3. Inwieweit sind die kurz behandelten Vorschläge für kommunikative Validierung auf andere Forschungsansätze übertragbar? (s. als Überblick Flick 1987) Die Versuche der Verwendung oder Reformulierung von Validität und Validierung haben insgesamt mit verschiedenen Problemen zu kämpfen: Die formale Analyse des Zustandekommens von Daten in der Interviewsituation beispielsweise sagt noch nichts über Inhalte und ihre angemessene Behandlung im weiteren Verlauf der Forschung aus. Das Konzept der kommunikativen Validierung bzw. von member checks ist mit dem Problem konfrontiert, dass die Zustimmung dort als Kriterium schwierig ist, wo die Sicht des Subjekts systematisch überschritten wird – in Interpretationen, die ins soziale oder psychische Unbewusste vordringen wollen oder sich gerade aus der Unterschiedlichkeit verschiedener subjektiver Sichtweisen ableiten. Die behandelten Reformulierungen des Validitätskonzepts zeichnen sich insgesamt durch eine gewisse Unschärfe aus, die der Forschungspraxis durch ihre generelle Problematisierung und Programmatik nicht unbedingt eine Lösung für die Frage der Geltungsbegründung anbietet. Als gemeinsame Tendenz ist jedoch eine Verlagerung von Validität zur Validierung und von der Beurteilung des einzelnen Schritts oder Bestandteils der Forschung zur Herstellung von Transparenz über den Forschungsprozess festzuhalten.
2.5
Formulierung alternativer, methodenangemessener Kriterien
Der dritte Ansatz der Bewertung qualitativer Forschung – neben der Anwendung klassischer Kriterien oder ihrer Reformulierung – ist die Suche nach alternativen, methodenangemessenen Kriterien. Dabei ist der Gedanke leitend, dass die Frage nach der Qualität grundsätzlich durch die Formulierung und Anwendung von Kriterien beantwortet werden kann und sollte, dass jedoch die klassischen Kriterien an den Charakteristika qualitativer Forschung und Methoden vorbeizielen. Lincoln und Guba (1985) propagieren Vertrauenswürdigkeit, Glaubwürdigkeit, Übertragbarkeit, Zuverlässigkeit und Bestätigbarkeit als Kriterien qualitativer Forschung, wobei das erstgenannte zum zentralen Kriterium wird. Um die Glaubwürdigkeit qualitativer Forschung, Daten und Ergebnisse zu erhöhen, skizzieren sie verschiedene Strategien. Dazu zählen sie neben einem verlängerten Engagement im Feld und ausdauernden Beobachtungen die Triangulation verschiedener Methoden, Forschende und Datensortendas peer debriefing (regelmäßige Besprechungen mit anderen Forschenden zur Aufdeckung „blinder Flecke“) sowie die Analyse abweichender Fälle und die Überprüfung der Angemessenheit von Interpretationen und member checks im Sinne der kommunikativen Validierung von Daten und Interpretationen. Damit sind verschiedene Ansatzpunkte für die Sicherung und Überprüfung von Qualität im qualitativen Forschungsprozess aufgezeigt. Auf diesem Weg lassen
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sich Vorgehen und Durchführung im Verlauf der Forschung offen legen und beurteilen. Unter dem Blickwinkel der produzierten Erkenntnisse lassen sich die Fragen, die ein solcher Prozess der Überprüfung beantworten soll, nach Huberman und Miles (1998, S. 202) allgemeiner zusammenfassen: Sie richten sich auf die Begründetheit der Erkenntnisse in den Daten und der Schlüsse, die Angemessenheit der Kategorienstruktur, und sie sollen prüfen, ob Forschungsentscheidungen gerechtfertigt waren und ob Strategien zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit angewendet wurden. Dabei sind zwar die Ergebnisse Ausgangspunkt der Bewertung der Forschung, die zu ihnen geführt hat; jedoch wird diese Frage in der Verbindung einer ergebnisorientierten Sichtweise mit einem prozessorientierten Herangehen zu beantworten gesucht. Die bislang skizzierten Strategien zielen auf die Formulierung von Kriterien, die analog zu den in der quantitativen Forschung etablierten Kriterien in der qualitativen Forschung in der Psychologie eingesetzt werden können. In den hier kurz vorgestellten Vorschlägen tauchen jeweils verschiedene Probleme auf. Einerseits ist es bei diesen Kriterien – anders als bei der Reliabilitätsbestimmung in der quantitativen Forschung – schwierig, Grenzwerte oder Punkte zu definieren, die zwischen guter und schlechter Forschung unterscheiden: Im Beispiel der Glaubwürdigkeit werden von Lincoln und Guba (1985) lediglich Strategien formuliert, wie diese hergestellt bzw. erhöht werden kann. Die Forschenden, die diese zur Sicherung von Qualität und Glaubwürdigkeit auf ihre Forschung anwenden möchten, sind mit ihren Fragen ebenso allein gelassen wie die Lesenden, die einen Forschungsbericht anhand dieses Kriteriums bewerten möchten: Welche Resultate müssen peer debriefing und/oder member checks bringen, damit sie ein Indikator für die Glaubwürdigkeit der damit überprüften Forschung sind? Müssen alle dabei Befragten zu einheitlichen Einschätzungen kommen – etwa was die Plausibilität der Resultate angeht – oder reicht es, wenn die Mehrheit oder bestimmte Personen diese Plausibilität bestätigt? Ist etwa die Bestätigung seitens bestimmter Personen anders zu gewichten als die Ablehnung durch z. B. andere Befragte? Zum Problem wird dies, da ohne die Angabe von Grenzwerten die Idee der Kriterien häufig zu gut gemeinten Absichtserklärungen verkommt (Lüders 2019). Andererseits sind all diese Vorschläge jeweils vor dem Hintergrund eines bestimmten Ansatzes formuliert und in ihrer Anwendung auf andere Ansätze eher begrenzt (Lüders 2003).
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Standards nicht standardisierter Forschung als Alternative zu Kriterien?
Bohnsack (2005) diskutiert, inwieweit sich Standards nicht-standardisierter Forschung identifizieren lassen bzw. herausgebildet haben. In den dabei entwickelten Thesen geht er davon aus, dass sich die Standards bei nicht-standardisierter Forschung nicht „am grünen Tisch“ entwickeln, sondern quasi im Nachgang aus der
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Rekonstruktion nicht-standardisierter bzw. qualitativer Forschungspraxis ableiten und explizieren lassen. Gleiches gelte auch für die Methoden qualitativer Forschung selbst: „These 1: Die Methoden und Standards qualitativer Forschung werden auf der Grundlage einer empirischen Rekonstruktion der Forschungspraxis entwickelt“ (Bohnsack 2005, S. 65). Dass die vorliegenden Methoden der qualitativen Forschung sich aus konkreten Forschungsfragen und -projekten entwickelt haben, lässt sich gut nachvollziehen. Mittlerweile haben sich allerdings zahlreiche, mehr oder minder kanonisierte Methoden in der qualitativen (bzw. nicht-standardisierten oder rekonstruktiven) Forschung entwickelt und etabliert, sodass Forschende heute häufig entscheiden müssen, welche davon sie anwenden wollen für die Beantwortung ihrer Forschungsfragen; auch sind methodische Neuentwicklungen aus der Praxis eher die Ausnahme. Hier stellt sich dann die Frage, worin sich gute von weniger guten Anwendungen bestimmter Methoden unterscheiden lassen. Standards in der nichtstandardisierten Forschung stellen nach Bohnsack Standards zweiten Grades dar, die aus der Auseinandersetzung mit den natürlichen Standards (ersten Grades) entwickelt werden sollen. Folgt man diesem Ansatz und der darauf bezogenen Argumentation bei Bohnsack, so lassen sich Standards qualitativer Forschung aus der Analyse alltäglicher Standards der Kommunikation entwickeln und darüber die Kriterien Gültigkeit und Zuverlässigkeit in der qualitativen Forschung rekonstruieren (Bohnsack 2005, S. 76). Nach Bohnsack ist die wesentliche Bezugsebene für die Formulierung von Standards die methodologische und theoretische Begründung des jeweiligen Vorgehens. Es wird dabei weiter ausgeführt, dass bei qualitativen Methoden zwischen offenen und rekonstruktiven Verfahren unterschieden werden sollte, wobei nur die letzteren den von Bohnsack entwickelten Qualitätsstandards entsprechen (These 7, Bohnsack 2005, S. 74). Der Ansatz von Bohnsack liefert eine ganze Reihe von theoretisch und methodologisch aufschlussreichen Vorschlägen für eine meta-theoretische Fundierung der Diskussion über die Qualität qualitativer Forschung. Allerdings bleiben verschiedene Fragen offen. Hierzu gehört zunächst, ob die Formulierung von Standards in einem derart heterogenen Feld wie der qualitativen Forschung (überhaupt bzw. schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt) realisiert werden kann – wenn noch nicht mal Einigkeit über die Bezeichnungen (qualitativ, interpretativ, rekonstruktiv) und Zugehörigkeiten zum Feld besteht. Zweitens laufen Formulierungen von Standards in der Regel Gefahr, Standardisierung (von Vorgehensweisen und Prozeduren) mit sich zu bringen – was den Ansatz nicht-standardisierter Forschung zumindest in einen Widerspruch verwickelt. Drittens, und das ist in unserem Kontext das entscheidende Argument, wird über den Weg der Formulierung von Standards, den Bohnsack einschlägt, die Frage der Geltungsbegründung von der Ebene der Qualitätsbestimmung praktischer Vorgehensweisen im Feld auf die Ebene der Angemessenheit ganzer Forschungsprogramme verlagert. Wendet man Bohnsacks Vorschlag an, weiß man zwar, dass bestimmte Ansätze – rekonstruktive Verfahren – den (?) Standards qualitativer Forschung entsprechen, andere – offene Verfahren – dagegen nicht. Weniger hilfreich sind diese Vorschläge aber bei der Suche nach Antworten auf die Frage, wonach die konkreten Anwendungen und Verfahrensweisen in einem Forschungsprojekt oder Artikel zu bewerten sind.
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Diversifizierung qualitativer Forschung als Kontext der Kriteriendiskussion
Jenseits der Psychologie hat qualitative Forschung sich in verschiedenen Kontexten entwickelt. Hier sind einerseits theoretische und methodologische Schulen zu unterscheiden, die jeweils bestimmte Grundannahmen, Forschungsinteressen und – in der Regel, aber nicht immer daraus resultierend – Methoden(-präferenzen) kennzeichnen bzw. unterscheiden. So ist der ursprünglich in den USA entstandene und auf Glaser und Strauss (1967) zugehende Ansatz der gegenstandsbegründeten Theoriebildung (grounded theory) im englischen, aber auch im deutschen Sprachraum als eigener Ansatz zu verzeichnen, dessen Interesse sich in der Regel auf die Entwicklung von Theorien über einen bestimmten Gegenstand aus empirischem Material bzw. aus dessen Analyse konzentriert. Gerade in der englischsprachigen Diskussion wird dieser Ansatz in der Psychologie verstärkt aufgegriffen. Ähnliches gilt für die Biografieforschung, die einerseits diesseits und jenseits der Sprachgrenze(n) an der Analyse von Lebensgeschichten mit dem Ziel theoretisch relevanter Verdichtungen orientiert ist. Andererseits sind hier die Traditionen in der Psychologie (z. B. Jüttemann und Thomae 1987, 1998) von den soziologischen Ansätzen in der Tradition von Schütze (1983) zu unterscheiden, die jedoch beide nicht dieselbe Entwicklung in der englischsprachigen Diskussion entfaltet haben wie im deutschen Sprachraum. Andere Ansätze bzw. Schulen sind spezifisch für bestimmte Kontexte und spielen dort eine zentrale Rolle, während sie in anderen Kontexten kaum wahrgenommen werden bzw. eine Rezeption dort auch nicht suchen. Beispiele sind hier etwa die objektive Hermeneutik oder die hermeneutische Wissenssoziologie, die ihre Wirkung (und Publikationsaktivitäten) fast ausschließlich im deutschen Sprachraum entfalten (Reichertz 2019). Ähnliches gilt für die im englischen Sprachraum sich differenzierenden Formen der Diskursanalyse, die etwa in England eine starke Dominanz in der Diskussion entwickelt haben, hierzulande aber außerhalb der internen Diskurse kaum rezipiert werden (dies auch, weil der Begriff der Diskursanalyse hier mit anderen Wurzeln assoziiert ist). Das heißt, die Diskussion über qualitative Forschung ist durch unterschiedliche Differenzierungen gekennzeichnet – Schulen auf der einen Seite, sprachraumbezogene Schwerpunkte und Unterschiede auf der anderen Seite (hierzu auch Flick 2005 sowie Knoblauch et al. 2005 für Überblicke). Dazu kommen noch (mindestens) zwei weitere Differenzierungen. Einerseits sind disziplinspezifische Entwicklungen zu verzeichnen: Der Diskurs in der Erziehungswissenschaft (über qualitative Forschung) entwickelt sich z. B. in mehr oder minder enger Verzahnung mit dem in der Soziologie oder in der Psychologie.
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Anwendungsfelder als Bezugspunkt für die Bewertung qualitativer Forschung
Ebenso relevant für die Frage nach Kriterien wird andererseits in den letzten Jahren die Differenzierung der unterschiedlichen Anwendungsfelder qualitativer Forschung. Zu nennen sind hier Bereiche wie die Gesundheitsforschung (Schaeffer
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und Müller-Mundt 2002), die qualitative Management- und Organisationsforschung (Cassell und Symon 2004) oder die qualitative Evaluationsforschung (Flick 2006). In diesen Feldern beginnt sich die methodische Diskussion über qualitative Forschung und mehr noch über „gute“ qualitative Forschung langsam zu verselbstständigen. Dies hat auch mit den Bedingungen zu tun, unter denen qualitative Forschung hier durchgeführt wird: In der Regel handelt es sich um Auftragsforschung, die mit spezifischen Erwartungen hinsichtlich der Ergebnisse und vor allem ihrer praktischen Relevanz verknüpft ist und häufig unter anderen Rahmenbedingungen realisiert werden muss als qualitative Grundlagen- bzw. Qualifikationsforschung. Zu nennen ist hier etwa der zeitliche Rahmen, dessen Folgen sich u. a. an der Diskussion über die Legitimität von „Abkürzungsstrategien“ (Lüders 2019) bei der Verwendung qualitativer Methoden in solchen Kontexten festmachen lassen oder auch an der Frage der Überzeugung von – außerwissenschaftlichen – Zielgruppen mit den gefundenen Ergebnissen (Lüders 2006). Diese knappe, sicherlich unvollständige Skizzierung der Diversifizierung qualitativer Forschung verweist auf ein Dilemma, in dem die hier interessierende Diskussion über die Gütekriterien qualitativer Forschung steckt: Die Frage nach der angemessenen Bestimmung, Sicherung oder Verbesserung dieser Qualität stellt sich über alle der genannten Bereiche hinweg. Die Lösungswege, die dabei beschritten werden, unterscheiden sich aber ebenso wie die Klärungsnotwendigkeiten und die gefundenen bzw. vorgeschlagenen Lösungen. Daraus lässt sich die Frage ableiten, ob es erwartbar (und sinnvoll) ist, über die verschiedenen Bereiche und Kontexte hinweg eine gültige Antwort auf die Qualitätsfrage zu finden oder nicht. Kaum umstritten ist, dass qualitative Forschung eine Antwort auf diese Frage finden muss. Jedoch herrscht wenig Einigkeit darüber, wie diese Antwort aussehen soll: Liegt sie darin, Gütekriterien zu formulieren, die idealerweise Grenzwerte oder Benchmarks zur Unterscheidung von guter und weniger guter Forschung „mitliefern“? Dann lautet die erste Frage, welche Kriterien hierfür geeignet sind, und die zweite, ob sie für „die“ qualitative Forschung gültig sein sollen oder für bestimmte Richtungen in der qualitativen Forschung. Wenn Kriterien, sollen sie dann auf eine GroundedTheory-Studie gleichermaßen anwendbar sein wie auf eine Untersuchung, die auf Fallrekonstruktionen im Sinne der objektiven Hermeneutik basiert – oder auch auf eine Fallstudie zur Evaluation einer Institution? Oder stellt sich die Frage der Qualität bei qualitativer Forschung grundsätzlich anders – jenseits von Kriterien? Dann wäre zu fragen, was an die Stelle von Kriterien treten soll und kann.
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Neuere Vorschläge für Kriterien in der qualitativen Forschung
Nicht auf bestimmte disziplinäre Kontexte bezogen schlägt Tracy (2010) acht „Big Tent“ Kriterien vor. Mit diesem Begriff bezeichnet sie, dass die Kriterien sich nicht auf einen einzelnen Schritt im Forschungsprozess beziehen, wie in einer Validitätsprüfung in der quantitativen Forschung, bei der im Wesentlichen nur die Gültigkeit der Messung geprüft wird. Andere Aspekte werden eher außer Acht gelassen, etwa
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ob in der jeweiligen Studie überhaupt ein relevantes Problem untersucht wird. Tracy bezieht solche Aspekte ebenfalls mit ein und definiert ihre Kriterien wie folgt: „high quality qualitative methodological research is marked by (a) worthy topic, (b) rich rigor, (c) sincerity, (d) credibility, (e) resonance, (f) significant contribution, (g) ethics, and (h) meaningful coherence“ (Tracy 2010, S. 839). Dabei beschreibt sie alle Kriterien detaillierter. Zum Beispiel bezeichnet „worthy topic“: „The topic of the research is relevant; timely; significant; interesting“. „Rich rigor“ bezieht sich auf Folgendes: „The study uses sufficient, abundant, appropriate, and complex theoretical constructs; data and time in the field; sample(s); context(s); data collection and analysis processes“ (Tracy 2010, S. 840–841). Im Kriterium „credibility“ sind Strategien wie Triangulation, member checks und der Umgang mit abweichenden Fällen (hier unter dem Stichwort „multivocality“ diskutiert) zusammengefasst (Tracy 2010, S. 844). Aber auch Tracys Vorschläge sind mit dem Problem konfrontiert, das den Ansatz von Lincoln und Guba (1985) betrifft: Es lassen sich keine Grenzen (oder Grenzwerte) definieren, wieviel „worth“, „rigor“, „credibility“ oder „sincerity“ gegeben sein sollten, damit eine Studie diese Kriterien erfüllt.
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Checklisten und Agenden als Bewertungsansatz qualitativer Forschung
In der gesundheitsbezogenen Psychologie und Soziologie sowie in der Medizin wird seit einiger Zeit versucht, die Frage nach der Güte qualitativer Forschung anhand von Checklisten zu beantworten (Barbour 2001), insbesondere im Zusammenhang mit Peer-Review-Verfahren für Zeitschriften und Forschungsanträgen. Im Kontext der Gesundheitspsychologie haben Santiago Delefosse et al. (2015) – bei einer relativ großzügigen Auslegung des Begriffs „Checkliste“ – 133 solcher Checklisten identifiziert und einer vergleichenden Analyse unterzogen. Erkenntnisse sind dabei, neben der Fülle an identifizierten Vorschlägen, einerseits: „[I]t is hard to group together ‚essential and consensual‘ quality criteria allowing for the in abstracto evaluation of qualitative research“ (Santiago Delefosse et al. 2015, S. 39). Andererseits ließen sich zwei zentrale Schwerpunkte in den Checklists („grids“) ausmachen: technisch-prozedural orientierte Kriterien und solche die auf die Bedingungen der Herstellung von Bedeutung fokussieren. Damit bestätigen die Autorinnen eine der Grundlinien der Diskussion über Gütekriterien in der qualitativen Forschung – forschungsinterne, abstraktere Ansätze, die sich auf Methoden, Techniken, ggf. noch die Planung der Untersuchung beziehen, stehen konkreter fokussierten Ansätzen gegenüber, die sich (auch oder vordringlich) den Kontexten der Forschung, insbesondere der Haltung der Forschenden widmen. Auch eher systematisierende Herangehensweisen führen nicht zu einem Konsens über allgemein verbindliche Kriterien, sondern dokumentieren eher die Diversität der vorliegenden Vorschläge. Ebenfalls im Bereich der qualitativen Gesundheitsforschung haben Stige et al. (2009) eine Agenda für die Bewertung qualitativer Forschung formuliert. Darin
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grenzen sie sich gegen vorliegende Ansätze für Checklisten ab. Die existierende Vorschläge für Kriterien, differenzieren sie in „local criteria“ und „metacriteria“ (ähnlich der bereits genannten „Big tent criteria“). Erstere bezeichnet Kriterien die für einen bestimmten Forschungsansatz oder im Kontext eines Projektes entwickelt wurden, während letztere für ein breiteres Feld von Studien und Forschungstraditionen relevant sein sollen. Ihr eigener Ansatz einer evaluation agenda verfolgt dagegen als Ziel: „In proposing an evaluation agenda, we argue that attention should be drawn to the situated processes of developing rich and interpreted accounts or stories and to the capacity of these stories to facilitate change.“ (Stige et al. 2009, S. 1509) Dieser Ansatz erscheint für die allgemeinere Diskussion um Qualität (-skriterien) qualitativer Forschung in zweifacher Hinsicht interessant: Einerseits wird darin das Spannungsverhältnis von der Formulierung von Kriterien (bzw. der Probleme dabei) und Strategien der Geltungsbegründung deutlich (Flick 2019). Andererseits wird hier das Spannungsverhältnis zwischen (rein) methodisch orientierter Qualitätsbewertung und der Orientierung an Relevanz und praktischem Impact der jeweiligen Forschung als Qualitätskennzeichen auf den Punkt gebracht – eine Diskussion, die sich auch in den Vorschlägen von Charmaz (2014) zur Bewertung von GroundedTheory-Studien widerspiegelt.
7
Ausblick: Stand und Perspektiven
Die Frage nach den Kriterien zur Bewertung qualitativer Forschung wird (anders als etwa in den 1980er-Jahren) nicht nur intern – in einem einzelnen Projekt oder innerhalb der qualitativen Methodendiskussion – gestellt. Aktuell lassen sich fünf Kontexte der Diskussion ausmachen, in denen sie aufgeworfen wird: • • • • •
Forschungspraxis: Was ist gute Forschung? Antragstellung und Förderung: Was ist ein guter Antrag? Forschungsbewertung: Was ist ein gutes Projekt? Publikation: Was ist ein guter Artikel? Lehre: Was ist ein gutes Beispiel?
Damit wird die Frage nicht nur ein methodisches Thema, sondern auch eines, von dem die ökonomische Relevanz qualitativer Forschung abhängt – bekommt sie Zugang zu Fördermitteln (Reichertz 2000), Publikationsmöglichkeiten (insbesondere im Kontext von Peer-Review-Journals) und politischen Umsetzungsfeldern? In diesem Zusammenhang ist die qualitative Forschung selbst einem – für die Kriteriendiskussion nicht unerheblichen – Wandel unterworfen. Gerade die fortschreitende Differenzierung qualitativer Forschung wirft neue Fragen (oder alte Fragen neu) für die Formulierung von Kriterien auf. Die vorangegangen Ausführungen sollten verdeutlichen, dass es unterschiedliche Vorschläge gibt, wie Gütekriterien für qualitative Forschung in der Psychologie bzw. generell diskutiert und formuliert werden. Es hat sich aber bislang gezeigt, dass 1. diese Kriterien in sich begrenzt stimmig sind. Die bislang vorliegenden Kriterien
Gütekriterien qualitativer Forschung
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sind 2. nicht unbedingt von dem Kontext, in dem sie entwickelt wurden, auf andere methodische Herangehensweisen oder Anwendungsfelder übertragbar. Entsprechend zeichnet sich 3. auch kein Konsens in „der“ qualitativen Forschung hinsichtlich der Kriterienfrage ab, wie er in der quantitativen Forschung festzustellen ist. Wenn die vorliegenden Vorschläge oder noch zu entwickelnde Alternativen die Funktion von Kriterien und die damit verknüpften Erwartungen (auch von Förderinstitutionen, Zeitschriften etc.) erfüllen sollen, müssen zwei Probleme gelöst werden, damit sie eine ähnliche Rolle spielen können wie die Kriterien in der standardisierten Forschung: 1. Das Benchmarkproblem muss geklärt werden (z. B.: wie viel Glaubwürdigkeit ist notwendig, wie viele Befragte müssen zustimmen, damit daraus die Gültigkeit von Aussagen abgeleitet werden kann?). 2. Die Kriterien müssen so formuliert werden, dass sie auf jede Form qualitativer Forschung angewendet werden können bzw. für jeden Ansatz qualitativer Forschung akzeptabel sind. Erst dann werden sie eine ähnlich klärende und legitimierende Funktion nach innen und vor allem auch nach außen für die qualitative Forschung übernehmen können, wie dies die klassischen Kriterien für die standardisierte Forschung tun. Wenn diese beiden Probleme nicht gelöst werden können – und es gibt berechtigte Zweifel, ob dies ohne Aufgabe wesentlicher Eigenschaften und Stärken qualitativer Forschung gelingen wird –, bleibt weiter über Alternativen zu Kriterien nachzudenken. Hier bieten möglicherweise Strategien der Qualitätsentwicklung qualitativer Forschung eine Alternative – von der Verwendung der Triangulation als Erweiterung des Zugangs zum untersuchten Feld bzw. Gegenstand (Flick 2011) bis hin zum Qualitätsmanagement in der Forschung (Flick 2018). Dies beinhaltet die Abstimmung der in einem Projekt zu erreichenden Qualitätsziele ebenso wie die Orientierung an den „Zielgruppen“ der Forschung, z. B. Auftrag gebende Institutionen oder Praxisfelder und deren Erwartungen an die Forschung.
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Lehren und Lernen qualitativer Forschungsmethoden Margrit Schreier und Franz Breuer
Inhalt 1 Einleitung: Psychologische Forschungsmethodik in der akademischen Ausbildung . . . . . 2 Mehrdeutigkeit als Merkmal qualitativer Forschungssituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Realisierungs- und Vermittlungsweisen qualitativer Methodik – einige Besonderheiten . . . 4 Vermittlung qualitativer Methoden unter vielfältigen Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . 5 Anregungen für die Vermittlung qualitativer Methoden – speziell in der Psychologie . . . 6 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
In den universitären Standard-Lehrplänen der Psychologie im deutschen Sprachraum ist die Methodenausbildung vorwiegend vom Geist naturwissenschaftlich und/oder experimentell ambitionierter Denk- und Vorgehensweisen geprägt. Das hat zur Konsequenz, dass die Studierenden im Lehrveranstaltungs-Angebot einen verengten Blick auf die Methodologie ihres Fachs bekommen, und dass ihnen in diesem Rahmen kein angemessenes Kennenlernen qualitativer Methodik ermöglicht wird. Entsprechend fehlt auch das Interesse an einer Beschäftigung mit dem Lehren und Lernen qualitativer Methoden in der Hochschulausbildung. Im englischsprachigen Raum ist im Unterschied dazu eine zunehmende Institutionalisierung qualitativer Forschungsmethoden und -ansätze in der Hochschulaus-
M. Schreier (*) Psychology and Methods, Jacobs University Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] F. Breuer Institut für Psychologie, Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_32
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M. Schreier und F. Breuer
bildung in Psychologie festzustellen. Es werden dort vielfältige didaktische Überlegungen und Konzepte entwickelt, was sich in einer wachsenden Zahl von Publikationen im Verlauf der letzten zehn Jahre widerspiegelt. In diesem Beitrag gehen wir zunächst auf Besonderheiten des Lehrens und Lernens qualitativer Methoden ein, die sich aus der Charakteristik qualitativer Methodologie ergeben. Anschließend stellen wir einige Anregungen für eine Didaktik qualitativer Methoden vor. Wir schließen mit Überlegungen zu Herausforderungen und Problemen, die sich aus den Wandlungen der Studienstrukturen angesichts des sogenannten Bologna-Prozesses ergeben. Schlüsselwörter
Lehren und Lernen qualitativer Methoden · Methoden-Didaktik · Qualitativer Forschungsstil · Kontexte des Lehrens und Lernens · Cognitive apprenticeship
1
Einleitung: Psychologische Forschungsmethodik in der akademischen Ausbildung
Forschungsmethodik besitzt in der akademischen Psychologie und der institutionalisierten Ausbildung von Studierenden traditionell einen hohen Stellenwert. In den universitären Psychologie-Lehrplänen im deutschen Sprachraum äußert sich das u. a. in der herausragenden Gewichtung von Kursen in mathematisch-statistischer Datenauswertung. Diese Ausrichtung ist gekoppelt mit naturwissenschaftlich und experimentell ambitionierten Denk- und Vorgehensweisen. Innerhalb des so geprägten Psychologie-Mainstreams werden Repräsentant/innen und Repräsentationen qualitativer Methodik häufig mit Ignoranz, Marginalisierung oder einem ambivalenten Image von „Alternativität“ konfrontiert. Unter der herrschenden Konstruktion methodologischer Normalität lässt es sich als Zeichen besonderer Liberalität psychologischer Methodenlehre und ihrer Vertreter/innen deuten, wenn in einem einschlägigen Lehrbuch ein Kapitel zu qualitativen Methoden enthalten ist, und deren Berücksichtigung im Rahmen der Psychologieausbildung vorgeschlagen wird (wie bei Döring und Bortz 2016). Kaum ein deutschsprachiges Lehrbuch thematisiert beide Ausrichtungen in angemessener Gründlichkeit (eine positive Ausnahme: Hussy et al. 2013). Im englischsprachigen Raum ist diesbezügliche Ausgewogenheit dagegen weiter verbreitet (s. etwa Creswell und Creswell 2018; Neuman 2011). Psychologiestudierende im etablierten Curriculum müssen sich – sofern sie von der Existenz dieser Herangehensweise erfahren und dafür Interesse entwickeln – Kenntnisse und Fertigkeiten in qualitativer Methodik zumeist anderswo aneignen: in anderen Fächern, durch Selbststudium oder durch Tagungen und Workshops. Eine kompetente fachliche Betreuung von Forschungsarbeiten (Magister-, Bachelor-, Master-Thesis, Dissertationen), die auf der Basis qualitativer Methodik operieren, ist im Rahmen eines Psychologiestudiums hierzulande und heutzutage kaum möglich. In einer Liste qualitativ-methodischer Forschungswerkstätten im deutsch-
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sprachigen Hochschulraum, die sich u. a. der Betreuung von Qualifikationsarbeiten widmen, gibt es z. Zt. keine Psychologie-Adresse unter ca. 60 aufgeführten Angeboten.1 Disziplinenbezogen überwiegen dort erziehungswissenschaftliche Richtungen und die Soziologie. Unter den neueren Umwälzungsbedingungen im deutschen Hochschulwesen (Stichwort: Bologna) wird die Situation noch prekärer: Bei der Modularisierung, Ausdünnung und Komprimierung des Wissensbestandes im Rahmen von Bachelor-Lehrplänen wird eine Konzentration auf den Kernbestand des Mainstreams vorgenommen (Bögelein und Serrano-Velarde 2012) – und dazu gehören in der Psychologie die qualitativen Methoden derzeit nicht.2 Ein Interesse an didaktischen Möglichkeiten ihrer Vermittlung ist unter diesen Rahmenbedingungen nur in Ausnahmefällen zu erwarten.3 Wie sieht es diesbezüglich in anderen Ländern aus? Ein umfassender Rundumblick ist hier nicht möglich – wir werfen lediglich zwei Schlaglichter auf den englischsprachigen Raum.4 In den USA wurde – assoziiert mit der sogenannten Division 5 der American Psychological Association („Evaluation, Measurement & Statistics“) – im Jahre 2013 eine Society for Qualitative Inquiry in Psychology gegründet.5 Diese führt im Verhältnis zur APA ein eher randständiges Dasein. Sie bringt eine eigene Zeitschrift heraus („Qualitative Psychology“6). In repräsentativen Methoden-Handbüchern der APA besitzen qualitative Methoden durchaus einen Platz (Cooper 2012). Kurse in qualitativer Forschungsmethodik sind an USHochschulen nicht im selben Maß verpönt und unüblich wie im deutschsprachigen Raum, aber dennoch überwiegend marginal und ressourcenbezogen unterkalibriert (McClelland et al. 2015). In Großbritannien ist die Einbeziehung qualitativer Methoden in das Curriculum psychologischer Studienprogramme Voraussetzung für deren Anerkennung durch die British Psychological Society. Das gilt sowohl für BA-Programme als auch für Studiengänge auf der Graduiertenebene (Forrester
1
S. http://www.qualitative-forschung.de/angebote/forschungswerkstaetten/index.html. Diese Tatsache kommt auch darin zum Ausdruck, dass das vom Berliner Methodentreffen Qualitative Forschung ausgehende „Memorandum für eine fundierte Methodenausbildung in den Human- und Sozialwissenschaften“ (http://www.qualitative-forschung.de/institut/jahresberichte/ 2008.html), das für eine Hochschulausbildung auch in qualitativer Methodik plädiert, zwar von den wesentlichen Fachgesellschaften der deutschsprachigen Soziologie, jedoch nicht von den entsprechenden Mainstream-Psychologie-Vereinigungen unterstützt wird. 3 Um die Beschäftigung mit der Thematik des Lehrens und Lernens qualitativer Methoden in den Sozialwissenschaften anzuregen und zu unterstützen, wurde im Open Access Online-Journal Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research eine „Debatten“-Rubrik eingerichtet, die dieser Thematik gewidmet ist: http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/ pages/view/methods. 4 2017 wurde die Association for European Qualitative Researchers in Psychology (EQuiP) gegründet (https://www.equipsy.org/). Die Gesellschaft existiert erst so kurze Zeit, dass sich über den Stellenwert der Lehre qualitativer Methoden in diesem Kontext noch keine Aussagen machen lassen. 5 http://www.apa.org/about/division/div5.aspx. 6 http://www.apa.org/pubs/journals/qua/. 2
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M. Schreier und F. Breuer
und Koutsopoulou 2008). Entsprechend hat sich hier eine Arbeitsgruppe gebildet, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Didaktik qualitativer Methoden in der Psychologie zu fördern und einschlägige Ressourcen bereitzustellen (TQRMUL7). Insgesamt lässt sich feststellen: Das Interesse an einer Didaktik qualitativer Methoden in der Psychologie wächst auf internationaler Ebene, und es findet sich in den letzten Jahren vermehrt Literatur zu dem Thema (Drisko 2008; Eisenhart und Jurow 2014; Hurworth 2008; Waite 2014). Im Jahr 2012 ist eine Sonderausgabe der Zeitschrift „Psychology Learning and Teaching“ zum Thema der Vermittlung qualitativer Methoden in der Psychologie erschienen (Gibson und Sullivan 2012).
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Mehrdeutigkeit als Merkmal qualitativer Forschungssituationen
Qualitative Methodologie und Methodik ist von ihrer Programmatik her durch ein Offenheits- und Flexibilitätspostulat gekennzeichnet. Adaptivität, Wahlentscheidungen und Wandelbarkeit gehören von vornherein und konstitutiv zu den normalen Anforderungen des Forschungsgeschäfts. Aus dieser Kennzeichnung ergibt sich ein hohes Maß an Freiheit und Verantwortung für Forschende: Unterschiedliche methodische Herangehenswege und verschiedene Lesarten von Daten sind potenziell sinnvoll und interessant. Und: die Person des/der Forschenden zählt. Qualitativ Forschende haben vielfältig mit Mehrdeutigkeit, mit Ambiguität, zu tun. So ist mitunter nicht klar zu bestimmen, was in einer Situation (einer beobachteten Interaktion, einem geführten Interviewgespräch o. ä.) „der Fall“ bzw. „gemeint“ ist. Und es ist dann nicht eindeutig, welche Deutung angemessener Weise zum Zuge kommen soll. Die Tatsache, dass unterschiedliche Beteiligte und Beobachter/innen nicht zu übereinstimmender Beschreibung (Deutung, Kategorisierung) eines Geschehens kommen (können), ist möglicherweise nicht sinnvoll mit methodischen Mitteln zu eliminieren. Vielmehr können derartige Uneindeutigkeiten konstitutive Merkmale sozialer Situationen, Konstellationen und Ereignisse sein – so z. B. im Fall gesellschaftlicher Konflikte. Auch ist mitunter im Vorhinein nicht zu bestimmen, wie die genaue Fragestellung eines qualitativen Forschungsprojekts lautet. Das exakte Thema ergibt sich in einigen Forschungsstil-Varianten erst im Verlauf der Untersuchung: Von einem „Forschungsanliegen“ ausgehend wird eine „Themenstellung“ herausdestilliert, und diese Fokussierung ist systematischer Bestandteil des Forschungsprozesses. Für Lernende bzw. Anfänger/innen sind Postulate qualitativer Methodenlehre wie theoretische Offenheit, multiple perspektivische Deutbarkeit und flexible Regelanwendung nicht leicht zu durchschauen und umzusetzen. Novizinnen und Novizen im Handlungsfeld Forschungsmethodik bevorzugen klare und eindeutige Leitlinien. Von Lehrenden verlangen sie verbindliche Auskünfte über richtige und falsche Vorgehensschritte, Interpretationen und Schlussfolgerungen. Dies gilt insbesondere 7
https://www.heacademy.ac.uk/knowledge-hub/tqrmul-dataset-teaching-resources-user-guide.
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dann, wenn sie zuvor bereits eine Ausbildung bezüglich quantitativer Methoden absolviert haben (Bogard und Wertz 2006; Glesne und Webb 1993; O’Connor und O’Neill 2004; Stark und Watson 1999). Ein gewisses Maß an Ambiguitätstoleranz ist auf Seiten der Lernenden jedoch unabdingbar: Unsichere Situationen sowie Prozesse mit offenem und ungewissem Ausgang müssen einige Zeit lang ausgehalten werden können (Bogard und Wertz 2006; Hazzan und Nutov 2014; Hein 2004; Kleinman et al. 1997; Poulin 2007; Rogers 2003). Rekurse auf fixe Standards passen im Rahmen qualitativer Forschungsmethodik selten, Flexibilität und Adaptivität werden verlangt.
3
Realisierungs- und Vermittlungsweisen qualitativer Methodik – einige Besonderheiten
Oftmals wird von der qualitativen Methodik gesprochen – als ob es sich hierbei um ein homogenes Gefüge handeln würde. Dies ist jedoch eine Idealisierung, die die Verhältnisse vergröbert – die Szene ist durch eine große Vielfalt gekennzeichnet. Im Spektrum der qualitativen Methodenlehre finden wir beispielsweise die „Tiefenhermeneutik“, die „Objektive Hermeneutik“, die „Strukturlegetechnik“, die „Qualitative Inhaltsanalyse“, die „Biografieanalyse“, die „Diskursanalyse“, die „Grounded-Theory-Methodik“ und die „Autoethnografie“ – um nur einige der aktuellen Richtungen zu nennen (zur Übersicht: Hitzler und Honer 1997; Mruck et al. 2000; Camic et al. 2007; Holstein und Gubrium 2008; Willig und Stainton-Rogers 2014 – und das Spektrum der Beiträge des Handbuchs, in das dieser Aufsatz eingeordnet ist). Die Szenerie der qualitativ-methodischen Sozial- und Kulturwissenschaften ist gegenwärtig sehr lebendig und dynamisch, vielfältig in Entwicklung begriffen. Die Geschichte mancher Varianten bzw. Richtungen ist noch kurz, neue Ideen und Verfahrensweisen tauchen auf bzw. bekommen Aufmerksamkeit, andere treten in den Hintergrund. Der Grad an Institutionalisierung der „Schulen“ ist in unterschiedlichem Maße vorangeschritten, insgesamt aber noch nicht sehr stark ausgeprägt. Jede dieser Richtungen besitzt (mehr oder weniger entschieden und elaboriert) einen eigenen Theorie- und Weltanschauungs-Hintergrund und eigene Vorstellungen zur Vermittlung des Ansatzes und zur Ausbildung „zertifizierter Repräsentanten“. Die disziplinäre Kanonisierung – Was gehört dazu und was nicht? Was soll in den Lehrplan? – ist für die qualitativen Methoden in der Soziologie gegenwärtig am weitesten etabliert (Knoblauch 2007; s. die Sammlung von Materialien zur Lehre qualitativer Methoden der American Sociological Association, inzwischen bereits in der vierten Auflage: Ballard und Jensen 2007; die Teaching Resources and Innovations Library for Sociology;8 oder die „Leseliste“ empfohlener Literatur der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Sektion Methoden der Qualitativen Sozialfor-
8
S. http://trails.asanet.org/Pages/default.aspx.
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M. Schreier und F. Breuer
schung9). In anderen Fachrichtungen sind die Verhältnisse ungeordneter, häufig von lokalen Besonderheiten geprägt. In der frühen Entwicklungsgeschichte methodischer Ansätze haben wir es hinsichtlich ihrer Vermittlung und Weitergabe mitunter mit der Umsetzungs-Figur der Meister/in-Schüler/in-Beziehung zu tun, wie dies häufig in der Ausbildung von Künstler/innen, Handwerker/innen oder in religiösen Kontexten Praxis ist (Breuer 2016). Das bei derartiger Unterweisung transferierte Charisma des „Meisters“ (einer Be-/Gründerin einer sozialwissenschaftlichen Methoden-Tradition) verblasst in der Regel von Generation zu Generation. Mit fortschreitender Zeit und Konzeptverfeinerung wird nicht mehr von den Gründer/innen persönlich, sondern von ihren direkten Schüler/innen, später von Schüler/innen zweiten Grades und schließlich in akkreditierten Ausbildungsprogrammen und aus Lehrbüchern gelernt, mitunter mit Zertifikat besiegelt – dann ist die Institutionalisierung einer Schulrichtung erreicht. Formen der Vermittlung qualitativer Methoden in lokal-institutionellen Curricula sind häufig an die dortigen „Autoritäten“, deren Spezialisierungen und Angebote gebunden. Bei Professorin M. am Institut für P. in F. beispielsweise wird man bevorzugt in tiefenhermeneutische Interpretationsverfahren eingewiesen, in der Forschungswerkstatt des Professors R. im K.-Institut in E. bekommt man eine Einübung in wissenssoziologische Deutungspraktiken (Allert et al. 2014). Für derartige Konstellationen und Prozesse spielt die Beziehungscharakteristik des Meister/in-Schüler/ in-Verhältnisses ebenfalls eine große Rolle. Bei der curricularen Vermittlung eines breiteren Spektrums sozialwissenschaftlich-qualitativer Methodenvarianten im Rahmen eines Bachelor- oder Master-Studienganges sind solche Vermittlungsformen jedoch unpassend und dysfunktional (Flick et al. 2014). Eine weitere Differenzierung bei der Verwendung qualitativer Methoden für Forschungszwecke ist die bezüglich der Konzepttreue ihrer Realisierung. Wird qualitative Methodik – eine bestimmte Richtung oder Schule – mitsamt des theoretischen Hintergrunds sowie im gesamten methodologischen Arbeitsbogen (gewissermaßen von A bis Z) verwendet? Oder werden nur bestimmte Ausschnitte bzw. Elemente daraus (z. B. Sampling-, Kodier- oder Interpretationsverfahren) für umgrenzte Zwecke isoliert zur Anwendung gebracht? In einem Aufsatz über Lehren und Lernen (Breuer und Schreier 2007) haben wir zwei Realisierungsweisen qualitativer Methodik dimensional-typisierend einander gegenübergestellt. Am einen Pol befindet sich eine ganzheitlich durchkomponierte – gewissermaßen paradigmaförmige – Konzeption, der häufig auch eine identifikatorische Komponente zukommt (Breuer 1996; Breuer et al. 2018), am anderen Pol eine Konzeption, die durch situativ-pragmatisch und eklektizistisch gewählte methodische Praktiken und eine „technokratische“ Forschungshaltung gekennzeichnet ist (Eisenhart und Jurow 2014). Im ersteren Fall können wir an Modelle interpersonaler Ko-Konstruktion (etwa cognitive apprenticeship – Collins et al. 1989 – oder einen begleitend-kooperativen Stil wie bei Roth 2006) denken. Dort sind die Arbeits- und
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http://www.soziologie.de/de/sektionen/sektionen/methoden-der-qualitativen-sozialforschung/lese liste.html.
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Betreuungsverhältnisse idealerweise zwischen Kolloquium, Supervision und Interpretationswerkstatt konzipiert (Breuer et al. 2011; Mruck und Mey 1998). In der zweiten Variante geht es darum, qualitative Methoden nach einer Sortierungslogik gewissermaßen in einem Instrumentenkoffer kennenzulernen. Man bedient sich daraus in opportunistisch-pragmatischer Manier – es werden Verfahren passend für den Forschungszweck und die Umstände verwendet, man kümmert sich dabei wenig/er um die theoretischen Hintergründe, Einbettungen und die genuinen Haltungs-Implikationen. Typisch für qualitativ Forschende ist die Auffassung der Umsetzung eines ganzheitlichen Forschungsstils. Daraus folgt, dass auch die Lehre qualitativer Forschung sich nicht in der Vermittlung von Methoden als modularisierbarer Techniken erschöpft, sondern dass sie auf die Aneignung einer qualitativen Haltung, einer qualitativen Weltsicht abzielt (z. B. Breuer 1996, S. 171–173, 2010; Poulin 2007; Rogers 2003). Die Auffassungen darüber, inwieweit eine solche Einstellung bzw. Haltung lehrbar ist, gehen auseinander und stehen mit je unterschiedlichen Konzeptualisierungen der Anwendung qualitativer Methoden in Zusammenhang (Hammersley 2004; Ruckdeschel und Shaw 2002). Fasst man qualitatives Forschen als Kunst auf, die entsprechendes Talent voraussetzt und von persönlicher Intuition geleitet wird, so sind der Lehr- und Lernbarkeit Grenzen gesetzt (Knoblauch 2007; Rist 1983). Eine Sichtweise qualitativen Forschens als handwerklicher Fertigkeit geht von einer Regelgeleitetheit aus, ohne dass intuitive Komponenten gänzlich ausgeschlossen sind. In dieser Rahmung bildet sich mit zunehmender Expertise eine bestimmte Einstellung gegenüber dem Gegenstand heraus (Josselson und Lieblich 2003; Rogers 2003; Ruckdeschel und Shaw 2002). Das Ziel, eine bestimmte Haltung zu vermitteln, wird so zu einem wesentlichen Merkmal qualitativer Methodenlehre – so z. B. bei Noy, der Parallelen zwischen der Lehre qualitativer Methodenkompetenzen und dem Unterricht in Aikido zieht (2015; zur Vermittlung einer bestimmten Haltung s. auch Carawan et al. 2011; Lapum und Hume 2015). Der Gesichtspunkt des Einsozialisierens der qualitativen Methoden-Lehrlinge in einem interpersonal-kooperativen Setting wird in der Literatur vielfach herausgestellt. Diese Perspektive kommt in der Konzeptualisierung von Lehrveranstaltungen häufig zum Tragen (einschlägige Beschreibungen finden sich u. a. in Ballard und Jensen 2007; Bochner und Ellis 2016; Flick und Bauer 2005; Harlos et al. 2003; Hopkinson und Hogg 2004; Hunter et al. 2014; Maunder et al. 2012; Nyden 1991; Page 1997; Poulin 2007; Riemann 2011; Rowe und McAllister 2002; Strauss 1988). Das Modell gemeinsamen Lernens und gemeinsamer Veränderung (z. B. Sorrell et al. 2014; Waite 2014) wird mitunter auch als Alternative zur Perspektive der autoritativen Einsozialisierung beschrieben (Allert et al. 2014). In der Literatur zur Didaktik qualitativer Methoden finden sich häufig Hinweise auf die Andersartigkeit von Veranstaltungen zur qualitativen – gegenüber der quantitativen – Methodenlehre (z. B. Glesne und Webb 1993; Hazzan und Nutov 2014; Hopkinson und Hogg 2004; Hunter et al. 2014; Kleinman et al. 1997; Rogers 2003; aus der Perspektive der Lernenden: Dieris 2007; Richards 2011). Folgende Konkretisierungen werden dabei benannt: Lehrende heben die Bedeutung von Reflexivität
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hervor (Booker 2009; Cox 2012; Dausien 2007; Hopkinson und Hogg 2004; Kleinman et al. 1997; Navarro 2005) sowie – unter Hinweis auf die Flexibilität des qualitativen Forschungsprozesses – von Ambiguitätstoleranz (Hazzan und Nutov 2014; Kleinman et al. 1997; McAllister und Rowe 2003; Poulin 2007; Rogers 2003; Dausien 2007 benutzt in diesem Zusammenhang den Begriff der „Professionalität“). Auch die Fähigkeiten zum „richtigen“ Stellen von Fragen (Strauss 1988), zum Zuhören (Poulin 2007), zur Empathie (O’Connor und O’Neill 2004), zum angemessenen Umgang mit dem Feld und den Feldmitgliedern (Dausien 2007), zum Aushalten von Komplexität und Ungewissheit (Kleinman et al. 1997; Poulin 2007; Rogers 2003) und zum kritischen Denken (Glesne und Webb 1993) werden betont. Durchgängig besitzen die in der Literatur beschriebenen Veranstaltungen eine Anwendungscharakteristik. Die Studierenden sollen angehalten werden, den Prozess qualitativen Forschens praktisch umzusetzen und zu erfahren (Drisko 2016). Ein eigenständig durchgeführtes Forschungsvorhaben erweist sich in einer Übersichtsstudie von Hurworth (2008), in der sie Lehrveranstaltungen in qualitativer Methodenlehre an mehreren Universitäten in Australien besucht hat und detailliert beschreibt, als gemeinsames Element sämtlicher Kurse (s. auch Eisenhart und Jurow 2014). Bögelein und Serrano-Velarde (2012) entwickelten ein Konzept zu einem Forschungspraktikum, um den Anwendungsaspekt beim Erlernen qualitativer Methoden auch unter restriktiven Lehrplan-Bedingungen zu gewährleisten. Idealerweise erfahren Studierende in einem solchen Rahmen des gemeinsamen Tuns intensive Rückmeldung von den Teilnehmenden (Dausien 2007; Glesne und Webb 1993; Rogers 2003) und vielfältige Unterstützung. Die Lehrenden fungieren als Vorbilder (O’Connor und O’Neill 2004), indem sie ihr eigenes Forschungshandeln darstellen und kritisch diskutieren (z. B. Janesick 1983). Durch die Beteiligung von Mitstudierenden an einem gemeinsamen Forschungsvorhaben wird wechselseitiges Modellgeben (z. B. Nyden 1991) und eine Lerngemeinschaft von Peers ermöglicht (Glesne und Webb 1993; Kleinman et al. 1997; Levitt et al. 2013; Navarro 2005).
4
Vermittlung qualitativer Methoden unter vielfältigen Rahmenbedingungen
In der Praxis ist das Lehren und Lernen qualitativer Methoden wenig kanonisiert – weder in psychologischen Hochschul-Curricula noch in anderen Fachkontexten. Es gibt eine große Vielfalt von Formen und Weisen, einschlägige Kompetenzen zu erwerben und zu entwickeln sowie diese zu vermitteln und zu lehren. Hier spielen disziplinäre Kulturen, historische Konjunkturen, curriculare Rahmensetzungen, lokale Besonderheiten und motivationale Gegebenheiten auf Seiten der Lehrenden und Lernenden eine Rolle. Es können individuell-eigenständig konfigurierte Aneignungen und solche in institutionalisierten Lehr-Lern-Arrangements unterschieden werden. Vermittlungen können in Universitätsveranstaltungen und in externen Seminaren arrangiert sein. Sie können durch eine Lehr-Autorität angeleitet werden oder sich im Kontext gleichrangiger Peers vollziehen. Die Interaktionen unter Lehrenden
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und Lernenden können im vis-a-vis-Kontakt oder per Internet-Kommunikation stattfinden. Und alle diese Aspekte können in multiplen Kombinationen auftreten. Wir skizzieren im Folgenden in einer vereinfachenden Übersicht einige typische Formen des Lehrens und Lernens qualitativer Methoden in unterschiedlichen Settings.
4.1
Qualitative Methoden im Lehrplan eines Psychologiestudiums
Bis in die 1970er-Jahre gab es an deutschsprachigen Universitäten eine ausgebaute Methodologie-Tradition psychologischer Interpretation (Fahrenberg 2002). Im Zuge der (neo-)positivistischen Umorientierung der Disziplin jener Zeit verschwanden die Protagonist/innen dieser Ausrichtung und mit ihnen die einschlägigen Lehrveranstaltungen aus den Psychologie-Lehrplänen und Prüfungskatalogen. Qualitative Methoden finden heutzutage allenfalls gnädige Erwähnung als Randerscheinung im Rahmen einer quantitativen Methodenlehre, werden jedoch nur in Ausnahmefällen so gelehrt, dass sie auch kompetent in der Forschungspraxis umgesetzt werden können. Die Lehrenden bedienen – wenn überhaupt – das Thema gewissermaßen nebenbei und „stichwortartig“, sie verbinden damit keine Eigenpraxis und erst recht keine Identifikation. Misst man den Aufwand, der innerhalb der üblichen Psychologie-Lehrpläne mit Veranstaltungen zur Experimentalmethodik und statistischen Datenauswertung getrieben wird, mit dem Stellenwert, den qualitative Methoden – selbst unter freundlichen Rahmenbedingungen – in der Ausbildung an deutschsprachigen Universitäten besitzen, dann erhält man einen Eindruck von der beschränkten Wertschätzung dieses Erkenntniszugangs im Fach. Im Kontext von psychologieaffinen Studiengängen in anderen Hochschulformen (etwa Fach-/Hochschulen oder sog. Privatuniversitäten) wird der Stellenwert qualitativer Methoden dagegen häufig höher eingeschätzt. Sie finden dort mitunter selbstverständlichen Eingang in die Lehrpläne. Allerdings sind die lokalen Unterschiede hierbei groß.
4.2
Qualitative Methoden in Lehrforschungsprojekten im Rahmen eines Psychologie-Curriculums (ExperimentalPraktika, Forschungsorientierte Vertiefungen)
Bei der Vermittlung qualitativer Methoden in Lehrforschungsprojekten (etwa im Rahmen zweisemestriger Kurse) ist seitens des/der Lehrenden eine größere Methodenkenntnis und eine entsprechende Bereitschaft zu erwarten, sich auf den qualitativen Denk- und Arbeitsstil einzulassen. Im Rahmen üblicher akademischer Psychologieausbildungen dürfte diese Form einen seltenen und glücklichen Fall des Kennenlernens der qualitativen Methodenorientierung darstellen – Learning by Doing im Kontext eines themenbezogenen Forschungsprojekts, dabei Einfinden in einen Forschungsstil (Dieris 2007). Bei dieser Vermittlungs- und Aneignungsweise
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steht in der Regel eine bestimmte Konzeption (eine qualitative „Schule“) im Mittelpunkt, es kann nicht gleichzeitig ein systematischer Rundblick auf den qualitativen Verfahrensreichtum gegeben werden. Bei diesem Vermittlungstyp ergibt sich mitunter das Problem, dass bei der Konfrontation von in Mainstream-Psychologie einsozialisierten Studierenden mit qualitativen Forschungsweisen gewisse Irritationen bezüglich des gelernten Konzepts von Wissenschaftlichkeit der Methodik (etwa hinsichtlich Objektivität, Reliabilität, Stichprobengröße etc.) auftreten. Derartige Verfremdungs-Erfahrungen können u. U. produktiv aufgelöst werden, wenn in diesem Zusammenhang über den Stellenwert unterschiedlicher methodischer Herangehensweisen im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess reflektiert wird (Entdeckung vs. Prüfung, Alltagsweltlichkeit vs. labor-/experimentelle Dekontextualisierungen, apriorische Komponenten des Erkenntnisprozesses – Vor- und Nachteile beider Denkweisen etc.). Zudem kann hier in manchen Fällen auch ein Weltzugang eröffnet werden, der an „frühe“ Motive der Wahl des Studienfachs Psychologie anknüpft (an Ideen von Einzelfallorientierung, interpersonaler Kontakt-Intensität etc.) – bevor man im Standard-Lehrplan zu lernen hat, dass dies ein „wissenschaftlich falsches Denken“ ist, dem durch eine intensive Experimentalmethodik- und Statistik-Indoktrination der Garaus gemacht wird.
4.3
Für Psychologiestudierende zugängliche Veranstaltungen zu qualitativen Methoden im Rahmen eines multidisziplinären Methoden-Moduls
Dabei handelt es sich typischerweise um Überblicksveranstaltungen, häufig im Rahmen von Magister-Studiengängen, die zumeist freiwillig gesucht und gewählt werden. Schwierigkeiten ergeben sich häufig aus der Heterogenität der disziplinären Hintergründe der Teilnehmenden: Studierende der Politikwissenschaften interessieren sich mehr für Fallstudiendesigns und für diskursanalytische Verfahren; Studierende der Soziologie würden gerne einen stärkeren Schwerpunkt auf ethnografische Methoden legen; Studierende der Kommunikations- und Medienwissenschaften möchten Verfahren der Analyse visueller Daten behandelt wissen. Die Interessen und Wünsche von Teilnehmenden aus der Psychologie bilden nur einen Gesichtspunkt unter vielen. Es kommt hinzu, dass die Lernenden sich, vor allem in Master- und Ph.D.-Studiengängen, in ihren forschungsmethodischen Vorkenntnissen stark unterscheiden. In MA-Veranstaltungen ergibt sich außerdem ein Spannungsverhältnis zwischen der Zielsetzung, eine qualitative Einstellung zu vermitteln, und dem Bedürfnis der Studierenden nach Aneignung von Verfahren, die sie in ihrer anschließenden Berufstätigkeit unmittelbar verwenden können. Angesichts dieser Heterogenitäten muss in Lehrveranstaltungen oft unter Schwierigkeiten um Kompromisse gerungen werden. Qualitative Methoden stellen in solchen Kontexten jedoch immerhin ein Angebot innerhalb des Curriculums dar, auch wenn ihre Vermittlung oftmals nicht in wünschenswerter Weise möglich ist.
Lehren und Lernen qualitativer Forschungsmethoden
4.4
275
Angebote von Einführungs- und Fortbildungsveranstaltungen für Studierende und Postgraduale jenseits von Studiengangs-Curricula
Hier treffen wir auf eine Vielfalt von Angebots-Varianten innerhalb und außerhalb der institutionellen Anbindung an Hochschulen: Einführungen in die Interviewmethodik, in Gruppendiskussion, in die Grounded Theory-Methodologie, die Inhalts-, Gesprächs- oder Metaphernanalyse – etwa an universitären Fortbildungseinrichtungen für Graduierte bzw. Doktorand/innen,10 bei der GESIS in Mannheim oder Köln,11 beim Institut für Qualitative Forschung in Berlin;12 oder in anderen „Summer Schools“ oder Kolloquien; die Einladung von Expert/innen zu Vorträgen und Tagesworkshops zu einer spezifischen Methodik, Fortbildungsangebote privatwirtschaftlicher Einrichtungen – um einige Beispiele zu nennen. Dabei handelt es sich zumeist um intensive und seitens der Beteiligten auf allen Seiten erwartbar gut motivierte Lehr-Lern-Situationen. In kurzer Zeit können Interessierte einen methodischen Ansatz oder ein Verfahren durch identifizierte und erfahrene Vertreter/innen kennenlernen, einen ersten Zugang gewinnen, einen Impuls zur weiteren und vertiefenden Auseinandersetzung erhalten. Derartige Veranstaltungsangebote treffen oft auf große Nachfrage, v. a. im Zusammenhang mit der Vorbereitung oder Durchführung eigener Qualifikationsarbeiten. Es sind hauptsächlich diese Kontexte, in denen Kompensationen des unzulänglichen Lehrangebots in den Studiengängen an den Hochschulen (durch „Lehrbeauftragte“) geleistet werden (Mey 2008).
4.5
Angebote zur Präsentation und Diskussion eigener qualitativ-methodischer Forschungsarbeiten in Tagungsund Workshop-Zusammenhängen
Unter diese Überschrift gehören beispielsweise Workshops des jährlichen „Berliner Methodentreffens Qualitative Forschung“,13 Veranstaltungen des „Zentrums für Sozialweltforschung und Methodenentwicklung“ in Magdeburg14 oder Tagungen des „Center for Qualitative Psychology“.15 Bei diesen Gelegenheiten besteht mitunter die Chance, Beratung und Rückmeldung zum eigenen Forschungsprojekt 10
Vier Beispiele: Einrichtungen an den Universitäten Bremen https://www.uni-bremen.de/byrd/ promovierende/, Frankfurt http://www.uni-frankfurt.de/51934152/100_landingpage, Gießen http:// www.uni-giessen.de/cms/fbz/zentren/ggs, München http://www.gsll.fak13.uni-muenchen.de/in dex.html. 11 https://training.gesis.org/?site=pOverview&cat=all. 12 http://www.qualitative-forschung.de/Workshops/ws-termine/. 13 http://www.qualitative-forschung.de/methodentreffen/. 14 http://www.zsm.ovgu.de/Methodenworkshop.html. 15 http://www.qualitativepsychology.com/.
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durch qualitativ-methodische „Autoritäten“ und Peers zu erhalten, die mit ähnlichen Problemlagen und Bemühungen befasst sind. Das Besprechen des eigenen Ansatzes, die Kontrastierung und Auseinandersetzung mit den Projekten anderer, die in verwandten Forschungssituationen arbeiten, sowie das Miterleben der Umgangsweisen erfahrener Forscher/innen bieten Aussichten auf eine Bereicherung der eigenen Sichtweise und Kompetenz.
4.6
Geleitete Forschungswerkstätten zur Begleitung eigener Forschungsarbeiten
Dabei handelt es sich um eine kontinuierliche Supervisions- und MentoringSituation wie bei der Betreuung von Qualifikationsarbeiten, ergänzt durch das Feedback und die Anregungen einer Peer-Gruppe (s. auch Allert et al. 2014; Breuer et al. 2018; Reichertz 2013). Probleme können durch die institutionelle Rahmung entstehen, etwa im Verhältnis von Mentoring- und Begutachtungskontext: Ist der Mentor/die Mentorin zugleich Gutachter/in der Qualifikationsarbeit? Wenn der Mentor/die Mentorin der Universität X angehört, die abgeschlossene Arbeit später jedoch von anderen Gutachter/innen an der Universität Y beurteilt wird, kann es zu Abstimmungsschwierigkeiten kommen (Birck 2003). Die Koordinierung von Sichtweisen ist in diesem Zusammenhang eine wichtige Aufgabe. In den letzten Jahren wird die Einrichtung sogenannter Graduiertenkollegs (größerer und thematisch einigermaßen kohärenter multidisziplinärer Forschungsverbünde von Lehrstühlen und Doktorand/innen, häufig mit eigenem Fortbildungsprogramm) gefördert, die im Idealfall einen Mentoring- und Supervisionscharakter besitzen können. Ebenso bieten Organisationen und Stiftungen, die Forschungs- bzw. Qualifikationsstipendien vergeben, häufig „Doktorandenforen“ o. Ä. an, bei denen eine derartige Projekt-Unterstützung möglich ist.
4.7
Lokale Selbstorganisation der Vernetzung qualitativ Forschender
Diese Lehr- und Lernform erfordert eigenständige Such-, Etablierungs- und Stilbildungsaktivitäten, verlangt und ermöglicht aber zugleich eine engagierte, motivierende und identifikatorische Peer-Zusammenarbeit. Hier ist ein vielgestaltiges Spektrum von Kooperationsweisen möglich – etwa das auf wechselseitige Projektunterstützung angelegte gemeinsame Auswerten bzw. Kodieren eigenen und fremden Datenmaterials bis zur dauerhaften Einrichtung einer Peer- oder Kolloquiumsgruppe, die einen spezifischen Forschungs- und Interpretationsstil sowie eine eigene Gruppenidentität herausbildet. Bei dieser Organisationsform bieten sich Möglichkeiten interdisziplinärer Vernetzung mit anderen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen, Projekten und „Gleichgesinnten“ an.
Lehren und Lernen qualitativer Forschungsmethoden
4.8
277
Online-Begleitung von Forschungsprojekten
Im Rahmen bestimmter Projektbegleitungsangebote wird eine ortsunabhängige moderierte Peer-Kooperation mittels internetbasierter Medien etabliert.16 Auch bei dezentraler Situiertheit der Mitglieder wird ein enger und regelmäßiger Austausch möglich gemacht (Mey et al. 2006; Moritz 2008). Dabei kann hohe Gruppenkohärenz entstehen. Die gemeinsame Arbeit in Kleingruppen und die während der Forschungsarbeit anstehenden Fragen werden über Mailinglisten in asynchroner Kommunikation und in verabredeten und moderierten Chats in synchronem Austausch organisiert. Darüber hinaus gibt es zusätzliche Werkzeuge: Dateiablagen, Online-Bibliothek, Linksammlung etc. Schließlich besteht die Möglichkeit der Kombination mit vis-a-vis-Kontakten in Gruppentreffen und Workshops.
4.9
Online-Lehrangebote
Das Angebot an internet-basierten Lehr- und Informations-Angeboten hat rapide zugenommen und wandelt sich schnell. Der heutige Überblick ist morgen u. U. schon veraltet. Zum einen gibt es online verfügbares schriftliches Material auf Plattformen zur qualitativen Forschung (einige Beispiele: aus dem „Institut für Qualitative Forschung“17 in Berlin, das Netzportal Quasus an der PH Freiburg18 oder von „studi-lektor.de“19), Audio-Podcasts (Beispiele: Institut für Medien- und Bildungstechnologie der Universität Augsburg;20 zur Grounded Theory-Methodologie;21 englischsprachig z. B. die Audio-Podcasts des britischen National Center for Research Methods NCRM22) und Videos (Beispiele: Vorlesungen und Vorträge vom „Berliner Methodentreffen Qualitative Forschung“,23 eine Vortrags-Serie von Graham Gibbs;24 ein Lehrfilm zur objektiven Hermeneutik im Online-Fallarchiv der Universität Kassel, Bereich Schulpädagogik;25 Video-Bibliotheken mit Lehrmaterial des Sage-Verlags;26 Video-Podcasts des NCRM27). In allerjüngster Zeit ist insbesondere die Form sog. MOOCs (Massive Open Online Courses;28 Schulmeister 16
S. z. B. die NetzWerkstatt unter http://www.methodenbegleitung.de/. http://www.qualitative-forschung.de/. 18 https://quasus.ph-freiburg.de/. 19 https://studi-lektor.de/tipps/qualitative-forschung.html. 20 https://onlinekurslabor.phil.uni-augsburg.de/course/text/3618/3444. 21 https://groundedtheoryoldenburg.wordpress.com/. 22 https://ncrm.ac.uk/resources/podcasts/. 23 http://www.qualitative-forschung.de/methodentreffen/archiv/video/. 24 https://www.youtube.com/results?search_query=graham+gibbs. 25 http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/lernumgebung/lehrfilm/. 26 https://methods.sagepub.com/video. 27 https://ncrm.ac.uk/resources/video/. 28 https://www.e-teaching.org/lehrszenarien/mooc. 17
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2013) ausgebaut worden. Diese werden auf Plattformen wie Coursera,29 Udacity30 oder EDx31 (im deutschsprachigen Raum z. B. iversity32), die mit namhaften Universitäten und Lehrenden zusammenarbeiten, kostenlos angeboten. Der Erwerb eines Zertifikats, das die erfolgreiche Kursteilnahme bestätigt, ist jedoch kostenpflichtig. Angebote zur Methodenlehre gibt es bisher überwiegend für quantitative Methoden; seit Herbst 2015 werden auf Coursera33 (seitens der University of Amsterdam) auch MOOCs zu qualitativen Forschungsmethoden angeboten. Angesichts des Bedarfs in diesem Bereich ist zu vermuten, dass künftig weitere Lehrangebote hinzukommen. Neben solchen frei zugänglichen Veranstaltungen entwickeln Universitäten zunehmend eigene digitale Lehrangebote zu qualitativen Methoden, die teilweise für sich stehen, teilweise als hybride Seminare mit Präsenzelementen gekoppelt sind (z. B. Flick et al. 2014, S. 241–246; Holtslander et al. 2012; Hunter et al. 2014; Sorrell et al. 2014). Inwieweit digitale Lernumgebungen allerdings geeignet sind, Lehr-Lern-Prozesse innerhalb eines Modells der cognitive apprenticeship zu fördern, bleibt abzuwarten. Die in diesem Bereich gemachten Erfahrungen werden von Lehrenden unterschiedlich beschrieben und gewertet (Flick et al. 2014). Das Spektrum geht von der Ablehnung ausschließlich digitaler Lehr- und Lernformen (Hunter et al. 2014) bis hin zu positiven Beurteilungen (Holtslander et al. 2012). Es zeigt sich, dass in der digitalen Umgebung die Peer-Zusammenarbeit und damit das Lernen voneinander an Bedeutung gewinnt (Holtslander et al. 2012).
5
Anregungen für die Vermittlung qualitativer Methoden – speziell in der Psychologie
Wir geben im Folgenden einen Einblick in die vielfältigen neueren Ansätze und Bemühungen um eine didaktisch reflektierte, medial unterstützte, auf die gegenwärtigen heterogenen Ausbildungsbedingungen und -erfordernisse angepassten Formen der Vermittlung qualitativer Methoden. Wo es möglich ist, richten wir unseren Blick auch speziell auf den disziplinären Kontext der Psychologie. Die meisten Übungen, die auf die Vermittlung einer qualitativen Denkweise und Haltung ausgerichtet sind (Aronson-Fontes und Piercy 2000; Janesick 2015; Poulin 2007), arbeiten – in Anlehnung an die sog. Krisenexperimente Harold Garfinkels (1999 [1967]) – mit dem Prinzip, Selbstverständlichkeiten unseres Alltagshandelns infrage zu stellen, damit einen veränderten Blick auf soziale Wirklichkeit zu initiieren und diese Erfahrung anschließend zu reflektieren. Poulin (2007) integriert entsprechende Übungen in ihre Veranstaltung, wenn sie die Studierenden in der ersten 29
https://www.coursera.org/. https://www.udacity.com/. 31 https://www.edx.org/. 32 https://iversity.org/de. 33 https://www.coursera.org/. 30
Lehren und Lernen qualitativer Forschungsmethoden
279
Semestersitzung auffordert, sich als Personen vorzustellen – jedoch nichts zu/über sich selbst sagt. Nach Abschluss der Vorstellungsrunde thematisiert sie die Normverletzung und die Reaktionen der Studierenden darauf. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch Übungen, die Kunstwerke unterschiedlicher Genres (bildende Kunst, Dichtung, Film, Musik etc.) sowie Fernsehsendungen und deren Rezeption und Interpretation nutzen, um eine qualitative Einstellung zu fördern (arts-based approach: Lapum und Hume 2015). Barrett (2007) verwendet beispielsweise die Aufzeichnung einer Chorprobe zur Vermittlung von Strategien qualitativer Datenanalyse und -interpretation. Burr und King (2012) stellen ein Veranstaltungsmodul vor, bei dem Ausschnitte der TV-Sendung Big Brother herangezogen werden, um ethische Probleme speziell in der qualitativen Forschung aufzuzeigen (ähnlich Graham und Schuwerk 2017 unter Verwendung einer Episode aus der Serie Undercover Boss). Leblanc verwendet bereits 1997 Filme als Grundlage für die Vermittlung von Prinzipien ethnografischen Forschens. Eine umfangreiche Zusammenstellung von Filmen und deren Anwendbarkeit auf qualitative Lehr-Lern-Prozesse findet sich bei Saldana (2009; für weitere Beispiele einer arts-based Didaktik qualitativer Methoden s. Carawan et al. 2011; Edmonds 2013; Frei et al. 2010; Owen und Riley 2012; Raingruber 2009; Tan und Ko 2004). Auch die Arbeit mit Metaphern ist darauf ausgerichtet, die Entwicklung einer qualitativen Einstellung zu unterstützen. Gerstl-Pepin und Patrizio (2009) verwenden beispielsweise Dumbledores Pensieve aus der Harry Potter-Serie, um die Rolle eigener Erfahrungen und des Teilens dieser Erfahrungen mit anderen im qualitativen Forschungsprozess zu verdeutlichen. Derartige Übungen zur Initiierung einer qualitativen Einstellung überschneiden sich mit solchen, die auf die Förderung von Reflexivität ausgerichtet sind. Als Mittel dafür werden häufig das Forschungstagebuch oder das Schreiben von Memos eingesetzt (Booker 2009; Breuer 2010; Cox 2012; Hein 2004; Janesick 1983; Kleinman et al. 1997; im Überblick: Glesne und Webb 1993; speziell in der Psychologie Sargeant 2012): Parallel zur Konzeptualisierung und Durchführung einer eigenen Studie werden die Lernenden angehalten, ihre Gedanken, Erfahrungen und Gefühle schriftlich festzuhalten. Kleinman et al. (1997) sehen in diesem Zusammenhang beispielsweise eine Seminardiskussion über die Gefühle der Studierenden gegenüber den Personen im Feld vor, um so verschiedene Grundhaltungen von Forschenden zu identifizieren und deren Einfluss auf die Forschungsaktivitäten und das Datenmaterial herauszuarbeiten. Zusätzlich zum Forschungstagebuch lassen Kleinman et al. (1997) „Notizen-über-Notizen“ erstellen. Damit wird ein zusätzlicher Reflexionsschritt eingeführt: Die Lernenden setzen sich nicht nur mit ihren Reaktionen in der Forschungssituation und auf die Personen dort auseinander, sondern entwickeln darüber hinaus ein Bewusstsein dafür, wie diese Reaktionen ihre Aktivitäten beeinflussen (für ein weiteres Beispiel der Förderung von Reflexion in der Lehre qualitativer Methoden s. Pfadenhauer et al. 2018). Eine Form der Aneignung qualitativer Methoden und ihrer Mentalitäten ist die Auseinandersetzung mit einschlägigen Klassikern aus der Geschichte der Sozialforschung. Ein herausragendes Beispiel dieser Art ist die Feldforschungsstudie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Jahoda et al. (2007 [1933]). Hierzu existieren
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ausführliche Veranschaulichungsdokumentationen und Lehreinheiten im Internet, die u. a. an der Universität Graz34 ausgearbeitet worden sind, sowie zwei Dokumentarfilme („Marienthal 1930–1980“35 der „Gruppe SYNC“ von 1980 und „Einstweilen wird es Mittag“36 von Karin Brandauer 1987). Lehrveranstaltungen zur qualitativen Methodik zielen häufig auch darauf ab, Wissen über Erkenntnistheorie und Methodologie, über das Spektrum qualitativer Ansätze sowie konkreter Methoden und deren Anwendung zu vermitteln. Als besonders schwierig erweist sich dabei die Lehre über erkenntnistheoretische Positionen und qualitative Methodologie. Probleme machen hier sowohl die Unübersichtlichkeit von Positionen als auch die Notwendigkeit, innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen zwischen der Vermittlung von Methodologie einerseits und (Anwendungs-)Wissen über Methoden andererseits abzuwägen (Rogers 2003; Ruckdeschel und Shaw 2002). Dieses Thema wird in der Literatur zur Didaktik qualitativer Methoden recht stiefmütterlich bearbeitet (s. aber Cox 2012; Eisenhart und Jurow 2014; Roulston und Shelton 2015; Rowe und McAllister 2002). Die Konzeptualisierung einer Einführungsveranstaltung über qualitative Methoden von Poulin (2007) bildet eine Ausnahme. Sie ist beinahe ausschließlich auf die Vermittlung von Erkenntnistheorie und Methodologie ausgerichtet. Zur Präsentation verschiedener epistemologischer Positionen nutzt sie u. a. den Spielfilm Mindwalk37 (1990; Regie: Bernt A. Capra; deutscher Titel: „Wendezeit“38): Ein Dichter, ein Politiker und eine Quantenphysikerin diskutieren über die Vor- und Nachteile einer positivistischen im Vergleich zu einer holistisch-systemischen Weltsicht. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch neuere Lehrveranstaltungskonzepte: Hazzan und Nutov (2014) konzipieren und implementieren den Prozess qualitativer Lehre beispielsweise analog dem qualitativen Forschungsprozess; Knudson (2015) nutzt die Diversität der Studierenden für die Vermittlung partizipatorischer Ansätze. Eine andere Vorgehensweise wählt Page (1997) in einem Veranstaltungsmodul zum Thema Validität. Sie lässt die Studierenden zunächst einen Text von Wolcott aus dem Jahr 1983 über dessen berüchtigte Untersuchung zu „Sneaky Kid Brad“ lesen und über Validitäts-Aspekte reflektieren. Für die darauf folgende Woche sind die Studierenden angehalten, einen Folgetext zum selben Thema vom selben Autor aus dem Jahr 1990 zu lesen. Hier berichtet Wolcott über Brads Versuch, ihn (Wolcott) zu ermorden und legt offen, dass er mit Brad eine sexuelle Beziehung eingegangen war. Diese Informationen sowie die Kontrastierung der beiden Wolcott-Texte erlauben eine differenzierte Diskussion über die Bedeutung von Validität und ValiditätsKriterien in der qualitativen Forschung. In ähnlicher Weise nutzen Tolich und Mitarbeiter/innen (2017) Studien von Goffman und von Venkatech, um die Studierenden auf der Grundlage ihres Alltagswissens zur ethischen Reflexion qualitativer
34
http://agso.uni-graz.at/marienthal/00/einfuehrung.htm. http://www.medienwerkstatt-wien.at/cataloge/katalog.php?seite=marienthal. 36 http://agso.uni-graz.at/marienthal/film/1988_einstweilen_wird_es_mittag/00.htm. 37 https://www.youtube.com/watch?v=Uec1CX-6A38. 38 https://www.youtube.com/watch?v=45S4bNSHYDI. 35
Lehren und Lernen qualitativer Forschungsmethoden
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Forschung anzuregen (zur Vermittlung forschungsethischer Gesichtspunkte s. auch Noy 2015; Roth 2003). Qualitativ-Methodische Schulrichtungen werden meist vertiefend im Rahmen thematisch spezifischer Lehrveranstaltungen vermittelt und durch eigene Forschungsaktivität erfahrbar gemacht: zur Vermittlung der Ethnografie: Janesick (1983), Kleinman et al. (1997), Rist (1983); zur Grounded-Theory-Methodologie: Huels (2005), Strauss (1988); zur Autoethnografie: Bochner und Ellis (2016); zur narrativen Forschung: Josselson und Lieblich 2003; zur phänomenologischen Analyse: Biggerstaff (2008), Koob (2008); zum Symbolischen Interaktionismus: Koob (2007); zur Handlungsforschung: McNicoll (1999). Schwieriger ist es, den Studierenden in einer Veranstaltung einen forschungspraxis-nahen Einblick in die Vielfalt qualitativer Forschungsansätze zu geben. Harlos et al. (2003) konzentrieren sich in einem vierwöchigen Veranstaltungsmodul auf drei Ansätze: Grounded-Theory-Methodologie, interpretative Sozialforschung und kritische Diskursanalyse. In den ersten drei Wochen stellt ein Vertreter bzw. eine Vertreterin den jeweiligen Ansatz in der Lehrveranstaltung vor und geht dabei auch auf die lebensgeschichtliche Entwicklung der eigenen Forschungspraxis ein. In einer abschließenden Sitzung diskutieren die drei Vertreter/innen gemeinsam mit Studierenden ihre Ansätze und bearbeiten Datenmaterial. Dabei stellen sie dar, welche Aspekte des Materials sie vor ihrem jeweiligen Theoriehintergrund akzentuieren und wie ihre Interpretationspraxis konkret aussieht. Für die anschauliche Vermittlung und Einübung konkreter Erhebungs- und Auswertungsmethoden liegt ein großer Fundus an Vorschlägen und Übungen vor (etwa die Zusammenstellungen bei Ballard und Jensen 2007; Janesick 2015). Für ein Erlernen des Führens von Interviews schlägt Janesick (1983) beispielsweise vor, dass die Studierenden zunächst eine Person, die sie gut kennen, über ein persönliches Thema interviewen und anschließend eine ihnen unbekannte Kommilitonin zu einem eher unpersönlichen Thema befragen. Diese Übung vermittelt nicht nur Erfahrung mit Interview-Interaktionen, sondern kontrastiert darüber hinaus unterschiedliche soziale Forschungssituationen und den Umgang damit; sie beinhaltet also neben dem methodischen auch ein methodologisches Element. Eine didaktische Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem Erlernen von Interpretations-Kompetenzen führt Roth (2015) vor, der in einem Seminar eine erfahrene Sozialforscherin ihr bezüglich der Herkunft unbekanntes (den Seminarteilnehmerinnen dagegen bekanntes) Transkript-Material ad hoc analysieren lässt. Ein Modell zur forschungsnahen Vermittlung von Interview-Interpretationen auf der Grundlage von Material aus einem Daten-Archiv zeigt Stiefel (2007). Für die Koppelung von Grounded Theory-Methodologie-Vermittlung mit der einer QDA-Auswertungssoftware (ATLAS.ti) haben Mühlmeyer-Mentzel und Schürmann (2011) ein Seminarkonzept entwickelt (zu didaktischen Konzepten für die Vermittlung von Kompetenzen bei der Nutzung von Software bei der Kodierung qualitativer Daten: Silver und Woolf 2015, zur Vermittlung der thematischen Analyse s. Boström 2019). Im englischsprachigen Raum finden sich zahlreiche Veröffentlichungen zu einer Didaktik qualitativer Sozialforschung unter Berücksichtigung der besonderen Charakteristik qualitativer Methoden. Hervorzuheben sind hier die Zusammenstel-
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lung von Online-Ressourcen für die Lehre qualitativer Methoden seitens der Higher Education Academy,39 die umfangreiche Bibliografie zur Didaktik qualitativer Forschung von Chenail (2012;40 s. auch die Methodspace Community von Sage41). Auch ganze Lehrveranstaltungen einschließlich Themenliste und Literatur sind verfügbar (z. B. Onwuegbuzie et al. 2012). Speziell für Psychologie-Seminare existieren einige Ressourcen: etwa AronsonFontes und Piercy (2000), Danquah (2017), Boeree (2015),42 Navarro (2005), Rogers (2003). Hervorzuheben sind hier die Materialien für die Lehre qualitativer Methoden in der Psychologie, die von der Arbeitsgruppe TQRMUL im Kontext der British Psychological Society zusammengestellt und in Buchform publiziert wurden (Sullivan und Forrester 2019). Die Buchpublikation ist gekoppelt mit Anschauungsund Datenmaterial: Interviews zum Thema Freundschaft, die sowohl als Videos wie auch als Transkripte ins Internet gestellt sind.43 Im Buch wird dieses Material genutzt, um das Vorgehen bei der Anwendung von vier verschiedenen Methoden qualitativer Datenanalyse praxisorientiert zu veranschaulichen.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Als ein wesentliches Ziel der Lehre qualitativer Methoden – über das Kennenlernen von spezifischen Verfahren aus einem „Werkzeugkasten“ hinaus – heben wir die Vermittlung einer qualitativen Denkweise und Haltung hervor. Eine derartige (Neu-) Justierung des Blicks des/der Forschenden gestaltet sich für Studierende bzw. Forschende im Fach Psychologie zumeist deshalb als schwierige Herausforderung, weil die übliche einseitige Ausbildungs-Sozialisation eine gänzlich andere Perspektive favorisiert und zu entsprechenden „Habitus-Einschreibungen“ führt. Hinzu kommt ein steigender Druck im Zuge einer Ökonomisierungs-Tendenz im Bildungswesen, der zwar einer Vermittlung qualitativer Methoden als „Techniken“ nicht entgegen steht, die mit der Aneignung einer qualitativen Einstellung/Haltung jedoch nur schwer zu vereinbaren ist (Waite 2014). Für die Gewinnung einer voll entwickelten forschungsmethodischen Kompetenz in der Psychologie erscheint es uns sinnvoll, Qualifikationen sowohl in quantitativen wie in qualitativen Arbeitsweisen zu vermitteln bzw. zu entwickeln – unter einer Perspektive, dass das eine nicht lediglich die Vorstufe oder der Wurmfortsatz des anderen ist (Groeben 2006). Zu einer solchen Kompetenz kann es gehören, flexibel 39
https://www.heacademy.ac.uk/hub. http://tqr.nova.edu/wp-content/uploads/2015/06/teaching_2012.pdf. 41 http://www.methodspace.com/page/teaching-and-learning. s. auch die Ressourcen des ecampus Ontario http://qualitativeresearchontario.openetext.utoronto.ca/ sowie des Center for Innovation in Research and Teaching https://cirt.gcu.edu/research/developmentresources/research_ready/qualita tive/approaches; für eine Zusammenstellung unterschiedlicher didaktischer Vorgehensweisen s. Richards und Roth 2019) 42 http://webspace.ship.edu/cgboer/qualmeth.html. 43 https://www.heacademy.ac.uk/knowledge-hub/tqrmul-dataset-teaching-resources-user-guide. 40
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zwischen den beiden Denkweisen und Haltungen wählen oder switchen zu können – somit beide Varianten bei konkreten Projekt-Anforderungen verfügbar zu haben, sie u. U. auch kombinieren zu können, etwa in sogenannten Mixed-Methods-Designs (Creswell 2015). Das Lehren und Lernen qualitativer Methodologie und Methodik wird in Kontexten und Curricula der akademischen Psychologie an Universitäten im deutschen Sprachraum derzeit – moderat ausgedrückt – wenig berücksichtigt und begünstigt. Insofern befinden sich Psychologiestudierende, die solche Herangehensweisen kennenlernen oder in eigener Forschung (etwa im Rahmen von Qualifikationsarbeiten) praktizieren möchten, im Verhältnis zum disziplinären Mainstream stets in einer Randlage und besitzen einen gewissen Pionier-Status. Einschlägig interessierte und ambitionierte Lernende sind unter den beschriebenen disziplinären Voraussetzungen zumeist darauf angewiesen, sich Angebote in außercurricularen oder in nachbarwissenschaftlichen Zusammenhängen zu suchen. Dabei ist viel Eigeninitiative und Improvisation erforderlich. Im Zuge des Umbaus des Hochschulwesens sind die Spielräume, in denen derartige kreative Eigensinnigkeiten möglich sind, häufig eng geworden (an Universitäten), mitunter haben sich allerdings auch neue Möglichkeiten aufgetan (etwa an Fach-/Hochschulen oder Privatuniversitäten). In der englischsprachigen Welt sind die didaktischen Konzeptualisierungen und Anregungen zahlreicher, vor allem im Feld der im Internet zugänglichen Vermittlungs- und Unterstützungs-Ressourcen wird das Angebot täglich reichhaltiger. Auf institutioneller Ebene, in hochschul- und fachpolitischer Hinsicht, ist in der Psychologie ein Umdenken und Umsteuern nötig, damit dieser Forschungsstil nicht – zusammen mit anderen überkommenen akademischen Freiräumen – gänzlich aus dem Fach eliminiert und der interdisziplinäre Bezug zu benachbarten Sozial- und Kulturwissenschaften nicht abgeschnitten wird. Entsprechend dem o. g. „Memorandum für eine fundierte Methodenausbildung in den Human- und Sozialwissenschaften“44 sind u. E. im Rahmen der Lehrpläne an Hochschulen und Universitäten folgende (Minimal-)Angebote notwendig: • Es sollten wissenschaftstheoretische und allgemein-methodologische Grundlagen sowie ethische Leitlinien sozialwissenschaftlich-empirischen Forschens unter quantitativ wie unter qualitativ ausgerichteten Konzeptionen vermittelt werden; • weiterhin sind Überblickskenntnisse über die wichtigsten qualitativen Verfahren, deren Eignung für Forschungsgegenstände und Fragestellungen sowie deren Koordinierbarkeit mit quantitativ orientierten Forschungsschritten erforderlich; • es muss möglich sein, ein ausgewähltes qualitatives Verfahren einzuüben, einschließlich des Sich-Vertrautmachens mit dem Forschungsstil anhand der Bear-
S. Fußnote 2. Ein „Manifest“ zu den „Methoden qualitativer Sozialforschung“, Anfang 2010 herausgegeben von der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, enthält ähnliche Maximen bezüglich der Frage: „Wie sollen Methoden der qualitativen Forschung gelehrt werden?“; https://sagw.ch/sagw/aktuell/news/details/news/methoden-qualitativer-sozialforschungmanifest/.
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beitung einer spezifischen empirischen Fragestellung, im besten Fall in einer angeleiteten und supervidierten Projektgruppe; • Studienabschlussarbeiten unter einem qualitativen Forschungsstil müssen möglich sein, sie müssen kompetent begleitet und beraten werden; • eine interdisziplinäre Vernetzung und Kooperation qualitativen Methodenlernens und Forschens im Rahmen von Lehrplänen, Projektgruppen, Forschungswerkstätten etc. sollen ermöglicht und gefördert werden. Auf der Basis einer solchen institutionellen Grundsicherung der Ausbildungsmöglichkeiten in qualitativer Methodik lassen sich auch für den deutschsprachigen Raum detailliertere hochschuldidaktische Überlegungen zur curricularen Anlage, zur Vorlesungs- und Seminargestaltung, zur Arbeit in und Betreuung von Projektgruppen sowie zum Anfertigen von Studienabschlussarbeiten entwickeln.
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Teil II Erhebung
Ethnografie Stefan Thomas
Inhalt 1 Die Lebenswelt als Forschungsfeld in der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Entstehungsgeschichte und (sub-)disziplinäre Einordnung der Ethnografie . . . . . . . . . . . . . . . 3 Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen der Ethnografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Stationen des ethnografischen Forschungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Psychologische Forschungsperspektiven in der Ethnografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Ethnografie ist in der akademischen Psychologie aufgrund der Eliminierung von Subjektivität und Lebenswelt nach wie vor eine vernachlässigte Methode. Ethnografie könnte – so die These im 1. Abschnitt – durch ihre Qualifikation als Feldforschung einen Beitrag zu einer stärkeren Orientierung der Psychologie auf reale Situationen und Handlungen in gesellschaftlichen Kontexten leisten. Ohne den Status eines anerkannten Verfahrens zu haben, lassen sich im 2. Abschnitt jedoch eine Vielzahl an Bezügen auf die Ethnografie historisch herausarbeiten. Im 3. Abschnitt wird gezeigt, dass über die Feldforschung hinaus der multimodale Einbezug des diversen Angebots an Methoden der empirischen Sozialforschung wichtig ist, um eine Kontextualisierung der Forschung in der Sozialwelt zu bewerkstelligen. Entlang der zentralen Stationen werden im 4. Abschnitt typische Herausforderungen des ethnografischen Forschungsprozesses skizziert – vor allem: Feldzugang, Forschungsrollen, Datenerhebung und -auswertung sowie das Schreiben. Ethnografie erfordert, so wird am Ende aufgewiesen, eine gesonS. Thomas (*) Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften, Fachhochschule Potsdam, Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_35
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derte (meta-)theoretische Rahmung, damit diese sich in einer genuin sozialwissenschaftlichen Psychologie verorten lässt. Schlüsselwörter
Ethnografie · Feldforschung · Teilnehmende Beobachtung · Lebenswelt · Ethnografisches Schreiben
1
Die Lebenswelt als Forschungsfeld in der Psychologie
Die Distanz zwischen Ethnografie und Psychologie scheint größer kaum sein zu können. Auf der einen Seite finden wir einen in der Sozialanthropologie und Soziologie bewährten und anerkannten Ansatz, der uns durch seine Forschungsresultate mit der Lebenswelt und Sozialstruktur von Kulturen und Lebensgemeinschaften vertraut gemacht hat, die bis dahin weitgehend unbekannt waren. Viele Studien wurden zu Zeugnissen nun längst untergegangener Gesellschaftsformen, ob es sich um Bronislaw Malinowskis Forschungsreise (1922) an die Südseestrände in der Westpazifischen Karibik handelt; um die soziologische Studie „Middletown“, in der Robert und Helen Lynd (1929) über das soziale Leben einer mittelgroßen US-amerikanischen Stadt berichten; um die Innenansichten, die William F. Whyte (1981 [1943]) in die soziale Organisationsstruktur eines italienischen Immigrant/innenviertels in Boston gibt; um die Dokumentation des Niedergangs indigener Kulturen aufgrund westlicher Kultureinflüsse im Zuge von Kolonialisierung und Globalisierung bei Claude Lévi-Strauss (1978 [1955]) oder um die ironische Selbstbeschreibung der Sozialanthropologie als eine zunehmend orientierungslose und verunsicherte Wissenschaftsdisziplin durch Clifford Geertz (1983). Auf der anderen Seite finden wir die Psychologie, die ihre disziplinäre und methodische Selbstverortung ganz überwiegend durch experimentelle Untersuchungen gewinnt. Hier ist die Forschung zum Zweck der Situations- und Bedingungskontrolle nicht selten in die Kellerräume, wo sich die Laboratorien psychologischer Institute vielfach finden, verbannt. Fernab von Lebenswelt und Alltag, weil sich menschliche Subjektivität nur im strikten Rahmen der Versuchsanordnung artikulieren darf, werden Fragen aufgeworfen und beantwortet, deren Bezug zur wirklichen Welt in viel zu vielen Fällen von fraglicher Natur ist. Das Erkenntnispotenzial, das wir durch die methodische Zurichtung des Forschungsgegenstandes in der Psychologie verschenken, hat Aaron Cicourel im Jahr 2000 in einem Seminar an der Universität Bremen durch einen Vergleich mit den Geschichtswissenschaften veranschaulicht. Was würden wohl Historiker/innen darum geben, wenn sie die Möglichkeit hätten, mit den Menschen, über die sie forschen, wirklich in Kontakt zu treten, um Lebensweise, Kultur und Sitte längst vergangener Epochen aus erster Hand kennenzulernen? Die Psychologie dagegen öffnet diese Tür zur Lebenswelt der von ihr untersuchten Menschen aus epistemologischen Gründen erst gar nicht.
Ethnografie
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2
Entstehungsgeschichte und (sub-)disziplinäre Einordnung der Ethnografie
2.1
Ethnografie in der Sozialanthropologie und Soziologie
Die Geschichte ethnografischer Reiseberichte lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen (Wax 1971, S. 21–41). Doch wird der Beginn der wissenschaftlichen Ethnografie im Sinne von teilnehmender Beobachtung gemeinhin in Bronislaw Malinowskis Studien über die seefahrenden Völker auf den Trobriand-Inseln in den Jahren 1916–1918 verortet. In der Einführung in die Monografie „Argonauts of the Western Pacific“ (1922) wurde das erste Mal von participant observation gesprochen. Bis zu dieser Zeit war es unüblich, dass Wissenschaftler/innen die Anstrengungen und Beschwerden langer Reisen auf sich nahmen, aber mehr noch, dass sie ihre Zelte in den Dörfern der untersuchten Stämme und Völker aufschlugen, um dort über Monate hinweg Feldforschung zu betreiben. Sozialanthropolog/innen beschränkten sich bis dahin vorwiegend auf Armchair-Wissenschaft, welche die Reiseberichte von Kaufmännern, Kolonialherren oder Missionaren am Schreibtisch studierten, um darauf ihre kulturwissenschaftlichen Theorien aufzubauen. Das Aufkommen ethnografischer Forschung lässt sich als traditionelle Phase in der Methodenentwicklung charakterisieren (Denzin und Lincoln 2005). Anfang des 20. Jahrhunderts wurde den Sozialanthropolog/innen deutlich, dass sie sich in einem nicht gewinnbaren Wettrennen gegen die Zeit befanden. Die Zahl der Völker und Kulturen, die noch weitgehend unberührt vom Einfluss westlicher Gesellschaften und Lebensstile zu untersuchen waren, nahm rapide ab. Besonders in den USA unter der Ägide von Franz Boas, aber auch durch Alfred Radcliffe-Brown wurde die neue Methode der Feldforschung unter Studierenden propagiert (Kohl 2012). In der Soziologie dagegen wird die Initialzündung zur Etablierung ethnografischer Feldarbeit als eigenständige Forschungsstrategie allgemein den Arbeiten des Department of Sociology der University of Chicago zugeschrieben; der „Chicago-School“ (Lindner 2004, S. 113–46). Dort vollzog sich ab 1917 unter dem besonderen Einfluss von Robert E. Park und Ernest W. Burgess eine Hinwendung auf die empirische Exploration und Erfassung sozialer Lebenswelten, die in den US-amerikanischen Großstädten anzutreffen waren (Burgess 1984; Salerno 2007; s. auch Becker und Keller 2016). Eine zentrale Entwicklungslinie der methodischen Selbstverortung in der Ethnografie, die ihre Geltung bis in die Gegenwart behaupten kann, hatte ihren Ausgangspunkt in jener modernistischen Phase, die sich insbesondere in den 1960er- und 1970er-Jahren Geltung verschaffte. Das Erkenntnisinteresse war auf naturalistische Beschreibungen sozialer Lebenswelten fokussiert, die in ihrer methodischen Strenge durch Methodisierung und Formalisierung an die Standards und Gütekriterien der quantitativen Methodik Anschluss finden sollten (McCall und Simmons 1969). Dieser Entwicklungsschub in der methodologischen Debatte führte zur endgültigen Etablierung und Verwissenschaftlichung der Ethnografie, dem „Goldenen Zeitalter“, was Studien umfasst wie „Boys in White“ (Becker et al. 1961) oder „Soulside“ (Hannerz 1969). Hieran schloss sich eine Phase der weiteren Konsolidierung und
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Ausarbeitung einer qualitativen, interpretativen Methodologie an, die noch bis heute währt (Atkinson et al. 2001; Robben und Sluka 2007). Im deutschsprachigen Raum ist ein bekannter Vertreter des ethnografischen Forschungsansatzes Roland Girtler (1995), der die verschiedensten Randkulturen unserer Gesellschaft untersucht hat; produktive Akzente finden sich auch in den Arbeiten von Ronald Hitzler (2008) zu jugendkulturellen Szenen und von Anne Honer (1993), die Ethnografien der kleinen Lebenswelten von Bodybuilder/innen und Heimwerker/innen erstellte; ebenso ist Hubert Knoblauch (2005) mit seinem methodischen Diskussionsbeitrag zur fokussierten Ethnografie zu erwähnen. Breidenstein et al. legten schließlich 2013 die erste systematische Einführung in die Ethnografie als Monografie für die Sozialwissenschaften auf dem Hintergrund des im deutschsprachigen Raum entwickelten Verständnisses qualitativer Sozialforschung vor, gefolgt von weiteren Bänden (aktuell: Hitzler und Eisenwicht 2016; Thomas 2019). Eine zweite Entwicklungslinie brach dagegen mit dem Selbstverständnis klassischer Ethnografie, d. h. mit dem Wissenschaftsmodell einer naturalistischen Lebensweltforschung. Insbesondere in den USA kamen unter dem Einfluss der „Writing Culture“-Debatte (Clifford und Marcus 1986) prinzipielle Zweifel an dem wissenschaftlichen Repräsentationsmodell der Sozialwissenschaften auf (Berg und Fuchs 1993). Demnach bezeichnet „Krise der Repräsentation“ die teils schockierende Einsicht, dass Ethnografie weniger in der Lage zu einer objektiven Wiedergabe von Realität ist, als dass es sich um einen Konstruktionsprozess handelt. Aus diesem können sich die Forschenden nicht als nüchterne (unattachted) Beobachter/innen herausnehmen, sondern an diesem sind sie zentral beteiligt. Die Legitimität klassischer Objektivität und Wissenschaftlichkeit wird weitgehend infrage gestellt. Das Zerbrechen des ethnografischen Realismus mündete schließlich in einer neuen Nachdenklichkeit und Selbstreflexivität (Geertz 1983), in deren Folge eine Vielzahl an Ansätzen hervorgebracht worden ist: autoethnography (Bochner und Ellis 2016), art-based ethnography (Leavy 2015), feminist ethnography (Olesen 2017), critical ethnography (Denzin und Lincoln 2017). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Ethnografie angesichts der Globalisierung sozialen Lebens immer weniger auf das aus westlicher Perspektive stilisierte Fremde, Andere und Exotische blickt. Vielmehr rücken Sozialmilieus und kleine Lebenswelten der jeweils eigenen Kultur in den Interessenfokus.
2.2
Ethnografie in der Psychologie
In der Psychologie muss Ethnografie dagegen in weiten Teilen noch als Methode entdeckt werden. Schon die von Wundt (1900) entworfene Programmatik einer Völkerpsychologie, woraus sich Anschlüsse an ethnografische Forschung hätten ergeben können, muss als verpasste Chance gelten. Es verhält sich eher umgekehrt, dass psychologische Theorien, insbesondere die Psychoanalyse, durch die Sozialanthropologie aufgegriffen worden sind. Malinowski bezog sich in „Sex and Repression in Savage Society“ (1927) explizit auf psychoanalytische Grundbegriffe.
Ethnografie
297
Bei Margret Mead (1935), die sich mit der psychosexuellen Entwicklung heranwachsender Mädchen in unterschiedlichen Kulturen beschäftigte, floss nicht nur Freuds Werk als Hintergrundtheorie ein, sondern sie verwendete wie viele andere Sozialanthropolog/innen psychologische Testverfahren zur Persönlichkeitsdiagnostik. Umgekehrt findet sich eine methodische Öffnung gegenüber der Ethnografie aufseiten der Psychoanalyse, wobei den Forschungsarbeiten von Georges Devereux ein besonderer Verdienst zukommt (1985 [1951]). Im deutschsprachigen Raum konnte sich im Anschluss an Paul Parin, Fritz Morgenthaler und Goldy ParinMatthèy in Form der Ethnopsychoanalyse schließlich eine eigenständige Theorieund Methodentradition durchsetzen (Reichmayr 2003). Bekannt wurden die methodologischen Überlegungen von Mario Erdheim (1988) und die Studie von Maya Nadig (1986) über „Die verborgene Kultur der Frau“ in Mexiko. Zudem werden aus der Ethnologie heraus Möglichkeiten der Feldforschungssupervision diskutiert, um durch die Deutungsarbeit Zugang zu den subjektiven Gehalten der Felderfahrung zu erhalten (Bonz et al. 2017). Erst viel später kam es über die Psychoanalyse hinaus mit der Herausbildung einer psychological anthropology zu einer ernsthaften Beschäftigung mit Ethnografie (D’Andrade 1995). Durch den cognitive turn findet sich eine Erweiterung auch des methodischen Interesses gerade in den USA, wo die Kognitionspsychologie unter einer Kulturperspektive fruchtbar gemacht wird. Der Herausbildung einer psychological anthropology steht in Deutschland die Debatte um eine Kulturpsychologie gegenüber (Hildebrand-Nilshon et al. 2002; Staeuble 1992). Hier geht es jedoch mehr um die konzeptuelle Selbstverortung, wohingegen ethnografisch inspirierte Forschung eher eine Ausnahme bleibt. Offenheit für einen ethnografischen Ansatz kann zumindest in der Frühphase der Entwicklungspsychologie ausgemacht werden, die hier im Sinne einer „Ethnografie des Kindesstubenlebens“ betrieben wurde (Mey 2003). Dabei wurde nicht so sehr das Individuum in seinem sozialkulturellen Lebenszusammenhang erforscht, sondern die Aufmerksamkeit galt der individuellen Entwicklung. William und Clara Stern hielten etwa das Heranwachsen ihrer Kinder in umfänglichen Tagebuchaufzeichnungen fest. Martha und Hans Heinrich Muchow (1935) führten Beobachtungsstudien zu räumlichen Aneignungs- und Spielformen von Großstadtkindern durch (Mey 2018). In den Erziehungswissenschaften finden sich zudem ethnografische Studien und methodologische Reflexionen in den Themenbereichen Sozialisation, Kindheit und Jugend sowie in pädagogischen Handlungskontexten (Friebertshäuser et al. 2012; Hünersdorf et al. 2008). Im Schnittbereich von Sozialpsychologie und Soziologie ist besonders auf die Marienthal-Studie (Jahoda et al. 1975 [1933]), aber auch auf die Institutionsforschung in Psychiatrien von Goffman (1973) zu verweisen. In der Arbeits- und Organisationspsychologie finden sich ethnografische Forschungselemente etwa in der Hawthorne-Studie (Roethlisberger und Dickson 1939) und in der Aktionsforschung bei Kurt Lewin (1953). Ebenso finden sich Bezüge auf die Ethnografie in der Angewandten Psychologie, etwa der Beratungspsychologie (Suzuki et al. 2005) oder der Sportpsychologie (Krane und Baird 2005).
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Gelegentlich wird Ethnografie in der Community Psychology aufgegriffen, um Gemeinschaften vor allem im Hinblick auf Prozesse sozialen Wandels zu untersuchen (Case et al. 2014). Esposito (2017) reflektiert etwa ihre Positionierung als gemeindepsychologische Feldforscherin in einem italienischen Geflüchtetenlager. Legewie (1987) hat eine gemeindepsychologische Studie über den Berliner Stephankiez durchgeführt, wo er gesellschaftliche Wandlungs- und Verdrängungsprozesses aus der Innenansicht der Bewohner/innen untersuchte. Auch im Bereich der transkulturellen klinischen Psychologie und Psychiatrie finden sich vereinzelt ethnografische Studien (Angermeyer und Zaumseil 1997).
3
Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen der Ethnografie
3.1
Die methodologische Selbstverortung
Ethnografie ist die klassische Methode zur Erforschung der sozialen Lebenswelt. Der Aufgabenbereich der ethnografischen Methode besteht darin, Instrumentarien und Verfahrensweisen zur methodisch angeleiteten und reflektierten Kartografierung kultureller Welten bereitzustellen. Dabei lässt sich eine Vielfalt von Begriffen zur Beschreibung ganz ähnlicher methodischer Vorgehensweisen finden: field work, participant observation, teilweise auch case study etc. Im deutschsprachigen Raum wurden lange Zeit nur die Ausdrücke „Feldarbeit“ oder „Feldforschung“ gebraucht; die Bezeichnung Ethnografie kam erst später hinzu. Feldforschung bzw. teilnehmende Beobachtung gehören zum festen Kernbestandteil jeder ethnografischen Studie (Gobo 2008, S. 4–5). Denn die Untersuchung richtet sich auf das „wirkliche“ Leben, wie es von den Menschen in ihrer Alltagswelt erlebt und gelebt wird (Blumer 1969; Cicourel 1964, S. 28). Die Möglichkeit, das „wirkliche Leben“ objektiv zu erfassen, wird zwar kontrovers diskutiert (Hammersley 1992, S. 43–56). Aber in jedem Fall ziehen die Ethnograf/innen in die Welt, um ihre eigenen Beobachtungen und Erfahrungen beim Kennenlernen und Untersuchen einer (Sub-)Kultur zu machen: „The ethnographer participates, overtly or covertly, in people’s daily lives for an extended period of time, watching what happens, listening to what is said, asking questions; in fact collecting whatever data are available to throw light on the issues with which he or she is concerned.“ (Hammersley und Atkinson 2007, S. 2)
Ethnografie lässt sich aber keineswegs auf die Anwendung von Feldforschung und teilnehmender Beobachtung reduzieren. Das Erkenntnisinteresse ist ambitionierter: Es werden nicht allein einzelne lebensweltliche Ausschnitte, Situationen und Ereignisse untersucht. Vielmehr porträtiert eine Ethnografie das soziokulturelle Leben einer besonderen Gruppe von Menschen, wobei sowohl soziale Strukturen, Weltanschauungen, Diskurse, Werte als auch Interaktionen, Kognitionen, Gefühle, Lebensgeschichten und Handlungen von Interesse sind. Für Ethnograf/innen besteht
Ethnografie
299
die Herausforderung darin, das „wirkliche“ Leben als eine kulturelle Welt, die als Wirklichkeitstotalität für sich steht, zu erfassen. Damit geht es nicht allein um die „objektive“ Beobachtung von realen Situationen und lokalen Handlungspraxen. Zugleich sollen die kulturellen Bedeutungen erfasst werden, wodurch Situationen und Handlungen erst ihre soziale Wirklichkeit erlangen. Daher ist der erkenntnislogische Anspruch ethnografischer Forschung ein zweiseitiger: Die Situierung des Forschungsprozesses im „wirklichen“ Leben ist einerseits notwendig, weil Forschende in der Regel nur im geringen Maße mit der übergreifenden Kultur und den sozialen Bedeutungen der beforschten Welt vertraut sind. Sie versuchen, „den Bezugsrahmen zu entdecken und zu explizieren, in dem das [. . .] beobachtete Verhalten als soziales, d. h. sinnvolles Handeln im Kontext spezifischer Kultur-, Milieu- und Situationszusammenhänge beschreibbar wird“ (Schmitt 1992, S. 28). Durch die Teilnahme an dem kulturellen Leben gewinnen sie die einzigartige Möglichkeit, die Menschen und ihre Wirklichkeit durch die Übernahme einer Innenperspektive zu ergründen: „to grasp the native’s point of view, his relation to life, to realise his version of his world“ (Malinowski 1922, S. 25). Andererseits konstituiert sich aus einer mikrosozialen Perspektive die Wirklichkeit gerade erst über die kleinen Interaktionen, kurzen Handlungssequenzen und situationsspezifischen Geschehensverläufe, wie diese sich an dem Ort der Beobachtung ereignen. Das einzelne Wort, die für sich stehende Handlung, das isolierte Ereignis, jeweils zu unscheinbar und unwichtig, um protokolliert und festgehalten zu werden, schichtet sich schließlich zu jener Dichte des Alltags auf, in der sich die untersuchte Lebenswelt selbst erblickt. Ethnografie ist dem Anspruch verpflichtet, die strukturelle Fremdheit, die der Untersuchungsgegenstand für die Wissenschaftler/innen hat, in einer methodisch reflektierten Weise zu überwinden und in ein positives Wissen über die andere Lebensform zu verwandeln. Die Exploration einer kulturell fremden Welt macht daher eine besondere Haltung der Forschenden gegenüber dem Untersuchungsfeld notwendig. Während die meisten Methoden der Sozialforschung von der Fiktion ausgehen, dass man die Anderen schon irgendwie verstehen wird, geht Ethnografie von der Annahme einer strukturellen Differenz von Wissenschaftler/in und Alltagsmensch aus. Eine ganz wesentliche Bedeutung kommt dabei dem „Fremdheitspostulat“ bzw. einer Haltung der „Befremdung“ zu (Amman und Hirschauer 1997, S. 12). Indem die Wahrnehmung der im Feld stehenden Personen als Fremde angestrebt wird, wird der Gefahr vorgebeugt, die unbekannte Lebenswelt innerhalb des eigenen Verständnishorizontes einfach zu subsumieren und zu vereindeutigen. Vielmehr geht es darum, was sich generell als Grundanspruch qualitativer Sozialforschung formulieren lässt, in der Erkenntnis dem Leben der Anderen zum eigenen Recht zu verhelfen.
3.2
Der methodische Werkzeugkoffer
Das breit gefächerte Interesse der Ethnograf/innen an der Lebenswelt anderer Menschen findet seine Entsprechung in der Triangulation von Methoden und Daten
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S. Thomas
(Flick 2004, S. 51–74). Daher bezeichnet Ethnografie kein einzelnes Verfahren, sondern es handelt sich vielmehr um einen Sammelbegriff, der die Anwendung des ganzen Arsenals an Methoden unterstützt, welche die Sozialforschung zu bieten hat, unabhängig davon, ob diese dem qualitativen oder quantitativen Paradigma zuzuordnen sind. Durch das methodenplurale Vorgehen der Ethnografie wird der Anspruch nach Gegenstandsangemessenheit der Methodik am strengsten gewährleistet. Methodische Entscheidungen, Abgrenzungen und Ausschlüsse werden nicht ad hoc vollzogen, sondern die Festlegung der methodischen Umsetzung entwickelt sich im sukzessiven Fortschreiten des Forschungsprozesses. Trotz dieser Methodenoffenheit kommt keine Ethnografie ohne den direkten Feldkontakt qua teilnehmender Beobachtung aus. Über Erzählungen, Diskussionen und Fragemöglichkeiten, die sich aus der Situation ergeben, hinaus zielen die in der Ethnografie am häufigsten angewandten Verfahren auf die Erhebung von Fragebögen, Interviews, Bildern und Videos, Dokumenten und Artefakten aller Art. Diesen gegenüber der direkten Feldforschung „ergänzenden“ Forschungsmethoden ist jedoch gemeinsam, dass diese sehr viel weniger innerhalb des „wirklichen“ Lebens situiert sind. Denn selbst bei Interviewstudien ist der Feldkontakt auf wenige Stunden beschränkt. Fragebögen eignen sich beispielsweise, um repräsentative Erhebungen über die statistische Verteilung wichtiger Merkmale in der untersuchten Gesamtpopulation durchzuführen. Auch subjektive Sichtweisen, Einstellungen und Überzeugungen sind nicht allein über die teilnehmende Beobachtung zu erhalten. Vielmehr werden Interviews durchgeführt, um abseits von den „normalen Störungen“ des Feldes eine ausführliche und konzentrierte Themenexploration zu ermöglichen (Spradley 1979). Insbesondere biografische Erzählungen brauchen Ruhe und Zeit, um den lebensgeschichtlichen Faden in aller Ausführlichkeit und Detailliertheit entwickeln zu können. Gruppeninterviews sind besonders gut dazu geeignet, den Diskurs zu fixieren, der unter den Akteur/innen im Feld zu einem spezifischen Thema gemeinsam geführt wird. Ebenso lassen sich partizipative Forschungsmethoden in einer gemeinsamen Exploration der Lebenswelt mit den Akteur/innen integrieren (Bergold und Thomas 2012). Schließlich vergegenständlicht sich die soziale Praxis immer auch in kulturellen Artefakten (alle Formen von im Alltag gebräuchlichen Kulturgegenständen) und Dokumenten (etwa Briefe, Tagebücher, Zeugnisse, Urkunden auf der persönlichen Ebene, Schriften aller Art – Zeitungen, Bücher, Akten, Reporte – mit Blick auf Öffentliches) (Gobo 2008, S. 129–130).
3.3
Das produktive Spannungsverhältnis von teilnehmender Beobachtung
Für die Ethnografie wird in jedem Fall das Spannungsverhältnis, das sich zwischen den widersprüchlichen Anforderungen von Teilnahme und Beobachtung entwickelt, virulent (Murchison 2010, S. 84–87; Pfadenhauer 2017). Einerseits ist eine empathische Teilnahme an der Lebenspraxis notwendig, andererseits die auf Distanz
Ethnografie
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gehende Beobachtung von alltäglichen Gegebenheiten und Vorkommnissen im Forschungsfeld. Die Beobachtung versucht das soziale Leben unabhängig von den Selbstverständnisformen und subjektiven Sichtweisen der Akteure und Akteurinnen im Forschungsfeld zu untersuchen. Methodisch wird zwischen Einstellungen – warum man glaubt, etwas zu tun – und dem wirklich beobachtbaren Verhalten unterschieden. Die Beobachtungen dienen dazu, Daten zur Beantwortung von Fragen nach der Art zu generieren: Wie wird tatsächlich gehandelt? Wie ist die Situation zu beschreiben? Welche Situationsmerkmale definieren den (Handlungs-)Kontext? Dementsprechend wird gerade zu Beginn auf die Verwendung von strukturierten Beobachtungsleitfäden verzichtet, um eine möglichst unvoreingenommene Haltung gegenüber dem sozialen Leben einzunehmen. Die Relevanzstrukturen der beobachteten Lebenswelt sollen gleichsam von selbst hervortreten. Feldforschung möchte aber in der Regel mehr, als nur vom äußeren Standpunkt der unbeteiligten Beobachtenden Einblicke in fremde Lebenswelten zu gewinnen. Die Teilnahme zielt über Immersion auf den Aufbau einer kommunikativen Forschungssituation, in der die individuellen Sicht-, Begründungs- und Reflexionsformen zur Sprache gebracht werden. Das Erlernen der Rolle des Teilnehmers/der Teilnehmerin durch den Ethnografen bzw. die Ethnografin erfordert einen Forschungsprozess, der sich Zeit nimmt, den Kontakt zu den Menschen sucht, ihr Vertrauen gewinnt, um im Gespräch zu gemeinsamen Situationsdeutungen zu gelangen, die sich zugleich im Alltag praktisch bewähren. Sicherlich verändert die Anwesenheit der Forschenden die Reaktions- und Verhaltensweisen des Feldes. Andererseits wird es möglich, systematisch zu untersuchen, wie die Akteure auf äußere Störungen typischerweise reagieren (Devereux 1973 [1967], S. 29). Die über die Kommunikations- und Verständnisprozesse zu erfassenden Daten sollen daher eine Antwort auf folgende Fragen liefern: Wie stellt sich die Welt vom Standpunkt des Akteurs/der Akteurin dar? Wie beurteilen diese ein Ereignis, eine Handlung oder eine besondere Situation? Welche Absichten und Ziele werden in der Situation verfolgt? Erst die Konvergenz von Innen- und Außenperspektive ermöglicht das analytische In-Beziehung-Setzen von Handlung und Sinn. Während die Beobachtung einen direkten Blick auf Situation und Handlung eröffnet, ist der subjektive Sinn, den Lebenswelt und Lebenspraxis für die Handelnden haben, allein durch die kommunikative Verständigung über Sichtweisen und Intentionen möglich. Das Vertrautwerden mit den Selbstverständlichkeiten und Basisprinzipien der untersuchten Lebenswelt wird als zweite Sozialisation bzw. in eher abfälliger Weise als going native bezeichnet. Der Anspruch nach Nähe, um die Sozialwelt durch die empathische Identifikation mit den Handelnden von innen kennenzulernen, und der Anspruch nach Distanz, um die kritische Haltung außenstehender Betrachtung zu wahren, verhalten sich gegensätzlich. Trotz des Versuchs, dieses methodische Dilemma über die Typisierung verschiedener Ausprägungsverhältnisse des Zueinanders von Teilnahme und Beobachtung zu überwinden (Gold 1969), ist eine prinzipielle Aufhebung dieses inhärenten Widerspruchs kaum denkbar. Das Sich-Einmischen in die Lebenswelt bringt ein hohes Maß an Reaktivität des Untersuchungsfeldes auf die
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Intervention der Forschenden mit sich. Deshalb muss in Bezug auf Fragestellung und Gegenstand das Verhältnis von Nähe und Distanz im Forschungsprozess immer wieder neu reflektiert und austariert werden. Mehr noch: Durch das Engagement im Feld sind die Forschenden in der Regel mit Werbungs- und Einnahmeversuchen der Praxis konfrontiert. Gerade zu Beginn wird von den Akteur/innen das Interesse der Forschenden sehr positiv aufgenommen. Einerseits zeigen sich die Forschenden mit ihrer empathischen Erkenntnishaltung interessiert für die „Geschichten“ des Feldes. Andererseits ergibt sich für die Lebenswelt die Gelegenheit, außenstehenden Zuhörenden von den Problemen und Herausforderungen des Alltags zu berichten. Ethnografische Forschung wird nicht selten zu einer Art von Supervision für die Alltagspraxis (Amann und Hirschauer 1997, S. 14). Diese Einnahmeversuche der Forschung reflektieren dabei die Rechtfertigungs- und Legitimierungsformen der Lebenswelt selbst. Für die Akteur/e/innen steht in den Handlungspraxen ihrer Lebenswelt stets etwas auf dem Spiel. Sie müssen ihre Interessen und Absichten in den Machtstrukturen des Feldes gegenüber konfligierenden Ansprüchen legitimieren und durchsetzen. Das naive Erkenntnisinteresse an der „fremden Welt der Anderen“ ist aus diesem Grund um eine kritische Reflexion der Machstrukturen des Feldes zu korrigieren (Bourdieu 1997; Thomas 2017). Aus Sicht der Praxis wird die Einmischung der Ethnograf/innen aber auch zum Problem. Denn die Teilnahme der Forschenden bringt sehr einseitig Aufwand und Arbeit mit sich, ohne selbst von Nutzen zu sein (Wolff 2000, S. 348). Das Problem verschärft sich, weil die „offene“ Erkenntnishaltung stets ein intellektuelles Infragestellen und Delegitimieren der eingeübten Selbstverständlichkeiten, Routinen und Machtbalancen mit sich bringt. Was in der Lebenswelt klar erscheint und nicht mehr in Frage gestellt wird, öffnet sich in der dezentrierenden Betrachtung der Ethnograf/ innen, weil es sich nur um eine Möglichkeit unter vielen anderen handelt. Daher treten spätestens, wenn die Forschenden zu eigenen Erkenntnissen und damit zu einer anderen Definition, was die Wirklichkeit ist, als die Alltagsraxis gelangen, häufig Enttäuschungen und Konflikte auf.
4
Stationen des ethnografischen Forschungsprozesses
4.1
Fragestellung und Forschungsdesign
Am Anfang eines jeden qualitativen Forschungsprozesses steht immer die klare und explizite Formulierung der Fragestellung. Diese ist in der Ethnografie von besonderer Wichtigkeit. Gerade aufgrund der Offenheit gegenüber dem Erkenntnisgegenstand sollte aus der Totalität sozialer Wirklichkeit ein Untersuchungsbereich herausgeschnitten sein, der ausreichend eingegrenzt ist, um nicht die Ethnograf/innen angesichts eines undifferenzierten Empirieüberschusses zu überfordern. Vielmehr noch begründet sich jede einzelne methodische Entscheidung aus der Befragung der Forschungsfrage: Was ist begründeterweise als nächster Schritt zu tun, um etwas Neues zu erfahren? Die Antwort kann sich nicht aus der Methode ergeben, es verhält
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sich im Sinne des theoretical samplings umgekehrt: die Entscheidungen über das Forschungsdesign werden im Bearbeitungsprozess im Zuge einer sukzessiven Theorieentwicklung getroffen: die Auswahl des Untersuchungsfeldes, des Feldzugangs, der Stichprobe, der Forschungsrollen, der Methoden zur Datenerhebung, der Operationalisierung der Erhebungsinstrumente, der Auswertungsschritte etc. (sehr anschaulich: Strauss 1998, S. 72–82).
4.2
Der Feldzugang
Zu Beginn des ethnografischen Forschungsprozesses ist entscheidend, dass der Feldzugang gelingt, um sich in der untersuchten Lebenswelt als teilnehmende/r Beobachter/in zu etablieren (Poferl und Reichertz 2015; Sutterlüty und Imbusch 2008). Zunächst setzt dies die Identifikation von Forschungsfeld und Untersuchungsgruppe voraus, wobei schon diese Abgrenzung Probleme bereiten kann. Forschende haben es im Feld häufig mit natürlichen Sozialeinheiten wie etwa Dorfund Stadtgemeinschaften, Straßengangs, Schulklassen, Firmenabteilungen etc. zu tun. Aufgrund der Verstricktheit in heterogene Netzwerke ist oftmals nicht leicht zu überblicken, wer zur Untersuchungsgruppe gehört. Dennoch wird das Feld in der Lebenswelt nicht einfach vorgefunden, sondern konstituiert sich vor dem Hintergrund der Fragestellung, des untersuchten Wirklichkeitsausschnitts und des konkreten Verlaufs des Forschungsprozesses (Breidenstein et al. 2014, S. 59). Nach Bestimmung der potenziellen Untersuchungseinheiten sind aus der Gesamtstichprobe die relevanten Personen und Ereignisse auszuwählen. Eine repräsentative Erhebung ist in der qualitativen Forschung in der Regel nicht zu erreichen, sodass nach theoretischen und pragmatischen Erwägungen eine Auswahl anhand der Frage erfolgt: Welche Personen und welche Ereignisse können mir Informationen liefern, die meine Erkenntnisse über das Feld erweitern? Auch hier kommt das theoretical sampling zu Anwendung, das als Untersuchungsstrategie den Forschungsprozess beständig begleitet, indem neue Erkenntnisse, Fragen und Hypothesen immer wieder ans Untersuchungsfeld zurückgeführt werden (Glaser und Strauss 1967, Kap. 3). Sind Forschungsfeld und zu untersuchende Stichprobe schließlich eingegrenzt, wird es in einem weiteren Schritt möglich, den Feldzugang zu klären. Dabei ist der Zugang zu formellen von informellen Forschungsfeldern zu unterscheiden. In Institutionen und Organisationen wird zumeist sehr weit oben in der Hierarchie darüber entschieden, ob den Forschenden überhaupt Einlass gewährt wird. Daher sollte schon sehr früh die Genehmigung des Zugangs über die verschiedenen Hierarchiestufen hinweg eingeholt werden. Die formelle Genehmigung der Forschung bedeutet jedoch nicht, dass sich damit auch der Zugang zu der angezielten Untersuchungsgruppe öffnet. Vielmehr begegnen die unteren Hierarchieebenen den Forschenden, die „vom Chef geschickt werden“, nicht selten mit einem hohen Maß an Misstrauen (etwa Bergner 2002). Auch in informellen Feldern übernehmen einzelne Personen, die in der sozialen Gemeinschaft des Feldes eine herausgehobene Position innehaben, die Funktion eines gatekeepers (Burgess 1991; Girtler 1984, S. 84–85). In jedem Fall ist der Aufbau einer Vertrauensebene zu den direkten Kontaktpersonen
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von herausragender Bedeutung für das Gelingen des Forschungsprozesses. Das auf das Untersuchungsfeld bezogene „to get in and to keep in“, sodass eine Kopräsenz des Forschers in den sozialen Praxen des Feldes möglich wird (Amann und Hirschauer 1997, S. 21), hängt daher ganz von der Akzeptanz der Forschenden als Person ab. Dagegen interessieren sich die Feldangehörigen oftmals gar nicht für die thematischen Details der Feldforschung: „If I was all right, then my project was all right; if I was no good, then no amount of explanation could convince them that the book was a good idea“ (Whyte 1981 [1943], S. 300).
4.3
Die Rolle der Forschenden im Feld
Die teilnehmende Beobachtung kennt keine optimale Rolle, die während des Forschungsprozesses anzustreben wäre, sondern erfordert ein flexibles und situationsangemessenes Reagieren. Dies steht dem Versuch der methodischen Formalisierung und Standardisierung der Feldforschung konträr gegenüber (Lüders 2000). In Abhängigkeit von der vorliegenden Situation, von den anwesenden Personen, von den angeschnittenen Gesprächsthemen muss entschieden werden, wie die Rolle als Teilnehmer/in weiter ausgestaltet wird, ob es die Rolle des/der Forschenden selbst, des/der guten Bekannten, einer flüchtigen Begegnung oder einer vertrauten Person etc. ist. Daher muss die eingenommene Rolle auch vor dem Hintergrund kritisch reflektiert werden, welche Ausschnitte des Feldes überhaupt in den Blick gelangen und von welchen Ansichten und Ereignissen man grundsätzlich ausgeschlossen bleibt (Fine 1993; Flick 2007, S. 283). Im Mittelpunkt des Feldeinstiegs steht der Aufbau einer Vielzahl von Kontakten, sodass die Anwesenheit des oder der Forschenden bald allgemein bekannt und akzeptiert ist. Das Verhältnis zu den Informationspartner/innen soll sich durch Loyalität und Vertraulichkeit auszeichnen. In institutionellen Praxiszusammenhängen scheint speziell die Praktikant/innen- bzw. Hospitant/innen-Rolle für die Durchführung von Feldforschung ideal zu sein, weil die Menschen in ihrem Lebensweltkontext bei der Ausübung ihrer Tätigkeit möglichst wenig gestört werden, die ganze Zeit interessiert zugeschaut werden darf und keine Frage „zu dumm“ ist, als dass sie nicht gestellt werden dürfte. Aufgrund dieser harmlosen Positionierung im Feld ist es kaum zu befürchten, in Auseinandersetzungen, Konflikte und Streitereien hineingezogen zu werden, gerade weil die/der Ethnograf/in als neutrale Person gilt. Zugleich kann Neutralität auch bedeuten, dass für die Feldangehörigen unklar bleiben muss, ob sich Forschende als loyal und vertrauenswürdig erweisen, sodass diese von heiklen Feldeinsichten ausgeschlossen werden (Bergner 2002).
4.4
Forschungsphasen
Eng verknüpft mit der Frage nach der Teilnehmendenrolle ist der Wechsel der Forschungsphasen. Auf einer horizontalen Achse werden mit dem Fortschreiten des Forschungsprozesses zu unterschiedlichen Zeitpunkten verschiedene Arten
Ethnografie
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der Teilnahme möglich und – je nach Erkenntnisinteresse – auch erforderlich. Zu Beginn jeder Untersuchung beginnen die Forschenden vordergründig als passive Beobachter/innen des sozialen Geschehens. Wenn dann im weiteren Verlauf vertrauensvolle Beziehungen etabliert werden, kann die Rolle „reiner“ Beobachtung zurückgelassen werden, ohne aber umfassend ins Feld integriert zu sein. Die anfänglich geringe Identifikation mit der Teilnehmendenrolle muss kein Manko sein, sondern bietet den Forschenden die Gelegenheit zu Beobachtungen, die noch nicht durch die sich einschleichende Alltagsblindheit, durch das going native verzerrt sind. Jedoch erst mit wachsender Einbindung in das soziale Feld können sich die Forschenden aktiver an den sozialen Lebensformen beteiligen und allmählich zu ebenbürtige Teilnehmende aufsteigen. Durch die Kombination der verschiedenen Rollenkonfigurationen wird es möglich, sich als Teilnehmer/in in der fremden Lebenswelt zu qualifizieren und zugleich als Beobachter/in wieder vom eigenen Engagiertsein zurückzutreten, um aus wohlwollend-kritischer Distanz das soziale Leben zu betrachten (Thomas 2019). Die Beobachtungsperspektive ändert sich im Forschungsverlauf aber auch, weil die offene Haltung, die die Ethnograf/innen zu Beginn der Untersuchung einnehmen, zunehmend auf für ihre Forschungsfrage relevante Themenbereiche zu konkretisieren und in einzelne Untersuchungsdimensionen auszudifferenzieren ist. Die Feldforschung beginnt daher idealtypisch mit einer orientierenden und explorativen Anfangsphase, in der alle Beobachtungen zunächst wichtig genommen werden, geht über in eine fokussierende Phase, um sich auf jene Ereignisse und Phänomene zu konzentrieren, die sich als zentrale Aspekte der Forschungsarbeit erwiesen, um schließlich in der selektiven Phase ergänzende Details zu erheben (Spradley 1980).
4.5
Protokollierung und Dokumentation
Ethnografie umfasst nur zum einen Teil die interessierte Zerstreuung in der Welt, um in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungsformen von Wirklichkeit zu neuen An- und Einsichten zu gelangen. Der zweite wesentliche Teil des Forschungsprozesses konzentriert sich wesentlich auf die schreibende Aneignung der untersuchten Sozialwelt. Erst am Schreibtisch werden die Daten durch ihre Dokumentation in Beobachtungsbögen, Protokollen und Tagebüchern fixiert (Emerson et al. 1995). Hier entscheiden Forschende darüber, welche Eindrücke und Ereignisse der Flüchtigkeit des Augenblicks enthoben werden. Damit stellt sich die Frage, was denn überhaupt protokolliert werden soll. Der schlichte Verweis darauf, dass die Feldprotokolle eine Antwort auf die Frage: „What is going on?“ geben sollen (Charmaz und Mitchell 2001, S. 162), greift zu kurz. Den Beobachtenden wird sofort deutlich, dass angesichts der unendlichen Fülle an Begebenheiten, Situationsmerkmalen und Handlungsformen es nicht auf der Hand liegt, was in die Protokolle einbezogen werden soll. Die Dokumentation von Daten sollte sich an folgenden Fragen orientieren: Was ist für die Forschenden neu, überraschend, außergewöhnlich, erstaunlich? Was ist an Hintergrundwissen notwendig, damit auch Außenstehende verstehen können, wie die Menschen im Forschungsfeld ihre Welt sehen? Welche verschiedenen Beobach-
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tungsebenen sind aufgrund der Forschungsfrage zu berücksichtigen? Es soll dabei sowohl das Neue zur Darstellung gebracht werden, weil es über das beschränkte Vorverständnis und Allgemeinwissen der Forschenden hinausweist, als auch das nur schwer zu explizierende tacit knowledge, über welches die sozialisierten Mitglieder einer fremden Sozialgemeinschaft verfügen. Das einzelne Ereignis, eingebettet in seinem kulturellen Bedeutungshorizont, ist besonders gut in Situationen zu beobachten, die Agar (1996) als rich points des Forschungsprozesses bezeichnet. Bei den rich points handelt es sich um Begebenheiten, aufgrund derer Forschende mit einem Mal, wie bei einer optischen Kippfigur, einen neuen Blick auf das Forschungsfeld gewinnen. Bei der Explikation dieser rich points besteht in besonderer Weise die Notwendigkeit, die Hintergrundüberzeugungen und Kontextbedingungen des Feldes soweit zu verdeutlichen, dass auch die Lesenden das Augenfällige, Überraschende, Exemplarische des Ereignisses verstehen. Die Dokumentation der Beobachtungsdaten erfolgt durch die Anfertigung von Beobachtungsprotokollen bestenfalls im direkten Anschluss an den Feldaufenthalt. Die ersten Aufzeichnungen werden – etwa auch unter Einsatz eines Diktiergerätes – schon auf dem Nachhauseweg gemacht, um für die weitere Protokollierung eine Skizze (sketch notes) der wesentlichen Begegnungen und Vorfälle zur Hand zu haben. Es sollte mindestens so viel Zeit für das Schreiben wie für den reinen Feldaufenthalt aufgewendet werden (Lofland et al. 2006, S. 111). Ziel ist eine deskriptive Protokollierung der erlebten Ereignisse in chronologischer Ordnung als running description (Lofland et al. 2006, S. 116). Dennoch ist es schon bei der Protokollierung wichtig, dass neben den „objektiven“ Situationsfaktoren auch die kulturellen Situationsbedeutungen als rich description dokumentiert werden.
4.6
Datenauswertung
Was wird nun aber mit der großen Menge an erhobenen Daten gemacht? Für die Ethnografie gibt es nicht das eine Auswertungsverfahren. In jedem Fall beschränkt sich der Anspruch von Ethnografie nicht auf die deskriptive Darstellung der untersuchten Sozialwelt. Ethnografie verfolgt nach Burawoy (1991) einen zweifachen Erkenntnisanspruch: eine verstehende, immanente Deskription des Feldes aus der Innenansicht und eine erklärend-analytische Rekonstruktion der psychischen und sozialen Struktur aus der Außenperspektive. In der analytischen Theoriegenerierung wird ausgehend von der Sammlung empirischer Phänomene und Fälle über einen abstrahierenden Theoriegeneseprozess ein systematisierendes Begriffssystem entwickelt. Zudem wird die „dichte Beschreibung“ im Sinne von Geertz (1983) nach wie vor als zentraler Bezugspunkt für die Datenauswertung angesehen. Die einzelne Beobachtung erlangt hier den Status eines paradigmatischen Ereignisses, woran der kulturelle Kontext expliziert wird, um verstehen zu können, warum sich an dem untersuchten Ort und zur untersuchten Zeit genau die beobachtete Kulturform als Antwort auf existenzielle Herausforderung beobachten ließ.
Ethnografie
4.7
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Schreiben
Im Zuge der „Writing Culture“-Debatte (Clifford und Marcus 1986) wurden literarische und ästhetische Darstellungsstile, d. h. verschiedene Formen ethnografischen Schreibens zum Thema. Die Möglichkeit einer „objektiven“ Repräsentation von Kulturen in Form von wissenschaftlichen Berichten wird grundsätzlich in Frage gestellt. In der Analyse der Schreibstile namhafter Ethnograf/innen zeigt sich insbesondere der konstruktive Charakter ethnografischer Reports. Die paradoxale Anforderung wissenschaftlichen Schreibens besteht darin, dass die Autor/innen in ihren Darstellungen einerseits auf ihre subjektiven Erfahrungen im Feld rekurrieren müssen (die Autorität des being there), denen zugleich der Status von objektiven Daten zu verleihen ist (die Autorität wissenschaftlicher Dignität) (Geertz 1988). In einer Typisierung verschiedener Schreibstile gelangt van Maanen (1988) zu drei charakteristischen Grundformen ethnografischer Darstellungen: a) „Realist Tales“ stellen den Versuch dar, durch Verbergen sowohl des subjektiven Erfahrungsanteils als auch der Autor/innenschaft „objektive“ Schilderungen des Feldes anzufertigen. b) „Confessional Tales“ orientieren sich am Genre des Erfahrungsberichtes, indem besonderer Nachdruck auf den persönlichen Charakter der eigenen Erfahrungen und Reflexionen gelegt wird. c) „Impressionist Tales“ lassen sich als Verschmelzung der beiden anderen Darstellungsstilen verstehen, indem eigene Erfahrungsbezüge an „objektiven“ Situationsbeschreibungen ausgewiesen werden. d) Darüber hinaus ist eine ganze Formvielfalt an weiteren Schreib- und Darstellungsstilen identifiziert worden: critical tales im Rahmen einer kritischen Sozialtheorie, formal tales in einer auf generalisierte Befunde zielenden Ethnografie, literary tales als eine mit literarischen Stilelementen arbeitenden Ethnografie, dialogic tales unter Einschluss der Stimmen des Feldes etc. (van Maanen 1988, S. 127–138).
5
Psychologische Forschungsperspektiven in der Ethnografie
In der Psychologie liegt die Vernachlässigung von Ethnografie nur teilweise an dem dezidiert quantitativen Selbstverständnis der akademischen Psychologie. Es finden sich daneben Anwendungs- bzw. Übertragungshindernisse, die in der Methode selbst begründet liegen. Hier muss zuvorderst geklärt werden, was Forschungsthemen der Psychologie sein können, die den Einsatz der Ethnografie notwendig machen. Denn in der Psychologie würde weniger die Erforschung von Kultur, Lebensgemeinschaften oder Sozialwelt im Mittelpunkt stehen. Vielmehr gilt es die soziale Situierung, die Wahrnehmung, die Handlungsweisen des Individuums als Gegenstandsebene herauszuheben.
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Dies würde der Ethnografie die Möglichkeit einer Rejustierung psychologischer Forschung auf die konkrete Alltagswelt des Individuums bieten als der vorgegebenen Lebensbedingung, auf die das gesamte menschliche Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln zielt. Das Individuum wäre hier nicht mehr die solipsistische Monade, die in die artifiziellen Welten experimenteller Situationskontrolle eingeschlossen ist. Insbesondere könnte sich durch die Einbettung des Individuums in seinen sozialen Kontext die Chance ergeben, an die Gegenwartsdiagnosen der Sozialwissenschaften – Individualisierung, Subjektivierung von Arbeit, Prekarisierung etc. – anzuschließen. Hierdurch ergäbe sich ein Forschungsprogramm, in dem die psychische Seite, d. h. die Auswirkungen moderner Lebensverhältnisse auf Subjektivität, zu untersuchen ist (Thomas 2009). Die Anwendung der Ethnografie in der Psychologie braucht eine konzeptuelle bzw. metatheoretische Rahmung, die auch dem psychologischen Gegenstand entspricht. Die Diskussion zentraler Konzepte, die einer psychologischen Ethnografie zugrunde gelegt werden können, würde Themenstellungen wie Bewusstsein, Sinn, Identität, Motivation oder Handlung denkbar machen. Unterschiedliche Themenstellungen erfordern daher verschiedene Interpretationsparadigmen. Als Beispiel möchte ich das Interpretationsparadigma vorstellen, dass ich in einer ethnografischen Studie über „Exklusion und Selbstbehauptung“ junger Menschen entwickelt habe (Thomas 2010). Die Fragestellung richtete sich auf die Herstellung und Bewältigung von Alltag unter der Bedingung von Armut und sozialem Ausschluss am Berliner Szenetreffpunkt „Bahnhof Zoo“. Zur Rekonstruktion der psychischen Situation wurden drei kategoriale Elemente in die Analyse einbezogen: Lebenswelt, Sinn und Handlung. Es wurde zuerst die soziale Strukturierung der individuellen Position innerhalb der Lebenswelt in Form von vorgegebenen Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen untersucht, wie diese sich etwa in den Chancen auf dem Arbeitsmarkt zeigen. An der Erfassung und Beschreibung der Lebenswelt schloss sich dann die subjektive Situationsanalyse an: Bei den Jugendlichen kam es zur Dissoziation subjektiver Sinnbezüge, sodass sozialer Ausschluss vor allem als tiefe Verunsicherung des eigenen Welt- und Selbstverhältnisses erfahren wurde. Drittens wurden die individuellen Handlungsmotive rekonstruiert: Für die Bahnhofsgänger/innen wurde der Rückzug in die subkulturelle Jugendgemeinschaft zu einer funktionalen Strategie der Alltags- und Armutsbewältigung.
6
Ausblick: Stand und Perspektiven
Die Ethnografie verfügt über Potenziale und Leistungsmerkmale, die ihr nicht nur einen festen Platz im sozialwissenschaftlichen Methodenarsenal, sondern auch in der Psychologie zuweisen. Die Stärken finden sich in der Situierung des Forschungsprozesses in der realen Lebenswelt, der Rekonstruierbarkeit real beobachtbarer Handlungsweisen, dem Interesse an den Bedeutungs- und Handlungsstrukturen des Feldes, an den Sinnzuschreibungen und alltäglichen Lebenspraxisformen der Akteure. Ein besonderer Stellenwert wird der Gegenstandangemessenheit der
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Theoriebildung durch das Fremdheitspostulat und die prozessuale Entfaltung des Forschungsprozesses gegeben. Zu den Schwächen zählen der hohe Ressourcen- und Zeitaufwand für die Durchführung einer ethnografischen Studie. Dabei sind Forschende nicht nur mit dem sich in seiner gesamten Komplexität vergegenwärtigenden Untersuchungsfeld konfrontiert. Vielmehr müssen sie sich überhaupt eine gewisse Zeit im Feld aufhalten, um über eine sekundäre Sozialisation mit der Insider-Perspektive des Feldes vertraut zu werden. Eine weitere Schwäche ist der schwierige Status der eigenen Subjektivität im Forschungsprozess, der m. E. als unvermeidbar für jede Sozialforschung anzusehen ist, aber sich als praktisch zu lösende Aufgabe in besonderem Maße in der teilnehmenden Beobachtung stellt. Zur Verunsicherung der Forschenden trägt sicherlich auch die unabgeschlossene Diskussion über die Herausforderungen des ethnografischen Schreibens bei. Vor dem Hintergrund der prävalenten Schwächen sollten einer weiteren Klärung zumindest folgende drei Problempunkte zugeführt werden: Erstens kann die Objektivitätsfrage im Umgang mit Reaktivität und Subjektivität sicherlich nicht auf der Ebene des einzelnen Forschungsprojekts zu lösen sein, sondern erfordert eine methodologische Debatte grundsätzlicher Art. Zweitens wäre mit Blick auf wissenschaftliche Objektivierungsformen zu fragen, wie eine Berücksichtigung der verschiedenen Perspektiven des Feldes methodisch ermöglicht werden kann, um eine ethnozentrische Vereindeutigung der untersuchten Lebenswelt zu vermeiden. Drittens sollte insbesondere im Hinblick auf die Psychologie eine Debatte über sinnvolle Anschluss- und Konzeptualisierungsmöglichkeiten ethnografischen Forschens geführt werden.
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Ethnografie
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Qualitative Interviews Günter Mey und Katja Mruck
Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Interviewverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Zentrale Fragen der Interviewdurchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
In dem vorliegenden Beitrag wird zunächst ein Überblick über Interviewverfahren gegeben, die innerhalb der Psychologie entwickelt oder aus anderen Disziplinen importiert wurden. Im Anschluss folgen Ausführungen zu den Interviewteilnehmenden, der Wahl des räumlich-zeitlichen Settings, der Konstruktion von Leitfäden sowie zu Aufzeichnung und Schulung mit Blick auf die Interviewführung und dazugehörige Arbeitsschritte. Abgeschlossen wird der Beitrag mit Reflexionen zu Interviews als sozialen Arrangements und zu deren spezifischer Interaktionscharakteristik.
G. Mey (*) Angewandte Humanwissenschaften, Hochschule Magdeburg-Stendal, Hansestadt Stendal, Deutschland Institut für Qualitative Forschung, Internationale Akademie Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Mruck Institut für Qualitative Forschung, Internationale Akademie Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_33
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G. Mey und K. Mruck
Schlüsselwörter
Interview · Leitfaden · Narration · Interaktion · Transkription · Postskript · Reflexivität
1
Einleitung
Das Interview gehört prinzipiell und auch in der Psychologie zu den gängigsten Verfahren der qualitativen Forschung (Breuer et al. 2014, S. 262–270). In der Psychologie haben die Arbeiten von Charlotte Bühler zum Lebenslauf (1933) und vor allem ab den 1950er-Jahren die Einführung der „biografischen Methode“ durch Hans Thomae (1952) dem Interview schon früh zum Durchbruch verholfen. Auch das „psychologische Gespräch“ war und ist insbesondere im Kontext der Klinischen Psychologie für Anamnese, psychologische Beratung und Therapie selbstverständlich; gleichwohl verläuft hier zuweilen eine deutliche Trennlinie zwischen in der Praxis angewandten Gesprächen und dem Interview als Forschungsinstrument (Hunt et al. 2011). Mittlerweile finden sich in allen Teilbereichen der Psychologie Interviewstudien, wenn auch mit deutlichem Überhang in der Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie sowie der Klinischen Psychologie und angrenzenden Bereichen der Psychotherapie- und Gesundheitsforschung. Ebenso ist die Fülle an Themen beinahe unbegrenzt, hier insbesondere mit einem Schwerpunkt in Forschungen zu Identität oder z. B. „subjektiven Theorien“ von Gesundheit sowie zu Erfahrungen mit und Einstellungen zu Handlungskontexten wie Familie oder Arbeit. Allerdings werden zumeist sogenannte „halb-“ oder „teilstrukturierte Interviews“ (ohne theoretischen Unterbau) favorisiert. Eine solche Selbstbeschränkung verkennt, dass theoretisch fundierte Interviewformen in der Psychologie selbst hervorgebracht wurden, und dass auch aus anderen Disziplinen wie insbesondere der Soziologie stammende Verfahren für psychologische Fragestellungen genutzt werden und zum Teil methodische Leerstellen für die Erforschung psychologischer Phänomene füllen helfen können. Eine weitere Selbstbeschränkung findet sich mit einem Verständnis von Interviews als Ereignissen, in denen über Meinungen, Motive oder soziale Praxis berichtet wird, teilweise verbunden mit dem Anspruch, Wirklichkeit „abbilden“ zu können. Dem steht eine Perspektive gegenüber, die Interviews als Momente gelebter sozialer Praxis versteht, in denen die Beteiligten sich in einem in situ konstituierten Raum positionieren und eben auch erst in actu Einstellungen bilden. Arnulf Deppermann (2013) zufolge verläuft die Trennlinie zwischen einem Verständnis von „Interview als Text“ versus „Interview als Interaktion“. Im Folgenden geben wir einen Überblick über den mittlerweile breiten Fundus an Interviewverfahren (Abschn. 2), um dann einige zentrale Fragen der Interviewführung zu diskutieren (Abschn. 3). Danach skizzieren wir besondere Herausforderungen, die mit dem Einsatz von Interviews einhergehen (Abschn. 4).
Qualitative Interviews
2
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Interviewverfahren
Mittlerweile existiert im deutschsprachigen Raum eine Fülle an Interviewvarianten, die sich unter Einbezug einer internationalen Perspektive noch zusätzlich erweitert.1 In vielen Einführungsartikeln oder Lehrbüchern zu qualitativer Forschung findet sich deshalb eine mehr oder weniger begründete Auswahl an Verfahren, und es finden sich zusätzlich einige Überschneidungen, die auf einen scheinbar kanonisierten Grundbestand qualitativer Interviews verweisen. Ein solcher Grundbestand soll mit Blick auf die Psychologie zunächst skizziert werden, bevor daran anschließend kurz Hinweise für die Auswahl von Interviewverfahren gegeben werden.
2.1
Die wichtigsten Verfahren im Überblick
Im Folgenden stellen wir aus dem Umfeld der Psychoanalyse hervorgegangene Verfahren vor, um uns dann ausführlicher dem „narrativen Interview“ und allgemeiner „offenen Interviews“ zuzuwenden, gefolgt von einer Darstellung des „problemzentrierten Interviews“ (PZI) und von dem PZI ähnlichen Verfahren. Bei Letzteren geht es uns insbesondere darum, strukturierende Verfahrensweisen und mit ihnen verbundene Fragemöglichkeiten kenntlich zu machen. Abgeschlossen wird die Übersicht mit einigen spezifischen Varianten und zudem Verfahren, die den klassischen Rahmen einer bilateralen Kommunikation überschreiten. Psychoanalytisch-orientierte Interviews Aus dem Umfeld der psychoanalytischen Sozialforschung stammen mehrere Varianten wie das Tiefeninterview,2 das szenische Interview oder das themenzentrierte Interview. Das Tiefeninterview entstammt dem psychotherapeutischen Kontext. Gearbeitet wird mit speziellen Befragungstechniken wie Rekapitulation, Spiegeln, assoziativen und projektiven Verfahren oder dem Aufgreifen von Schlüsselwörtern, um die Befragten zum Erzählen zu veranlassen und Emotionales für die Analyse zugänglich zu machen. Ähnlich verhält es sich mit dem szenischen Interview, das in Anlehnung an das psychoanalytische Erstinterview (Argelander 1970) vorgeschlagen wurde (zur Technik des szenischen Verstehens s. Lorenzer 1970). Zentral sind die psychoanalytischen Grundregeln der „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“ und der „freien Assoziation“; Interviewende sollen sich möglichst abstinent verhalten. Eine umfassende Dokumentation bietet das „Sage Handbook of Interview Research“ von Gubrium et al. (2012), das allerdings weniger die für den deutschsprachigen Raum typische Darstellung spezieller Verfahren bietet, sondern die Diskussion verläuft eher über das Interviewen als Tätigkeit. 2 Der Terminus Tiefeninterview wird zuweilen alltagssprachlich begründet, wenn versucht wird, über die Ebene allgemein gehaltener Aussagen hinauszugehen. Für die standardisierte Sozialforschung hat Jürgen Friedrichs (1983 [1973]) den Begriff des Tiefeninterviews synonym mit dem des sog. Intensivinterviews verwandt. Mittlerweile wird von Tiefeninterviews insbesondere im Kontext der Marktforschung gesprochen. 1
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Abwandlungen ergeben sich allerdings dadurch, dass Interviewende i. d. R. nicht psychoanalytisch ausgebildet sind und insofern die Gegenübertragung weniger zentral gestellt wird (Horn et al. 1983; Wolf 1981). Auch mit dem „themenzentrierten Interview“ (Schorn 2000) sollen über die Erhebung subjektiver und manifester Sinnbezüge hinaus „abgewehrte“ und latente Sinngehalte erschlossen werden (zusammenfassend zu psychoanalytischen Interviews s. Kvale 2003). Narratives Interview Als eine zentrale Interviewtechnik, um biografische Prozesse und damit verbunden Erfahrungsaufschichtungen und Deutungsmuster zu erheben, gilt insbesondere das „narrative Interview“ von Fritz Schütze. In den 1970er-Jahren zunächst für die Untersuchung politischer Entscheidungsstrukturen entwickelt, etablierte es sich als „narrativ-biographisches Interview“ (Schütze 1983) vor allem innerhalb der soziologischen/erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung und fand auch Berücksichtigung in Teilen der Psychologie (z. B. Wiedemann 1986); abgewandelt wird es auch im nicht-deutschsprachigen Raum angewendet (Wengraf 2001).3 Das narrativ-biografische Interview verläuft in drei Phasen („Eröffnung“, „Nachfrageteil“, „Bilanzierung“). In der Regel wird kein Leitfaden eingesetzt, denn Schütze vertraut ganz auf die „Zugzwänge“ des Erzählens: Hiernach sind die Interviewten „gezwungen“, subjektiv Bedeutsames hervorzuheben („Relevanzsetzung“) und zu raffen („Kondensierung“), aber auch so detailliert und ausführlich zu sein (unter Darstellung der relevanten Schauplatzcharakteristiken, der beteiligten Akteur/innen und der eigenen Selbst-Positionierung), dass die Erzählung für Zuhörende verständlich wird („Detaillierung“). Und sie sind „gezwungen“, ihre (Lebens-) Geschichte vom (durch die Interviewenden gesetzten zeitlichen) Beginn bis zum Ende zu erzählen, damit diese nachvollziehbar wird („Gestaltschließung“). Über die Erzählungen werden Schütze zufolge die Deutungsmuster („subjektiven Theorien“) und die Prozessstrukturen des Lebenslaufs (institutionelle Ablauf- und biografische Handlungsmuster sowie Verlaufskurven und Wandlungsprozesse) zugänglich. Schütze geht hierbei von der Homologie von Erzähltem und Erlebtem aus (zur Kritik siehe Bude 1985; Küsters 2006, S. 32–34). Bei der Anwendung des narrativen Interviews wird sehr viel Wert auf die „erzählgenerierende“ Eröffnungsfrage gelegt, die eine Stegreiferzählung hervorrufen soll. Auch im Nachfrageteil sollen durch sog. „immanente Nachfragen“ weitere Erzählungen generiert werden. Erst der dritte Teil des Interviews zielt auf eine abstraktere Darstellung und auf andere Textsorten (insbesondere Argumentationen und Begründungen statt Erzählung). Die Rolle der Interviewenden besteht zunächst darin, interessiert zuzuhören und das Erzählverhalten durch eine wohlwollende Haltung Das narrativ-biografische Interview sollte nicht mit dem „biografischen Interview“ von Hans Thomae (1952) verwechselt werden, einem Versuch, systematisiert und theoriegeleitet Lebensgeschichten und darin vorkommende Ereignisse zu erfragen. Thomae hat (gemeinsam mit Ursula Lehr) sein Verfahren im Rahmen seiner gerontologischen Studien zunehmend an dem nomologischen Paradigma ausgerichtet, sodass mögliche Anschlüsse an die aus der interpretativen Soziologie hervorgegangene Biografieforschung nicht geleistet wurden (Straub 1989).
3
Qualitative Interviews
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und mittels nonverbaler Signale zu fördern. Im Interviewverlauf können sie dann zu interessiert Nachfragenden werden, und erst zum Schluss („Bilanzierung“) sollen sie aktiver in die Gesprächsgestaltung eingreifen. Rezeptives Interview Eine dem narrativen Interview ähnliche (allerdings nicht erzähltheoretisch fundierte) Variante hat Gerhard Kleining (1994) vor dem Hintergrund seines heuristischen Ansatzes mit dem „rezeptiven Interview“ vorgeschlagen: In dieser explizit einseitig konzipierten Kommunikation sind Interviewende fast ausschließlich wohlwollend Zuhörende in unmittelbar sozialen Situationen. Die Interviewpartner/innen sind die eigentlichen Akteur/innen von der Themenauswahl bis hin zur konkreten Gesprächsgestaltung, da für Kleining das explorative Potenzial des Interviews im Mittelpunkt steht und der Einfluss der Interviewenden möglichst gering gehalten werden soll. Ethnografisches Interview und ero-episches Gespräch Offene, nicht vorab strukturierte Gespräche kommen insbesondere in der Feldforschung zum Einsatz, so das „ethnografische Interview“ (Spradley 1979) oder das „ero-epische Gespräch“4 (Girtler 2002). Das ethnografische Interview entsteht zumeist unmittelbar in informellen Feldforschungssituationen, wobei anders als beim rezeptiven Interview Forschende entlang ihrer Interessen und Fragen den Gesprächsverlauf durchaus strukturieren. Girtler zielt – anders als Kleining – gemäß dem Prinzip der Egalität auf die gleichberechtigte Kommunikation zwischen Forschenden und Beforschten, mit der die „künstliche Interviewsituation“ zugunsten der Nähe zum Alltag aufgegeben werden soll. Er wendet sich damit allgemein gegen den Begriff und das Konzept des Interviews und im Besonderen gegen das narrative Interview oder gegen Tiefeninterviews wegen der dort aufgehobenen Reziprozität und wegen des Verstoßes gegen die Konventionen von Alltagsgesprächen. Problemzentriertes Interview Wie das narrative Interview in der Biografieforschung, so ist das „problemzentrierte Interview“ von Andreas Witzel (1982, 2000; Witzel und Reiter 2012) in den Sozialwissenschaften und – weil es zuweilen irrtümlich als halbstrukturiert bezeichnet wird und Witzel zudem Psychologe ist – auch in der Psychologie sehr weit verbreitet. Erstmals eingeführt und breiter rezipiert wurde es in kondensierter Fassung in einem Psychologie-Sammelband (Jüttemann 1985). Das problemzentrierte Interview gründet u. a. auf ethnomethodologische Überlegungen sowie auf die Vorarbeit Cicourels (dazu Witzel und Mey 2004) und grenzt sich explizit gegen das narrative Interview ab, da die Interviewsituation viel deutlicher als bei Schütze als kommunikatives Geschehen verstanden wird: Während Fragen im narrativen Interview als die Erzählung „störend“ bzw. als Ablenkung der Interviewten vom eigenen Erleben gelten, kommt ihnen nach Witzel eine aktive, das Gespräch mitgestaltende Explorationsfunktion zu. Zu den Fragetypen, durch die das Interview
Zusammengesetzt aus erotan – fragen und eipon (epos) – reden, mitteilen.
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„gesteuert“ und (gemeinsam mit den Befragten) gestaltet werden kann, gehören insbesondere die „allgemeinen Sondierungen“, die im Dienste der „Materialgenerierung“ stehen („Sachnachfragen“ und „Erzählaufforderungen“) und die „spezifischen Sondierungen“, die basierend auf gesprächspsychologischen Überlegungen auf eine „diskursive Verständnisgenerierung“ zielen („Zurückspiegelung“, „Verständnisfragen“ und „Konfrontation“). Das problemzentrierte Interview hat keinen festen Ablauf (auch wenn ein dem narrativen Interview vergleichbarer Erzählbogen als wünschenswert erachtet wird), sondern die Interviewenden können schon sehr früh strukturierend und nachfragend in das Gespräch eingreifen, Themen einführen, Kommentare und Bewertungen erbitten oder bereits im Interview selbst beginnen, die eigenen Interpretationen kommunikativ zu validieren. Sie sollten das Gespräch im Sinne eines dialogisch-diskursiven Vorgehens dabei selbstredend trotzdem nicht dominieren. (Einen detaillierten Vergleich des problemzentrierten und des narrativen Interviews gibt Mey 2000.) Der für das Interview zu nutzende Gesprächsleitfaden dient nach Witzel lediglich als Gedächtnisstütze für die Interviewenden (s. Abschn. 3.3). Zusätzlich wird ein Kurzfragebogen (wahlweise vor oder nach dem Interview) eingesetzt, mit dem wesentliche Rahmendaten erhoben und Faktenfragen behandelt werden können. Insbesondere Leitfäden – aber auch Kurzfragebögen – werden mittlerweile häufig auch jenseits des problemzentrierten Interviews verwand. Partnerschaftliches Gespräch Mittlerweile finden sich einige Varianten, die dem problemzentrierten Interview ähnlich sind, aber mit etwas anderen Akzentuierungen versehen werden und damit verdeutlichen, wie sich das Spektrum an Interviewformen ausdifferenziert hat. So hat Wilhelm Kempf (1987) mit dem „partnerschaftlichen Gespräch“ ähnlich wie Witzel vorgeschlagen, stärker auf eine klient/innenzentrierte Interviewführung abzuheben. Er begründet dies damit, dass es in psychologischen Kontexten immer um eine Bereitschaft zur „Preisgabe privater Realität“ gehe, was eine besondere emotionale und kommunikative Beziehung zwischen Forschenden und Beforschten voraussetze und die Sichtbarkeit der Forschenden und ihrer (Forschungs-)Interessen auch in der Interviewsituation impliziere. Episodisches Interview Mit dem „episodischen Interview“ zielt Uwe Flick (2002) auf eine systematischere Verknüpfung von Textsorten als es ihm im problemzentrierten Interview gegeben scheint, um „narrativ-episodisches Wissen“ über Erzählungen (Episoden) und „semantisches Wissen“ über konkret-zielgerichtete Fragen zugänglich zu machen. Personzentriertes Interview Claudia Woelfer (2000) wiederum differenziert für ihr „personzentriertes Interview“ unter Bezug auf die klient/innenzentrierte Gesprächsführung a la Rogers, die auch für Witzel leitend ist, spezifische Frage- und Interventionsformen (so etwa „Symbolisieren“, „Spiegeln“, „Differenzieren“, „Initiativfragen“ etc.), mit denen das Gespräch gestaltet werden soll.
Qualitative Interviews
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Systemisches Interview Auch Schorn und Mey (2005) plädieren für den Einbezug von systemischen und zirkulären Frageformen, die üblicherweise im Kontext der Beratungsarbeit (von Schlippe und Schweitzer 1999) Anwendung finden. Auf diese Weise lassen sich in systemischen Interviews Sachverhalte aus der ersten, zweiten oder dritten Wahrnehmungsposition erfragen: In der ersten Wahrnehmungsposition beschreiben die Interviewten den Sachverhalt aus der eigenen Sicht, in der zweiten wird die Perspektive gewechselt und aus der Sicht vertrauter Anderer berichtet, in der dritten aus der „Vogelperspektive“ bzw. aus der Perspektive unbeteiligter Dritter. Ähnliche (zirkuläre) Fragetypen sind „Klassifikationsfragen“ („Wer freut sich am meisten darüber, dass . . .?“), „hypothetische Fragen“ („Einmal angenommen, es wäre . . ., was wäre dann anders?“), „Kontextualisierungsfragen“ („Wie verhält sich . . .?“), Fragen nach Visionen oder Utopien („Welches Leben würden Sie führen, wenn . . .?“) und „Metaphernfragen“ („Wenn Sie versuchen würden, ein Bild oder eine Überschrift für die beschriebene Situation zu finden, . . .“). Fokussiertes Interview Ein Grundkonzept des Nachfragens ist bereits in der „Urfassung“ aller leitfadenbasierten Interviews, dem „fokussierten Interview“ von Robert Merton und Patricia Kendall (1979 [1946]), enthalten, für das erstmals systematisch Ziellinien des Interviewens (allerdings nicht in Form von Handlungsanleitungen) benannt wurden. Demnach richten sich alle (Nach-)Fragen auf Spezifität (Hinausgehen über die Ebene allgemein gehaltener Aussagen), auf die Erfassung der relevanten Themen (von den Interviewenden „vorgegeben“ und von den Interviewten „eingebracht“), auf eine affektive, kognitive und evaluative Vertiefung über „kürzelhafte“ Benennungen hinaus und auf eine Exploration des biografischen Hintergrundes (bzw. des „personalen Kontexts“) als Voraussetzung für eine angemessene Interpretation. Struktur-Dilemma-Interview Die Idee, ein Interview mit vorgegebenem „Reizmaterial“ zu eröffnen, findet sich schon beim „fokussierten Interview“, in dem – da in der Medienrezeptionsforschung begründet – zumeist Filme oder Zeitungskommentare genutzt werden. Vergleichbar werden beim „Struktur-Dilemma-Interview“ der psychologischen Moralforschung (Kohlberg 1995 [1984]) Dilemmata (Geschichten) aus miteinander unvereinbaren Werten oder Handlungsoptionen vorgegeben und Gründe für deren Lösung durch systematische Nachfragen exploriert. Carol Gilligan (1988), eine langjährige Mitarbeiterin Kohlbergs, die sich insbesondere für die weibliche Moralentwicklung interessiert, nutzt im Unterschied hierzu leitfadenorientierte Interviews, die an realen Lebenssituationen ausgerichtet sind (Kiegelmann 2009). Halbstrukturiertes Interview Das „halbstrukturierte Interview“ – gemeint ist hier nicht ein alltagssprachliches Verständnis teilstrukturierter Befragungen, sondern eine von Norbert Groeben und Brigitte Scheele (2000) vorgeschlagene Variante – beinhaltet zwei Teile: Im ersten Teil, dem eigentlichen halbstrukturierten Interview, werden über offene Fragen
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explizit verfügbare Annahmen und Bestandteile „subjektiver Theorien“ ermittelt. Dabei werden stärker implizite Wissensbestände über theoriegeleitete Fragen und schließlich über Konfrontationsfragen eruiert, um die sich entwickelnden subjektiven Theorien selbstkritisch zu „prüfen“. Im zweiten Teil werden dann mittels der sog. Struktur-Lege-Technik die Aussagen aus dem ersten Interview gemeinsam mit den Befragten strukturiert und kommunikativ validiert. Am Ende steht eine ausgearbeitete subjektive Theorie zu dem untersuchten Themenbereich. Eine ähnliche Vorgehensweise findet sich bei den Grid-Interviews (Fromm 1995; s. auch Dick 2000). Selbstkonfrontations-Interview Ähnlich – wenn auch nicht dem Anspruch auf Theorie so stark verpflichtet, aber nach kritischer Auseinandersetzung mit dem Ansatz des „Lauten Denkens“ (Konrad 2010) – ist das „Selbstkonfrontations-Interview“ ausgerichtet, das Franz Breuer (1995) im Kontext von Beratungsgesprächen entwickelte. Darin werden den Interviewten (i. d. R. per Video aufgezeichnete) Interaktions-/Handlungssequenzen vorgeführt mit der Bitte, diese hinsichtlich der (erinnerten) „inneren Handlungsanteile“ zu erläutern, um so deren subjektive (Mikro-)Perspektive zu erfassen. Expert/inneninterview Bei dem „Expert/inneninterview“, das von Michael Meuser und Ulrike Nagel (1991) eingeführt wurde, tritt die Biografie (und damit der/die Interviewte als „Person“) in den Hintergrund: Die Interviewten werden – die wissenssoziologische Unterscheidung von „Laie/Laiin“ und „Experte/Expertin“ sowie „Allgemeinwissen“ und „spezialisiertem Wissen“ vorausgesetzt – als Akteur/innen in dem von ihnen repräsentierten Funktionskontext angesprochen (s. dazu auch die frühen Überlegungen zum elite interviewing, Dexter 2006 [1970]). Allerdings bleibt trotz der wissenssoziologischen Fundierung in der Forschungspraxis recht oft vage, wer als Experte/Expertin bzw. Spezialist/in anzusehen ist und wer nicht. Dies gilt noch mehr für die von Jochen Gläser und Grit Laudel (2010) vorgenommene konzeptionelle Ausdehnung über den „engen“ Expert/innenbegriff hinaus: Dass alle Befragten Expert/innen ihrer selbst und ihrer Lebenswelt sind, trifft zwar den Kern qualitativer Forschung, taugt aber nicht als Kriterium für die Nutzung dieser Interviewform. Wer Experte/Expertin ist und um wessen Spezialwissen es geht, lässt sich nur aufgrund der Forschungsfrage bestimmen (Littig 2008). Paarinterview Ähnlich wie das „Expert/innen-Interview“ hat das „Paarinterview“ seinen Namen aufgrund der einbezogenen Befragten erhalten. Angezeigt ist ein solches Arrangement, wenn das Erkenntnisinteresse auf relationale Aspekte der Interaktion, Aushandlung oder auch auf Performances und Präsentationen von miteinander in Beziehung stehenden Personen zielt. Eingrenz- und abgrenzbar sind Christine Wimbauer und Mona Motakef (2017, S. 22) zufolge Paarinterviews von anderen Formen dyadischer Interviews eben durch den Gegenstandsbezug. Solche Interviewformen, bei der eine Person zwei Personen interviewt, werden in der eng-
Qualitative Interviews
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lischsprachigen Forschung als joint interviews, dyadic interviews oder eben spezieller couple interviews insbesondere in Forschungen zu chronischer Krankheit und zu Disability seit Langem genutzt und zunehmend auch methodologisch reflektiert (Polak und Green 2016). Gruppeninterview Anders als bei der Gruppendiskussion, in der Kommunikation als aufeinander bezogener Aushandlungsprozess initiiert und auf die „Selbstläufigkeit“ solcher Gespräche gesetzt wird (Bohnsack und Przyborski 2007), wird mit dem Terminus Gruppeninterview akzentuiert, dass hier mehrere Personen gleichzeitig befragt werden, um so möglichst schnell und effizient Informationen über das interessierende Forschungsthema zu erhalten. Dabei stehen weniger die gruppendynamischen Prozesse oder die wechselseitige Bezogenheit der Teilnehmenden im Vordergrund. Breite Anwendung finden sog. Gruppeninterviews – in Anlehnung an die angloamerikanische Herkunft wird zuweilen auch von Fokusgruppen gesprochen – in der Marktforschung (Bohnsack und Przyborski 2007; Krueger und Casey 2000). Weitere Varianten und Variationen Die Liste möglicher Interviewverfahren wird noch länger, wenn Varianten berücksichtigt werden, die ihre Bezeichnung aufgrund des Einbezugs spezifischer Elemente in die Interviewsituation erhalten. So wurde z. B. die Darbietung von visuellem Material (z. B. Fotos, Filme), die schon für das fokussierte Interview (Merton und Kendall 1979 [1946]) vorgesehen war, ausgeweitet zum „photo-elicitation interview“ (Epstein et al. 2006). Für Kinder finden sich u. a. das „PuppenspielInterview“ bzw. genereller „spielbasierte“ Interviews (Sturzbecher 2001, s. auch Mey 2005a). Auch werden in der psychologischen Forschung einige sehr spezifische Varianten für eng umgrenzte Untersuchungsfelder genutzt, so das Adult-Attachment-Interview (George et al. 2001) im Kontext der Bindungsforschung und – noch deutlich begrenzter – das Identity-Status-Interview in der Identitätsforschung (bzw. in dem Teil der Identitätsforschung, die sich dem dazugehörigen Identity-Status-Modell von Marcia verpflichtet fühlt, s. Mey 2007; Watzlawik und Born 2007). Für andere Verfahren wie das „erinnerungszentrierte Interview“, ein Leitfadeninterview zur Exploration von Erinnerungen, oder das „Erwachseneninterview“ (das Fragen zu Vorstellungen über das Erwachsensein beinhaltet) sind die Grenzen bzw. ist gerade die Unbegrenztheit solcher Namensschöpfungen offensichtlich (dazu Mey 2005b).
2.2
Probleme der Auswahl
Interviews sind eine Verfahrensgruppe, die neben den theoretischen Bezugstheorien (Ethnomethodologie, Forschungsprogramm Subjektive Theorien, Heuristik, Narrationstheorie, Psychoanalyse etc.) entlang der Dimensionen Interviewsteuerung (Standardisierung/Strukturierung) – und damit dem Gestaltungsspielraum der am Interview Beteiligten – sowie evozierte Textsorten (Erzählung, Bericht, Argumen-
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tation, Sachverhaltsdarstellung, Kenndaten, Meinungen etc.) geordnet werden kann. Je nach Forschungsinteresse und Anwendungsbereich ist der Rückgriff auf bestimmte Interviewvarianten nahe liegender als auf andere. Vor dem Hintergrund der Fülle an Verfahren ist es für Forschende mitunter schwierig, die Übersicht zu behalten und eine begründete Auswahl zu treffen: Teilweise sind die Bezeichnungen recht unscharf (z. B. „problemzentriertes“ oder „themenzentriertes“ Interview, denn in gewisser Weise werden in allen Interviews „Themen“ behandelt, und oft sind „Probleme“ Ausgangspunkt für die Zentrierung von Gesprächen); teilweise werden gleiche Namen für unterschiedliche Verfahren verwandt (so im Falle von sogenannten halbstrukturierten, biografischen oder Tiefeninterviews). Auch ist zuweilen die Differenz zwischen den einzelnen Verfahren auf der Ebene der Interviewführung oder der Frageelemente weniger groß, als die den Verfahren jeweils unterlegten Basistheorien und die jeweils angestrebten „Textsorten“ vermuten lassen: „Konfrontationsfragen“ finden sich z. B. bei halbstrukturierten Interviews und bei dem problemzentrierten Interview; insbesondere beim problemzentrierten, partnerschaftlichen und personzentrierten Interview wird auf gesprächspsychologisch fundierte Elemente zurückgegriffen, um Verständnis zu generieren und die „Sicht des Subjekts“ zu explorieren. Auch mag je nach Fragestellung mitunter eine Kombination von Elementen unterschiedlicher Interviewverfahren sinnvoll erscheinen, zumal es im Rahmen eines qualitativen Forschungsstils erforderlich ist, Methoden mit Blick auf die jeweilige Untersuchungsfrage ggf. anzupassen und zu modifizieren, indem Verfahrensweisen (Fragetypen und einzubeziehendes Reizmaterial) verknüpft werden, wenn es die methodologischen Basisannahmen erlauben und die getroffenen Entscheidungen hinreichend plausibilisiert (und entsprechend dokumentiert) werden. Insofern gilt es, die Auswahl für jede Forschungsfrage neu zu begründen, da eine Festlegung auf die eine – für alle Themen und Interviewten – „gute“ Interviewvariante wenig sinnvoll ist. Eine solche Vorabfestlegung – in der Psychologie öfters auf „halbstrukturierte Interviews“ und zudem zumeist „inhaltsanalytisch“ ausgewertet – bezeichnet Jüttemann (1983) als „Methodeninversion“, d. h. die Entscheidung für Verfahren folgt weniger einem begründeten Ertrag zur Beantwortung einer Forschungsfrage als vielmehr Annahmen über die Reputation von Verfahren vor dem Hintergrund z. T. quantitativer Forschung geschuldeter Gütekriterien s. die Debatte zur Geltungsbegründung in „FQS-Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research“, http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/pages/ view/quality.
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Zentrale Fragen der Interviewdurchführung
Interviews erfordern von der Auswahl einer Variante über die Durchführung der Interviews bin hin zu deren Aufbereitung kontinuierlich reflexionsbedürftige und zu begründende Entscheidungen der Forschenden (Kruse 2014; Kvale und Brinkman 2008; Reinders 2016; im Überblick Mey und Mruck 2011). Einigen hiermit einhergehenden Herausforderungen und Fragen möchten wir kurz nachgehen.
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Interviewarrangement: Teilnehmende
Interviews werden in der Regel als Dyade geführt mit einer Person, die interviewt und einer Person, die interviewt wird. Teilweise werden aber auch zwei Interviewende eingesetzt, ein Vorgehen, das als „Tandeminterview“ bezeichnet wird (Hoff 1985). Dies ist dann zu vermeiden, wenn durch die Überzahl aufseiten der Interviewenden Assoziationen zu einem „Verhör“ hervorgerufen oder wenn intimere Details, die eine vertrauensvolle Situation voraussetzen, ausgespart werden würden. Vorzüge von Tandeminterviews sind insbesondere – vorausgesetzt, beide Interviewende harmonieren –, dass mögliche Auslassungen eher auffallen können oder dass bei „Krisen“ im Gespräch der/die Fragende wechseln kann. Michael Dick (2006) schlägt im Kontext seiner Arbeiten zur Organisationsforschung „Triadengespräche“ vor, wobei die dritte Person Laie/Laiin sein sollte: Sie gehört dem „gemeinsamen“ Handlungsfeld des/der Befragten und des Interviewers/ der Interviewerin nicht an und fungiert ausschließlich als Zuhörer/in. Nach Dick werden den Interviewten (von ihm verstanden als „Experte/Expertin“ für die infrage stehenden Themen) durch die beiden Zuhörenden unterschiedliche Anforderungen vermittelt: Während für den fachlichen Part (Interviewer/in als Novize/Novizin) die Relevanz und Nützlichkeit des Dargestellten in Bezug auf die Forschungsfrage bedeutsam sei, sei für die zuhörende dritte Person (Laie/Laiin) dessen Verständlichkeit zentral. Die Einführung der dritten Person dient also dazu, Darstellungen zu elizitieren, die sonst in der Selbstverständlichkeit und Routine verborgen bleiben könnten. Anders konzipierte Dritte finden sich z. B. in Gruppen- bzw. Paarinterviews. Da die meisten Interviewvarianten ursprünglich entlang einer adult-zentrischen Gesprächsführung entwickelt wurden, waren und sind mit Blick auf bestimmte Personengruppen zusätzliche Spezifikationen und Reflexionen erforderlich. So wurden nicht zuletzt in der Entwicklungspsychologie die besonderen Anforderungen diskutiert, mit Kindern Interviews zu führen. Hierzu entwickelte Jean Piaget (1999 [1926]) schon früh die „klinische Methode“, die eine besondere Form von permanenten Nachfragen betont. Auch der Einbezug „kindangemessener“ Utensilien (Spielzeug, Malstifte etc.) und Arrangements (mehr Pausen, Herumlaufen) sind hier obligate Variationen, ebenso spezifische Fragestile, die an den Verstehensleistungen von Kindern orientiert sind (Mey 2005a; Mey und Schwentesius 2019, S. 8–14; Winstone et al. 2014). Spezifizierte Überlegungen finden sich mittlerweile auch für Interviews mit älteren und alten Menschen mit Blick auf deren Erzählschemata, körperliche Verfasstheit und andere – der Altersgruppe zugeschriebene – Besonderheiten (Lamnek 2010) oder für Menschen, deren Kommunikation ursprünglich als „beeinträchtigt“ angesehen wurde. Ein solcher normalisierender Blick wurde nicht zuletzt mit dem Aufkommen der disability studies (Zander und Mey 2018) einer kritischen Revision unterzogen. Aufseiten der Forschenden sind damit Voraussetzungen zu schaffen, die eine Mitwirkung der Befragten durch Änderungen im Arrangement und Setting ermöglichen (Breuer 2005).
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Eine Auseinandersetzung mit der Frage, in welcher Weise Kommunikation und sprachliche Angebote zu unterbreiten sind, betrifft aber nicht nur Merkmale wie Alter oder Behinderung. Denn in dem Maße, in dem zunehmend internationale Verbundprojekte umgesetzt werden, geraten kulturelle Besonderheiten und aus ihnen resultierende Anforderungen an die Gestaltung der Interviewsituation in den Blick (Brayda und Boyce 2014). Unabhängig von Art und Zahl der Teilnehmenden sind die Daten, die am Ende eines Interviews vorliegen, nur zu einem Teil der Methode und dem formalen Interviewarrangement im engeren Sinne geschuldet: Sie hängen viel mehr von der je konkret stattfindenden Begegnung zwischen (möglicherweise sehr eigenwilligen) Subjekten ab. Interviewende und Interviewte begegnen sich als Angehörige gleicher/unterschiedlicher soziokultureller Milieus, als gleichaltrig oder aus verschiedenen Alterskohorten stammend (und damit als Generationenangehörige mit gleichem/ unterschiedlichem Erfahrungswissen), als dem gleichen oder verschiedenen Geschlechtern zugehörig. Diese je spezifischen Konstellationen sind (zusätzlich konturiert z. B. durch den Grad an Sympathie oder Attraktivität) mitverantwortlich für das, was im Interview (nicht) gesagt wird: Interviewte und Interviewende sind Gegenüber mit einem je eigenen „Reizwert“, wie der Ethnopsychoanalytiker Georges Devereux es nennt (1973 [1967], S. 49). Dieser Reizwert – „Ausstrahlung“/ „Wirkung“/„Erscheinung“ – ist mitentscheidend, ob Befragte bereit sind, ausführlich zu erzählen oder ob sie es bei der Mitteilung des Nötigsten belassen, und er ist unabhängig von der gewählten Interviewvariante bei der folgenden Datenauswertung unbedingt reflexionsbedürftig (Mruck und Mey 2019).
3.2
Setting: Orte
Interviews finden meist als Gespräche in einem geschlossenen Raum statt. Für viele Interviews ist der konkrete Ort auszuhandeln; die Vorschläge und getroffenen Wahlen (Privatwohnung, Hochschulräume, andere öffentliche Räume) sind zu reflektieren und können interessante Hinweise für die Untersuchung geben. Eine freie Ortswahl entfällt immer dann, wenn es Vorgaben gibt, die es notwendig machen, dass das Interview an einem bestimmten Ort geführt wird, also z. B. in einem „Studio“ mit zusätzlichen Aufzeichnungsmöglichkeiten, im Falle ethnografischer Interviews, die sich „im Feld“ ereignen oder wenn Interviews als „Rundgänge“ (sog. „walking around method“, Lynch und Rickin 1970) etwa durch Wohnviertel organisiert werden. Seit Anfang des neuen Jahrtausends haben neben der traditionellen Face-to-face-Erhebung als in Raum und Zeit synchroner Kommunikation zusätzliche Interviewformen stärkere Verbreitung gefunden. Hierzu gehört insbesondere das Telefoninterview als zeitlich synchrone, aber an verschiedenen Orten stattfindende Kommunikation (Block und Erskine 2012; Oltmann 2016) oder das E-Mail-Interview, das zeitlich wie örtlich asynchron geführt wird (Bampton und Cowton 2002; Houston 2008). Zunehmend werden auch Interviews in synchronen Chatrooms, via MSN Messenger oder über weitere Webtechnologien gestaltet (Dea-
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kin und Wakefield 2014; Tuttas 2015; für einen aktuellen Überblick zu „Digital Tools for Qualitative Research“ s. Paulus et al. 2017). Die vorgenannten Erhebungsformen haben insbesondere praktische Vorzüge, dass nämlich ohne Zeitverlust große Distanzen überwunden und zudem Kosten für Reisen/Hotels usw. gespart werden können (bei E-Mail-Interviews und Chats mit Protokollfunktion entfallen zusätzlich auch noch der Aufwand für die Transkription). Zu empfehlen sind diese Interviewvarianten dann, wenn der mit ihnen einhergehende Informationsverlust nicht besonders schwer wiegt (bei Telefoninterviews entfallen visuelle Informationen, bei E-Mail-Interviews zudem Informationen über den situationalen Kontext und die Spontaneität unmittelbarer Kommunikation).
3.3
Leitfadeneinsatz
In vielen Interviews (außer insbesondere dem narrativen und dem rezeptiven Interview sowie dem ero-epischen Gespräch) werden Leitfäden verwandt, die mehrere Funktionen erfüllen können: Im Vorfeld eines Interviews helfen sie den Forschenden, das eigene Wissen zu organisieren, zu explizieren und mit Teamkolleg/innen zu diskutieren. Kurz vor dem Interview können die wichtigen Fragen(bereiche) nochmals in Erinnerung gerufen werden. Im Gespräch selbst sollte auf den Leitfaden – auch um eine „Leitfadenbürokratie“ (Hopf 1978) zu vermeiden – nur dann zurückgegriffen werden, wenn es zu Stockungen kommt oder die Interviewenden den „Faden“ verloren haben. Am Ende des Interviews kann der Leitfaden im Sinne einer Checkliste dazu dienen zu prüfen, ob alle wichtigen Fragen gestellt bzw. im Interview angemessen angesprochen wurden. Als Faustregel gilt – folgt man Gläser und Laudel (2010) –, dass ein Leitfaden nicht mehr als zwei Seiten mit ca. acht bis fünfzehn Fragen umfassen sollte, am besten übersichtlich sortiert. Helfferich (2011) hat hierzu einen Ablaufprozedere aufgestellt, an dessen Ende – nach Sammlung aller möglichen Fragen, deren Prüfung sowie Sortierung und Subsummierung – ein Leitfaden steht, der pro Themenbereich eine offene Einstiegsfrage vorsieht und dazugehörige konkrete Nachfragen sowie Steuerungs- und Aufrechterhaltungsfragen enthält. Zur Reduzierung des Leitfadens empfiehlt es sich auch, Witzels Vorschlag eines Kurzfragebogens zu folgen, der wahlweise vor oder nach dem Interview eingesetzt werden kann, um Rahmendaten zu erheben und Faktenfragen aus dem Gespräch auszulagern. Ob im Leitfaden selbst Fragen auszuformulieren sind, wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet: Während z. B. Helfferich sich für Stichworte ausspricht, plädieren Gläser und Laudel für ausformulierte Fragen. Entscheidendes Kriterium sind hier die Präferenzen der Interviewenden – einige arbeiten wegen der damit verbundenen flexiblen Formulierung von ad hoc einzubringenden Fragen lieber mit einem in Stichworten organisierten Leitfaden, andere Interviewende fühlen sich mit ausformulierten Fragen sicherer. Ungeachtet der Präferenz ist es sinnvoll, (die zentralen) Fragen vor dem Interview zumindest einmal auszuformulieren, um ein Gespür für den Fragegehalt und die -formulierung zu bekommen.
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Im Falle von Forschungsteams oder beim Einsatz von mehreren Interviewenden sollte ein „Manual zur Interviewführung“ erstellt werden, das das Interviewverhalten regelt und die „Logik“ des Leitfadens expliziert, z. B. für welche Bereiche Erzählungen und wann Tiefeninformationen zwingend erforderlich sind, auf welche Weise diese eingeholt werden sollen (hypothetische, zirkuläre, systemische etc. Fragen) und welche Themenbereiche zentral oder eher peripher sind; die Reglements sollten aber nicht zu rigide formuliert sein. Ein solches Manual empfiehlt sich aber auch bei Einzelarbeiten, denn so explizieren Interviewende, welche Ziele sie mit dem Interview verfolgen und auf welche Weise sie die Interviewsituation gestalten wollen. Wichtig ist, sich angesichts des Prozessund Offenheitscharakters qualitativer Forschung (und wegen des oft iterativen Vorgehens bei der Fallauswahl) zu vergegenwärtigen, dass der Leitfaden mit zunehmendem Erkenntnisgewinn verändert werden kann, indem neue Fragenbereiche aufgenommen werden, andere hingegen entfallen. Auch können die Exploration unterstützende Elemente – begründet mit Blick auf den jeweiligen Untersuchungsgegenstand – einbezogen werden. So hat Wolfgang Kraus (2000) für die Untersuchung von Identitätskonstruktionen Netzwerkkarten eingesetzt, um Befragte aufzufordern, ihre sozialen Bezüge zu erläutern und zu visualisieren. Birgit Böhm (2006) nutzte Legofiguren, damit Interviewte zur Darstellung von interdisziplinärer Gruppenarbeit Projektskulpturen aufstellen und dies mit Blick auf Kooperationen kommentieren konnten. Auch Stadtkarten kommen zur Exploration von Lebenswelten zum Einsatz (schon früh Muchow und Muchow 2012 [1935]; s. auch Mey 2015).
3.4
Aufzeichnung, Mitschrift, Prä- und Postskripte
In der Regel werden Interviews aufgezeichnet, wobei die meisten Forschungsarbeiten mit einer Audioaufzeichnung auskommen. Die Videoaufzeichnung empfiehlt sich dann, wenn visuelle Daten (also Mimik, Gestik) wirklich für das Erkenntnisinteresse bedeutsam sind und in die Auswertung einbezogen werden sollen oder wenn für Ergebnispräsentationen z. B. im Rahmen performativer oder kunstbasierter Ansätze visuelle Darstellungen (Filmcollagen usw.) vorgesehen sind (Schreier 2017). Die Aufzeichnungsgeräte sind mittlerweile sehr klein, sodass sie kaum auffallen; dies gilt auch für die Mikrofone. Entsprechend kann sich nach einigen Minuten das Gefühl, „aufgezeichnet“/„beobachtet“ zu werden, eher verlieren als bei früheren Geräten. Wenn es sich im Gesprächsverlauf jedoch (wieder) einstellt, dann ist dies möglicherweise ein Hinweis auf „heikle“ Themen oder auf Verunsicherung (ggf. kann angeboten werden, die Aufnahme zu unterbrechen). Zunächst eingeführt von Witzel (1982) als Element des problemzentrierten Interviews gehört es mittlerweile zusätzlich zum Standard, ein Postskript anzufertigen. Es dient zum Festhalten von Eindrücken, Auffälligkeiten und Befindlichkeiten, die sich
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auf das Interview selbst und auf die (nicht aufgezeichnete) Zeit vor und nach dem Interview beziehen. Dazu kann eine standardisierte Vorlage (mit den für die Analyse wesentlichen Punkten) genutzt oder das Postskript kann frei angelegt werden. Noch selten werden Präskripte verfasst, also Notizen im Vorfeld des Interviews, in denen die Erwartungen an das konkrete Interview formuliert oder auch eigene Befindlichkeiten festgehalten werden. Dies zu fixieren ist sinnvoll, denn auf diese Weise werden Informationen verfügbar, die sonst für die Forschungssupervision oder den Auswertungsprozess nicht zugänglich wären. Wenn eine auditive Aufzeichnung nicht gewünscht oder nicht machbar ist, können die Inhalte und der Ablauf des Gesprächs protokolliert werden. In diesen Fällen sollten Notizen (Stichwörter, zum Teil ergänzt um wörtliche Rede) so schnell als möglich nach dem Interview verfasst werden. Hierbei ist zu beachten, dass ähnlich dem ethnografischen Protokoll (s. dazu Streck et al. 2013) nur das in die Auswertung einbezogen werden kann, was auch erinnert, niedergeschrieben und hinreichend expliziert wurde. Audioaufzeichnungen werden üblicherweise als Grundlage für die folgende Datenauswertung verschriftlicht. Hierbei sind nicht nur Entscheidungen zu treffen hinsichtlich des Umfangs (ob alles verschriftlicht wird oder nur Teile), sondern auch die Regeln festzulegen, nach denen die Transkription erfolgt und in welcher Weise eine Anonymisierung sichergestellt wird (Dresing und Pehl 2018). Ebenso bedeutsam ist es, den ko-konstruktiven Charakter der Interviewsituation und dessen Bedeutung für die Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen (Breuer 1999; Davidson 2009; Skukauskaite 2012). Denn obschon seit den Arbeiten von Ochs (1979) die Selektivität und Theoriegeladenheit von Transkripten in der methodologischen Literatur zunehmend akzeptiert wird, werden diese in der Forschungspraxis weiter oft als realistische Objekte verstanden und behandelt.
3.5
Interviewschulungen
Entlang der hier nur kursorisch behandelten Fragen zur Interviewführung wird deutlich, dass im Rahmen von Interviewstudien zahlreiche Entscheidungen zu treffen und zu begründen sind. Da die methodische Ausbildung oft wenig praktische Übungen aufweist, sollten vor allem unerfahrene Interviewerinnen und Interviewer angeleitete Schulungen wahrnehmen, insbesondere solche mit Interviewübungen. Über solche vorbereitenden Schulungen – und in einer zu verbessernden Methodenausbildung an Hochschulen und Universitäten – hinaus ist eine wiederkehrende Supervision durch Methodenberatungen, in selbst-organisierten Forschungswerkstätten oder in sich kooperativ-verstehenden Forschungsteams sinnvoll (Kanter und Mey 2020): Aus Interviews als sozialen Situationen können immer wieder neue Herausforderungen resultieren oder es schleichen sich Gewohnheiten in die Interviewführung und -gestaltung ein, die es – um die Potenz qualitativer Methodik für die je interessierende Fragestellung auszuschöpfen – zu reflektieren gilt.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Interviews sind als „Instrument“ zum Abfragen von (Fakten-)Wissen wenig geeignet (dies kann ein gut konstruierter Fragebogen viel besser und zuverlässiger leisten), sondern sie helfen, Erzählungen zu generieren, Argumente und Begründungen zu explorieren oder ausführliche Beschreibungen einzuholen, die (anders als Tagebuchaufzeichnungen oder andere schriftliche Dokumente) in einem Gespräch hervorgebracht werden. Zudem sind Interviews (auch in Abgrenzung z. B. zu Fokusgruppen) immer dann zu wählen, wenn es um persönliche Narrationen bzw. um sensitive Themen geht, die ein vertrauensvolles Klima voraussetzen. Prinzipiell können Interviews mit Angehörigen aller Alters- und Sozialgruppen geführt werden. Allerdings resultieren aus der Bindung an Sprache und Ausdruckfähigkeit immer auch Grenzen. So wird in der Literatur häufig problematisiert, dass ungeübte Befragte nicht zu längeren Narrationen in der Lage seien, und noch mehr, dass mit Blick etwa auf das narrative Interview als eine besonders anspruchsvolle Interviewform gar nicht jede/r Befragte die „Bereitschaft sowie die (sprachliche und soziale) narrative Kompetenz [habe], [ihre/]seine ‚Geschichte‘ zu erzählen“ (Spöhring 1989, S. 175; kritisch dazu Mey 2000). Als Gruppe, die in einer Interviewsituation eher einem Frage-Antwort-Schema folge oder sich dem narrativen Interview „entziehe“, werden in dieser Diskussion um „inkompetente“ Erzähler/innen immer wieder Jugendliche genannt. Statt solche Gruppen per se auszuschließen, sollten Interviewende jedoch die Ansprüche, Herausforderungen und Voraussetzungen spezifischer Interviewverfahren in dem jeweiligen Untersuchungskontext auszuloten versuchen. Dies ist offensichtlich bei Kindern, bei denen die Gestaltung der Interviewsituation auf deren spezielle Bedürfnisse hin abzustimmen ist (Pausen, Herumlaufen, Einbezug zusätzlicher Elemente aus der kindlichen Erfahrungswelt usw.; Mey 2005a; Vogl 2015). Statt der Konstruktion von „Spezialfällen“ (Kinder, Alte etc.) ist es generell angezeigt, immer wieder zu reflektieren, wer im Interview überhaupt aufeinander trifft. Jede dieser Begegnungen erbringt anderes Material, das für die Beantwortung der Untersuchungsfrage wichtig sein kann; dies setzt aber voraus, dass das kommunikativ produzierte Material unter den Bedingungen der konkreten Herstellung und gemeinsamen Konstruktion betrachtet und ausgewertet wird. Ob ein weitgehend passives Zuhören wie im Falle des narrativen Interviews als Desinteresse und das Stellen von Fragen beim problemzentrierten Interview als Unterbrechung erlebt wird, ergibt sich weniger aus den methodischen Verfahrensregeln als aus der Interviewsituation, in der Forschende und Beforschte sich als Subjekte (mit den jeweiligen Selbst- und Fremdzuschreibungen) begegnen. Diese Form der wechselseitigen Wahrnehmung und Zuschreibung ändert sich auch nicht, wenn Interviews per E-Mail, am Telefon oder im Chat stattfinden, Medien, die jedes für sich unterschiedliche Vorzüge und eigene „Regeln“ haben. Der Grundzug bei jedem Interview bleibt: Es ist ein soziales Arrangement, in dem Interviewte und Interviewende als soziale Akteur/innen aufeinandertreffen. Die mit dem „sozialen Arrangement Interview“ verbundenen Besonderheiten erfordern eingehende methodische Reflexionen. Deppermann (2013) zeigt an verschiedenen Interviewauszügen dezidiert auf, dass (und
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wie) Interviews als situierte Interaktionsereignisse zu begreifen sind, in denen durch performatives Handeln gemeinsam Sinn hergestellt wird. Ungeachtet der breiten Nutzung von Interviews in der Psychologie, aber auch in allen anderen human- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen mangelt es an systematischem Wissen über das, was in einem Interview „eigentlich“ passiert. Hier liegt in der Forschung über Interviews ein wesentliches Desiderat, das erst in jüngster Zeit ernsthafter aufgegriffen wird (Deppermann 2013; Kruse 2014; Witzel und Reiter 2012) und noch viele weiterführende Detailbetrachtungen erfordert.
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Dialog-Konsens-Methoden Psychologische Verfahren zur Erhebung der Innensicht von Handelnden Brigitte Scheele und Norbert Groeben
Inhalt 1 Anthropologische Ausgangspunkte der Dialog-Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Methodologische Grundstruktur: Dialog-hermeneutisches Wahrheitskriterium und kommunikative Validierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die zwei Schritte der kommunikativen Validierung: Kognitionserhebung und Dialog-Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Beispiele: Strukturbilder unterschiedlicher Komplexität und Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Die Dialog-Konsens-Methoden sind innerhalb des Forschungsprogramms Subjektive Theorien entwickelt worden, um die Innensicht von Handelnden zu erfassen. Unter Rückgriff auf das dialog-konsenstheoretische Wahrheitskriterium wird dabei versucht, eine möglichst ideale Sprechsituation zu realisieren. Das geschieht in zwei Teilschritten: einem Interview zur Erhebung der Kognitionsinhalte und einer dialog-konsensualen Rekonstruktion der Subjektiven-TheorieStruktur mittels Struktur-Lege-Verfahren, bei der das Erkenntnis-„Objekt“ das letzte Wort hat, ob das Struktur-Bild seiner Innensicht entspricht. Schlüsselwörter
Epistemologisches Subjektmodell · Dialog-konsens-theoretisches Wahrheitskriterium · Kommunikative Validierung · Struktur-Lege-Verfahren · Qualitative/quantitative Auswertung
B. Scheele (*) · N. Groeben Psychologisches Institut der Universität zu Köln, Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_37
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1
B. Scheele und N. Groeben
Anthropologische Ausgangspunkte der DialogHermeneutik
Dialog-Konsens-Methoden (oder auch: Dialog-Hermeneutik) sind Erhebungsverfahren, die im Rahmen des Forschungsprogramms Subjektive Theorien (Groeben et al. 1988; Straub und Weidemann 2015) entwickelt wurden. Sie setzen explizit ein bestimmtes Menschenbild (bzw. Subjektmodell) als anthropologischen Ausgangspunkt der Dialog-Hermeneutik an. Dem Menschen als Gegenstand der Psychologie werden dabei (positiv bewertete) Fähigkeiten zugeschrieben, vor allem: Reflexions- und Kommunikationsfähigkeit sowie Handlungs- und Rationalitätsfähigkeit. Diese anthropologischen Kernannahmen grenzen sich dezidiert vom Menschenbild einerseits des Behaviorismus, andererseits der Psychoanalyse ab. Im Behaviorismus werden Menschen vom Grundansatz her als außengesteuert, unter der Kontrolle von Umweltreizen (Kontingenzen) betrachtet, sodass sie – unwillkürlich – auf diese Kontingenzen reagieren. Verhalten ist dementsprechend eine Aktivität, die prinzipiell auch ohne Reflexion erfolgen kann. Dem setzt das epistemologische Subjektmodell die grundsätzliche Fähigkeit zu bewusstem, geplantem Handeln entgegen. Handeln impliziert, dass Menschen über die Ziele und Gründe ihres Handelns reflektieren und diese Reflexion/en auch sprachlich vermitteln, kommunizieren können. Zudem basiert erfolgreiches Handeln nicht zuletzt darauf, dass die Reflexionen prinzipiell realitätsadäquat sein können. Realitätsadäquate Reflexion ist das Hauptmerkmal von Rationalität. Hierin liegt die zentrale Abgrenzung von der Psychoanalyse, die als Standardfall unterstellt, dass menschliches Reflektieren rationalisierend ist, d. h. realitätsinadäquat, weil es unzutreffende Erklärungen für unbewusste Motivationen generiert. Im Konzept der Rationalisierung manifestiert sich das anthropologische Grundproblem der Psychoanalyse, nämlich dass sie den Menschen vom Krankhaften (Neurotischen) aus konzipiert. Diesem pessimistischdestruktiven Menschenbild setzt die Dialog-Hermeneutik ein optimistisch-konstruktives Subjektmodell entgegen, das für Erkenntnis-Subjekt (Wissenschaftler/in) wie Erkenntnis-Objekt (Versuchspartner/in als „Gegenstand“) prinzipiell die gleichen anthropologischen Merkmale/Kompetenzen postuliert (Menschen als „Subjektive Theoretiker/innen“; Groeben und Scheele 1977; Groeben et al. 1988). Das Konzept der Subjektiven Theorie soll deutlich machen, dass es hier nicht um einfache Kognitionen wie etwa einzelne Begriffe/Konzepte geht, sondern um hochkomplexe Kognitionen/Reflexionen, in denen Konzepte (parallel zu wissenschaftlichen Theorien) zu argumentativen Satzsystemen verbunden sind (Groeben et al. 1988; Straub und Weidemann 2015). Das bedeutet nicht, dass Menschen immer und in jeder Situation reflexiv und rational handeln bzw. ihre Kognitionen (vollständig) mitteilen können. Eine grundsätzliche Kompetenz impliziert nicht, dass sie auch durchweg und von allen realisiert wird. Das gilt auf motorischem Gebiet (Schwimmen, Radfahren etc.) ebenso wie in hochkomplexen, kognitiven Bereichen (wie Argumentieren, literarisches Schreiben etc.). Dementsprechend sind dialog-hermeneutische Erhebungsverfahren auch nicht in allen Problembereichen bzw. bei allen Fragestellungen einsetzbar (ausführlich:
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Groeben et al. 1988, Kap. 3). Wenn vorhersehbar die prinzipiellen Fähigkeiten der Reflexion, Rationalität, Handlung etc. nicht erreicht werden, sind andere (Beobachtungs-)Methoden einzusetzen. Das gilt z. B. für angeborene Reflexe, aber auch für erworbene Automatismen, die so eingeschliffen sind, dass sie ohne Beteiligung bewusster Denkprozesse ablaufen. Außerdem fallen darunter Situationen, die (wegen zu viel oder zu wenig Information) kognitiv undurchschaubar sind, sowie Zustände, die durch eine Desintegration von Emotion/Motivation und Kognition gekennzeichnet sind (z. B. Panik, Phobien und andere psychische Erkrankungen). Allerdings geht das epistemologische Subjektmodell davon aus, dass dies Sonderfälle des psychologischen Gegenstandsbereichs sind; der Standardfall ist durch die Strukturparallelität von Erkenntnis-Subjekt (ES) und Erkenntnis-Objekt (EO) gekennzeichnet, die den Einsatz dialog-hermeneutischer Verfahren ermöglicht und rechtfertigt.
2
Methodologische Grundstruktur: Dialog-hermeneutisches Wahrheitskriterium und kommunikative Validierung
Mit der Existenz von handlungsleitenden Kognitionen/Reflexionen ist für die psychologische Forschung naturgemäß ein Verstehensproblem verbunden (ausführlich: Groeben 1986). Was sich Subjekte bei ihren Handlungen gedacht haben, ist den Handlungen nicht quasi „von außen“ anzusehen, sondern nur „von innen“, also aus der Innensicht zugänglich. Diese Innensicht zu erheben, ist für die Erforschung von Handlungen absolut essenziell und nur unter Rückgriff auf die (sprachliche) Kommunikation möglich. Dialog-hermeneutische Methoden stellen eine systematisch-methodische Erfassung dieser „verstehenden Kommunikation“ dar. Der Terminus „Dialog-Hermeneutik“ (bzw. „Dialog-Konsens“) bezeichnet die Kommunikation zwischen den beiden Subjekt-Klassen von EO einerseits und ES andererseits. Demgegenüber sprechen wir beim klassischen Kriterium der Intersubjektivität zwischen den Forschenden, das sich auf den Konsens innerhalb der Klasse der ES bezieht, von „Monolog-Hermeneutik“. Ob bei der DialogHermeneutik ein Verstehen (der Innensicht des EO) vorliegt oder nicht, kann nun aber valide nur das EO entscheiden, weswegen Dialog-Konsens-Methoden die Zustimmung des EO als oberstes Validitätskriterium für die Erfassung der Innensicht des EO einsetzen (müssen). Mit diesem Kriterium ist nicht impliziert, dass die Innensicht auch realitätsadäquat ist, d. h. dass sie valide Erklärungen der (eigenen) Handlungen bietet (explanative Validität); es geht „nur“ darum, dass die Innensicht der (erlebenden, handelnden) Person (qua EO) valide beschrieben wird (deskriptive Validität). Dieser deskriptiven, kommunikativen Validität liegt das dialog-konsenstheoretische Wahrheitskriteriums zugrunde, das von Habermas (1968, 1973) genau für den Fall expliziert worden ist, dass eine Person über ihre Innensicht – vernünftig und wahrhaftig – berichten soll (speziell im Fall der Innensicht einer Klientin bzw. eines Klienten innerhalb der – psychoanalytischen – Therapie). Weil dabei eben keine Überprüfung „von außen“, d. h. durch eine andere Person, möglich ist, liegt das
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B. Scheele und N. Groeben
zentrale Wahrheitskriterium in der Wahrhaftigkeit der (berichtenden) Person. Doch auch die Wahrhaftigkeit der Person ist nicht durch eine irgendwie geartete Überprüfung zu sichern (weil das ja schon wieder den Zugang zur Innensicht der Person voraussetzen würde), deshalb besteht die einzige Möglichkeit darin, die Bedingungen der Möglichkeit zur Wahrhaftigkeit zu schaffen; Bedingungen, aufgrund derer die Person unverzerrt über ihre Innensicht zu sprechen vermag. Einschlägige Verzerrungen, die gerade in der methodologischen Diskussion der Psychologie herausgearbeitet worden sind, bestehen nicht nur darin, dass eine Person bewusst die Unwahrheit über sich sagen will, sondern sie kann sich auch unter dem Druck oder Sog einer möglichst guten Selbstdarstellung über sich selbst irren. Habermas fasst diese Varianten von Verzerrungen unter dem Konzept der „Systemzwänge“ zusammen. Es kommt also darauf an, Kommunikationsbedingungen zu schaffen, die solche Systemzwänge vermeiden. Diese optimalen (Kommunikations-)Bedingungen nennt Habermas die „ideale Sprechsituation“ (Habermas 1973, S. 255) – eine zugegebenermaßen „kontrafaktische Situation“, die es in der Realität nie vollständig geben wird, die es aber approximativ zu erreichen gilt (Apel 1973, S. 188–200; Straub und Weidemann 2015, S. 52–54). Damit führt die Dialog-Konsens-Methodik Traditionen der sogenannten verstehenden („geisteswissenschaftlichen“) Psychologie fort, speziell der phänomenologischen Richtung (Herzog und Graumann 1991) sowie der Erhebung verbaler Daten (Huber und Mandl 1982), aber mit dem besonderen Anspruch, die kommunikative Interaktion zwischen EO und ES methodisch zu systematisieren. Diese Systematisierung ist dem Ziel verpflichtet, eine optimale Gegenstands-Methodik-Interaktion für die Erforschung von (hochkomplexen) Kognitionen und Handlungen zu erreichen. Es wird nicht, wie vielfach im Informationsverarbeitungsansatz als der aktuellen Mainstream-Richtung der Kognitionspsychologie, nur das als (Gegenstands-) Problem anerkannt, was mit den eingeführten quantitativen Methoden (vor allem des Reaktionszeitparadigmas und der neurophysiologischen Messung) bearbeitbar ist. Vielmehr wird von einem möglichst unrestringierten Gegenstands(vor)verständnis aus eine Methodik entwickelt, die den Merkmalen der menschlichen Personalität möglichst umfassend gerecht wird. Das bedeutet jedoch auch nicht, dass von den angestrebten Gegenstandsmerkmalen her die methodische Systematik aufgegeben wird; vielmehr wird mit den dialog-hermeneutischen Erhebungsverfahren eine gleichgewichtige Berücksichtigung von Gegenstandsadäquanz und methodischer Systematik angestrebt und (approximativ) realisiert. Die methodische Systematisierung wird vor allem dadurch erreicht, dass den EOen zur Sicherung der Intersubjektivität der Methode bestimmte Regeln vorgegeben werden. Mit der Differenziertheit und Komplexität solcher Regeln wächst allerdings die Gefahr, dass es zu einer kognitiven Überlastung der Untersuchungspartner/innen (Uptn) kommt, die eine adäquate Selbstauskunft erschwert oder gar verhindert. Um eine derartige Überlastung zu vermeiden, bestehen die Dialog-Konsens-Verfahren aus zwei Schritten: der Kognitionserhebung und der Dialog-Konsens-Herstellung. Dabei ist jeder Schritt noch einmal in zwei Teilschritte unterteilt: die Kognitionserhebung in die inhaltliche Erhebung der Kognitionen mittels (halb-standardisiertem)
Dialog-Konsens-Methoden
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Interview und die Vermittlung der Regeln für die formale Rekonstruktion der (subjektiv-theoretischen) Kognitionsstruktur; die Dialog-Konsens-Herstellung in die Erstellung je eines Strukturbildes durch EO und ES und die Einigung auf ein (gemeinsames) Konsens-Bild.
3
Die zwei Schritte der kommunikativen Validierung: Kognitionserhebung und Dialog-Konsens
Der Gegenstand der Dialog-Konsens-Verfahren sind (relativ) hochkomplexe Kognitionen, die mithilfe dieses methodischen Instruments als Subjektive Theorien (STn) rekonstruiert werden. Solche STn können in den verschiedensten Bereichen identifiziert und untersucht werden: Zum einen handelt es sich um alltagspsychologische Konzepte (wie Vertrauen, Aggression, Selbstständigkeit, Zivilcourage etc.), die von den klassischen Grundlagenfächern der Psychologie (vor allem Allgemeine und Sozial-Psychologie) erforscht werden. Zum anderen fallen darunter bisher hauptsächlich Subjektive Berufstheorien (z. B. von Lehrkräften über Gruppenunterricht, Disziplin im Unterricht etc.), die von den psychologischen Anwendungsfächern bearbeitet werden (neben der Pädagogischen auch der Arbeits- und Organisations- und der Klinischen Psychologie). Und in diesen beiden grundlegenden Kategorien hat die Methodik auch interdisziplinäre Resonanz erfahren, indem sie in der Wirtschaftswissenschaft, Medizinischen Psychologie, Fremdsprachenphilologie, Politologie etc. eingesetzt worden ist (Straub und Weidemann 2015, S. 79–106).
3.1
Die Binnenstruktur der Kognitionserhebung
Für den ersten Teilschritt innerhalb der Kognitionserhebung hat sich die Durchführung eines halb-standardisierten Interviews am besten bewährt, weil es die effektivste Verbindung zwischen den inhaltlichen Hypothesen und der formalen Kognitionsstruktur ermöglicht. Ausgehend von den Untersuchungshypothesen sind für den Interview-Leitfaden bestimmte Bereiche festzulegen, in denen die einzelnen Fragen solche Aspekte thematisieren, die später möglichst problemlos entsprechend den Regeln der Strukturrekonstruktion in Konzept-Kärtchen „übersetzbar“ sind. Die so bereits auf die Strukturrekonstruktion ausgerichteten Fragen sollten dabei selbstverständlich in relativ flexibler Anpassung (Reihenfolge und Wortwahl) an die jeweiligen Uptn formuliert werden, sodass ein möglichst natürlicher Kommunikationsablauf resultiert. Es hat sich aber grundsätzlich eine Trias von bestimmten Fragekategorien (in dieser Reihenfolge für jeden Bereich) als brauchbar herauskristallisiert, die am besten geeignet ist, die Uptn bei der Explikation ihrer Reflexionsinhalte und -strukturen zu unterstützen, nämlich: 1. hypothesenunspezifische, offene Fragen; 2. hypothesenspezifische Fragen sowie 3. sogenannte Störfragen, die zur Präzisierung des von den Uptn Gemeinten beitragen (sollen). Meistens sind
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Tab. 1 Ziel-Hierarchie zur Generierung von Technologien für die dialog-konsensuale Erhebung und Rekonstruktion Subjektiver Theorien (nach Groeben et al. 1988, S. 144) Sprechakttheoretische Ziele VI. Einsichtsvolles Übernehmen von Argumenten V. Auseinandersetzen IV. Argumentatives Verständigen III. Gleichberechtigt-Sein II. Kommunizieren I. Aktualisieren
Motivationale und kognitive Voraussetzungen Sinn-Motivation Explikationsvertrauen (Selbst-)Erkenntnis-Motivation Argumentations-Fähigkeit Verbalisierungs-Motivation Verbalisierungs-Fähigkeit Explizierungs-Motivation Aktualisierbarkeit der Kognitionen
jedoch noch weitere Explizierungshilfen nötig, mit denen das EO bei der inhaltlichen wie formalen Explikation der Subjektiven Theorie/n zu stärken ist. Für die Entwicklung solcher Explizierungshilfen sind aufeinander aufbauende Zielebenen herausgearbeitet worden, mit denen das EO in der Sequenz der zur Kognitionsrekonstruktion notwendigen Teilkompetenzen gegebenenfalls Hilfestellung erfahren soll (Tab. 1). Die Realisierung dieser Unterstützungsmaßnahmen stellt die bestmögliche Approximation an die angestrebte (möglichst) gleichberechtigte SubjektObjekt-Relation dar (ausführlich: Groeben et al. 1988, Kap. 4; Straub und Weidemann 2015, S. 54–59). Beim zweiten Teilschritt (der Strukturrekonstruktion) stehen die Regeln im Mittelpunkt, die zur Erstellung einer Kognitionsstruktur eingesetzt werden (sollen). Diese Regeln, die sich auf die formalen Relationen der kognitiven Konzepte untereinander beziehen, sind weitestgehend vom ES vorzugeben, damit sie zu den inhaltlichen Untersuchungsbereichen passen. Eine (tendenziell vollständige) Selbstgenerierung solcher Regeln durch das EO würde eine Überforderung darstellen. Deshalb wird üblicherweise dem EO vom ES ein Struktur-Lege-Leitfaden präsentiert, der die einzusetzenden Formal-Relationen für die Rekonstruktion der Kognitionsstruktur enthält; diese Formal-Relationen werden dabei verbal erklärt und mit Beispielen veranschaulicht. Entsprechend der Zielidee der möglichst gleichberechtigten (sozialen) Relation zwischen EO und ES ist es aber dem EO selbstverständlich jederzeit vorbehalten, andere, neue Formal-Relationen einzuführen, die es zur Darstellung der eigenen Kognitionsstruktur braucht. Für den vonseiten des ES vorzulegenden Leitfaden sind im Laufe der Zeit etliche Struktur-Lege-Verfahren entwickelt worden, die für unterschiedliche Bereiche Subjektiver Theorien und damit unterschiedliche Fragestellungen (des FST) geeignet sind (zusammenfassend: Dann 1992). Die wichtigsten sind (in der historischen Reihenfolge ihrer Entwicklung): die Heidelberger Struktur-Lege-Technik (H-SLT), die Weingartener Appraisal Legetechnik (WAL), die Interview- und Legetechnik zur Rekonstruktion kognitiver Handlungsstrukturen (ILKHA), die Ziel-Mittel-Analyse (ZMA) und die alltagssprachliche Flexibilisierungsversion (die in Form eines Baukastensystems alle vorgenannten Ansätze zusammenfasst: Scheele et al. 1992). Die H-SLT ist die historisch erste Variante eines Struktur-Lege-Verfahrens, anhand der die Methodik der Dialog-Hermeneutik (Scheele und Groeben 1979,
Dialog-Konsens-Methoden
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1984) konzipiert und umgesetzt worden ist. Sie wird daher nicht selten, aber zu Unrecht, als das wichtigste Dialog-Konsens-Verfahren angesehen. Ihr Einsatzbereich sind „beschreibende und erklärende“ (Anteile von) STn (Was verstehen Sie unter xx? Wie entsteht xx? Was bewirkt xx?), da sie aus einem Set von (grafischen) Formal-Relationen besteht, die alle wichtigen, in der Methodologie der Psychologie vorkommenden definitorischen Relationen (definitorisch gleich, Über-/Unterbegriff, oder Indikator, Manifestation, Absicht, analytische Voraussetzung) und empirischen Abhängigkeiten (positive oder negative unidirektionale, bidirektionale, kurvilineare (u-förmige) Verursachung sowie Wechselwirkungen und Moderator- bzw. Suppressorvariable) abbilden. Obwohl diese Relationen im dazugehörigen Struktur-Lege-Leitfaden eingehend erläutert und mit Beispielen versehen werden, ist die H-SLT wegen der Vielzahl und Differenziertheit der Relationen in erster Linie bei akademisch Vorgebildeten einzusetzen, denen die genannten Relationen im Prinzip schon bekannt sind und die nur die vom Leitfaden geleistete systematische Zusammenstellung brauchen, um damit eigenständig arbeiten zu können. Die WAL (Wahl 1991; Wahl et al. 1983) bezieht sich vor allem auf SituationsHandlungs-Klassen (z. B. im Unterricht). Dementsprechend werden in einem sogenannten „strukturierten Dialog“ möglichst unmittelbar nach problematischen Unterrichtssituationen mit der Lehrkraft verschiedene Situationsklassen (z. B. nach der Schwere einer Unterrichtsstörung) sowie Handlungsklassen (z. B. Lob, Tadel, Strafe) rekonstruiert. Die verknüpfende Zuordnung von Situations- und Handlungsklassen bildet dann das Strukturbild, das ebenfalls zunächst unabhängig voneinander durch das EO und das ES gelegt wird, um auf dieser Grundlage ein Konsens-Bild zu erarbeiten (s. Abschn. 3.2). Auch die ILKHA (Dann 1992; Dann et al. 1982) behandelt vor allem Handlungsstrukturen, einschließlich ihrer Genese und Folgen. Dementsprechend werden hier bei der Rekonstruktion folgende Klassen unterschieden: Entscheidungsbedingungen (positiv/negativ), Handlungen, Handlungsziele sowie Handlungsergebnisse und -folgen. Die Verknüpfungen zwischen diesen Klassen sollen und können dann auch Handlungssequenzen bis zu einer befriedigenden Lösung (z. B. eines Unterrichtsproblems) abbilden. Die ZMA (Scheele und Groeben 1988) bietet ein Regelsystem, das in erster Linie auf die Begründung von Werturteilen (präskriptiven Sätzen) ausgerichtet ist. Eine solche Rechtfertigung von Werten, Zielen oder Normen besteht notwendigerweise aus einer Kombination von präskriptiven und deskriptiven Sätzen. Deshalb enthält das ZMA-Regelsystem auch die wichtigsten definitorischen und empirischen Relationen (wie z. B. in der H-SLT), ergänzt durch die Begründung positiver wie negativer Wertungen sowie von Handlungsalternativen und -abläufen. Die Kombination dieser deskriptiven und präskriptiven Relationen kann die grafische Veranschaulichung z. T. etwas unhandlich machen. Nicht nur, aber auch deshalb ist eine Vereinfachung von Nutzen, die näher an die alltagssprachlichen Gewohnheiten der Uptn heranreicht. Eine solche Approximation versucht die alltagssprachliche Flexibilisierungsvariante (Scheele et al. 1992). Die alltagssprachliche Formulierung der Formal-
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B. Scheele und N. Groeben
Relationen soll zur größeren Praktikabilität der Struktur-Lege-Verfahren beitragen genauso wie die Flexibilisierung, die durch ein Baukasten- (oder Modul-)System erreicht wird, in dem alle bisher besprochenen Relationsarten integriert sind, also: definitorische Relationen, empirische Abhängigkeiten, Ziel-Mittel-Relationen, (positive und negative) Wertungsrelationen und Handlungsbeschreibungen. Der zugehörige Struktur-Lege-Leitfaden bietet für all diese Relationen erläuternde Definitionen samt veranschaulichenden Beispielen an. Aus diesem umfassenden Leitfaden können dann je nach Untersuchungsfrage die passenden Relationen (Relationskategorien) ausgewählt und miteinander kombiniert werden. Auf diese Weise ist eine maximale Anpassung an die spezifische Untersuchung möglich, die durch weitere Anpassungen an die Kompetenzvoraussetzungen der Uptn ergänzt werden kann.
3.2
Die Binnenstruktur der Dialog-Konsens-Herstellung
Für den Schritt der Dialog-Konsens-Herstellung ist es besonders wichtig, die Rolle des EO zu stärken, damit es nicht aus (falsch verstandenem) Respekt vor der Kompetenz des ES Rekonstruktionen zustimmt, die in Wirklichkeit nicht mit der eigenen Innensicht (des EO) übereinstimmen (ausführlich: Groeben 1992; Groeben et al. 1988, Kap. 4). Das am Ende des Konsens-Prozesses erstellte Strukturbild weist vielmehr nur dann eine Rekonstruktionsadäquanz auf, wenn durch diesen Prozess das Votum des EO als entscheidendes Kriterium konstitutiv etabliert wurde. Das ist der Grund dafür, warum die Grundstruktur dieses Schritts (der Konsens-Herstellung) vorsieht, dass sowohl EO als auch ES (als ersten Teilschritt) unabhängig voneinander mithilfe des zugrunde gelegten Regelsystems (s. Abschn. 3.1) ein Strukturbild der im Interview erhobenen Kognitionen (des EO) legen. In der Praxis läuft das so ab, dass das EO nach dem Interview den Struktur-LegeLeitfaden erhält, um sich mit den darin vorgestellten Formal-Relationen vertraut zu machen. Üblicherweise steht dafür ein Zeitraum von 3 bis 14 Tagen zur Verfügung, in dem das ES seinerseits die zentralen Kognitionen (nach Transkript oder Anhören des Interview-Mitschnitts) zunächst auf sogenannte „Konzept-Kärtchen“ überträgt, um dann mit diesen Kärtchen und den angesetzten Formal-Relationen bereits ein Strukturbild zu legen. In der Dialog-Konsens-Sitzung selbst werden dem EO als erstes die Konzept-Kärtchen zur Zustimmung vorgelegt. Da hier wie auch an allen weiteren Punkten des Konsens-Prozesses die Zustimmung des EO das letzte, oberste Entscheidungskriterium darstellt, kann es schon an dieser Stelle z. B. bestimmte Konzept-Kärtchen als irrelevant eliminieren oder modifizieren sowie neue, andere Konzepte (Kärtchen) anfertigen und hinzufügen. Im Prinzip sollte es sich dabei natürlich auf die (erinnerten) Interview-Inhalte beziehen, die im Zweifelsfall aber auch noch einmal vorgespielt werden können. Wenn allerdings durch das Interview beim EO Denkprozesse angestoßen wurden, die eine Änderung der Kognitionsstruktur bewirkt haben, ist auch eine Modifikation der Konzept-Kärtchen in Richtung auf diese Veränderung hin zu akzeptieren. Die Norm, dass die Bewertung des EO das entscheidende Kriterium ist, hat konsequenterweise oberste Priorität.
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Mit den so vom EO gebilligten Konzept-Kärtchen soll es dann unter Rückgriff auf die im Struktur-Lege-Leitfaden enthaltenen Formal-Relationen das Strukturbild seiner Kognitionen/Reflexionen legen. Je nach Vorbereitungsgrad und Zuversicht im Umgang mit ungewohnten Situationen kann das mehr oder weniger zögerlich erfolgen. Wenn sich jemand den Beginn partout nicht zutraut, empfiehlt es sich, mit der Definition des zentralen Konzepts zu beginnen und den definitorischen Satz (z. B.: „Zivilcourage ist . . .“, s. Abschn. 4, Abb. 4) gemeinsam mit dem EO zu legen, gegebenenfalls auch noch die nächsten ein oder zwei Ausdifferenzierungen (Beispiele, Ober-/Unterbegriffe etc.). Wenn auf diese Weise das Prinzip des Struktur-Legens deutlich geworden ist, setzen die Uptn in der Regel mit Engagement und Freude den Aufbau ihres Strukturbildes eigenständig fort. Aufgabe des ES ist es in dieser Phase dann nurmehr, darauf zu achten, ob irgendwo eindeutige Missinterpretationen von Formal-Relationen vorkommen und diese in Kommunikation mit dem EO auszuräumen. Besonders bei ergiebigen Interviews tritt nicht selten das Problem auf, dass das gesamte Strukturbild selbst für eine DIN-A3-Seite zu groß wird. Dann sollte das EO ermuntert werden, inhaltlich sinnvolle Teilbilder zu legen (z. B. ein Bild der definierenden/beschreibenden [Teil-] Struktur, eins der empirischen Abhängigkeiten etc.), deren Anschlussstellen leicht zu markieren sind, sodass am Ende ein eindeutig zusammensetzbares Gesamtbild entsteht. Dieses selbst gelegte Strukturbild der eigenen Kognitionen/Reflexionen (ST) weist dann das EO (auch in dessen Selbstsicht) als Experte/Expertin für die Innensicht seiner/ihrer Denkprozesse und -inhalte aus. Auf der Grundlage dieses Expert/innentums kann im nächsten Teilschritt der Konsens zwischen EO und ES über die Beschreibung der Kognitionsstruktur des EO erfolgen. Dazu präsentiert nun auch das ES sein zuvor gelegtes Strukturbild (über das Interview des EO), und es wird von beiden gemeinsam der Vergleich zwischen beiden Strukturbildern vorgenommen. Dort, wo die Bilder übereinstimmen, können sie sofort als adäquate Beschreibung der Innensicht des EO festgehalten werden. An den Punkten, an denen sie sich unterscheiden, erläutert das ES, warum es zu diesem Verständnis der Interviewäußerungen gekommen ist, und das EO entscheidet, ob die Lege-Variante des ES oder die eigene dasjenige, was es (das EO) gemeint hat, besser abbildet. In der Praxis führt das durchweg zu Lösungen, die einmal die Legevariante des EO, das andere Mal die des ES bevorzugen. Auf diese Weise wird dann gemeinsam, aber mit dem Votum des EO als entscheidendem Kriterium, das Konsens-Bild als letztes, kommunikativ validiertes (Gesamt-)Strukturbild erarbeitet. Dieses Konsens-Strukturbild stellt also diejenige Beschreibung der Kognitionsinhalte und -strukturen (des EO) dar, bei der das EO dem ES attestiert, dass es richtig verstanden worden ist. Durch den dabei eingesetzten methodischen Prozess (insbesondere des Regelsystems der Formal-Relationen) liegt damit zugleich eine wissenschaftliche (wissenschaftssprachliche) Beschreibung vor, mit der das ES gemäß seiner Fragestellungen bzw. Hypothesen weiterarbeiten kann. Der Gesamtprozess der Kognitionserhebung und Konsensherstellung läuft im Normalfall also in zwei Terminen ab, die maximal 14 Tage auseinanderliegen sollten (damit das EO sich noch möglichst gut an das Interview erinnern kann). Das Interview dauert zwischen einer und eineinhalb Stunden, parallel gilt das auch für die KonsensSitzung. Beim Interview sollte darauf geachtet werden, dass der Zeitrahmen von
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B. Scheele und N. Groeben
eineinhalb Stunden nicht (zu sehr) überschritten wird, weil sonst die Komplexität der Strukturbilder zu groß und (bei mehr als 50 Konzepten) für das zumeist mit StrukturLege-Verfahren noch nicht so vertraute EO unbeherrschbar wird. Im Prinzip würde es dem Konsens-Konzept noch mehr entsprechen, wenn für die Festlegung der KonzeptKärtchen eine eigene Sitzung mit separatem Termin vorgesehen würde (wie es auch schon vorgeschlagen und durchgeführt worden ist: Eckert 1981). Doch stellt das für die meisten Uptn (nicht zuletzt auch im Kontrast zu experimentalpsychologischen Untersuchungen) einen zu großen zeitlichen Aufwand dar, weswegen sich die Integration der Konsensbildung über die Konzept-Kärtchen in den (zweiten) KonsensTermin weitgehend durchgesetzt hat. Die Aufwändigkeit und Differenziertheit des Verfahrens führen im Gegenteil eher dazu, dass Modifikationen der skizzierten Grundstruktur in Richtung auf eine Vereinfachung des Vorgehens vorgenommen werden. Dabei kann es sowohl um die Berücksichtigung motivationaler Aspekte als auch um Beschränkungen in den kognitiven Kompetenzen aufseiten des EO gehen. Eine wichtige kognitive Entlastung ist sicherlich bereits mit der Verwendung alltagssprachlicher Relationsbezeichnungen (s. Abschn. 3.1: alltagssprachliche Flexibilisierungsvariante) gegeben. Eine weitere Vereinfachung, die auch auf andere (Struktur-Lege-) Verfahren anwendbar ist, besteht darin, dass die in einem Problembereich nach den bisherigen Erfahrungen am häufigsten verwendeten Relationen als sogenannte Kernrelationen angeboten werden, die nur bei Bedarf um weitere (Ergänzungs-)Relationen zu vervollständigen sind (Scheele et al. 1992). Dadurch werden die Uptn nicht mit solchen Relationen belastet, die sie gar nicht verwenden (wollen); und diejenigen, die eine überdurchschnittliche Differenziertheit in der Relationen-Verwendung aufweisen, bekommen die spezielleren, selteneren Relationen mitsamt deren Erläuterung und Beispielen in der Konsens-Sitzung nachgeliefert. Im Prinzip sind solche eventuellen Modifikationen des Vorgehens als Anpassung an die Motivation und die Kompetenzen der Uptn ebenfalls, wie dies auch für die Auswahl der relevanten RelationenKategorien gilt, für jede Untersuchung neu zu konzipieren und zu realisieren. Das kann im Extremfall dann auch eine relativ weitgehende Abweichung von den zwei Schritten der Kognitionserhebung und Konsensherstellung bedeuten, indem z. B. bereits ausgearbeitete Strukturbilder zur Auswahl angeboten werden, die die Uptn in Richtung auf die von ihnen präferierte Kognitionsstruktur verändern (Groeben 1998).
4
Beispiele: Strukturbilder unterschiedlicher Komplexität und Allgemeinheit
Die wichtigste Dimension, auf der sich die mit der Dialog-Hermeneutik erstellten Strukturbilder unterscheiden können, ist die Komplexität, die von dem Umfang des thematisierten Gegenstandes abhängt. Hier lassen sich Subjektive Theorien geringer, mittlerer und großer Reichweite unterscheiden. Alltagstheorien geringer Reichweite beziehen sich z. B. auf relativ eng umschriebene (typische) Situationen, wie sie etwa im Unterricht vorkommen, wenn es um die Reaktionen der Lehrkraft auf Schüler/innenseitiges Stören geht. Dieser Gegenstand ist sehr gut mit der WAL abbildbar (Abb. 1).
Dialog-Konsens-Methoden
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Situations(auffassungs)klassen 1
2
1
3
4
2
3
5
4
6
7
5
6
Handlungs(auffassungs)klassen Situations(auffassungs)klassen: Handlungs(auffassungs)klassen: 1 = Leichte Störung durch einen Schüler 2 = Allgemeine Unruhe 3 = Störung bei Sozialformwechsel 4 = Länger anhaltende Unruhe 5 = Massive Störung 6 = Klasse artet aus 7 = Provokation
1 = Erinnem an positive Situation mit Aufforderung 2 = Aufforderung 3 = Signal 4 = Strafe durch Änderung der Unterrichtsplanung 5 = Blamieren durch Leistungsaufforderung 6 = Wut ausdrücken
Abb. 1 Subjektive Theorie einer Lehrkraft über Unterrichtsstörungen, rekonstruiert mit dem Struktur-Lege-Verfahren WAL (Dann 1992, S. 22)
Handlungsstrukturen, die sich auf allgemeinere Probleme auf mittlerem Abstraktionsniveau wie etwa Schüler/innenaggressivität, Gruppenunterricht etc. beziehen, stellen Subjektive Theorien auf dem Übergang von geringer zu mittlerer Reichweite dar, die häufig mit der ILKHA untersucht wurden (s. das Beispiel „Unterrichtsstörungen“ in Abb. 2 und 3). Wenn ein Situations- und Personaspekte umfassendes Konzept wie etwa Zivilcourage, Ironie, Vertrauen etc. thematisiert wird, handelt es sich um Subjektive Theorien mittlerer (z. T. mit Übergang zu großer) Reichweite, die auf jeden Fall zumindest einen Schwerpunkt der alltagssprachlichen Flexibilisierungsversion darstellen. Die in einem solchen Fall wahrscheinliche Aufteilung in Teiltheorien zeigt Abb. 4, in der das definitorische Strukturbild zur Zivilcourage aus einer Untersuchung von Kapp (1993) vorgestellt wird (die gleichzeitig eine Veranschaulichung für die Aufarbeitung in Richtung überindividueller Strukturbilder, sogenannter Modalstrukturen, darstellt).
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B. Scheele und N. Groeben
Mitarbeit des Schülers
HUMOR
witzige Bemerkung
Mitarbeit des Schülers
EINFÜHLEN
zeigen, daß zeigt Schüler, Gefühlssituadaß er ihn tion des mag; an Schülers verSchultern standen wird fassen
Aufmerksamkeit; Kräfte messen; schwach
Hilflosigkeit
Schüler hat
gut
VERBALE AUSEINANDERSETZUNG
+
eigene
zur
Verfassung „immer die gleiche Scheiße“
schlecht
–
–
wahrgenommener Grad der Störung stark
keine Lust
Weiterarbeit
INTEGRIEREN
ja
+ +
Angst, daß Situation entgleitet nein
–
Mitarbeit des Schülers
MAHNEN/ HERAB SETZEN
„der Kopfist nicht nur zum Transport der Haare“
Mitarbeit des Schülers
: Handlungsziel MAHNEN
: Beispiele : Sequenz-Enden (I-XI)
„seid bitte leise“
Abb. 2 Subjektive Theorie einer Lehrkraft über Unterrichtsstörungen, rekonstruiert mit dem Struktur-Lege-Verfahren ILKHA (Dann 1992, S. 28)
Solche Modalstrukturen sind eine Möglichkeit, wie mit individuellen Strukturbildern in Richtung auf generellere (nomothetische) Hypothesen weitergearbeitet werden kann. Es geht dabei um die Zusammenfassung von Strukturbildern, die entweder deduktiv von bestimmten Uptn-Klassen oder induktiv von der Ähnlichkeit vorliegender Subjektiver Theorie-Strukturen aus vorgenommen werden kann. In beiden Fällen fassen die Modalstrukturen die in diesem Gegenstandsbereich häufigsten Kognitionsinhalte und -strukturen zusammen. Zur Konstruktion von Modalstrukturen sind eher qualitative wie auch eher quantitativ-formale Prozeduren
Dialog-Konsens-Methoden
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Mitarbeit des Schülers
ENTSPAN NENDE REAKTION
III
lachen, Witz ma cben Mitarbeit des Schülers
ja
+
Schüler arbeitet wieder mit nein
–
II nicht ruhig
+
Schüler arbeitet wieder mit
nein
Reaktion der Mitschüler
STRAFE
IV „Stundenprotokoll“
beifällige
Fortsetzung d, Unterrichts
+
VI nein
–
+
+
Reaktion der Äußerung + Mitschüler
ruhig
ja
Gelächter
BEWUSSTES BEOBACHTEN
V, VII
–
Widerspruch des Schülers
Mitarbeit des Schülers
ja ja
ja
+
Schüler arbeitet wieder mit nein
X
+
+
WÜTEND WERDEN, SCHIMPFEN
Mitarbeit des Schülers nein
VIII Fortsetzung d, Unterrichts
–
STRAFE
IX
Fortsetzung d. Unterrichts
–
„Stundenprotokoll“
STRAFE
XI Schüler wegsetzen
Abb. 3 Fortsetzung Subjektive Theorie einer Lehrkraft über Unterrichtsstörungen, rekonstruiert mit dem Struktur-Lege-Verfahren ILKHA (Dann 1992, S. 29)
elaboriert worden (Oldenbürger 2007; Schreier 1997). Das in Abb. 4 präsentierte Beispiel zur Zivilcourage wurde mit der eher qualitativen Vorgehensweise nach Stössel und Scheele (1992) erstellt.
Abb. 4 Zusammenfassung der Subjektiven Theorien zu Zivilcourage: Definitorischer Bereich (Scheele und Kapp 2002, S. 16)
350 B. Scheele und N. Groeben
Dialog-Konsens-Methoden
351
Es ist klar, dass eine solche Weiterbearbeitung von individuellen Kognitionsstrukturen in Richtung auf übergreifende Strukturen eine Kombination mit monolog-hermeneutischen Verfahren (wie vor allem der Inhaltsanalyse) erfordert. Aber dies heißt nicht, dass damit die dialog-hermeneutische Methodik desavouiert oder destruiert wäre. Dialog-Hermeneutik kann sich immer nur auf die Rekonstruktion der Innensicht eines (einzelnen) Individuums beziehen; es gibt keine überindividuelle Innensicht (außer im Science Fiction bei telepathisch vernetzten Gruppen). Insofern zeigt die Aufarbeitung individueller Strukturbilder in Richtung von Modalstrukturen lediglich, dass die Dialog-Konsens-Methodik selbstverständlich offen ist für die Kombination mit anderen qualitativen, aber ebenso auch quantitativen Methodenansätzen (als Beispiel für eine eher quantitative Weiterbearbeitung: Fürstenau et al. 2009).
5
Ausblick: Stand und Perspektiven
Die Dialog-Konsens-Verfahren stellen die methodische Umsetzung der im dialogkonsenstheoretischen Wahrheitskriterium geforderten idealen Sprechsituation dar. Durch die möglichst gleichberechtigte Argumentation zwischen EO und ES soll das EO in die Lage versetzt werden, seine Motivation zur Selbsterkenntnis möglichst unverzerrt, insbesondere ohne Verzerrungen der sozialen Selbstdarstellung zu realisieren. Unter dieser Voraussetzung sichert die Zustimmung des EO zu dem KonsensStrukturbild seiner Kognitionen dann (approximativ) die „Wahrheit“ dieses Bildes. Dabei ist immer zu berücksichtigen, dass diese Wahrheit ausschließlich die Beschreibung der (mit Handeln und Erleben verbundenen) Kognitionen betrifft, nicht die Erklärung von Handlungen etc. Seit der Bühler-Wundt-Kontroverse über „Ausfrage-Experimente“ (Bühler 1909) gibt es in der Psychologie vehemente Diskussionen, inwieweit das menschliche Subjekt einen Zugang zu den eigenen kognitiven Prozessen hat. Die (vorläufig) letzte (intensiv diskutierte) Negierung dieses Zugangs stammt von Nisbett und Wilson (1977), die unter Rückgriff auf entsprechende Experimente auch den empirischen Nachweis erbracht zu haben behaupten, dass dieser Zugang unmöglich sei. Abgesehen davon, dass manche Experimente den Versuchspersonen Informationen vorenthalten haben, die sie zur adäquaten Beschreibung ihrer Denkprozesse gebraucht hätten, ist es seit jeher (z. B. auch bei dem Verfahren des Lauten Denkens; Huber und Mandl 1982) unbestritten, dass es kognitive Überlastungen aufseiten der Uptn geben kann, die einen umfassenden, unverzerrten Zugang zu den eigenen Kognitionen be- oder verhindern. Das spricht allerdings nicht gegen die Möglichkeit dieses Zugangs unter möglichst optimalen Untersuchungsbedingungen, wie sie u. a. von Ericsson und Simon (1980) zusammengestellt worden sind. Für die dialog-hermeneutische Methodik sind diese Diskussionen aber zum größten Teil peripher bis irrelevant, weil es bei ihr nicht darum geht, ob das Individuum realitätsadäquat über seine Denkprozesse Auskunft geben kann, ob also eine adäquate Erklärung der eigenen Handlungen durch das Denken
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B. Scheele und N. Groeben
geliefert wird. Dieses Problem der Realitätsadäquanz ist bei den Dialog-KonsensMethoden (zunächst einmal) überhaupt nicht thematisch, weil es hier, um es noch einmal zu betonen, ausschließlich um die Rekonstruktionsadäquanz der Kognitionsbeschreibung geht, also um die Frage, ob und wie (gut) das ES die Innensicht des EO verstanden hat (deskriptive, kommunikative Validität). Ob diese Innensicht ggf. auch realitätsadäquate Ursachen für das Handeln der Person enthält (explanative Validität), wird z. B. innerhalb des FST in einer (nächsten) beobachtenden Untersuchungsphase geprüft (Groeben 1986; Straub und Weidemann 2015, S. 64–78). Die ideale Sprechsituation als Bedingung der Möglichkeit für die Rekonstruktionsadäquanz und damit die deskriptive Validität einer Innensicht-Beschreibung ist nun allerdings ein Zustand, der sich ebenfalls nur schlecht beobachten lässt. Er manifestiert sich jedoch in indirekten Indikatoren. Deren wichtigster ist, dass praktisch in allen Konsens-Sitzungen das Konsens-Strukturbild sowohl Modifikationen des ursprünglichen EO- wie des ES-Bildes enthält. Im konkreten Ablauf der Konsens-Sitzungen vermittelt das eine sehr intensive Überzeugung, dass durch die dialog-hermeneutische Methodik in der Tat eine gleichberechtigte Relation von EO und ES realisiert wird, die als Approximation an die ideale Sprechsituation gelten kann. Diese Überzeugung wird dadurch verstärkt, dass informelle und formelle Befragungen der Uptn fast immer eine sehr nachdrückliche Akzeptanz der Methodik zutage fördern (die vor allem im Kontrast zu den Reaktionen auf die übliche Experimentalmethodik äußerst beeindruckend ist). Die Uptn äußern sich oft höchst erfreut und zufrieden darüber, welch differenziertes und reflektiertes Bild ihrer Innensicht die Untersuchung ergeben hat; die meisten nehmen auch gern eine Kopie ihrer (dialog-konsensualen) Kognitionsstruktur mit nach Hause. Der doch erhebliche Zeitaufwand für die Teilnahme an der Untersuchung hat sich aus der Sicht der Uptn zumeist durchaus gelohnt; und Uptn, die schon einmal an einer dialog-hermeneutischen Untersuchung teilgenommen haben, sind praktisch immer bereit, sich an einer Studie zu einem anderen Thema mit der gleichen Methodik zu beteiligen. Diese Akzeptanz der Methodik aufseiten der EOn ist sicherlich eine der zentralen Stärken der Dialog-Konsens-Verfahren. Der damit verbundene Zeitaufwand stellt aber zugleich für die experimentelle Ausrichtung der Mainstream-Psychologie eine Belastung dar, weswegen dort lediglich die Veranschaulichungsfunktion der Struktur-Lege-Verfahren geschätzt wird (Mandl und Ballstaedt 1986; im interdisziplinären Bereich: Weidemann 2009). Vermutlich hat die existenzielle Eindrücklichkeit der Konsens-Erfahrungen auch aufseiten des ES mit dazu beigetragen, dass bisher systematische methodologische Evaluationen der Dialog-Konsens-Verfahren weitgehend fehlen, die gleichwohl sinnvoll und nötig sind. Zwar sind die klassischen Gütekriterien nicht einfach übertragbar (Birkhan 1992; Dzeyk und Groeben 2000). In Bezug auf die Objektivität (Intersubjektivität) der Beschreibung z. B. ist selbstverständlich klar, dass es Unterschiede in Abhängigkeit auch von der kommunikativen Kompetenz des ES (hinsichtlich der Realisierung der idealen Sprechsituation) geben wird. Gleichwohl wären diese Unterschiede durchaus erforschbar und könnten gegebenenfalls zu spezifischeren Anweisungen bezüglich der Realisierung von idealen Sprechsi-
Dialog-Konsens-Methoden
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tuationen beitragen (Obliers 1992). Und im Hinblick auf die Reliabilität ist es, wie expliziert, zu akzeptieren, wenn die Anregungsbedingungen des dialog-hermeneutischen Ansatzes zur Weiterentwicklung der Kognitionsstruktur beim EO führen (Straub und Weidemann 2015, S. 57–59). Gleichwohl ist es legitim zu fragen, ab wann noch von derselben Kognitionsstruktur gesprochen werden kann bzw. ab wann von einer (weitgehend) anderen gesprochen werden muss (Weidemann 2009). All dies sind methodologische Evaluationsfragen, deren Bearbeitung in Bezug auf die Dialog-Konsens-Methoden noch aussteht – die allerdings vermutlich nur im Rahmen einer umfassenderen, grundsätzlichen Diskussion qualitativer Gütekriterien zu lösen sind.
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B. Scheele und N. Groeben
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Grid-Methodik Verbindung qualitativer und quantitativer Erhebungsund Auswertungsstrategien in der psychologischen Forschung Martin Fromm
Inhalt 1 Die Entstehungsgeschichte der Grid-Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische Grundlagen der Grid-Methodik: Die Personal Construct Psychology . . . . . . 3 Der Ablauf eines Grid-Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Varianten des Grid-Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Typische Probleme in der Arbeit mit der Grid-Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Qualitative und quantitative Nutzung der Grid-Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Software . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Als „Grid-Methodik“ werden Interviewverfahren auf der Grundlage der Personal Construct Psychology bezeichnet. Sie erfassen in einer Serie von Unterscheidungsaufgaben die subjektiven Bedeutungsgebungen der Befragten. Das geschieht strukturiert, dabei gleichzeitig inhaltlich offen für die Sicht der Befragten. Strukturierungsgrad und Offenheit sind in zahlreichen Varianten kalibrierbar, ebenso die Verbindung qualitativer und quantitativer Analysen. Entsprechend vielgestaltig sind die Anwendungen der vergangenen 60 Jahren für eine Vielzahl unterschiedlichster Fragestellungen. Schlüsselwörter
Grid-Methodik · Interview · Personal Construct Psychology · Konstruktivismus · Beratung Idiographische Forschung
M. Fromm (*) Abteilung Pädagogik, Universität Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_38
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1
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Die Entstehungsgeschichte der Grid-Methodik
Der Begriff „(Repertory-)Grid-Methodik“ (englisch: Technique) bezeichnet eine variantenreiche Gruppe von teilstrukturierten Interviewverfahren. Gemeinsam ist ihnen, dass in einer Serie von Unterscheidungen (hier „persönliche Konstrukte“ genannt) erfasst wird, welche subjektive Bedeutung eine Person einem bestimmten Erfahrungsbereich verleiht. Das Ergebnis dieser Unterscheidungsaufgaben, das Repertoire der persönlichen Konstrukte, die eine Person anwendet (deshalb „Repertory“), wird üblicherweise in einer Matrixform dargestellt – daher die Bezeichnung „Grid“-Methodik (Grid = Netz, Gitter). Eine weitere Gemeinsamkeit der RepertoryGrid-Verfahren besteht in der erkenntnis- und persönlichkeitstheoretischen Grundlage der Personal Construct Psychology (PCP) von George A. Kelly (1955, reprint 1991). Diese Grundlegung und die daraus resultierenden methodischen Besonderheiten grenzen die Verfahren von anderen ab, die ebenfalls mit Unterscheidungsaufgaben arbeiten, z. B. Q-Sort (Stephenson 1953; s. auch Kelly 1991, S. 274; Müller und Kals 2004) oder Semantisches Differential (Polaritätsprofil) (Osgood et al. 1957; s. auch Fransella and Bannister 1977, S. 104–106). Die Urversion der Grid-Methoden wurde 1955 von George A. Kelly in seinem Hauptwerk „The Psychology of Personal Constructs“ unter der Bezeichnung Role Construct Repertory Test (oder kürzer Rep Test) veröffentlicht. Für die Beratung entwickelt, sollte das Verfahren dazu dienen, die soziale Welt zu erfassen, in der Klient/innen gemäß ihrer subjektiven Wahrnehmung leben. Dazu wurden ihnen im Interview Personen, die wichtige soziale Beziehungen (bei Kelly: role relationships) repräsentieren, zur Unterscheidung vorgegeben: eine Lehrerin, die man mochte, der Vater, die intelligenteste Person, die man persönlich kennt, usw. In den folgenden Jahrzehnten sind zahlreiche Varianten des Urverfahrens entstanden, die heute in einer Vielzahl von Anwendungsbereichen neben der Beratung zum Einsatz kommen (Fransella 2003; Fransella et al. 2004). Abgekürzt lässt sich sagen, dass Grid-Methoden weltweit überall dort zum Einsatz kommen, wo es darum geht, ein durch Interviewer/inneneinflüsse möglichst unbeeinträchtigtes, differenziertes und strukturiertes Bild der subjektiven Welt von Personen zu erhalten. Allerdings ist nicht immer sofort erkennbar, dass es sich um Grid-Methoden handelt, weil für spezielle Verfahrensweisen häufig eigene Bezeichnungen gewählt werden (Fromm 1995). Das gilt insbesondere für die Anwendung in der Wirtschaft: Entweder werden die Verfahren nicht öffentlich gemacht oder (in der Unternehmensberatung) unter Phantasienamen als Eigenentwicklung dargestellt. In vielen Fällen werden dabei Grid-Methoden losgelöst von ihrer theoretischen Fundierung in der PCP verwendet. Und das bedeutet nicht selten: in Zusammenhängen, die mit den erkenntnis- und persönlichkeitstheoretischen Grundlagen der PCP nicht zu vereinbaren sind. Diese isolierte Betrachtung und Nutzung der Grid-Methoden setzte bereits zu Lebzeiten Kellys ein und veranlasste ihn zu der selbstkritischen Bemerkung, ob es nicht besser gewesen wäre, das Kapitel über die Grid-Methoden aus seiner „Psychology of Personal Constructs“ herauszulassen (Hinkle 1970, S. 91), weil diese 100 von insgesamt 1200 Seiten des Gesamtwerks zu einer recht selektiven Rezeption geführt hätten. Nur noch in den Anfängen verfolgen konnte Kelly die
Grid-Methodik
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zunehmend quantitative Nutzung der Grid-Methoden, die begünstigt durch die Verfügbarkeit von PCs und spezialisierter Software dazu geführt hat, dass GridMethoden heute vor allem als quantitative Verfahren wahrgenommen werden. Zur Korrektur dieses Bildes und zur Abgrenzung der Grid-Methoden von anderen Verfahren ist es notwendig, kurz auf ausgewählte erkenntnis- und persönlichkeitstheoretische Annahmen der PCP einzugehen.
2
Theoretische Grundlagen der Grid-Methodik: Die Personal Construct Psychology
Kelly entwickelte das Konzept der PCP in der Kritik an den zu seiner Zeit dominanten behavioristischen und tiefenpsychologischen Konzepten, die den Menschen nach seiner Einschätzung als weitgehend passiv verstanden, von Trieben oder externen Stimuli gesteuert. Bereits Jahrzehnte vor der Ermahnung von Miller et al. (1973, S. 12), doch „zwischen den Reiz und die Reaktion ein bißchen Weisheit einzuschieben“, und der sogenannten „kognitiven Wende“ in der Psychologie schlug Kelly vor, von einem aktiven Menschenbild auszugehen, das die Menschen als Forschende begreift, die sich neugierig mit ihren Erfahrungen auseinandersetzen, diese Erfahrungen zu ordnen und handelnd Hypothesen zu überprüfen versuchen (Fromm 1997). In seiner PCP formulierte er ein Modell, das genauer beschreiben soll, wie Menschen ihre Wahrnehmungen zueinander in Beziehung setzen, sie in persönlich bedeutsamen Kontexten organisieren und so ihr persönliches Bild der Welt entwickeln, auf dessen Basis sie dann Handlungspläne entwerfen, prüfen, weiterentwickeln oder verwerfen. Die zentrale erkenntnistheoretische Annahme ist dabei, dass ein unvermittelter Zugang zur Realität „an sich“ nicht möglich ist, sondern grundsätzlich nur ein Bild dieser Realität, das dadurch bestimmt ist, was wahrgenommen werden kann, und wie das Wahrgenommene weiter verarbeitet wird und Bedeutung verliehen bekommt. Diese Vorstellung, die Menschen als Schöpfer/innen ihrer subjektiven Wirklichkeit versteht, wird in der Philosophie bereits seit der Antike in zahllosen Varianten diskutiert und ist dort quasi seit Jahrhunderten „Mainstream“; in den letzten Jahrzehnten findet es sich vor allem in konstruktivistischen Positionen (z. B. Watzlawick 1976, 1985), die allerdings die Beiträge aus dem Bereich der PCP üblicherweise nicht rezipieren (Fromm 2016). Zu dem Bild, das wir uns von der Wirklichkeit machen, sind nach Kellys Verständnis immer Alternativen möglich (er spricht von „konstruktivem Alternativismus“), die nicht nur andere Menschen verwenden, sondern auch wir selbst, wenn wir im Laufe des Lebens einem Ereignis eine andere Bedeutung zumessen oder bei der Beurteilung eines Ereignisses verschiedene „Lesarten“ ausprobieren. Sozialisation und Erziehung beinhalten zwar die Vermittlung kulturell erwünschter Konstruktionen (Berger und Luckmann 1980), bewirken aber keine Uniformität, sondern sichern im günstigen Fall eine ausreichend störungsfreie Kommunikation, während die Weltsicht des oder der Einzelnen lebensgeschichtlich individuell und einzigartig bleibt.
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Zur Beurteilung der Güte einer Konstruktion fällt die Realität „an sich“ und die Nähe zu ihr als Referenz aus. Was eine angemessene Sicht der Dinge ausmacht, ist Verhandlungssache. Die Konkurrenz verschiedener Weltsichten muss dabei im Zweifel anders als durch Verweis auf die Realität entschieden werden. Das gilt, zu Ende gedacht, auch für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit verschiedener empirischer Methoden: Sie liefern verschiedene Bilder der Wirklichkeit, über deren Nähe zur Wirklichkeit „an sich“ nichts bekannt ist. In dieser Hinsicht sind also die Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen professioneller Forscher/innen nicht grundsätzlich von denen der Alltagsmenschen verschieden. Die persönlichkeitstheoretischen Annahmen, die Kelly in seiner PCP formuliert, um genauer zu fassen, wie die sinnstiftende Auseinandersetzung der Menschen mit ihren Erfahrungen aussieht, wie es dabei zu Problemen kommen kann und wie diese in Beratung und Therapie behoben werden können, nehmen mehrere hundert Seiten ein und können hier nur kurz angesprochen werden. Als psychische Basiseinheit nimmt Kelly die Unterscheidung zwischen Wahrnehmungen an. Das kann eine hochkomplexe, bewusste und verbal artikulierte Unterscheidung sein, wenn etwa die inkonsistente Verwendung von Begriffen im Werk eines Autors/einer Autorin analysiert wird. Das kann aber auch „nur“ die Unterscheidung zwischen hell und dunkel sein, die unsere Sehzellen ständig autonom vornehmen. Konstrukte sind im Sinne Kellys alle Unterscheidungen, die wir machen können (Kelly 1991, S. 7–9), unabhängig davon, wie weit sie uns bewusst sind und ob wir sprachliche Begriffe für sie haben. Ein Kind hat z. B. schon zahlreiche Konstrukte, bevor es Begriffe, also sprachliche Bezeichnungen für vorsprachliche Unterscheidungen, hat. Auch die „öffentlichen Konstrukte“, die von anderen Menschen an das Kind als sozial akzeptable zur Nachahmung herangetragen werden, bleiben überwiegend ohne Begriffe. Wie man sich benimmt, was man meidet, worüber man lacht, was einen bewegt, wird in den seltensten Fällen sprachlich vermittelt, überwiegend vielmehr erst dann, wenn durch schlichtes Zusammenleben und Mittun nicht erfolgreich vermittelt werden konnte, wie die gewünschte Konstruktion von Erfahrung aussehen sollte. Im Ergebnis verfügen Menschen im Laufe ihres Lebens zunehmend über eine Vielfalt von Konstrukten, die in ihrer spezifischen Zusammensetzung deren Persönlichkeit ausmachen. Auch wenn diese Konstrukte verbalisiert werden können, bleibt eine prinzipielle Differenz zwischen den sprachlichen Bezeichnungen und dem zu Bezeichnenden. Am deutlichsten wird das, wenn z. B. sensorische Unterscheidungen ausgedrückt werden sollen, etwa Gerüche oder Körperempfindungen. Der sprachliche Ausdruck bringt immer nur annähernd treffend die vorsprachliche Unterscheidung zum Ausdruck. Methodisch hat diese Differenz die wichtige Konsequenz, dass man Kellys Vorschlag, eine Person doch einfach nach ihren Konstrukten zu fragen, wenn man etwas über sie erfahren will (Kelly 1991, S. 139), nicht naiv in der Erwartung folgen sollte, von der Person dann „einfach“ eine sprachliche Darstellung ihrer relevanten persönlichen Konstrukte geliefert zu bekommen. Eine weitere Annahme Kellys ist zum Verständnis der Grid-Methodik wichtig, die der Bipolarität von Konstrukten. Damit ist gemeint, dass ein Konstrukt jeweils zwei Urteile impliziert, nämlich eines über die Ähnlichkeit von Wahrnehmungen
Grid-Methodik
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und gleichzeitig eines über deren Unähnlichkeit (Kelly 1991, S. 41–43). Anders formuliert: Ein Konstrukt hat nur dann eine Unterscheidungsfunktion, wenn nicht alle Wahrnehmungen gleich sind, sondern einige von anderen unterschieden werden, die dann in dieser Hinsicht als ähnlich eingeschätzt werden – das gilt unabhängig von Bewusstheit und Verbalisierungsgrad. Die Feststellung, dass irgendetwas „hell“ ist, hat z. B. nur dann eine Unterscheidungsfunktion, wenn es etwas gibt, das als „nicht hell“ beurteilt wird. Individuell kann dabei die Bezeichnung des Gegenpols unterschiedlich ausfallen, etwa „dunkel“ oder „düster“. Methodisch folgt daraus, nicht nur isolierte Urteile darüber zu erheben, was für eine Erfahrung charakteristisch ist (sie ist z. B. „erfreulich“), sondern auch, wozu sie damit im Gegensatz steht (sie ist z. B. nicht „langweilig“). Denn es macht erkennbar einen Unterschied, ob in diesem Fall der subjektive Gegensatz „langweilig“, „traurig“ oder „erniedrigend“ ist.
3
Der Ablauf eines Grid-Interviews
Wenn man auf der Basis der oben skizzierten Überlegungen die Persönlichkeit eines Menschen kennen und verstehen lernen will, heißt das übersetzt in der Sprache der PCP: sein oder ihr System persönlicher Konstrukte kennenlernen. Diesem Zweck dienen Grid-Methoden. Sie sollen die Konstrukte erfassen, mit denen sich Menschen in der Welt orientieren und so ihre subjektive Welt schaffen. Das kann nicht umfassend geschehen, sondern immer nur für einen begrenzten Erfahrungsbereich, etwa Freundschaften, Bildungsgänge, aber auch berufliche Belastungssituationen, Röntgenbilder, Produktdesigns oder Materialfehler. Der zentrale methodische Schritt von Grid-Methoden ist die Unterscheidung, und zwar primär das Tun und erst sekundär das Reden darüber. Um die wichtigen persönlichen Konstrukte einer Person kennenzulernen, wird diese aufgefordert, eine Serie von Unterscheidungen zwischen Gegenständen ihrer Erfahrung vorzunehmen, d. h. ihre Konstrukte anzuwenden. Sie wird also nicht nach ihren begrifflichen Urteilsdimensionen gefragt, z. B. danach, was für sie in Freundschaften wichtig ist. Erst nach der Unterscheidung wird bei den meisten Verfahrensvarianten der Versuch unternommen, die vorab hergestellte Unterscheidung begrifflich zu bezeichnen. Diese Differenzierung ist auf der Basis der oben formulierten theoretischen Grundlagen wichtig: Wenn Konstrukte als alle Unterscheidungen verstanden werden, nicht nur als die bewussten und verbalisierbaren, verfügen Menschen über wesentlich differenziertere Unterscheidungsfähigkeiten, als sie wissen und benennen können. Ein Großteil ihres Orientierungswissens ist tacit knowledge, kann angewandt, aber nicht problemlos auf den Begriff gebracht werden. Die Unterscheidungsaufgabe im Grid-Interview fordert zunächst nur zur Nutzung dieses Wissens auf und zeigt, wie diese Person „es macht“. Während dieser erste Schritt, die Unterscheidung, üblicherweise spontan und subjektiv sicher gelingt, bereitet der Versuch, einen passenden Begriff für diese Unterscheidung zu finden, deutlich mehr Probleme. Das ist nach den theoretischen Vorüberlegungen nicht überraschend, auch nicht, dass häufiger die Entscheidung zwischen verschiedenen Formulierungsmöglichkeiten schwer fällt.
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M. Fromm
Die Differenzierung zwischen der Unterscheidung als Tun und begrifflichen Unterscheidungen ist für den möglichen Ertrag der Grid-Methodik von großer Bedeutung. Die noch nicht versprachlichte Unterscheidung läuft häufig intuitiv und nicht selten so ab, dass die Befragten sich zwar ihrer Entscheidung sicher sind, aber kaum sagen können, warum sie diese Entscheidung so vornehmen und was sie so sicher macht. Das liegt daran, dass das Verfahren durch sein einfaches, spielerisch anmutendes Vorgehen Konventionen und Selbstdarstellungsroutinen weitgehend außer Kraft setzt. Das Ergebnis sind immer wieder Konstrukte, die der oder die Befragte bei direkter Befragung nicht hätte nennen können oder wollen. An einem Beispiel: Werden Vorgesetzte danach gefragt, welche Eigenschaften Bewerber/innen für eine ausgeschriebene Stelle haben sollten, werden sie Eigenschaften nennen, wie sie typisch für Stellenangebote sind: Teamfähigkeit, Verhandlungssicherheit usw. Wenn sie dagegen eine bunte Mischung von Mitarbeiter/innennamen zur Unterscheidung vorgelegt bekämen, würden Konstrukte entstehen, die gänzlich anders benannt würden: Dann ist z. B. wichtig, dass jemand dauernd im Mittelpunkt stehen will, schlampig angezogen ist oder peinliche Witze erzählt. Neben der Gemeinsamkeit, dass im Grid-Interview eine Serie von Unterscheidungsaufgaben gestellt wird, kann die konkrete Realisierung je nach Fragestellung und Untersuchungszweck sehr unterschiedlich ausfallen (Fromm 1995, S. 102–174). Für die am häufigsten verwendete Erhebungsvariante, die sogenannte „TriadenErhebung“, lässt sich aber eine typische Struktur angeben, der die meisten Interviews folgen. Für jeden Teilaspekt (z. B. Anzahl der Elemente, Formulierung der Unterscheidungsaufgabe usw.) gibt es dabei wieder zahlreiche Varianten, auf die hier nicht eingegangen werden kann (Fromm 1995, S. 75–87). • Konkretisierung des Befragungsthemas Zunächst liegt das Befragungsthema (z. B. auf der Grundlage theoretischer Annahmen oder empirischer Vorarbeiten) üblicherweise in einer Form vor, die für ein Grid-Interview ungeeignet ist. Um es für die geplanten Unterscheidungsaufgaben geeignet zu machen, muss es in unterscheidbare Beispiele (hier „Elemente“ genannt) aufgelöst werden. Wenn z. B. untersucht werden soll, worauf Personen beim Kauf eines Autos Wert legen, könnten die Elemente Autos sein. Eine andere Möglichkeit wäre, spezifischer verschiedene Situationen auszuwählen, in denen ein Auto genutzt wird, um zu untersuchen, worauf es dann jeweils bei einem Auto ankommt. Grundsätzlich gibt es immer verschiedene Möglichkeiten, ein Thema in Elemente aufzulösen, es damit allerdings auch zu spezifizieren. Am Ende dieser Konkretisierung stehen üblicherweise 10–15 Elemente (deutlich weniger, unter sechs, beschränken die folgenden Unterscheidungsoptionen, deutlich mehr, 20 oder darüber, machen die folgenden Unterscheidungen zur ermüdenden Fleißarbeit). • Erhebung eines Konstrukts Bei der Triadenerhebung werden drei Elemente mit der Frage vorgegeben „Welche zwei dieser drei x haben im Gegensatz zum dritten etwas gemeinsam?“ Hier
Grid-Methodik
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werden dann z. B. zwei Autos oder zwei Nutzungssituationen als ähnlich ausgewählt. Wenn in diesem Schritt nicht schon nach der Benennung der Gemeinsamkeit gefragt wird, gelingt diese Unterscheidung üblicherweise einfach und schnell. • Benennung des Konstrukts In diesem Schritt wird gefragt, was die zwei ausgewählten Elemente gemeinsam haben und wie im Gegensatz dazu das dritte zu charakterisieren ist. Die Befragten geben dann z. B. an, dass zwei Autos „vorzeigbar“ seien, das dritte nicht. Dabei ist es häufiger schwierig für die Befragten, den Gegenpol des Konstrukts zu bezeichnen. Das Spektrum reicht von Behelfsformulierungen (z. B. „nicht vorzeigbar“) bis zu individuellen Formulierungen (z. B. „peinlich“). • Anwendung des Konstrukts auf alle Elemente Das Konstrukt (bzw. genauer: seine Bezeichnung), das für eine bestimmte Triade formuliert wurde, wird im Anschluss auf alle Elemente angewandt. Am obigen Beispiel: Das Konstrukt „vorzeigbar-peinlich“ wird auf alle Autos angewandt. Das kann wieder in unterschiedlicher Weise geschehen: In der einfachsten Form werden die Elemente dichotom jeweils einem Konstruktpol zugeordnet, verbreiteter sind 5- bis 7-stufige Ratingskalen (Fromm 1995, S. 94–95; Lohaus 1983). • Wiederholung der vorgenannten Schritte Mit neuen Triaden werden die oben beschriebenen Schritte wiederholt. Das Abbruchkriterium ist dabei wieder je nach Untersuchung unterschiedlich. Die Befragung kann z. B. beendet werden, wenn eine Serie vorher festgelegter Triaden bearbeitet wurde oder in einem freieren Ablauf, wenn nach einer Serie zufällig zusammengestellter Triaden die Befragten sich nur noch wiederholen und/oder die Mitarbeit verweigern. Im Überblick stellt sich der Ablauf wie in Abb. 1 dar. Am Ende der Erhebung steht beim Grid-Interview eine Ergebnismatrix, die zeigt, welche begrifflichen Unterscheidungen formuliert und wie sie auf die Elemente angewendet wurden. Die Matrix (Abb. 2) gibt das Ergebnis eines Interviews mit einem Schüler wieder, der nach dem Besuch einer Ausstellung im Völkerkundemuseum Exponate der Ausstellung auf Bildtafeln zur Unterscheidung vorgelegt bekommen hatte. Oberhalb der Matrix sind senkrecht die Exponate eingetragen. In den Zeilen darunter stehen die sprachlichen Unterscheidungen. Die Zellen enthalten die Ratings auf einer 5er-Skala. So wurde z. B. die Kinderwiege (Element 3) in der ersten Zeile dem „Alltag“ zugeordnet (Rating: 5), die Maske (Element 7) dagegen als „speziell“ (Rating: 1) wahrgenommen. In Abhängigkeit vom Grad der Standardisierung der Erhebung liegen zusätzlich zur Ergebnismatrix z. B. Ton- oder Videoaufzeichnungen des Interviews vor, in denen Befragte ihre Unterscheidungen im Gespräch erläutern und der Ablauf der Unterscheidungen (z. B. Unsicherheiten bei Zuordnungen) deutlich wird.
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Weihebogen
Boot
Kinderwiege
Festtagsgewand
Fischhautgewand
Rentierdecke
Maske
Trommel
Nachthimmel
Kopfhörer
Abb. 1 Ablaufschema der Erhebung von Konstrukten
speziell
5
4
5
5
5
1
1
1
2
2
Altag
warme Farben
3
5
5
5
1
1
1
1
1
3
kalte Farben
geistliche Welt
3
5
5
1
1
1
1
1
1
3
menschliche/reale Welt
1
5
figürlich
3
3
2
1
2
1
1
1
5
3
abstrakt
alt
2
2
1
1
1
1
1
1
5
5
neu
visuell
1
1
1
1
1
1
1
1
1
5
Ton
keinGewand
1
1
1
4
5
3
2
1
1
1
Gewänder
Abb. 2 Rohmatrix eines Grid-Interviews
4
Varianten des Grid-Interviews
Von wesentlicher Bedeutung für die Leistungsmöglichkeiten des Grid-Interviews sind der Grad der Standardisierung des Ablaufs und die Art der Gesprächsführung während des Interviews (Fromm 1995, S. 102–174). Im Extrem kann die Erhebung
Grid-Methodik
365
vollständig standardisiert (Vorgabe von Elementen und Konstrukten durch den/die Interviewer/in) als Fragebogen- oder Online-Erhebung durchgeführt werden. Dann ähnelt der Ablauf dem des Semantischen Differentials oder dem des Q-Sort, die vorgegebene Urteilsdimensionen auf bestimmte Gegenstände anwenden lassen und sich nur dafür interessieren, wie diese Gegenstände damit charakterisiert werden. Das andere Extrem bildet ein Gespräch, in dem Befragte die für sie wichtigen Elemente selbst auswählen, durch selbst formulierte begriffliche Unterscheidungen ordnen und diese Unterscheidungen im Gespräch erläutern. Je nach Befragungszweck kann auch auf eine Komplettierung der Matrix verzichtet werden, wenn z. B. nur ein teilstrukturiertes Beratungsgespräch zum gewählten Thema stattfinden soll. Wie frei sich die Befragten artikulieren sollen, hängt zunächst vom Befragungszweck ab. Wenn z. B. untersucht werden soll, wie eine bestimmte Gruppe von Personen wahrgenommen wird, dürfte es sinnvoll sein, diese Personen (als Elemente) vorzugeben. Sollen auch die Unterscheidungsdimensionen vorgegeben werden, kann man natürlich nur erfahren, wie diese von den Befragten benutzt werden, und nicht, welche Dimensionen sie ohne diese Beschränkung verwenden würden. Solche standardisierten Verfahrensweisen mögen für bestimmte Zwecke und nach ausreichenden Vorstudien, die die Sinnhaftigkeit der Vorgaben sichern, angemessen sein. Das Besondere der Grid-Methodik besteht aber nicht darin, Objekte schlicht auf Skalen einschätzen zu lassen, sondern die subjektive Welt einer Person strukturiert und dabei offener und differenzierter kennenzulernen, als das mit anderen Verfahren möglich ist. Dafür ist es auf der Basis der PCP wesentlich, die Differenz zwischen dem unterscheidenden Tun und dessen sprachlicher Bezeichnung nicht aus dem Blick zu verlieren und die Individualität der Befragten ernst zu nehmen, ihre Begrifflichkeit nicht ohne Prüfung mit der der Interviewenden gleichzusetzen. Wenn das besondere Potenzial der Grid-Methodik genutzt werden soll, hängt also sehr viel davon ab, den Befragten die Möglichkeit zu bieten, sich ausführlich und differenziert zu äußern, diese Äußerungen für die Interviewenden verstehbar zu machen und dabei gleichzeitig eine inhaltliche Beeinflussung möglichst zu vermeiden. Das bedeutet, dass Interviewende nicht bei der Erhebung von Begriffspaaren der Art „vorzeigbar-peinlich“ enden, sondern beispielhafte Erläuterungen einfordern sollten, die ihnen ein Verständnis des Gesagten erleichtern; und dies möglichst ohne Kommentierung oder Bewertung, sondern aus einer Position interessierter und wohlwollender Zuhörer/innen heraus, die die Befragten als Expert/innen für deren subjektive Sicht der Welt respektieren (Kelly 1991, S. 241). Allgemeiner formuliert: Je mehr man den theoretischen und methodologischen Ansatz der PCP beim Einsatz der Grid-Methodik ernst nimmt, desto mehr ist ein kompetentes Interviewer/innenverhalten erforderlich, das zwar formal den Prozess lenkt und strukturiert, den Befragten aber ihre Sicht der Dinge lässt. Vergleichbare Kompetenzen werden etwa auch in der klient/innenzentrierten Therapie betont (Fromm 1995, S. 48–60). Das setzt eine solide Qualifikation der Interviewenden in Gesprächsführung voraus. Veröffentlichungen, die den Eindruck vermitteln, man könne (möglichst noch beliebig vielen) Befragten einfach eine Liste von Gegensatzpaaren zum Rating
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vorlegen, schaffen daher ein abwegiges Bild bequemer Instant-Erkenntnis – die (leider) durch leistungsfähige Auswertungs-Software auch noch relativ leicht grafisch imposant aufzubereiten ist. Aus diesem Grund sind auch die Möglichkeiten heutiger Computerprogramme, Grid-Interviews interaktiv im Mensch-Maschine-Dialog durchzuführen, differenziert zu beurteilen. Computer können mit wenig Aufwand standardisierte Interviews durchführen, verstehen aber nicht, was gesagt wird. Entsprechend setzen Nachfragen des Computers, die bei manchen Programmen möglich sind, nicht bei inhaltlich sonderbaren Äußerungen an, sondern bei quantitativ auffälligen Ratings. Unter dem Aspekt der Face-Validity mögen heute derartige Programme eine höhere Akzeptanz der Befragung sichern, sie können aber die menschlichen Interviewer/ innen, die verstehen, was gesagt wird, nicht ersetzen. Dafür, wie ein Grid-Interview geführt wird, gibt es zahlreiche Verfahrensvorschläge für unterschiedliche Zwecke. Hierzu gehören u. a. spezielle Strategien, die klären sollen, warum ein/e Klient/in sich nicht verändert, obwohl sie/er nach eigenem Bekunden unter dem Ist-Zustand leidet. Andere versuchen z. B. die autobiografische Verarbeitung lebensgeschichtlicher Erfahrungen zu klären; wieder andere wollen eine differenziertere Verständigung von Paaren oder Gruppen erreichen (Fromm 1995, S. 155–162). Hier soll kurz auf die Erhebungsvarianten eingegangen werden, die das Ziel haben, die Struktur des Konstruktsystems genauer zu erfassen. Kelly (1991, S. 152–189) schlägt dazu vor, sich das Verhältnis der Konstrukte untereinander als hierarchisch vorzustellen. Nicht alle Konstrukte sind also gleich wichtig und zentral für die Sicht, die ein Mensch von der Welt hat. Das bedeutet nicht, dass Kelly ein schlichtes Über-Unterordnungsverhältnis als erschöpfende Beschreibung der Relation von Konstrukten angesehen hätte. Er begnügte sich nur mit der ersten groben Annahme, sich Konstrukte auf unterschiedlichen hierarchischen Ebenen vorzustellen. Hier setzt die Struktur-Lege-Technik (SLT) an (Scheele und Groeben 1984). Ihre Analyse versucht weitergehend, alle denkbaren Relationen zwischen Konstrukten abzubilden. Eine Strategie, die relative hierarchische Stellung eines Konstrukts im Konstruktsystem zu ermitteln, ist die sogenannte „Leiterbildung“ (Hinkle 1965). Dabei werden Befragte zunächst gebeten, die Seite des Konstrukts zu benennen, die sie bevorzugen. Am Beispiel oben vermutlich: „vorzeigbar“ (und nicht „peinlich“). Er/sie würde dann gefragt, warum diese Seite bevorzugt wird, warum es also wichtig ist, dass etwas „vorzeigbar“ und warum es schlimm ist, wenn etwas „peinlich“ ist. Ziel dieses Vorgehens ist es, mit den Antworten auf die beiden Fragen die Pole eines hierarchisch übergeordneten Konstrukts zu erheben. Manche Veröffentlichungen (z. B. Neimeyer 2009, S. 118) erwecken gerade bei der Leiterbildung den Eindruck, es handele sich um ein sehr einfaches Vorgehen, durch eine Reihe von „Warum“-Fragen zu den wichtigsten Konstrukten einer Person vorzudringen. Das ist nicht so (Fransella et al. 2004, S. 42; Jankowicz 2004, S. 187–189): Neben der Gefahr, dass sich die Befragten unter Rechtfertigungsdruck fühlen, nehmen die Artikulationsschwierigkeiten zu. Notwendig, aber
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auch besonders schwierig, ist daher eine Interviewführung, die bei der Verbalisierung zu unterstützen versucht, ohne die Befragten inhaltlich zu beeinflussen. Diese Schwierigkeiten nehmen zu, wenn die Struktur eines Konstruktsystems differenzierter abgebildet werden soll, wie es die SLT anstrebt. Dabei wird den Befragten eine unvertraute Meta-Perspektive auf ihr Konstruktsystem abverlangt, in der sie erst einmal geschult werden müssen. Während die Leiterbildung übergeordnete Konstrukte erfassen soll, zielt die Pyramidenbildung (Landfield 1971) in die umgekehrte Richtung: sie fragt nach konkreten Indikatoren, an denen festgestellt werden kann, dass z. B. etwas „vorzeigbar“ ist. Anders als die Leiterbildung ist diese Fragestrategie für die Befragten nicht bedrohlich, höchstens zunächst ungewohnt, weil nach vermeintlich Selbstverständlichem gefragt wird. Die beispielhafte Erläuterung des Gemeinten ist üblicherweise für die Befragten einfach.
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Typische Probleme in der Arbeit mit der Grid-Methodik
Zu den Hauptschwierigkeiten, die Anwender/innen mit der Grid-Methodik haben, gehört die Übersetzung der jeweiligen Untersuchungsfrage in eine Auswahl unterscheidbarer Elemente. Häufig ist den Anwender/innen allerdings nicht einmal klar, dass ihre Schwierigkeiten dort ihre Ursache haben. Diese Elemente sollten möglichst konkret sein, trennscharf und vor allem so homogen, dass sich alle Konstrukte auf alle Elemente anwenden lassen. Kelly (1991, S. 48–50) spricht von range of convenience, also dem Bereich, für den ein Konstrukt zweckmäßig ist, um hervorzuheben, dass ein Konstrukt immer nur für einen bestimmten Erfahrungsbereich brauchbar ist. Dieser Bereich ist bei hierarchisch übergeordneten Konstrukten wie „gut-böse“ groß, bei spezialisierteren wie z. B. „linksdrehend-rechtsdrehend“ kleiner (dieses Konstrukt mag für Bohrmaschinen, Tänze und Jogurts brauchbar sein – allerdings auch dann nur im übertragenen Sinn –, für Personen, Bücher, Orte usw. aber nicht). Wenn z. B. in einem Elementsatz Berater/innenselbstbilder, Kund/innenwünsche, Unternehmenszustände und Beratungsprozesse zusammengefasst werden, führt dies zu Unterscheidungsaufgaben, in denen z. B. ein Wunsch mit einem Prozess und einer Person verglichen werden soll. Natürlich geht auch das bei entsprechender Abstraktion (z. B. „angenehm-unangenehm“). Dabei werden Befragte aber zur Verwendung hoch artifizieller Konstrukte gezwungen, die im Alltag in dieser Form unbrauchbar sind. Elemente sollten daher hinsichtlich des Typs einheitlich sein (Personen oder Gegenstände oder Situationen oder Aufgaben oder ...) und zusätzlich in der Bandbreite so homogen, dass sich Konstrukte ohne Bedeutungsverschiebung anwenden lassen. Wenn z. B. zwar alle Elemente Personen sind, das Spektrum aber von Arbeitskolleg/innen über flüchtige Bekannte bis zu Freund/innen und Partner/ innen reicht, ist absehbar, dass sich manche Konstrukte nur mit Umdeutungen auf alle anwenden lassen werden. „Angenehm“ wird beispielsweise je nach Art der Beziehung etwas anderes bedeuten.
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Qualitative und quantitative Nutzung der Grid-Methodik
Über viele Jahre war ein zentraler Streitpunkt unter Vertreter/innen der PCP, ob mit den erkenntnis- und persönlichkeitstheoretischen Annahmen der PCP eine quantitativ-statistische Verarbeitung der Daten zu vereinbaren sei oder ein qualitativer, inhaltsanalytisch-hermeneutischer Zugang. Zugespitzt: statistics vs. stories (Bell 2000; Mair 1989; Ravenette 2000). Diese Kontroverse ist heute nicht mehr akut, nach meinem Eindruck aber eher beiseite geschoben als geklärt. Vielmehr existieren zwei Orientierungen nebeneinander (Fromm und Paschelke 2010). Eine qualitative Verwendung der Grid-Methodik ist bereits während der Erhebung wesentlich offener und flexibler, kann Nachfragen zulassen, gegebenenfalls früher behandelte Aspekte noch einmal aufnehmen und überprüfen. Das Interview ist durch die Unterscheidungsaufgaben strukturiert und immer wieder auf die Fragestellung fokussiert, nutzt aber die Möglichkeit, das wechselseitige Verständnis beispielhaft zu prüfen und bei Bedarf zusätzliche Übersetzungshilfen anzufordern. Die qualitative Auswertung geht inhaltsanalytisch-verstehend vor. Sie analysiert inhaltliche Schwerpunkte (etwa eher ästhetische oder pragmatische) und ihre Anteile im Gesamtinterview, die Art der Konstrukte (z. B. den Anteil reflexiver oder wertender Konstrukte) und die Art ihrer Verwendung (z. B. häufiger Beginn mit einem negativ wertenden Konstruktpol). Die Nachfragen und Erläuterungen aus der Erhebung dienen dabei der Prüfung und Sicherung eines Verständnisses, das über die Ausdeutung isolierter Begriffspaare deutlich hinausreicht. All diese Auswertungsmöglichkeiten kann die rein quantitative Analyse nicht bieten. Ein Konstrukt, das z. B. qualitativen Interpret/innen auffällt, weil es besonders persönlich oder besonders distanziert formuliert wird, bleibt hier unerkannt, weil die quantitative Analyse nur mit den Ratings arbeitet, unabhängig davon, was an den Enden der Skala steht. Durch diese inhaltliche Blindheit werden quantitative Auswertungen aber nicht zwangsläufig wertlos. Sie können vielmehr Muster in der Verwendung der Ratings aufdecken, die menschliche Interpret/innen durch einfache visuelle Inspektion wegen der großen Datenmengen schon in kleineren GridInterviews nicht mehr erkennen. An einem sehr einfachen und kleinen konstruierten Beispiel (Abb. 3) lässt sich das leicht zeigen. Obwohl es hier nur vier Elemente und fünf Konstrukte gibt, identifiziert die reine Augenscheinsinspektion nicht das Muster, das nach Neuordnung der Spalten und Zeilen nach quantitativer Ähnlichkeit deutlich wird: Wir haben es mit einem geschlechtsspezifisch deutlich polarisierenden Grid zu tun (Abb. 4). Zur Erläuterung: Die kleinen Pfeilsymbole in Zeile 1 und 3 zeigen an, dass das Auswertungsprogramm diese Konstrukte umgepolt hat, d. h., die Pole werden vertauscht und die Ratings an der Mitte der Skala gespiegelt (aus 1 wird 5, aus 4 wird 2 usw.). Inhaltlich wird damit an der Aussage nichts geändert. Diese Umpolung wird vorgenommen, wenn der linke Pol eines Konstrukts vornehmlich mit den rechten der anderen Konstrukte Ähnlichkeiten aufweist, und umgekehrt.
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Abb. 3 Rohgrid
Abb. 4 Nach nummerischen Ähnlichkeiten neugeordnetes Grid
Natürlich basieren die Muster, die die statistischen Berechnungen liefern, allein auf nummerischen Ähnlichkeiten. Es bleibt also grundsätzlich zu prüfen, ob das, was mathematisch bemerkenswert ist, auch psychologisch Sinn ergibt. Als Fazit ist festzuhalten, dass der qualitative und der quantitative Zugang sich bei der Auswertung sinnvoll ergänzen können. Eine Stärke der Grid-Methodik besteht darin, dass sie von Beginn an strukturierte Daten liefert, die es erlauben, einen fließenden Übergang zwischen beiden Zugängen zu realisieren und die jeweiligen Lesarten wechselseitig als Korrektiv zu nutzen. Für die in Publikationen dokumentierte Praxis gilt allerdings, dass diese Möglichkeiten selten genutzt werden. Es überwiegen strikt qualitative Verfahren, denen ebenso strikt quantitative Anwendungsformen gegenüberstehen. Damit werden im ersten Fall Chancen vertan, von inhaltlich gehaltvollen, aber häufig eher essayistischen Darstellungen zu stärker strukturierten vorzudringen, im zweiten Fall unterbleibt, die psychologische Sinnhaftigkeit dessen zu überprüfen, was per Software (viel zu) leicht an Tabellen und Grafiken erzeugt werden kann (für ein Interview sind das je nach Software und Ausgabeoption zwischen 10 und 30 Seiten).
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Die Grid-Methodik hat über die letzten 60 Jahre eine weltweite Verbreitung in zahlreichen Anwendungsbereichen gefunden (Fransella 2003; Winter und Reed 2016). Soweit dies aufgrund der „Dunkelziffer“ gerade im betrieblichen Bereich
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gesagt werden kann, dominieren in Deutschland die folgenden Einsatzbereiche: Beratung und Therapieprozesskontrolle, Personalentwicklung, Medienanalyse und Marketing; daneben gibt es diverse Arbeiten, die sich für kulturspezifische Konstruktionen interessieren. Weltweit konzentrieren sich die Anwendungen überwiegend auf den klinischen und (mit steigender Tendenz) auf den betrieblichen Bereich. Dabei gibt es aber z. T. regionale oder landestypische Besonderheiten; so finden sich etwa in Spanien und Italien vor allem klinische Anwendungen. Unterschiede sind auch bei den bevorzugten Anwendungsvarianten der Grid-Methodik festzustellen: In Großbritannien haben z. B. qualitative Verfahren größere Bedeutung als anderswo, während in Nordamerika quantitative dominieren. Insgesamt lässt sich kein knappes klares Bild zeichnen, weil die Grid-Methodik praktisch für alle Untersuchungszwecke, bei denen es um eine offene, gleichzeitig differenzierte und strukturierte Erhebung subjektiver Bedeutungsmuster geht, geeignet ist – ob es um die Betreuung von Sexualstraftäter/innen in Schottland, die Optimierung von Arbeitsabläufen in Japan oder die Analyse von sozialen Konflikten in Südafrika geht. Nachdem die Personal Construct Psychology bisher im Psychologiestudium eher am Rande und wenn dann ausschließlich in der Persönlichkeitspsychologie behandelt wurde, gibt es inzwischen Anhaltspunkte für eine stärkere Verankerung im Studium, allerdings vor allem der Grid-Methodik. Insbesondere in der Psychologie und den Wirtschaftswissenschaften nimmt die Anzahl empirischer Qualifikationsarbeiten, die Grid-Methoden verwenden, deutlich zu. Zurzeit befindet sich die Personal Construct Psychology in mehrfacher Hinsicht im Umbruch. Besonders einflussreich ist der Generationenwechsel: Die Vernetzung der Schüler/innen und direkten Nachfolger/innen Kellys löst sich auf und macht den Aufbau neuer Bezugssysteme erforderlich. Ein Schritt in dieser Richtung ist die Gründung der „George Kelly Society“ (kellysociety.org), insbesondere in Großbritannien und Italien nimmt das Angebot an Fortbildungsveranstaltungen zu, in Großbritannien sind Master-Studiengänge in der fortgeschrittenen Planung. Mit dem Generationenwechsel geht auch ein Verlust an Expertise zum Einsatz der Grid-Methodik einher, und Software zur Analyse von Grid-Daten wird nicht gepflegt oder weiterentwickelt (Abschn. 8). Das Ergebnis ist zumindest im Übergang eine Rezeption der Personal Construct Psychology und der Grid-Methodik, die theoretisch oftmals oberflächlich bleibt und sich methodisch auf Standardformen konzentriert. Eine vertiefte, auch kritische, theoretische und methodologische Diskussion und Weiterentwicklung der Verfahren wäre wünschenswert. Das verstärkte Angebot von Fortbildungsveranstaltungen und die Einrichtung von Studiengängen können dafür die Voraussetzungen schaffen.
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Software
Die Anzahl der für die Durchführung und Auswertung von Grid-Interviews verfügbaren Programme hat in den letzten Jahren abgenommen. Ältere Programme sind z. T. nicht mehr erhältlich oder unter aktuellen Betriebssystemen nur noch mit
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Einschränkungen verwendbar. Andere haben inzwischen leistungsfähige Nachfolger. Verfügbar und bewährt sind die folgenden Programme, die entweder kostenlos genutzt werden können (Idiogrid, WebGrid) oder zur Vororientierung als Demoversionen zur Verfügung stehen. Auf den Webseiten finden sich zusätzliche Informationen und weitere Links. Name der Software GridSuite Idiogrid RepPlus
OS Win/ MacOS Win Win/MacOS
Autor/in Fromm, Martin
URL http://www.gridsuite.de/
Grice, James W. Shaw, Mildred/ Gaines, Brian
http://www.idiogrid.com/ https://pages.cpsc.ucalgary.ca/ ~gaines/repplus
Literatur Bell, R. (2000). Why do statistics with repertory grids? In J. W. Scheer (Hrsg.), The person in society. Challenges to a constructivist theory (S. 124–133). Gießen: Psychosozial Verlag. Berger, P. L., & Luckmann, T. (1980). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M.: Fischer. Fransella, F. (2003). International handbook of personal construct psychology. Chichester: Wiley. Fransella, F., & Bannister, D. (1977). A manual for repertory grid technique. London: Academic. Fransella, F., Bell, R., & Bannister, D. (2004). A manual for repertory grid technique. Chichester: Wiley. Fromm, M. (1995). Repertory Grid Methodik. Weinheim: Deutscher Studienverlag. Fromm, M. (1997). Validation and invalidation of personal constructs. In M. Pope & P. Denicolo (Hrsg.), Sharing understanding and practice (S. 33–39). Farnborough: EPCA Publications. Fromm, M. (2016). Learning and education. In D. Winter & N. Reed (Hrsg.), The Wiley-Blackwell handbook of personal construct psychology (S. 252–260). Chichester: Wiley. Fromm, M., & Paschelke, S. (2010). GridPractice – Anleitung zur Durchführung und Auswertung von Grid-Interviews. Norderstedt: BoD. Hinkle, D. N. (1965). The change of personal constructs from the viewpoint of a theory of construct implications, Unveröffentlichte Dissertation, Ohio State University. Hinkle, D. N. (1970). The game of personal constructs. In D. Bannister (Hrsg.), Perspectives in personal construct theory (S. 91–110). London: Academic. Jankowicz, D. (2004). The easy guide to repertory grids. Chichester: Wiley. Kelly, G. A. (1955). The psychology of personal constructs. New York: Norton. Kelly, G. A. (1991). The psychology of personal constructs. Volume one – A theory of personality. London/New York: Routledge. (reprint). Landfield, A. W. (1971). Personal construct systems in psychotherapy. Chicago: Rand McNally & Company. Lohaus, A. (1983). Möglichkeiten individuumzentrierter Datenerhebung. Münster: Aschendorff. Mair, M. (1989). Kelly, Bannister, and a story-telling psychology. International Journal of Personal Construct Psychology, 2(1), 1–14. Miller, G. A., Galanter, E., & Pribram, K. H. (1973). Strategien des Handelns – Pläne und Strukturen des Verhaltens. Stuttgart: Klett. Müller, F. H., & Kals, E. (2004). Die Q-Methode. Ein innovatives Verfahren zur Erhebung subjektiver Einstellungen und Meinungen. Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research, 5(2), Art. 34. http://nbn-resolving.de/um:nbn:de:0114-fqs0402347. Zugegriffen am 20.09.2016.
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Lautes Denken Klaus Konrad
Inhalt 1 Entstehungsgeschichte und historische Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Aktueller Stellenwert und zentrale Diskussionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Anwendungsfeld: Lautes Denken aus lernpsychologischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Die Methode des Lauten Denkens (manchmal auch als „Thinking Aloud Protocol“ oder Gedankenprotokoll bezeichnet) wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt und klar von Verfahren der naiven Selbstbeobachtung abgegrenzt. Lautes Denken kann drei verschiedene Formen annehmen: Introspektion, unmittelbare Retrospektion und verzögerte Retrospektion. Im Rahmen der Kognitionspsychologie und Problemlöseforschung kam (und kommt) sie mit dem Ziel zur Anwendung, die Denkvorgänge und Prozesse bei der Bearbeitung verschiedenster Aufgaben besser zu verstehen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt findet man den Einsatz von Think-Aloud in zahlreichen Kontexten, etwa in Usability Tests, der Lehr-Lernforschung sowie der Klinischen Psychologie. In dem Beitrag wird zunächst eine theoretische Rahmung vorgenommen, um verschiedene Profile der Methode beschreiben zu können. Daran anknüpfend werden Anwendungsbeispiele und relevante Forschungsarbeiten dargestellt.
K. Konrad (*) Pädagogische Hochschule Weingarten, Weingarten, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_41
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Schlüsselwörter
Lautes Denken · Stimulated recall · Videokommentiertechnik · Lernen · Problemlösen · Introspektion · Gedächtnis · Lernstrategien · Selbstregulation · Metakognition
1
Entstehungsgeschichte und historische Relevanz
1.1
Begriffsklärung
Die Methode „Lautes Denken“ ermöglicht es, Einblicke in die Gedanken, Gefühle und Absichten einer lernenden und/oder denkenden Person zu erhalten. Durch Lautes Denken soll der (Verarbeitungs-)Prozess untersucht werden, der zu mentalen Repräsentationen führt. In der Literatur finden sich weitere Begriffe, die sich definitorisch gesehen nur in Nuancen unterscheiden, wie Denke-Laut-Methode, Gedankenprotokoll, „Thinking Aloud Protocol“ (TAP), „Talk Aloud Interview“, „Think Aloud“ oder „Verbal Protocol“ (Buber 2009). Alle diese Termini stehen für die Produkte des Lauten Denkens, d. h. für die Verbalisierungen (verbal statements) der Untersuchungsteilnehmer/innen, die als Daten systematisch dokumentiert, ausgewertet und interpretiert werden müssen. Theoretischer Hintergrund des Verfahrens sind die „introspektiven Erhebungsmethoden“ (Heine und Schramm 2007), deren gemeinsames Merkmal darin besteht, dass die beteiligten Individuen zur Verbalisierung ihrer Gedanken, Wahrnehmungen und Empfindungen aufgefordert werden. Um Fehleinschätzungen speziell in der Zuordnung zum qualitativen Forschungsparadigma zu vermeiden, ist an dieser Stelle der Hinweis erforderlich, dass Lautes Denken häufig in strukturierten Kontexten zur Anwendung kommt (s. Abschn. 3.1), die sich gravierend von den im Rahmen der qualitativen Forschung intendierten natürlichen Situationen unterscheiden. Eine qualitative Methodik, deren Erkenntnisresultate sensu Breuer (2000) an die alltägliche Erfahrungswelt der Untersuchten (ihre Problemwahrnehmungen, Konzeptualisierungsweisen, ihr Vokabular etc.) anknüpfen, tritt in Untersuchungen zum Lauten Denken oftmals in den Hintergrund. Lautes Denken kann drei verschiedene Formen annehmen: Introspektion (augenblickliche Verbalisierung), unmittelbare Retrospektion (die sich zeitlich direkt an die Introspektion anschließt) und verzögerte Retrospektion (die direkt nach der Bearbeitung aller Aufgaben – etwa der Textlektüre oder der Erprobung einer Software – oder sogar erst einige Tage später stattfinden kann), wobei klar ist, dass in der Praxis eine eindeutige Trennung zwischen diesen oft ineinander übergehenden Ansätzen nicht immer möglich ist. In Abschn. 3.1 wird dieser Tatbestand im Detail thematisiert. In Anlehnung an Ericsson und Simon (1993) ist die engste Verbindung zwischen Denken und verbalem Berichten dann nachweisbar, wenn das Individuum seine
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Gedanken unmittelbar im Zuge der Aufgabenbearbeitung in Worte fasst (Introspektion). Wie oben angedeutet, stellt die Introspektion eine Variante des Lautes Denkens dar, die dazu noch wesentlich zu dessen Anerkennung in psychologischen Anwendungsfeldern beigetragen hat. Bei der Introspektion liegt das Augenmerk auf der Betrachtung, Beschreibung und Analyse des eigenen Erlebens und Verhaltens durch nach innen gerichtete Beobachtung. Mittels handlungsbegleitender Verbalisierung gibt das Individuum einen zeitnahen Einblick in die mentalen Aktivitäten, die in seinem Kurzzeitgedächtnis abgelegt sind. Die Entwicklung der Introspektion geschah in mehreren Schritten. Bereits zur Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts haben naturwissenschaftlich und experimentell ausgerichtete Forschende nach dem Vorbild Wilhelm Wundts (ab 1879) Introspektion betrieben, um Vorgänge des Urteilens, Denkens und Problemlösens zu erkunden. Ihre Befürworter/innen grenzten das Vorgehen ausdrücklich von der („naiven“) Selbstbeobachtung und der persönlichen Alltagserfahrung ab. In einer anschließenden Entwicklungsphase kam die Introspektion als Methode der Würzburger Schule, der älteren Deutschen Denk- und Erlebnispsychologie um Oswald Külpe (1893, 1922), zur Anwendung. Typisch waren Versuchsleiter-Versuchsperson-Experimentalanordnungen: Die Versuchspersonen, meist die Forschenden selbst, hatten Denk- und Urteilsaufgaben zu lösen und zu berichten, was sie während des Versuchs erlebt hatten. Eine vorerst letzte Periode der Weiterentwicklung brachte aus dem zunächst ausschließlich individuellen Verfahren eine heuristische gruppengestützte Introspektion hervor. Die Dialogische Introspektion versucht die individuelle Selbstbeobachtung und die Würzburger Methode der Introspektion durch Veränderungen bei Erhebung und Analyse zu verbessern, etwa durch systematische und kontrollierte Ausführung mit variierter Dokumentation des Erlebens sowie durch Trennung von Selbstbeobachtung und Analyse. Gerhard Kleining (1994) spricht von einem regelbasierten Verfahren zur Erforschung innerer Erlebensabläufe und ordnet die Dialogische Introspektion der qualitativ heuristischen Methodologie zu (Kleining 2010a, b). In heutiger Zeit sind verbale Selbstauskünfte unter definierten Bedingungen als Erkenntnisquelle weithin akzeptiert. Dabei geht es allerdings weniger um Introspektion als vielmehr um Lautes Denken. Die wesentlichen Züge des Lauten Denkens lassen sich anhand einer prototypischen Aufgabenstellung aus dem Mathematikunterricht veranschaulichen. Ausgangspunkt ist die folgende Bitte an eine Schülerin: „Sprich bitte alles aus, was dir in den Sinn kommt und durch den Kopf geht, während du die Aufgabe löst. Dabei ist es wichtig, dass du nicht versuchst, zu erklären oder zu strukturieren, was du tust. Stell dir einfach vor, du bist allein im Raum und sprichst mit dir selbst.“ (Heine und Schramm 2007, S. 178)
Das Beispiel illustriert einige Besonderheiten der simultanen Form des Lauten Denkens: Zum einen hat die Schülerin keine Gelegenheit zur Reflexion dessen, was sie tut, weil sie nahezu die ganze bewusste Anstrengung auf die Bearbeitung der
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aktuellen Aufgabe richtet. Zum anderen interpretiert das Mädchen weder ihre Gedanken, noch sieht es sich genötigt, sie in eine vorherbestimmte Form zu bringen, wie es bei strukturierten Techniken (z. B. Fragebogen) der Fall ist. Wie im Weiteren (s. Abschn. 2.1) zu zeigen sein wird, definiert sich introspektives und retrospektives Lautes Denken nicht nur über die Verortung auf einem zeitlichen Kontinuum, sondern auch über die Inhalte der jeweiligen Verbalisierung: Introspektion bezeichnet die unmittelbare Verbalisierung von Inhalten des Kurzzeitgedächtnisses, die schon in oral enkodierter Form vorliegen. Unmittelbare Retrospektion umfasst die Beschreibung und Erklärung von Gedankeninhalten, die in nicht-sprachlicher Form existieren und erst noch oral enkodiert werden müssen; die verzögerte Retrospektion beinhaltet schließlich die Erklärung von Gedanken und Gedankenprozessen.
1.2
Entstehungsgeschichte
Die Methode des Lauten Denkens hat in der Lern- und Denkpsychologie eine ebenso lange wie kontroverse Geschichte (Ericsson 2006; van Someren et al. 1994). Den Beginn markiert die psychologische Forschung des frühen 20. Jahrhunderts, wobei der bereits erläuterten Selbstbeobachtungsmethode eine herausragende Bedeutung zukam. In der klassischen Selbstbeobachtung, wie sie Psycholog/innen in den 1920er- und 1930er-Jahren verwendet haben, wurde die Person dazu ermuntert, einen genauen, vollständigen und zusammenhängenden Bericht über ihren kognitiven Prozess zu geben. Der Hauptunterschied zur Laut-Denken-Methode besteht darin, dass letztere eine gleichzeitige Verbalisierung verlangt und die Interpretation seitens der Person einschränkt. Infolgedessen sind introspektive Berichte lesbarer als zeitgleich entstandene Protokolle, sie enthalten aber auch mehr Erinnerungsfehler und Missdeutungen bzw. Fehlinterpretationen (van Someren et al. 1994). Die Methode wurde wegen der heftigen Kritik des Behaviorismus – introspektiv gewonnene Daten seien nicht intersubjektiv überprüfbar – mehrere Jahrzehnte lang praktisch nicht mehr verwendet. Vertreter/innen des Behaviorismus wollten das Bewusstsein nicht als legitimen Forschungsgegenstand der Psychologie anerkennen und behandelten die Vorgänge, die sich zwischen Reizen und Reaktionen abspielen, so, als wären sie in einer black box verborgen und empirisch nicht untersuchbar. Am Ende der 1960er-Jahre wuchs das Interesse an internen kognitiven Prozessen und damit auch an Methoden, die Daten über diese Prozesse zur Verfügung stellen konnten (Ericsson 2002). Laut-Denken-Protokolle werden seit Anfang der 1970erJahre in der Problemlöseforschung vermehrt eingesetzt (Dörner et al. 1983; Lüer 1973), weil das Bedürfnis nach Datenquellen zunahm, in denen prozedurale und dynamische Aspekte kognitiver Prozesse sichtbar werden. Zu den innovativen Ereignissen dieser Epoche zählten die Arbeiten von Newell und Simon (1972), die Protokolle des Lauten Denkens mit Computermodellen zum Problemlösen kombinierten, um auf diese Weise komplexere Ansätze des Handelns und Denkens zu entwickeln.
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377
In den 1980er-Jahren begannen Computerwissenschaftler/innen mit der Entwicklung von Expertensystemen. Unter Verwendung von Techniken der Künstlichen Intelligenz konzipierten sie Programme, die sich auf dem Leistungsniveau von Fachleuten bewegten. Mithilfe der Laut-Denken-Methode gelang es, Expert/innen zur Vermittlung von Erfahrungen bzw. Wissensbeständen zu animieren, denen sich diese bewusst waren; zugleich konnte das verwendete freie Format die Wiedergabe verzerrter und falscher Repräsentationen verhindern. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird das Laute Denken von zahlreichen Professionen und in mehreren Forschungsfeldern als ein nützliches Datenerhebungsverfahren akzeptiert (s. Abschn. 3.2). Aktuelle Anwendungen liegen im Lernstrategietraining, der Problemlöseforschung sowie der Mensch-Computer-Interaktion.
2
Grundannahmen
2.1
Das theoretische Modell
Die theoretischen Wurzeln des Lauten Denkens liegen in Ansätzen der menschlichen Informationsverarbeitung. Darin werden spezifische kognitive Strukturen des menschlichen Gedächtnisses sowie vom Individuum steuerbare Prozesse postuliert, anhand derer die Informationsverarbeitung aktiv und kontrolliert erfolgt (Ericsson und Simon 1993; Schlag 2011, S. 77). Das in Abb. 1 dargestellte Drei-SpeicherModell liefert ein Schema zum Verständnis des Ablaufs von Informationsaufnahme und -speicherung im Gehirn. Es unterscheidet 1. sensorische Register, 2. Arbeitsspeicher (Ultrakurzzeit- und Kurzzeitgedächtnis) und 3. Langzeitspeicher (Langzeitgedächtnis). Nach diesen Modellvorstellungen werden Informationen aus der Umwelt über die Sinnesorgane aufgenommen und in den sensorischen Registern für wenige Sekunden modalitätsspezifisch gespeichert. Über Aufmerksamkeitsprozesse gelangt nur ein Bruchteil dieser Informationen in kodierter Form in das Kurzzeitgedächtnis mit stark begrenzter Aufnahmekapazität und Speicherdauer. Zwar können darin die aktuellen Informationen durch stetige Wiederholung theoretisch beliebig lang gehalten werden, in der Regel werden sie jedoch entweder durch neue Informationen aus dem Kurzzeitspeicher verdrängt oder aber weiterverarbeitet. Wird die Information zum Beispiel entsprechend lange wiederholt, erfolgt eine Speicherung im Langzeitgedächtnis mit unbegrenzter Speicherkapazität und -dauer. Zwei Aspekte sind für effektive Enkodierprozesse, die für den Transport der Informationen vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis verantwortlich sind, wichtig: zum einen die Aufmerksamkeit als basale Voraussetzung dafür, dass unsere Verarbeitungs- und Enkodierprozesse überhaupt „gestartet“ werden können und zum zweiten die Aktivierung von Vorwissen und Präkonzepten. Beide Aspekte hängen eng mit Elaborations- und Organisationsstrategien zusammen. Wie in Abb. 1 angedeutet, müssen zu ihrer Anwendung wiederum Wissenselemente aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen bzw. in das Kurzzeitgedächtnis transferiert werden (Bannert 2007). In dieser Perspektive lassen
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Abb. 1 Gedächtnismodell zum Lauten Denken
sich nur die bewussten Inhalte aus dem Kurzzeitgedächtnis in Worte fassen. Inhalte des Langzeitgedächtnisses können folglich nicht direkt verbalisiert, sondern müssen hierfür zuerst in das Kurzzeitgedächtnis transferiert werden. Auch automatisierte mentale Aktivitäten sind nicht unmittelbar verbalisierbar. Im Rahmen ihres Modells menschlicher Informationsverarbeitung differenzierten Ericsson und Simon (1993) drei Ebenen der Verbalisierung: 1. Verbalisierungsebene (talk aloud): Auf dieser Stufe werden die im Kurzzeitgedächtnis in verbal kodierter Form vorliegenden Informationen einfach nur laut ausgesprochen (Level 1 bei Ericsson und Simon 1993, S. 17). 2. Verbalisierungsebene (think aloud): Auf der zweiten Ebene liegen die Inhalte im Kurzzeitgedächtnis noch nicht in verbal kodierter Form vor, sondern müssen hierfür zuerst enkodiert werden. Diese Enkodierprozesse brauchen Zeit, was dazu führt, dass die Bearbeitung der Primäraufgabe insgesamt länger dauert (Level 2 bei Ericsson und Simon 1993, S. 17). Obwohl die verbalen Berichte die am Verhalten beteiligten Prozesse verlangsamen, ändern sich die kognitiven Vorgänge im Rahmen der Verbalisierung gemäß Ericsson und Simon (1993, S. 18) auf Ebene 1 und 2 nicht. Auch die zeitliche Abfolge bleibt unverändert; zusätzliche Informationen sind nicht erforderlich (Sasaki 2003, S. 3). Entsprechend betrachten Ericsson und Simon die durch die Verbalisierung auf Niveau 1 und 2 hervorgerufene Information als unmittelbare Repräsentation der kognitiven Prozesse des Kurzzeitgedächtnisses. 3. Verbalisierungsebene (reflection prompts): Verbalisierungen des dritten Niveaus werden gewonnen, indem Teilnehmende an wissenschaftlichen Versuchen (im Unterschied zu den in der qualitativen Forschung oft intendierten „natürlichen“ Situationen) explizit aufgefordert werden, ganz bestimmte Aspekte zu erklären, zu interpretieren oder zu hinterfragen (Level 3 bei Ericsson und Simon 1993, S. 17). Diese zusätzlichen Vorgänge benötigen nicht nur mehr Bearbeitungszeit; weit wichtiger ist, dass sie die kognitiven Prozesse bei der Bearbeitung
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der Primäraufgabe beeinflussen können (Bannert 2007; Pressley und Afflerbach 1995; Mackensen-Friedrichs 2009). Die im Kurzzeitgedächtnis gespeicherten Informationen werden sich damit verändern. Ausgehend von dieser Differenzierung mahnen Ericsson und Simon Forschende zur Vorsicht im Umgang mit Protokollen der auf der 3. Ebene angesiedelten kognitiven Prozesse. Zugleich betonen sie, dass interpretierende Beschreibungen und Erklärungen kognitiver Prozesse den jeweiligen Forschenden (und nicht etwa den für diese Aufgabe als weniger kompetent eingeschätzten Lai/innen oder Expert/ innen aus der pädagogischen Praxis) vorbehalten bleiben sollten (Ericsson und Simon 1987; Pressley und Afflerbach 1995).
2.2
Methodologische Überlegungen
Unter methodologischen Gesichtspunkten stellt sich die Frage der Zuordnung zum quantitativen und/oder qualitativen Forschungsparadigma. Auch wenn die Mehrzahl der vorliegenden theoretischen und empirischen Abhandlungen eine besondere Nähe zu qualitativen Forschungsprogrammen nahelegt, lässt sich die Methode des Lauten Denkens per se weder einem qualitativen noch einem quantitativen Paradigma zuweisen; sie kann sowohl explorativ/deskriptiv als auch interpretativ und/ oder hypothesentestend (Cohen 1996; Würffel 2001) eingesetzt werden und qualitative wie auch quantitative Formen der Datensammlung sowie -analyse benutzen oder vereinen (Lerner et al. 2016). Forscher/innen, die die Methoden des Lauten Denkens in einem stärker quantitativen Forschungsrahmen anwenden, teilen in der Regel nicht mehr die Euphorie der Kognitionspsychologen Ericsson und Simon (1993). Sie gehen zwar auch davon aus, dass mithilfe der Methode auf kognitive Prozesse geschlossen werden kann, haben aber starke Bedenken im Hinblick auf die für das analytisch-nomologische Forschungsparadigma geltenden Kriterien der Objektivität, Reliabilität und insbesondere der Validität (z. B. Yang 2003). Solchen Ansprüchen kann nach Ansicht kritisch eingestellter Autor/innen allenfalls bei der Untersuchung wohlstrukturierter Lern- oder Problemlösesequenzen entsprochen werden. Bei der Analyse weniger strukturierter Verhaltensprozesse erscheinen die Ergebnisse dagegen oft mehr rituell (im Sinne der routinemäßigen Anwendung standardmethodischer Vorgehensschablonen; siehe dazu die Diskussion bei Dobrin 1994) als durch fundierte Erkenntnisse gerechtfertigt. Kritiker/innen bezweifeln offenbar nicht nur die Objektivität des Lauten Denkens im Sinne der Neutralität der beteiligten Personen (Forscher/innen und Forschungsteilnehmer/innen; Würffel 2001, S. 170); sie erinnern auch daran, dass dieses Verfahren oft nicht vollständig kontrollierbar, nur bedingt reproduzierbar und vor allem wenig valide sei (s. Abschn. 5.2). Von Bedeutung für etwaige Einwände ist die spezielle Versuchssituation und die Beanspruchung im Rahmen des Einzelversuches, die Effekte der Reaktivität (z. B. Veränderung der Primäraufgabe) sowie der sozialen Erwünschtheit nach sich ziehen können (Schlag 2011, S. 79).
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Für Forschende mit einem qualitativen Forschungshintergrund stellen diese angeblichen Schwachpunkte der Methode zum Teil eher Stärken dar. So führen Huber und Mandl (1994, S. 16) aus: „Wenn die Verbalisation von Kognitionen im Kontext von Handlungen uns auch nicht notwendig die ‚wirklichen‘, objektiven Handlungsursachen erschließt, so doch die subjektive Sicht des Handlungszusammenhangs – und damit die Orientierung der Person auch in vergleichbaren Situationen“. Wie insgesamt in der qualitativen Forschung wird die fehlende Neutralität der Untersuchungsteilnehmer/innen nicht als Störfaktor, sondern als relevante Informationsquelle gesehen. Gleichwohl werden die Schwierigkeiten der Reliabilität und Validität der Daten keineswegs verschwiegen oder unterschätzt. Es wird aber weniger der Versuch unternommen, diesem Problem durch die Standardisierung der Datensammlung und -analyse zu entgehen. Schließlich strebt die qualitative Forschung ausdrücklich danach, Repräsentativität und Standardisierung durch Reichhaltigkeit, Offenheit, Breite, Detaillierung, Betroffenheit und Expertise zu ersetzen (Früh 2011; Lamnek und Krell 2016; Witt 2001). Entsprechend ist die Erwartungshaltung gegenüber der Aussagekraft der Daten eine andere. Qualitativ orientierte Forschende gehen letztlich davon aus, dass sich auf der Grundlage der Ergebnisse des Lauten Denkens tatsächlich allgemeingültige Modelle der menschlichen Kognition erstellen lassen. Auch wenn nicht alle Wissenschaftler/innen dem folgen wollen (Heine 2005; Weidle und Wagner 1994), teilt doch die Mehrzahl von ihnen die Überzeugung, mit Laut-Denken-Protokollen interessante sowie aufschlussreiche Daten zu gewinnen, die nicht anders erhoben werden könnten und die am ehesten die Möglichkeit bieten, handlungssteuernde Kognitionen und/oder Lernprozesse zu beleuchten.
3
Aktueller Stellenwert und zentrale Diskussionen
3.1
Arten des Lauten Denkens
Eine erste Unterscheidung des Lauten Denkens zielt auf den Grad der Strukturiertheit. Unstrukturierte Laut-Denken-Protokolle ermöglichen einen unmittelbaren Eindruck in die Entscheidungsoperationen (wie z. B. Vergleichen, Verwerten, Alternativen eliminieren) der Untersuchungsteilnehmer/innen (Kaas und Hofacker 1983, S. 82). Von strukturierten Laut-Denken-Protokollen ist die Rede, wenn diese sich im Lerngeschehen mit spezifischen Aufforderungen oder Anweisungen konfrontiert sehen (prompted protocol; Kaas und Hofacker 1983, S. 82). Beispiele sind das guided questioning von King (1999, 2002) und die Selbsterklärungen aufgrund vorwissensangepasster, domänenspezifischer Lernimpulse von Mackensen-Friedrichs (2009). Das durch prompts strukturierte Laute Denken ist ökonomischer, weil wesentlich weniger Daten anfallen. Allerdings ist die Wahl des Zeitpunkts für die Aufforderungen zum Lauten Denken schwierig zu bestimmen und es besteht hierbei die Gefahr, dass wichtige Daten nicht erfasst werden (Bannert 2007, S. 137). Die
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381
Frage nach der kontinuierlichen versus ereignisspezifischen Form des Lauten Denkens spielt auch in der Lernstrategieforschung eine Rolle (s. Abschn. 4.2). Wie in Abschn. 1.1 angemerkt wurde, kann im Sinne einer zweiten Unterscheidung nach dem Zeitpunkt des Einsatzes der Methode im Entscheidungsprozess zwischen simultan (concurrent protocol oder Introspektion) und ex-post erhobenen Laut-Denken-Protokollen (retrospective protocol oder Retrospektion) unterschieden werden (Sasaki 2003, S. 2). Beim simultan erfassten Laut-Denken-Protokoll erfolgt die Aufzeichnung der Gedanken der Untersuchungsteilnehmer/innen zur Zeit der Entscheidung, zum Beispiel wenn das Individuum während der Nutzung einer Textverarbeitungs- oder Statistiksoftware einen Menüpunkt aufruft. Im Unterschied dazu berichten Teilnehmende beim ex-post erhobenen Protokoll über eine Entscheidung oder eine Erfahrung, die sie in der Vergangenheit getroffen oder gemacht haben (Sheth et al. 1999, S. 195). Eine mögliche Erleichterung bietet hier die nachträgliche mediale Unterstützung: Beispielsweise kann die beteiligte Person mit einer Videoaufzeichnung ihres Verhaltens konfrontiert und dabei gebeten werden, die Gedanken, die ihr während der ursprünglichen Handlung durch den Kopf gegangen sind, wiederzugeben. Ein entsprechendes Vorgehen wählt beispielsweise Breuer (2000) im klinischen Kontext mit dem sogenannten Selbstkonfrontations-Interview. Dabei führen Psycholog/innen ihren Klient/innen ein zuvor aufgezeichnetes Behandlungsgespräch abschnittsweise wieder vor und bitten sie, dieses hinsichtlich ihrer (erinnerten) „inneren Handlungsanteile“ zu kommentieren. In der Unterrichtsforschung wird ein stimulated recall bevorzugt (häufig auch als „Videokommentiertechnik“ bezeichnet; Funke und Spering 2006), bei dem einzelne, besonders auffällige oder kritische Stellen durch Video wiedergegeben werden, um daran abgelaufene handlungssteuernde und -begleitende Kognitionen zu erfragen (Wahl et al. 1992, S. 46–47). Im Zuge der Erforschung von Lernstrategien sowie von Problemlöseaktivitäten (s. Abschn. 4.2) entscheiden sich Forschende ebenfalls häufig für diese Variante. Eine dritte Form des Lauten Denkens betont den Austausch und Dialog zwischen Lernpartner/innen. Dialogdaten unterscheiden sich deutlich von individuellen verbalen Berichten. Sie haben insbesondere den Vorteil, dass sie unter natürlichen Verhältnissen aufgezeichnet oder registriert werden können (Kucan und Beck 1997, S. 271). Aus dem Blickwinkel der Instruktionspsychologie steht die wechselseitige Förderung im Zentrum. Die Lernenden tauschen sich aus, legen ihre Gedanken offen und formulieren Hypothesen sowie Lösungen (Baumann et al. 1993). In Abgrenzung von einer am Individuum orientierten Betrachtungsweise, die Lautes Denken als (unter günstigen Bedingungen stattfindende) direkte Repräsentation kognitiver Prozesse versteht, begreifen Vertreter/innen der sozio-kulturellen Theorie (Vygotsky 1987) verbale Berichte als sozial situierte Konstrukte (z. B. Smagorinsky 1998, 2001; Witte und Cherry 1994). In dieser Sichtweise können kognitive Vorgänge nicht losgelöst von sozialen Kontexten verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um sozial verankerte Tätigkeiten, die ihre Wurzeln im kulturellen und sozialen Umfeld des Individuums haben. Um Missverständnissen vorzubeugen, ist hier allerdings anzumerken, dass die kommunikative Weiterentwicklung im Umgang mit der Methodik von den Vorgaben in der Forschungsliteratur zum Lauten
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Denken abweicht: Es wird nämlich eine gänzlich andere Datenart elizitiert und die Methode wird an die Umstände (hier: Lernen in Austausch und Dialog) angepasst. Statt auf die Lösung der Aufgabe verschiebt sich die Aufmerksamkeit der Untersuchungsteilnehmenden auf die Mitteilung dessen, was er/sie gerade tut oder erlebt (Heine und Schramm 2007). Die Daten sind damit keine selbstadressierten LautDenken-Protokolle mehr, sondern erhalten den Charakter von fremdadressierten simultanen Verbalprotokollen.
3.2
Aktuelle Anwendungen
Lautes Denken kommt aktuell in zahlreichen Forschungsbereichen zum Einsatz. Zu den prominentesten Forschungsfeldern, die sich des Lauten Denkens bedienen, zählen die Problemlöseforschung (Funke und Spering 2006), die Spracherwerbs- und Leseforschung (Afflerbach 2000; Heine 2014; Pritchard 1990; Würffel 2006), die Unterrichtsforschung (Hattie 2013; Wahl 2006; Weidle und Wagner 1994), die Entscheidungsforschung (Backlund et al. 2003), die Medienforschung (Bilandzic 2006; Eveland und Dunwoody 2000), die Forschung zur Mensch-Maschine-Interaktion (Stebler 1999; Tai et al. 2011) und der Einsatz als Usability-Testmethode (Yom et al. 2009). Drei Verwendungszwecke des Lauten Denkens, welche die aktuelle Diskussion adäquat widerspiegeln, sollen hier erläutert werden. Lautes Denken in Strategietrainings Lautes Denken wird in Strategie-Trainingsprogrammen verwendet, um Verstehensprozesse zu modellieren und zu diagnostizieren, etwa in der Modelling-Phase der prominenten Kognitiven Meisterlehre – einer interaktiven Lernmethode zwischen Lernenden und Expert/innen, die das traditionelle „Meister-Lehrling-Verhältnis“ auf kognitive Lernziele anwendet, wenn auch in veränderter Form. Ziel ist die Vermittlung von implizitem Praxiswissen. Dabei dient der Experte/die Expertin als Modell: Er/sie zeigt die Lösung eines Problems und verbalisiert seine/ihre Vorgehensweise (cognitive apprenticeship; Collins et al. 1989). Die damit etablierte Intervention fördert das Konstruieren/Formulieren von Vorhersagen, das Visualisieren interner oder externer Prozesse, die Verknüpfung neuer mit vorhandenen Wissensbeständen, die Überwachung des Verstehens und die Überwindung von Problemen, die mit der Erinnerung oder dem Verständnis von Lerninhalten einhergehen. Die Vorzüge dieses Strategietrainings liegen auf der Hand: Indem Lernende laut denken, lernen sie, wie man lernt. Im Idealfall werden die Schüler/innen oder Studierenden in die Lage versetzt, wie Expert/innen zu denken. Durch wechselseitiges Mitteilen machen die am Lernen Beteiligten ihre Denkprozesse und angewandtes Wissen öffentlich und damit verhandelbar (Beck et al. 1996). Zugleich liefert die Methode wertvolle diagnostische Informationen, etwa hinsichtlich der strategischen Präferenzen der lernenden Personen. Strategietrainings stehen in enger Verbindung mit Theorien und Praktiken des selbstgesteuerten Lernens, das ebenfalls vom Lauten Denken profitiert. Hattie (2013, S. 282–283) sieht Lautes Denken als Form der Selbstregulation. Im Sinne von „self-verbaliza-
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tion“ und „self-questioning“ unterstützt das Verfahren die Suche nach benötigten Informationen und verbessert damit das Verständnis der Lernenden in Bezug auf die Botschaften des zu lernenden Stoffes. Andere Autor/innen (Raihan 2011; White und DiBenedetto 2015) betonen die intellektuelle Entfaltung des Individuums. Sie erkennen im Lauten Denken eine wirksame Methode zur Aktivierung von Metakognition und Selbstregulation. Die genannten Forschenden legen zugleich Förderprogramme zur Umsetzung ihrer Anliegen vor. Lautes Denken in der Problemlöseforschung Das Laute Denken wird verwendet, um Problemlöseprozesse, die sehr komplex und zum Teil nicht beobachtbar sind, zu erhellen. Hervorzuheben ist die Anbindung dieser Forschungslinie an die Ebene (Kategorie) I (talk aloud) oder II (think aloud) im Modell der menschlichen Informationsverarbeitung (s. Abb. 1, Abschn. 2.1). Üblicherweise erfolgt das Äußern der Gedanken parallel zu einer Primäraufgabe, wie zum Beispiel eines Denkauftrags. Die Primäraufgabe steht im Mittelpunkt und die Verbalisierung geschieht nebenher. Dies ermöglicht den Einblick in mentale Vorgänge und das Problemlöseverhalten einer Versuchsperson. Als Beispiel kann die Analyse des wissenschaftlichen Denkens im Kontext des naturwissenschaftlichen Unterrichts angesehen werden. In diesem Umfeld arbeitete Völzke (2012) mit Hilfe des Lauten Denkens und des nachträglichen Lauten Denkens Charakteristika der wissenschaftlichen Urteile und des Wissenschaftsverständnisses bei Schüler/innen heraus. Das wissenschaftliche Denken in dieser Studie richtete sich auf die Bereiche Hypothesenbildung, Experimentplanung und Datenanalyse beim Experimentieren im Biologieunterricht. Auch subjektive Entscheidungen und die Entwicklung von Arbeitsplänen im Berufsalltag werden als Teil der Problembewältigung betrachtet und erforscht. Ein Beispiel ist die aufwändige dreistufige Analyse (Videografie, Nachträgliches Lautes Denken sowie leitfadengestützte Einzelinterviews) von Handlungsplänen angehender Lehrender im Kontext der Wirtschafts- und Berufspädagogik (Pfannkuche 2015). Lautes Denken als Usability-Testmethode Ein weiteres Einsatzfeld des Lauten Denkens sind Usability-Tests. Dabei besuchen Nutzende aus der je interessierenden Zielgruppe eine bestimmte Webseite oder verwenden eine Software und kommentieren alle Handlungen sowie Gedanken laut. Sie werden beispielsweise gebeten, eine Aufgabe auf einer Webseite zu bearbeiten (z. B. nach spezifischen Informationen zu suchen) und dabei alles auszusprechen, was ihnen durch den Kopf geht, was ihnen positiv oder negativ auffällt, was ihnen unverständlich oder optimierungsbedürftig erscheint. Die solche Aktivitäten begleitenden Gedankengänge, Eindrücke, Empfindungen, Absichten und Probleme vermitteln Softwareanbieter/innen oder Administrator/innen interessante Einblicke in Motivation, Strategieanwendung, Verhaltensmuster und Probleme ihrer Zielgruppen (Yom et al. 2009). Zu den Kernelementen vieler Usability-Tests gehören Aktivitäten sowie Strategien des „help-seeking“ (Tai et al. 2011). Die Fähigkeit und Handlung des Hilfesuchens beruht auf der „Metakognition“ der beteiligten Personen. Um diese zu erforschen,
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gewinnen Interaktionen mit Informationsquellen, Lernpartner/innen, Aufgaben oder Datenbanken eine entscheidende Bedeutung („interactive learning environments“; Tai et al. 2011). Ein eng verwandtes Anwendungsfeld ist das elektronisch unterstützte Lernen („E-Learning“). Dort soll in der Regel festgestellt werden, wo potenzielle Probleme bei der Bearbeitung des Lehrmaterials liegen. Beispielsweise entwickelten und evaluierten Lerner und Mitarbeitende (2016) mit Hilfe von Laut-Denken-Protokollen und Diskursdaten eine Computer-Benutzeroberfläche, welche die Qualität wissenschaftlicher Schlussfolgerung und Argumentation optimieren und zugleich die Analyse solcher Vorgänge erleichtern sollte. Lautes Denken eröffnet in solchen Projekten die Chance, die Lernenden mit ihren Bedürfnissen und Voraussetzungen in den Entwicklungsprozess einzubinden. Während der Untersuchung sind die Teilnehmer/innen gefordert, ihre Gedanken laut sprachlich zu äußern. Hierdurch erhalten die Anbieter/ innen sowie Entwickler/innen Einblicke in das Lernverhalten der Versuchspersonen sowie in die Probleme bei der Bearbeitung der gestellten Aufgabe. Weit verbreitet ist die Kombination mit anderen auf Ereignisse oder Verläufe fokussierte Erhebungsverfahren. Durch Videomitschnitte, in Logfile-Analysen oder mit Eye-Tracking-Techniken (Çakir 2013) registrierte Verhaltensweisen finden durch das Laute Denken häufig eine Erklärung. Noch während der Untersuchungssituation wird deutlich, wie und warum die teilhabenden Personen etwas tun (Frommann 2005, S. 1). Die genannten Applikationen unterstreichen das beachtliche Potenzial des Lauten Denkens für zahlreiche Forschungs- und Praxisfelder. Eine Einschränkung der empirischen Interessen und praktischen Anwendungen ergibt sich allerdings aufgrund der Verankerung der Methode in der Denk- und Problemlöseforschung (s. Abschn. 1.2), die auf die Aktualisierung und Untersuchung bewusster kognitiver Prozesse abzielt (Funke und Spering 2006).
4
Anwendungsfeld: Lautes Denken aus lernpsychologischer Sicht
Lernpsycholog/innen wissen die Überlegenheit des Lauten Denkens im Hinblick auf die Untersuchung von bewussten Lernprozessen zu schätzen. In den Fokus rücken beispielsweise Forschungsarbeiten zum Textverstehen sowie zur Anwendung von Lernstrategien.
4.1
Ein Forschungsprogramm zum Textverstehen
Das folgende Beispiel entstammt einem Forschungsprogramm zum Textverstehen. Das Projekt vermag die Bedeutung des Lauten Denkens für lernpsychologische Erkenntnisinteressen in zweifacher Weise zu unterstreichen: Zum einen liefert es Belege dafür, dass die Methode valide Indikatoren des strategischen Lernens offenbaren kann. Es ist demnach möglich, die im Lauten Denken repräsentierten individuellen und sozialen
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385
Kognitionen der Lernenden als Schlüsselaspekte der Konstruktion von textbezogenem Wissen und Verstehen zu analysieren. Darüber hinaus können Protokolle des Lauten Denkens veranschaulichen, welche Textinformationen in den Fokus der Aufmerksamkeit der Person geraten; entsprechende Informationen bieten Chancen, das Textlernen zu beschreiben und auf der Grundlage dieser Beschreibungen Regelmäßigkeiten zu entdecken. Hauptsächliches Anliegen dieser Studien war die Klärung der Bedingungen, Prozesse und Effekte (meta-)kognitiver Strategien für den Erwerb sowie Transfer konzeptuellen Wissens im Umgang mit Texten (Konrad 2006, 2007). Dazu wurden offene und strukturierte sowie individuelle und kooperative Formen des Lauten Denkens verglichen (s. Abschn. 2.1, 3.1). Teilnehmende waren Studierende aus mehreren Teilstichproben, deren Größe zwischen 40 und 104 Personen variierte; die untersuchten Personen waren zwischen 19 und 39 Jahre alt. Es wurden die folgenden Forschungsschritte realisiert: 1. Theoretische Vorentscheidung: In Anlehnung an aktuelle theoretische – vor allem metakognitionspsychologische – Vorstellungen wurde Lernen im Rahmen des Projekts als zyklisches und in Phasen verlaufendes Konstrukt konzipiert (Goos et al. 2002; Konrad 2005). Annahme war, dass Lernende in der Auseinandersetzung mit Texten ihr Vorgehen planen, die Aufgabe durchführen („handeln“), ihr Lernen überwachen und ihre Lösung bzw. ihren Wissensstand bewerten. 2. Definition einer Lernaufgabe, die von Studierenden individuell oder (alternativ) in Lerntandems laut denkend bearbeitet werden sollte: Aufgabe der Teilnehmenden war es, einen Text abschnittweise zu lesen, die Inhalte gründlich zu verstehen und sie schließlich in Form einer Konzeptmap zu visualisieren. Texte, Kärtchen, Stifte und Plakate wurden den beteiligten Studierenden vorab zur Verfügung gestellt. Der Zeitrahmen für die gesamte Aufgabe umfasste 120 Minuten. Tab. 1 informiert über die verbalen Aussagen eines Teilnehmers. Dieses Fragment thematisiert die Bemühungen des Studenten, wesentliche Textelemente zu verstehen. 3. Datenauswertung: Das methodische Kernstück der zur Auswertung herangezogenen, inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse war ein Kategoriensystem mit der dazugehörenden Kategorienexplikation. Die Auswertung der Laut-Denkenund Dialogprotokolle umfasste – in Anlehnung an die Empfehlungen anderer Autor/innen zur Analyse von Laut-Denken-Protokollen (z. B. Yang 2003) – die folgenden Schritte: 1. Festlegung der Einheiten (grundsätzlich wird zwischen Auswahl-, Analyse- und Auswertungseinheit unterschieden); 2. Ausgliederung der erhobenen Laut-Denken- und Dialogprotokolle, die untersucht werden sollten (Analyseeinheit, Auswahleinheit) und 3. Auswertung der Textbestandteile (z. B. in Form von Fallbeispielen oder Häufigkeitsdarstellungen). Wie in Tab. 1 zu sehen ist, bemühte sich die Person um die Klärung unbekannter Begriffe („metakognitive Prozesse“). Augenfällig sind mehrere Aktivitäten des
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Tab. 1 Beispiel einer Verstehens-Sequenz eines Lernenden. Komponenten des Kategoriensystems (Analyseeinheiten = Sinneinheiten): AUF = Oberflächenbearbeitung, BED = Sinnentnahme, PLA = Planen, ELA = Elaborieren, EVAL = Evaluieren, UEB = Überwachen Zeile 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Sinneinheit Also was mache ich jetzt zuerst? Ich lese, dann schreibe ich etwas auf. [liest aus dem Text] Mit den metakognitiven Prozessen habe ich meine Probleme. Was bedeutet „metakognitive Prozesse“? Also ich verstehe darunter Wissen über mich selbst. Also wie lerne ich. Wie ich ein Buch lese, irgendwie. Oder auch sich selber dabei beobachten. Das hängt irgendwie mit Reflexion zusammen. Ist das wirklich so? Ich weiß es nicht. Ich mach mal weiter. Das wäre im Prinzip jetzt der erste Abschnitt. [liest aus dem Text] Ich verstehe es noch nicht so richtig. Das schreibe ich mir auch dazu. [schreibt]
Kode [PLA] [PLA] [AUF] [EVAL] [BED] [BED] [BED] [BED] [BED] [ELA] [UEB] [EVAL] [PLA] [EVAL] [AUF] [EVAL] [AUF]
Sinnverstehens sowie metakognitive Überwachungs- und Bewertungssequenzen. Am Ende evaluierte und kontrollierte der Befragte sein Vorgehen. Illustriert wird damit eine theoretisch plausible Sequenz des Lehr-/Lerngeschehens: die gegenwärtige Aufgabe analysieren, einen Plan entwickeln, Lernaktivitäten durchführen und das Ergebnis bewerten.
4.2
Handlungsspezifische Erfassung von Lernstrategien
Ein zweites Beispiel lenkt das Augenmerk auf die Analyse von Lernstrategien. Mehrere Forschungsgruppen (Leopold 2009; Lind und Sandmann 2003; Wernke 2013) streben seit geraumer Zeit danach, herauszufinden, welchen Beitrag das Laute Denken zur wissenschaftlichen Erklärung strategischer Aktivitäten leisten kann. Von Bedeutung sind dabei zwei Forschungsinteressen: Erstens die Frage nach der Diskrepanz zwischen Selbsteinschätzungen (via schriftlicher oder mündlicher Befragung) und dem tatsächlichen strategischen Handeln in der Lernsituation. Zweitens geht es darum, den Zusammenhang zwischen Strategieeinsatz und Lernerfolg zu erkunden. Fragebogen und Interview kommen hier an ihre Grenzen. Ein gewichtiger Nachteil dieser Verfahren ist darin zu sehen, dass das tatsächliche Lerngeschehen unberücksichtigt bleibt. Wie das Lerntagebuch und die Beobachtung zählt das Laute Denken zu den handlungsnahen Erfassungsmethoden. Gegenstand der Betrachtung ist die Verbalisierung des strategischen Vorgehens, die zeitlich parallel zur Bearbeitung der Aufgabe erfolgt.
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Es werden also nur wirklich eingesetzte Lernstrategien erfasst. Kognitive und metakognitive Prozesse werden nicht mehr nur geschlussfolgert, sondern direkt den Äußerungen der Akteure entnommen (Wernke 2013, S. 51). Im Hinblick auf die methodische Umsetzung des Lauten Denkens in lernpsychologischen Studien existiert eine wichtige Differenzierung (Schlag 2011, S. 76): Zum einen kann die Verbalisierung durch Lautes Denken kontinuierlich, das heißt während des gesamten Lernprozesses, stattfinden; zum zweiten kann sie ereignisspezifisch, das heißt nur zu bestimmten Phasen des Lernprozesses, erfolgen. Die Idee des ereignisspezifischen Lauten Denkens ist es, Lernende weniger beim Lernen zu „stören“. Jedoch erweist sich die richtige Wahl der Zeitspanne für das Laute Denken als schwierig. Es besteht die Gefahr, dass durch die falsche Wahl des Zeitpunktes wichtige Informationen verloren gehen. Außerdem zeigt sich in der Praxis, dass sich Lernende durch ereignisspezifisches Lautes Denken eher stärker gestört fühlen, da sie im Lernprozess – anders als beim kontinuierlichen Lauten Denken – immer wieder unterbrochen werden. Ein Beispiel für das zuletzt genannte Vorgehen ist die Arbeit von Sabine Schlag (2011), die darauf abzielt, mit Hilfe dieser Verfahren Probleme beim Lernen mit Text und Bild durch Unterstützungs- sowie Fördermaßnahmen zu überwinden. Bei der Verbalisierung von Lernstrategien zum Lernen mit Text-Bild-Kombinationen handelt es sich um Lautes Denken auf der Ebene des think aloud (s. Abschn. 2.1), da neben verbalen auch nonverbale Inhalte versprachlicht werden müssen. Die Analyse der Laut-Denken-Protokolle bei 133 Schüler/innen (aus sechsten Klassen: 71 weiblich, 62 männlich) erfolgte auf zwei Ebenen: (1) Die Strategieschritte wurden nach der Qualität ihrer Umsetzung bewertet. (2) Es wurde versucht, die durch die einzelnen Lerntechniken (z. B. Überschriften beachten, bildliche Vorstellung entwickeln, Wichtiges unterstreichen) induzierten kognitiven Prozesse zu erfassen. Was die hinter den Strategien liegenden kognitiven Prozesse anbelangt, konzentrierte sich die Auswertung der Protokolle auf Prozesse der Selektion, Organisation, Integration und Transformation (Schlag 2011, S. 128). Wie schon bei anderen Forscher/innen (z. B. Lind und Sandmann 2003) resultierte ein deutlicher Zusammenhang zwischen den über das Laute Denken erhobenen Lernstrategien und dem Lernergebnis. Schüler/innen mit besseren Ergebnissen im Faktenwissen und im Gesamtnachtest führten auch mehr kognitive Prozesse der Integration aus (Schlag 2011, S. 131).
5
Ausblick: Stand und Perspektiven
5.1
Stand der Forschung und Praxis
Laut-Denken-Protokolle gelten heute als differenzierte Beschreibungen der individuellen Informationsverarbeitung, speziell wenn es sich um erwachsene Personen handelt, die zur Selbstreflexion in der Lage sind (Buber 2009; Goos und Galbraith 1996). Wie bereits betont (s. Abschn. 3.2), existieren nur wenige Methoden, die Aufschluss über die während einer Handlung ablaufenden, bewussten kognitiven
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Inhalte geben (z. B. Aufzeichnung von Blickbewegungen, Hand- und Körperbewegungen, Mimik, physiologische Korrelate; Funke und Spering 2006). Zu den wesentlichen Vorzügen des Lauten Denkens zählt ferner seine ausgeprägte Prozessbezogenheit. Entsprechend eröffnen verbale Protokolle die Möglichkeit, Informationen über Prozesse oder zeitliche Veränderungen zu gewinnen (Matsuta 1995, S. 69). Laut-Denken-Protokolle geben schließlich Auskunft hinsichtlich vielfältiger strategischer Aktivitäten, wie sie vor allem in der Expert/innen-Noviz/innen-, der Lernstrategie- sowie der Problemlöseforschung von Interesse sind. Mit welchen kritischen Überlegungen sehen sich Nutzende dieser Forschungsmethode konfrontiert? Als problematisch gelten nicht zuletzt vier Komponenten: 1. Verbalisierung und Artikulation: Hinsichtlich der Validität der Gedankenprotokollierung ist die Grundannahme umstritten, dass Individuen die bei einer Entscheidung ablaufenden kognitiven Prozesse – insbesondere solche höherer Ordnung (z. B. Strategien der Informationsverarbeitung) – mit ausreichender Sicherheit artikulieren können. Lautes Denken erfordert geeignete Konzepte und treffende Bezeichnungen, denn es gilt, dass „der Mensch an seinem inneren Tun wie an seinem äußeren genau so viel zu sehen vermag, als er an Begriffen und Schemata besitzt“ (Aebli 1980, S. 28). 2. Vollständigkeit: Wenn das Ziel der Untersuchung Kognitionen sind, an denen unbewusste Prozesse beteiligt sind (zum Beispiel routinisierte oder impulsive Entscheidungen), kann nicht von einer Vollständigkeit der Berichte ausgegangen werden (Stebler 1999). Damit in Einklang weist Waern (1988) darauf hin, dass automatisierte geistige Operationen für gewöhnlich nicht mit bewusster Aufmerksamkeit belegt werden. Beispiele aus dem Bereich des Textverstehens unterstreichen, dass hierarchieniedrige Prozesse – im Unterschied zu strategisch-zielbezogenen, hierarchiehohen Verarbeitungsprozessen des Lesens – eher automatisch ablaufen (Grütz 2004) und damit nicht verbalisiert werden (van Someren et al. 1994, S. 33–34). 3. Veränderung kognitiver Leistung: Die Frage steht im Fokus, ob Verbalisierung während des Problemlöseprozesses zu einer Veränderung kognitiver Leistungen führt. Hintergrund der Überlegungen zum Einfluss des Lauten Denkens auf den Lern- oder Denkprozess ist das von Ericsson und Simon (1980) postulierte Prozessmodell des Lauten Denkens (s. Abschn. 2.1), demzufolge Inhalte, die bereits im verbalen Code existieren, ohne zusätzlichen Aufwand in sprachliche Äußerungen umgesetzt werden können. Dagegen ist für Inhalte, die noch nicht im verbalen Code vorliegen, ein zusätzlicher Rekodierungsschritt erforderlich, der eine verlangsamte Aufgabenbearbeitung und somit eine Interferenz der Versprachlichung mit dem Problemlöseprozess zur Folge haben kann (Funke und Spering 2006). 4. Soziale Erwünschtheit: Als problematisch kann sich bei der „Thinking-AloudMethode“ schließlich erweisen, dass die Beteiligten fälschlicherweise glauben, bestimmte Erwartungen erfüllen zu müssen. Dies kann dazu führen, dass deren Äußerungen durch das „Problem der sozialen Erwünschtheit“ verfälscht werden. Zudem empfinden manche Mitwirkenden die Methode als ungewohnt sowie verwirrend und haben Schwierigkeiten bei der Artikulation ihrer Gedanken (Frommann 2005).
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Im Gesamtüberblick kommen Studien zum Einfluss des Verbalisierens auf die kognitive Leistung zu widersprüchlichen Ergebnissen. Es wurden erstens keine Reaktivität/keine Performanzunterschiede (z. B. Biggs et al. 1993; Veenman 1993), zweitens ein positiver Effekt – vor allem die Förderung eines analytischen Urteils oder ein deutlicheres Denken (z. B. De Groot 1978; Franzen und Merz 1988) – sowie drittens ein negativer Effekt, d. h. schlechtere Leistung, zum Beispiel beim Lösen von Einsichtsproblemen (Schooler et al. 1993), festgestellt.
5.2
Perspektiven
Das hauptsächliche Anliegen des Lauten Denkens, Daten über kognitive Prozesse zu gewinnen, birgt zahlreiche Chancen; zugleich handelt es sich um eine komplexe und höchst anspruchsvolle Methode. Deshalb erscheint es ratsam, die Situation so zu gestalten, dass dieses Ziel in optimaler Form stattfinden kann. Etwaige Störungen des Prozesses des Lauten Denkens sollten minimiert werden. Aufgaben sollten zudem verbalisierbar sein, d. h. sie sollten die verbalisierbaren Inhalte im Arbeitsgedächtnis betreffen, nicht zu schnell ablaufen, eine enge Koppelung von Informationsaufnahme und Verbalisierung anbieten, eine Synchronisation erlauben und keine Überlastung des Arbeitsspeichers verursachen (Silberer 2005, S. 264). Bei der Aufhebung vorhandener Einschränkungen können ein zielgruppenorientiertes Training oder die Instruktion der Untersuchungsteilnehmer/innen hilfreich sein. Zu empfehlen sind einfache Aufwärmaufgaben wie das Durchführen einer Multiplikation (Ericsson und Simon 1998, S. 181), die Erstellung einer angemessenen Erhebungssituation, Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Laut-Denken-Bedingung (White und DiBenedetto 2015, S. 51) sowie ein Reflexionsgespräch darüber, wie die Teilnehmenden die Situation erlebt haben (Schlag 2011, S. 78–80; van Someren et al. 1994, S. 42–44). Probleme der Wahrhaftigkeit, der Vollständigkeit sowie der Motivation lassen sich eingrenzen, wenn Teilnehmende zur Mitarbeit motiviert und vom Nutzen der jeweiligen Handlung überzeugt werden. Entlastend kann an dieser Stelle der Hinweis wirken, dass es primär um die Aufgabenbearbeitung und erst in zweiter Linie um das Laute Denken geht. Als Resümee bleibt festzuhalten, dass Laut-Denken-Protokolle ein sinnvolles Verfahren vor allem für explorative Untersuchungen darstellen, obgleich in solchen Fällen die Auswertung der Daten schwierig ist. Laut-Denken-Daten können zudem in Kombination mit anderen prozessorientierten Methoden eingesetzt werden. Wie die aktuelle Forschung belegt, wird die Generalisierbarkeit einer Studie bzw. von deren Ergebnissen erhöht, wenn bei der Untersuchung eines Phänomens unterschiedliche Methoden zum Einsatz kommen (also eine „Methodentriangulation“ im Sinne der Verwendung verschiedener empirischer Forschungsmethoden erfolgt; Lamnek und Krell 2016, S. 261–263). Dabei können verschiedene Perspektiven miteinander verglichen werden. Stärken und Schwächen der jeweiligen Analysewege können aufgezeigt und schließlich zu einem kaleidoskopartigen Bild zusammengesetzt werden.
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Gruppendiskussion und Fokusgruppe Aglaja Przyborski und Julia Riegler
Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Historische Relevanz und (sub-)disziplinäre Einordnung von gruppenförmigen Erhebungssettings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Theoretische und methodologische Prinzipien von Erhebungsformen in Gruppensetttings und ihre forschungspraktische Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis – Ein Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . 5 Aktueller Stellenwert und konkrete Einsatzfelder von Erhebungsformen in Gruppensetttings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
396 396 400 403 405 406 408
Zusammenfassung
Der Beitrag gibt zunächst einen Einblick in die historische Entwicklung von Erhebungsverfahren im Gruppensetting im deutsch- und englischsprachigen Raum. Dabei werden die Gemeinsamkeiten und Differenzen in der methodologischen Lagerung dieser unterschiedlichen Entwicklungslinien beleuchtet. Anhand zweier unterschiedlicher Konzeptionen von Gruppendiskussion – jener im Zusammenhang der dokumentarischen Methode der Textinterpretation und jener im Kontext einer psychoanalytischen Sozialpsychologie – werden im Folgenden theoretische und methodologische Grundlagen der beiden Verfahren A. Przyborski (*) Department für Psychotherapie, Bertha von Suttner Privatuniversität, St. Pölten, Österreich Institut für Psychologische Grundlagenforschung, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] J. Riegler Fakultät für Psychologie, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_34
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A. Przyborski und J. Riegler
sowie Prinzipien von deren Umsetzung besprochen und anhand eines Forschungsbeispiels verdeutlicht. Abschließend werden der aktuelle Stellenwert der Erhebung in Gruppensettings, ihre unterschiedliche Einsatzfeldern sowie Erkenntnispotenziale und -grenzen beleuchtet. Schlüsselwörter
Gruppendiskussion · Fokusgruppe · Dokumentarische Methode · Psychoanalytische Forschung · Kollektivität
1
Einleitung
Gruppenförmige Settings bei der Datenerhebung haben in den letzten zehn Jahren stark an Bedeutung gewonnen und nehmen heute einen festen Platz im qualitativen Methodenkanon ein. Das gilt für die kommerzielle, vor allem marktpsychologische Forschung ebenso wie für die akademische: z. B. für die Entwicklungspsychologie, die Kindheits- und Jugendforschung sowie zunehmend für die Kulturpsychologie. Die Beschäftigung mit Gruppendiskussionen und Fokusgruppen reicht etwa 70 Jahre zurück und verläuft sowohl in Nordamerika als auch in England und im deutschen Sprachraum recht unabhängig.
2
Historische Relevanz und (sub-)disziplinäre Einordnung von gruppenförmigen Erhebungssettings
Die ersten Anregungen zur Entwicklung von Erhebungsformaten in Gruppen aus Nordamerika stammen aus Untersuchungen zu Reaktionen auf Propagandafilme: Wie bei so vielen modernen Methoden empirischer Sozialforschung hat Lazarsfeld – v. a. ganz zu Beginn – auch hier Impulse gegeben (u. a. Lazarsfeld und Merton 1943). Erwähnt soll er auch deshalb sein, weil er das Verfahren durch sein fächerübergreifendes Wirken mit der Psychologie verband, hatte er doch vor seiner Emigration in den Jahren 1929–1933 als Assistent des Ehepaars Bühler am Psychologischen Institut der Universität Wien gearbeitet. Aus einer kritischen Auseinandersetzung seiner sehr direktiven Form der Moderation einer ersten Gruppendiskussion entwickelten Merton et al. (1956) schließlich eine frühe Form eines non-direktiven Interviewstils. Merton und Kendall (u. a. 1979 [1946]) verwendeten den Terminus focus group (oder auch focus group interview) in enger Verknüpfung mit dem Begriff des focused interview. Ihr Augenmerk richtete sich auf die Gruppe als solche. Mit ihrer Hilfe sollte möglichst reichhaltiges Material zu einem Stimulus gewonnen werden, den alle Interviewten erlebt hatten, etwa einem Film, einer Radiosendung, einem Buch oder auch einem psychologischen Experiment (Merton et al. 1956, S. 3). Ziel war es, Erinnerungsleistungen zu stimulieren; wesentlich waren die Nicht-Beeinflussung der Interviewten und die Spezifität der Interventionen in Richtung des Stimulus. Diese Überlegungen geben bis heute wichtige Anregungen für die qualitative For-
Gruppendiskussion und Fokusgruppe
397
schung (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 132–143), denn im Kern des Verfahrens steht ein qualitatives Forschungsinteresse: die Erfahrungen und Situationsdefinitionen der Untersuchten. Dennoch wurde es einer quantitativen Forschungslogik untergeordnet. Seine Stärke wurde im kreativen Teil, im Vorfeld der eigentlichen, quantitativen Untersuchungen gesehen, etwa für die Generierung neuer Forschungsfragen. Mit ihren prominenten Arbeiten knüpften Morgan (u. a. 1988) sowie Krueger und Casey (u. a. 2009) an die Arbeiten von Merton und Kendall an und machten focus groups für die Marktforschung populär. Methodisch wird das Verfahren hier aber nach wie vor als mangelhaft eingestuft (u. a. Macnaghten und Myers 2007; Puchta und Potter 2003; Sweeny und Perry 2004). Es existiert zwar eine Fülle an Literatur, die Faustregeln und Rezepte für die Erhebung anbietet. Die Frage der Auswertung geht jedoch häufig über vage Hinweise – meist in Richtung Inhaltsanalyse – nicht hinaus. Eine methodologische und metatheoretische Diskussion zu einer Theorie der Gruppe, des Diskurses oder ganz allgemein zur Gegenstandsbestimmung fehlt weitgehend – ganz zu schweigen von einer methodologisch stringenten, komplexeren Fundierung. Diese Kritik gilt nicht für die britische Tradition der Cultural Studies (u. a. Morley 1980, 1996; Willis 1977), die vor allem im interdisziplinären Bereich der Medienforschung angesiedelt ist. Group discussions wurden vor allem von Morley methodologisch begründet: Er arbeitete den interaktiven Charakter von Sinnzuschreibungen und Bedeutungskonstitutionen im Zuge der Medienrezeption heraus, die im Verfahren zum Tragen kommen. Wichtiger ist jedoch, dass die Gruppen als Repräsentanten von umfassenderen (makrosozialen) Entitäten („Klassen“) verstanden werden: Ihre spezifischen „interpretativen Codes“ (Sinnzuschreibungen) werden also nicht je situativ produziert, sondern im Diskurs reproduziert und somit repräsentiert. Wir haben es also mit einem Repräsentanzmodell zu tun (Loos und Schäffer 2001). Das Frankfurter Institut für Sozialforschung kann als Wiege des „Gruppendiskussionsverfahrens“ im deutschen Sprachraum gelten. In den 1950er-Jahren fragte man sich dort, „was auf dem Gebiet der politischen Ideologie in der Luft liegt“ (Pollock 1955, S. 34), eine Formulierung, in deren Metaphorik das Interesse an einen kollektiven Gegenstand zum Ausdruck kommt. Entsprechend grenzte man sich auch vom „Summenphänomen“ (Pollock 1955, S. 20) der Meinungsforschung ab, also vom Mittelwertsvergleich abfragbarer Meinungen Einzelner. Die Auswertung hielt mit dem intendierten kollektiven Fokus jedoch nicht Schritt: Wie das Frankfurter Instituts für Sozialforschung insgesamt, war sie psychoanalytisch ausgerichtet und setzte bei der individuellen psychischen Dynamik an. Die Redebeiträge wurden voneinander getrennt und in Bezug zu einzelnen Sprecher/innen und deren Abwehrmechanismen und Rationalisierungen analysiert. Einen nächsten Schritt innerhalb des Frankfurter Instituts für Sozialforschung vollzog Mangold (1960) in „Gegenstand und Methode des Gruppendiskussionsverfahrens“. Er kam zu dem Schluss, dass dem Verfahren für die „Untersuchung individueller Bewusstseins- und Verhaltensphänomene [...] erhebliche Grenzen gesetzt sind“ (Mangold 1960, S. 28). Zugleich entdeckte er in homogenen, z. B. ausschließlich aus Bergarbeitern zusammengesetzten Gruppen systematische „Integra-
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A. Przyborski und J. Riegler
tionsphänomene“ (Mangold 1960, S. 39) im Diskurs: Äußerungen und Satz(-teile) wurden von mehreren Teilnehmenden syntaktisch richtig und inhaltlich stimmig gemeinsam produziert, ohne dass diese sich je zuvor gesehen hätten. Diese Beobachtungen führten ihn zu seinem Konzept der „Gruppenmeinung“. In diesem Konzept ist der Gegenstand konsequent kollektiv konzipiert, denn „Gruppenmeinung“ ist nach Mangold nicht eine „Summe von Einzelmeinungen, sondern das Produkt kollektiver Interaktionen“ (Mangold 1960, S. 49). Weder die konkrete Gruppe noch ihre Interaktion oder die Reaktion auf einen Stimulus stellen den Forschungsgegenstand dar, vielmehr repräsentiert die Gruppe ihn: Denn die Gruppenmeinung darf „nicht als Produkt der Versuchsanordnung, nicht als Endresultat eines aktuellen Prozesses gegenseitiger [. . .] Beeinflussung in der Diskussionssituation selbst verstanden werden“, sondern hat sich „in der Realität unter den Mitgliedern des betreffenden Kollektivs bereits ausgebildet“ (Mangold 1967, S. 216). Die Frage, ob die Kollektivität nun normativen äußeren Zwängen geschuldet ist, die in Gruppen wirksam werden, wie Horkheimer und Adorno im Vorwort zu Mangolds Dissertation anmerkten, oder ob sie im Individuum verankert ist, bildet ein wiederkehrendes Spannungsverhältnis in Mangolds Arbeit. Festzuhalten bleibt: Die Zusammensetzung der Gruppe und ihre Interaktion werden zu konstitutiven Momenten der Methodologie. Kritisch setzten sich Leithäuser und Volmerg (1979) aus einer sozialpsychologisch motivierten psychoanalytischen Perspektive mit dem am Frankfurter Institut für Sozialforschung entstandenen Konzept der Gruppendiskussionsmethode auseinander. Aus ihrer Perspektive war diese zu stark an das sozialpsychologische Gruppenexperiment gebunden und berücksichtigte die Muster des alltäglichen Sprechens zu wenig (Leithäuser 2009). Zudem kritisierten sie die Annahme, dass im Rahmen von Gruppendiskussionen aktiviert wird, was die Gruppe in der Realität ohnehin schon als informelle Meinung, wenn auch nicht artikuliert, besitzt (Leithäuser et al. 1977, S. 20). Vielmehr seien Meinungen „kontextabhängig“ und somit „abhängig von der jeweiligen Stellung des Individuums in seiner konkreten sozialen Umgebung“ (Leithäuser et al. 1977, S. 190); sie emergierten aus der Erhebung.1 Ausgehend von dieser Problematisierung modifizierten Leithäuser und Volmerg das Verfahren im Rahmen einer „Theorie des Alltagsbewusstseins“ (Leithäuser et al. 1977), einer psychoanalytischen Sozialpsychologie (Leithäuser und Volmerg 1988) und des interpretativen Paradigmas, das vor allem die situative Aushandlung von Bedeutung fokussiert. Ihr Ansatz zielt darauf ab, „mehr zu verstehen als die im Text repräsentierten manifesten und latenten Sinngehalte“. Dieses „mehr“ hebt auf die „aus der Sprache ausgeschlossenen unbewußten Gehalte[...] des Textes“ ab. Gegenstand sind also die psychosozialen Strukturen und Mechanismen, „die das sprachliche Geschehen gleichsam als ihre Unterwelt bewegen“ (Leithäuser und Volmerg 1988, S. 253). Die Ergebnisse entfalteten ihre Relevanz in der konkreten erwachse-
1
Die methodologische Debatte zwischen Emergenz und Repräsentanz wird in der Marktforschung bisher nicht geführt. Man gibt sich mit dem Hinweis auf eine methodologische Unzulänglichkeit zufrieden.
Gruppendiskussion und Fokusgruppe
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nenpädagogischen Arbeit mit den jeweiligen Gruppen (z. B. Volmerg et al. 1983, 1986). Insofern die klassischen Gütekriterien als Postulate eines „normativen Paradigmas“ (Leithäuser et al. 1977, S. 127) verstanden werden, können die Ergebnisse von Gruppendiskussionen in dieser Perspektive weder als reliabel noch als valide gelten (Leithäuser et al. 1977; Nießen 1977)2 – eine Kritik, die dem Instrument Gruppendiskussion unabhängig von seiner methodologischen Ausrichtung oft unreflektiert bis heute anhaftet. In den 1980er-Jahren entwickelte Bohnsack das Gruppendiskussionsverfahren, anfangs in direkter Zusammenarbeit mit Mangold, weiter. Es ging vor allem darum, die interaktiven, diskursiven Phänomene, die auf Kollektivität hinweisen, theoretisch zu fassen – jenseits eines Modells, das kollektive Leistungen ausschließlich als von außen induziert begreifen kann. Dies gelang auf der Basis der Theorie der dokumentarischen Methode (u. a. Bohnsack 2014; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 277–314) im Sinne von Mannheim (u. a. 1964 [1921–1928], 1980 [1922–1925]; s. auch Bohnsack 1989, 2014) und mithilfe der – damals – neuen Methoden der Textinterpretation (Przyborski 2004; Schütze 1978). Mannheims (1980 [1922–1925]) Konzept des „konjunktiven Erfahrungsraums“ löst Kollektivität sowohl vom Individuum als auch von der konkreten Gruppe und verbindet diejenigen, die Erfahrungen in strukturidentischer Weise machen. Sie teilen dann auf dieser Basis bestimmte Wissens- und Bedeutungsstrukturen. Diese Kollektivität ist nun keine mehr, die Einzelne zwingt oder einschränkt (durch Moral, Normen oder Regeln), sondern eine, die Interaktion und alltägliche Praxis überhaupt ermöglicht. Auf der Ebene des Gesprächs zeigt sich diese gemeinsame Teilhabe an handlungspraktischem Wissen im „Einander-Verstehen im Medium des Selbstverständlichen“ (Gurwitsch 1976, S. 178), d. h. in der unmittelbaren interaktiven Bezugnahme aufeinander und der wechselseitigen Steigerung im Diskurs. Dieses Phänomen ist sowohl für Gesprächspartner/innen, die einander kennen, als auch für andere soziale Einheiten, die zuvor keinen Kontakt hatten zu beobachten. Jede/r Einzelne hat teil an mehreren Erfahrungsräumen, beispielsweise auf der Grundlage von Geschlecht, Bildungsmilieu und Generation (Przyborski 2004, S. 31). Die konkrete Gruppe ist – im Unterschied zur Perspektive von Leithäuser und Volmerg – gerade nicht der soziale Ort der Emergenz von kollektiver Erlebnisschichtung, sondern derjenige der Artikulation und Repräsentation gemeinsamer Erfahrung (Bohnsack 2000, S. 378). Der Gegenstand von Gruppendiskussionen sind in dieser Perspektive mithin kollektive Wissensbestände und kollektive Strukturen, die sich auf der Basis von existenziellen Gemeinsamkeiten (in konjunktiven Erfahrungsräumen) bereits gebildet haben. Sie werden in Gruppendiskussionen artikuliert. Bohnsack (1989, S. 200) bezeichnet dieses Wissen als „kollektive Orientierungen“. Die Methode erfährt dadurch eine grundlegend praxeologische Wendung und zielt auf ein „in der geleb-
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Das Verfahren wurde in dieser Tradition methodisch nicht weiterentwickelt (einen ausführlicheren Rückblick geben Loos und Schäffer 2001).
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ten Praxis angeeignete[s] und diese Praxis zugleich orientierendes Wissen“ (Bohnsack 2001, S. 331). Dieses Wissen liegt in erster Linie als atheoretisches, nicht als begrifflich-theoretisch gefasstes vor. Die Aufgabe einer dokumentarischen Interpretation (s. Bohnsack 2014; Przyborski und Wohrab-Sahr 2014, S. 277), die ursprünglich ganz wesentlich im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung des Gruppendiskussionsverfahrens für die qualitative Sozialforschung fruchtbar gemacht worden ist, ist es nun u. a., dieses Wissen auf den Begriff zu bringen. Dabei nutzt sie Befunde aus der Gesprächsforschung und der Diskursanalyse und entwickelt sie laufend weiter (u. a. Bohnsack und Przyborski 2010; Przyborski 2004). Realgruppen lassen sich in dieser Perspektive als „Epi-Phänomene“ (Bohnsack 2000, S. 378) unterschiedlicher Erfahrungsräume und ihrer eingelagerten Wissensbestände begreifen: In ihrer spezifischen Konkretion sind sie bei der Anwendung des Gruppendiskussionsverfahrens nur ein Mittel, um Zugang zu bestimmten impliziten Wissensbeständen zu bekommen, nicht jedoch Gegenstand des Erkenntnisinteresses. Diese Wissensbestände sind durch gemeinsame Erfahrungen strukturiert und damit davon abhängig, welche Erfahrungen den Gruppendiskussionsteilnehmenden tatsächlich gemeinsam sind.3
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Theoretische und methodologische Prinzipien von Erhebungsformen in Gruppensetttings und ihre forschungspraktische Umsetzung
3.1
Der Diskurs als Ausdruck kollektiver Wissensbestände
Die weit gespannten Entwicklungslinien der Gruppendiskussion zeigen, dass sie in ganz unterschiedliche Theorietraditionen und Forschungspraxen eingebettet ist. Das Gruppendiskussionsverfahren in der dokumentarischen Methode verbindet seine Forschungspraxis systematisch mit seiner theoretisch-methodologischen Verankerung in einem Repräsentanzmodell: Der Diskurs repräsentiert unterschiedliche Formen von Kollektivität. Dort, wo den Diskussionsteilnehmenden Erfahrungen gemeinsam sind, lassen sich ihre kollektiven handlungsleitenden Orientierungen, d. h. kollektive Wissensbestände, als Ergebnis des Verfahrens herausarbeiten. Gegenwärtig bringt dieser Ansatz eine Fülle an sozialwissenschaftlichen, gegenstandsbezogenen und an (empirisch) methodologischen Arbeiten hervor. Das Gruppendiskussionsverfahren in der dokumentarischen Methode hat also kollektive Wissensbestände und Strukturen zum Gegenstand, die in der gelebten Praxis angeeignet werden und diese zugleich auch orientieren. Damit ist es im konkreten Fall davon abhängig, welche Erfahrungen den Gruppendiskussionsteil3
Aus dieser Perspektive erklärt sich der Umstand, dass ein und dasselbe Individuum in verschiedenen Diskussionen verschiedene „Meinungen“ äußern kann, folgendermaßen: Was auf der Ebene eines manifesten Sinns (also auf der Ebene von Meinungs- und Einstellungsäußerungen) als Widerspruch erscheinen kann, kann auf der Ebene des impliziten Wissens auf ein und dieselbe Handlungsorientierung oder auch auf ein und dasselbe handlungspraktische Dilemma verweisen.
Gruppendiskussion und Fokusgruppe
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nehmenden tatsächlich gemeinsam sind. Insofern ist das Verfahren der Prämisse verpflichtet, dass es bei qualitativer Forschung um die Rekonstruktion der Relevanzsysteme der Erforschten (und nicht jener der Forschenden) geht. Aus diesen Überlegungen ergeben sich Konsequenzen für die Schritte der Erhebung und Auswertung von Gruppendiskussionen: Gruppendiskussionen werden an jenen Stellen interaktiv dicht, wo sich die Teilnehmenden auf der Basis strukturidentischer Erfahrungen bewegen, z. B. dem Erleben des Geschlechterverhältnisses in einer bestimmten Entwicklungsphase, in einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Milieu (u. a. Przyborski 2004, S. 97–126).4 Dieses Einpendeln auf Zentren des gemeinsamen Erlebens kann nur dann gelingen, wenn die Gruppe nicht allzu sehr durch die Diskussionsleitung irritiert wird. Das heißt., kollektive Orientierungen bzw. kollektives Wissen können lediglich auf der Basis von wechselseitigen Bezugnahmen der Teilnehmenden ausgewertet werden. Die Diskussion muss sich daher selbstläufig gestalten; die Teilnehmenden müssen zumindest phasenweise ohne Eingriffe der Forschenden miteinander sprechen können. Hierin liegt eine der methodologischen Begründungen für die bei Gruppendiskussionen anzustrebende Selbstläufigkeit (vgl. Bohnsack und Przyborski 2007; Przyborski 2004, S. 31–38 und 55–61). Ein weiterer Grund für die Selbstläufigkeit liegt darin, dass die Teilnehmenden quasi erst herausfinden müssen, ob und wo gemeinsame Erfahrungen gegeben sind. Das geschieht in der Regel in Form eines vorsichtigen Abtastens, bis sich das Gespräch dann phasenweise lebendig bis hitzig gestaltet. Die Diskussion pendelt sich auf Erlebniszentren ein, in denen „der Fokus kollektiver Orientierungen gefunden wird“ (Bohnsack 2000, S. 379). In diesen metaphorisch oft sehr aufgeladenen und in der Form der Interaktivität auffälligen Passagen, den „Fokussierungsmetaphern“ (Bohnsack 2014, S. 280), kommen kollektive Orientierungen besonders gut zum Ausdruck. Sie bilden mithin Schlüsselstellen der Auswertung. Häufig wird angenommen, dass gerade in heterogenen Gruppen viel debattiert wird und sie daher ergiebig sind. Dies ist jedoch nicht zwingend der Fall; empirische Ergebnisse sprechen sogar für die entgegengesetzte Richtung: Hier hat man sich meist recht wenig zu sagen. Es fehlen Themen und Anknüpfungspunkte. Das wenige Material besteht in der Regel aus einem Austausch von Stereotypen (Loos und Schäffer 2001, S. 44). Bei bestehenden Gruppen kann davon ausgegangen werden, dass sie durch existenzielle Gemeinsamkeiten verbunden sind bzw. sich aus diesem Grund konstituiert haben. Hier stellt sich meist fast von selbst ein lebendiges Gespräch ein. Realgruppen bieten sich von daher für Phänomene an, die auch aus alltäglicher Perspektive Element von Gruppenbildung sind, wie es z. B. bei Hooligans (Bohnsack et al. 1995), Clubmitgliedern, Musikgruppen (Schäffer 1996), Fans (Fritzsche 2001), Männern (u. a. Meuser 1998), Jugendlichen (Bohnsack 1989) oder verschiedenen Computer-Usergruppen (Schäffer 2003) der Fall ist, wenn sich das Interesse auf weiter gefasste Zusammen-
4 Eine Ausnahme bilden machtstrukturierte Diskurse (Bohnsack und Przyborski 2010; Przyborski 2004, S. 252–285).
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A. Przyborski und J. Riegler
hänge richtet. Auf der Grundlage der Gruppendiskussionen lässt sich nun herausarbeiten, welche Orientierungen und Wissensbestände diese sozialen Zusammenhänge kennzeichnen. Über Realgruppen lassen sich zudem Kristallisationskerne und Grenzen neuer bzw. im Entstehen befindlicher Milieus identifizieren (Przyborski und Slunecko 2009a) – eine Leistung, die in einer ([sozial-]räumlich, bildungsmilieutypisch etc.) mobilen Gesellschaft nicht zu unterschätzen ist. Homologe Erfahrungen müssen nicht gemeinsam gemacht werden. Ausschlaggebend ist die Strukturidentität der Erfahrungen. Wenn schon zu Beginn der Untersuchung bekannt ist, welche Erfahrungen für das Erkenntnisinteresse wesentlich sind, kann man eine Gruppe aus Personen zusammenzusetzen, denen diese Erfahrungen gemeinsam sind. Sie müssen sich zuvor nicht kennen. Derartige Gemeinsamkeiten können durch die Sozialisationsgeschichte, die Berufsausübung, durch Erfahrungen mit bestimmten Leidenszuständen (Riegler und Przyborski 2009) und dergleichen mehr bestimmt sein. Wenn entsprechende Gemeinsamkeiten gegeben sind, dann beziehen sich auch die zentralen Passagen des Diskurses auf diesen Bereich. Folgende „reflexive Prinzipien der Initiierung und Leitung von Gruppendiskussionen“ (Bohnsack 2014, S. 225–228; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 96–102), die auf Erkenntnissen aus der Konversationsanalyse (u. a. Sacks 1995 [1964–1972]) basieren, sind entscheidend für das Gelingen der Erhebung in diesem Sinne: • Interventionen sollten sich immer an die ganze Gruppe richten, denn die Verteilung des Rederechts an einzelne Gruppenteilnehmer/innen strukturiert den Diskurs nachhaltig. • Der Verzicht der Moderation auf die Teilnehmendenrolle steht ebenfalls im Dienst der Selbstläufigkeit. Das Rederecht sollte erst dann ergriffen werden, wenn das Gespräch zwischen den Teilnehmenden zum Erliegen kommt, denn die Diskutierenden sollen sich aufeinander – und nicht auf den/die Moderator/in – beziehen. Essenziell ist zudem, dass die Gruppe Themen selbstständig abschließt, da dies ein wesentliches Element der Auswertung von Gruppendiskussionen ist (Przyborski 2004). • Von dem/der Moderator/in eingebrachte Themen sollten möglichst keinen inhaltlichen Orientierungsrahmen in Bezug auf das Thema beinhalten, sondern im Idealfall nur dem Interesse an der Entfaltung des jeweiligen Themenfeldes dienen. • Unterstützt wird eine detaillierte Entfaltung der Relevanzsetzungen und Erfahrungen durch eine demonstrativ vage Initiierung von Themen. Fragen werden vorsichtig formuliert und mit leicht variiertem Schwerpunkt reformuliert. Darin drückt sich auch die Haltung methodisch kontrollierter Fremdheit aus. Detailreiche Darstellungen5 ermöglichen den Zugang zur (Rekonstruktion der) Handlungspraxis. Bei der Auswertung werden entsprechend der dokumentarischen Methode zwei Sinnebenen getrennt: der immanente, kommunikativ generalisierte Sinngehalt, das
5 Sacks (1995 [1964–1972], S. 561–566); s. auch Bohnsack (2017, S. 98–101) und Przyborski (2004, S. 81–92).
Gruppendiskussion und Fokusgruppe
403
„was“ gesagt wird, von der Ebene des konjunktiven Wissens, d. h. jener Sinnebene, auf der diejenigen, die gemeinsame Erfahrungen haben, einander unmittelbar verstehen. Dies sind jene kollektiven Orientierungen, die der gemeinsamen Praxis ihre Struktur geben bzw. von dieser strukturiert wurden (s. Bohnsack 2017; Przyborski 2004; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 277–313).
3.2
Der Diskurs als Konkretion des Unbewussten
Anders gestaltet sich der Einsatz von Gruppendiskussionen in der Konzeption von Leithäuser und Volmerg. Entsprechend der spezifischen Gegenstandsbestimmung soll hier das Alltagsbewusstsein mit seinen unbewussten Dimensionen in seiner situationsspezifischen Konkretionen rekonstruiert werden (Leithäuser et al. 1977, S. 123). Zentral bei der Erhebung ist eine spezifische Haltung seitens der Diskussionsleitung. Sie orientiert sich an der von Ruth Cohn (1976) entlehnten „themenzentrierten Interaktion“, die ursprünglich als psychotherapeutische Methode entwickelt wurde. Die Diskussionsleitung ist hier nicht in erster Linie an der Herstellung und Aufrechterhaltung eines selbstläufigen Diskurses der Teilnehmenden orientiert, sondern nimmt z. T. deutlich steuernd an der Diskussion teil. Die Offenheit der Diskussionsleitung soll unausgesprochene hemmende Einflüsse, Vorbehalte und unbewusste Widerstände ausräumen und ein möglichst freies und lebendiges Gespräch in Bezug auf das vorgegebene Thema eröffnen. Eine zweite Person unterstützt die Diskussionsleitung, indem sie die Diskussion beobachtet, während sie in einer zurückhaltenden Form an ihr teilnimmt (Leithäuser 2009). Die Auswertung, die „psychoanalytischen Textinterpretation“ (siehe v. a. Leithäuser und Volmerg 1988), vollzieht sich in einer Interpretationsgruppe und zielt auf das Erschließen verschiedener Sinngehalte oder -schichten des Textes. Mittels sogenannter Sinnerschließungsfragen wird der Weg vom „logischen Verstehen“, das auf den Inhalt des Textes abzielt, über das „psychologische Verstehen“, welches auf den metakommunikativen bzw. Beziehungsgehalt zielt, zum „szenischen Verstehen“ beschritten, das seine Aufmerksamkeit auf das „Wie“ richtet (Leithäuser 2009). Hierbei soll durch das Auffinden struktureller Ähnlichkeiten hinsichtlich der Art und Weise der Themenbehandlung ein tieferes Verständnis ihrer Funktion und Bedeutung erlangt werden. Das „tiefenhermeneutische Verstehen“ fragt schließlich danach, warum in einer bestimmten Weise gesprochen wird, um die latenten, unbewussten Intentionen der Erforschten zu entschlüsseln.
4
Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis – Ein Beispiel
In den Entwicklungslinien der Gruppendiskussion nimmt die Rezeptionsstudie von Liebes und Katz (1993) eine besondere Stellung ein. Sie lässt sich nicht vollständig in eine angloamerikanische Tradition einordnen und schlägt zugleich eine Brücke
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A. Przyborski und J. Riegler
zur Diskussion im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus zu Themen, die wohl auch für die Psychologie weiter ins Zentrum rücken werden: Kultur und Medien. Die Studie wurde unter dem Titel The Export of Meaning – Cross-Cultural Readings of Dallas veröffentlicht und widmete sich der Fernsehserie „Dallas“ zur Geschichte der fiktiven millionenschweren Familie Ewing aus der gleichnamigen texanischen Stadt. Wahrscheinlich weil die Publikation nicht übersetzt wurde, ist sie im deutschsprachigen Raum verhältnismäßig wenig bekannt. Veröffentlichungen aus dem angloamerikanischen Raum lassen diese umfangreiche Studie dagegen so gut wie nie unerwähnt und werten sie als eine der einflussreichsten (u. a. Macnaghten und Myers 2007, S. 65). Sie basiert auf Gruppendiskussionen und der Analyse des filmischen Materials. Die Triangulation von Gruppendiskussionen und visuellem Material kann – über zwanzig Jahre nach Erscheinen dieser Studie – zu den jüngsten Trends der Forschung mit Gruppendiskussionen gezählt werden (Bohnsack et al. 2015). Es wurden 66 Diskussionen in Japan, Amerika und vier unterschiedlichen israelischen Bevölkerungsgruppen erhoben. Liebes und Katz (1993, S. 4) setzten mit einer Kritik an der herkömmlichen medienpsychologischen Forschung an: „We argue that ideology is not produced through a process of stimulus and response but rather through a process of negotiation between various types of senders and receivers. To understand the messages perceived by viewers of a television program, one cannot be satisfied with abstract generalizations derived from content analysis, however sophisticated. ... In the case of Dallas, the challenge is to observe how the melodrama of a family in Texas is viewed, interpreted, and discussed by real families throughout the world, in the light of the drama of their own lives ...“. (Liebes und Katz 1993, S. 4)
Es geht also um eine gemeinsame Rezeptionspraxis („viewed, interpreted, and discussed“) innerhalb sozialer Einheiten (Familien) auf der Basis existenzieller Gemeinsamkeiten („real families“, „the drama of their own lives“), und nicht wie im alten Ansatz der Medienpsychologie darum, wie ein bestimmter „Reiz“ eine „Einzelpsyche“ beeinflusst. In der methodischen Konzeption der Auswertung findet dies zwar kaum Widerhall; sie beschränkt sich vielmehr auf ein (wenn auch sehr detailreiches) inhaltsanalytisches Vorgehen, das dann wiederum mit den spannenden Ergebnissen nicht recht in Einklang gebracht werden kann: Die einzelnen untersuchten Kulturen unterscheiden sich nämlich ganz deutlich in ihren Rezeptionsformen. Während die einen z. B. ein Familiendrama sehen, sehen die anderen eine Propagandasendung amerikanischer Ideologie. Dies drückt sich auch in der formalen Diskursproduktion aus. Während sich die einen eher im Format der Erzählung befinden, basiert die Darstellung der anderen auf dem Format der Argumentation. Gegen Ende der ausführlichen Darstellung finden sich vermehrt Hinweise auf die Wichtigkeit der Formalstruktur des Diskurses auch für die weitere methodische Ausarbeitung des Verfahrens. Diese Ergebnisse setzen die aus der experimentalpsychologischen Methodologie entlehnte Grundvorstellung, derzufolge „Kultur“ nur der Platz der unabhängigen Variable zukommen kann, deren Variation (Kultur A versus Kultur B) in Bezug auf alle möglichen Parameter und Eigenschaften untersucht wird, einer schweren Prü-
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fung aus, denn wir finden auf dem Platz der unabhängigen Variable entweder Kultur A oder Kultur B. Kulturelle Interaktion, auch medienvermittelte, kann diese methodologische Idylle nur stören. Auch eine Kulturtheorie braucht es dazu nicht; vielmehr ist die in der psychologischen Kulturforschung endemische Gleichsetzung von „Kultur“ und „Nation“ nur unter großzügiger Ausblendung kulturtheoretischer Überlegungen möglich. Gerade das Gruppendiskussionsverfahren vermag durch seine Fokussierung der kollektiven Grundlage individuellen Verstehens und Handelns und durch seine traditionelle Verankerung in der Kultur- und Medienforschung für die Psychologie neue (grundlagentheoretische) Türen zu öffnen (Slunecko und Przyborski 2009).
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Aktueller Stellenwert und konkrete Einsatzfelder von Erhebungsformen in Gruppensetttings
Nach wie vor werden Gruppendiskussionen in ihrem klassischen Anwendungsfeld, der psychologischen Marktforschung, breit eingesetzt; meist allerdings (wie bereits im ersten Abschnitt dargelegt) in einer methodisch-methodologisch nicht stringent durchdachten Weise (zu dieser Kritik: Sweeny und Perry 2004). Es finden sich allerdings in diesem Feld zunehmend anspruchsvolle Studien und methodische Auseinandersetzungen, die auch – was für dieses Feld wichtig ist – Ökonomisierungsstrategien verdeutlichen (Bohnsack und Nentwig-Gesemann 2010; Bohnsack und Przyborski 2007). Im deutschsprachigen Raum findet seit den späten 1980er-Jahren das Gruppendiskussionsverfahren, wie es in der dokumentarischen Methode ausgearbeitet wurde, ausgehend von mehrjährigen sozialwissenschaftlichen, meist interdisziplinären Forschungsprojekten zunehmend stärkere Verbreitung. Hauptthemenfelder finden sich in der in der erziehungswissenschaftlichen und Bildungsforschung (u. a Krüger und Pfaff 2010; Wagner-Willi 2014), der Jugendforschung (u. a. Asbrand 2005; Bohnsack et al. 1995; Przyborski und Slunecko 2009a; Weller 2010) und der Generations-, Milieu- und Kulturforschung (u. a. Bohnsack 1989; Bohnsack et al. 1995; Nohl 2010; Pfaff 2010; Schäffer 1996; Weller 2003), deren grundlagentheoretische Ergebnisse und Überlegungen auch die Kulturpsychologie (u. a. Przyborski und Slunecko 2009b; Slunecko und Przyborski 2009) und die Geschlechterforschung (u. a. Behnke et al. 1998; Meuser 1998; Riegler und Przyborski 2009; Wopfner 2012) beeinflussen. Gerade durch den Praxisbezug bereichert das Gruppendiskussionsverfahren zudem die Medienforschung, insbesondere Forschung zu Medienpraxiskulturen (Schäffer 2003; Fritzsche 2001) und die (medienpsychologische) Rezeptionsforschung (u. a. Michel 2006, 2012). Ein weiterer Bereich, in dem das Gruppendiskussionsverfahren erfolgreich eingesetzt wird und der auch für die Psychologie immer wichtiger wird, ist die Evaluationsforschung (Bohnsack und Nentwig-Geseman 2010) und im Zuge dessen auch die Organisationsberatung und -forschung sowie die Organisationskulturforschung (u. a. Liebig 2001; Menschig 2010).
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Im Kontext von Studien zur Mentalitäts- und Milieuanalyse hat Bremer (2004) eine Weiterentwicklung der Gruppendiskussion eingesetzt – das Verfahren der sogenannten mehrstufigen Gruppenwerkstatt. Es ist speziell für die Analyse von Habitusmustern und deren Aktualisierung in spezifischen gesellschaftlichen Feldern entwickelt worden. Im Bereich der Entwicklungspsychologie sind v. a. die Arbeiten von Billmann-Mahecha beispielsweise zur Entwicklung moralischen Wollens bei Kindern zu erwähnen (Billmann-Mahecha und Horster 2003). Mit dem Einsatz der Gruppendiskussion bei Kindern im Rahmen der dokumentarischen Methode hat sich v. a. Nentwig-Gesemann (z. B. 2002, 2010) beschäftigt. Ebenfalls unter Verwendung von Gruppendiskussionen und vor dem Hintergrund des theoretischen Konzepts des positioning untersuchte Bamberg die Identitätsentwicklung in der Adoleszenz sowie Praxen der Identitätsbildung bei Adoleszenten in Familie, Schule und peer group (z. B. Korobov und Bamberg 2004). Einen entwicklungspsychologischen Beitrag zur Erforschung jugendlichen Geschichtsbewusstseins unter Einsatz von u. a. Gruppendiskussionen mit Schüler/innen hat Kölbl (2004) vorgelegt (s. auch für eine Systematisierung entwicklungspsychologischer Studien Kölbl und Billmann-Mahecha 2005). Seit den 1980er-Jahren werden Fokusgruppen darüber hinaus v. a. im angloamerkanischen Raum in der Gesundheitsforschung und hier insbesondere in der präventiven Gesundheitserziehung und der Gesundheitsförderung eingesetzt, außerdem in den vergangenen Jahren in der Gesundheitspsychologie (z. B. Dietel 2012; Wilkinson 1998) und der Psychotherapieforschung (Piercy und Hertlein 2005; Thurn und Wils 1998).
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Wo liegen nun die Möglichkeiten und Grenzen des Verfahrens im Hinblick auf zu bearbeitende Erkenntnisinteressen? Thematisch gibt es keine Einschränkungen. Auch wenn unsere Argumentation deutlich gemacht hat, dass die konkrete Gruppe nicht der Forschungsgegenstand ist, wird das Gruppendiskussionsverfahren auch als eine Methode eingesetzt, die für konkrete handlungspraktische Felder Relevanz hat, etwa im Bereich der psychologischen Marktforschung, der Evaluationsforschung oder der Organisationskulturforschung. Die Grenzen des Verfahrens lassen sich wie folgt umreißen: Auch wenn in Gruppendiskussionen individuelle Meinungen formuliert werden und durchaus Bruchstücke biografischer Erzählungen vorkommen können, eignet sich das Verfahren nicht zur Bearbeitung von Fragen, bei denen Individuen die zu untersuchende Einheit darstellen. Überall dort, wo individuelles Handeln, individuelle Biografien, Entscheidungsprozesse oder Haltungen Untersuchungsgegenstand sind, ist das Gruppendiskussionsverfahren für die Erhebung ungeeignet. Die Erhebung in der Gruppe lässt die Untersuchten sich als Teil kollektiver Zusammenhänge artikulieren. Individuelles kann nicht in seiner Eigengesetzlichkeit untersucht werden, sondern nur in Relation zum kollektiven Geschehen.
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Ebenso verhält es sich mit der Handlungspraxis. Das Reden über die Handlungspraxis fokussiert einen anderen Aspekt des Handelns als die (Beobachtung der) Handlungspraxis selbst. Zwar ist auch das Reden in seinem Vollzug eine Handlungspraxis, und es ist gerade dieser performative Aspekt, dem beim Gruppendiskussionsverfahren Rechnung getragen wird. Dennoch ist das Reden selbst in der Regel ja nicht der – oder zumindest nicht der einzige – Untersuchungsgegenstand. In der Jugendforschung z. B. lässt sich das „Miteinander-Reden“ in Mädchengruppen immer wieder als zentrale gemeinsame Handlungspraxis rekonstruieren; in Jungengruppen ist dies im Vergleich dazu wesentlich seltener der Fall (u. a. Bohnsack et al. 1995). Obgleich wir im Gespräch eine Menge über die fokussierten Handlungspraxen wie das Musikmachen, das Fußballspielen oder Tanzen erfahren, erfahren wir andere Aspekte als bei der Beobachtung dieser Praxis selbst. So fehlen oft gerade diejenigen Aspekte, die für die Betreffenden ganz selbstverständlich (und damit nicht erwähnenswert) sind. Im Sinne einer Methodentriangulation können daher Beobachtungsdaten Gruppendiskussionen in fruchtbarer Weise ergänzen (s. Forschungsbeispiele in Bohnsack et al. 2010). In jüngerer Zeit gerät über die methodisch-methodologische Auseinandersetzung mit der Bildinterpretation das korporierte Wissen stärker in den Blick (Przyborski 2017; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 315–336). Bildinterpretationen bieten hier einen Zugang zu performativen Performanz. Für konkrete psychologische Fragestellungen ist in der Regel ein Hinzuziehen der proponierten Performanz, die sich in Gruppendiskussionen insbesondere in Erzählungen und Beschreibungen findet, fruchtbar. Ebenso kann die Einbindung des korporierten Wissens in (eigen-) theoretische Verarbeitungen von Bedeutung sein. Auch dafür eignet sich eine Kombination mit dem Gruppendiskussionsverfahren (für Forschungsbeispiele s. Bohnsack et al. 2015; Przyborski 2018). Auch für die Erhebung von Prozessen bzw. Prozessstrukturen über einen längeren Zeitraum (Jahre) hinweg ist das Gruppendiskussionsverfahren nicht gut geeignet. Gruppen können zwar auf frühere Phasen zurückblicken, längere Entwicklungen werden aber kaum selbstläufig erzählt. Hier hat das narrative Interview ein unvergleichbar größeres Potenzial. Ist man auch an derartigen Prozessstrukturen interessiert, empfiehlt sich von daher eine Triangulation mit dem narrativen Interview. Die Auswertung von Gruppendiskussionen ist sehr stark von der Analyse der Formalstruktur des Diskurses abhängig. Wir wissen in dieser Hinsicht eine Menge im Bereich der westlichen (indoeuropäischen) Sprachen (Przyborski 2004), über andere Sprachfamilien und damit auch Kulturzusammenhänge, z. B. die austronesischen Sprachen, wissen wir im Bereich von Formalstrukturen noch kaum etwas. Bei einer systematischen Integration von Produktanalyse und Rezeptionsanalyse, die in der Medienforschung immer wieder gefordert, empirisch bisher aber kaum geleistet wurde, mag dem Gruppendiskussionsverfahren in näherer Zukunft noch eine wichtig Bedeutung zukommen, womit sich ein Kreis zu schließen scheint, denn wie eingangs erwähnt liegen die Anfänge der Gruppendiskussion in der Medienforschung.
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Rollenspiel Iris Stahlke
Inhalt 1 Einleitung: Entwicklungsgeschichte und aktuelle Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Forschungstheoretischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Erhebung und Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Anwendungsbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Das Rollenspiel als Erhebungsmethode in der qualitativen Sozialforschung bietet, verbunden mit dem Auswertungsverfahren der tiefenhermeneutischen Textinterpretation, die Möglichkeit, kollektiv unbewusste Prozesse in Gruppen in ihrem Bedeutungsgehalt für die den Interaktionen zugrunde liegenden Muster zu erkennen und zu verstehen. Gruppendynamische Prozesse werden erfasst und das rollenspezifische Handeln der Gruppenteilnehmenden bezogen auf das jeweilige Erfahrungsfeld analysiert. In dem Beitrag werden die Durchführung der Rollenspiele sowie deren Dokumentation und die Auswertung der in den Rollenspielen erhobenen Daten vorgestellt, insbesondere anhand konkreter Anwendungsbeispiele die Dokumentations- und Auswertungsschritte praxisorientiert dargelegt und Limitationen der Einsatzes von Rollenspielen diskutiert. Schlüsselwörter
Rollenspiel · Tiefenhermeneutische Textinterpretation · Rollenhandeln · Rolle · Psychodrama I. Stahlke (*) Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_39
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1
I. Stahlke
Einleitung: Entwicklungsgeschichte und aktuelle Relevanz
Das Rollenspiel in seinen verschiedenen Formen, wie es heute in Weiterbildung, Therapie, Trainings oder Forschung angewendet wird, hat seinen Ursprung in dem von Jacob Levy Moreno im Jahr 1921 entwickelten „Stegreiftheater“ (Moreno 1959, S. 14) und der daraus entstandenen therapeutischen Methode des Psychodramas (Moreno 1959). Bei der Durchführung des Stegreifspiels übernehmen die Spielenden spontan Rollen und gestalten diese kreativ aus. Moreno ging dabei von der These aus, dass Rollenhandeln in bestimmten Situationen gelernt und internalisiert, später dann mechanisch reproduziert wird. Rollenstereotypien, die z. B. ein unangemessenes Verhalten bezüglich einer Ausgangssituation darstellen, können im Psychodrama mittels des Stegreifspiels sichtbar und durch einen Perspektivwechsel und ein Erleben von Rollenvielfalt verändert werden. Nach der Einführung des Rollenspiels durch Moreno als therapeutische Methode fand es in den folgenden fünfzig Jahren in viele Bereiche des öffentlichen Lebens Eingang, insbesondere in Verhaltenstrainings (z. B. Kommunikationstrainings im Rahmen des Erlernens von Gesprächsführungstechniken) oder in die Arbeit von Selbsthilfegruppen. In den 1970er-Jahren wurde es vermehrt auch im schulischen Bereich angewendet: „Reformpädagogen waren überzeugt, mit dem Rollenspiel eine Methode zu besitzen, mit der Durchsetzungsvermögen und effektiveres Sozialverhalten benachteiligter Schülerinnen und Schüler gestärkt werden könnte“ (Nagler 2002, S. 178). Mittlerweile werden Rollenspiele zudem in Managementschulungen und Verkaufstrainings genutzt mit dem Ziel, bei den Teilnehmenden Verhaltensänderungen zu befördern. In der sozialpsychologischen Forschung wurden Rollenspiele u. a. im Zusammenhang mit Weiterbildungsprojekten erprobt und bewertet: Im Rollenspiel können die Handelnden in der Weiterbildungspraxis alternative Handlungsstrategien anwenden. Sie können verschiedene Rollen wählen und sich selbst sowie die Art und Weise ihres Kontakts zu den anderen Teilnehmenden erfahren und reflektieren. Durch die Gruppensituation entstehen neue Handlungsimpulse für die Einzelnen, aber auch für die Ausrichtung des Gruppenprozesses. Situationen können im Rollenspiel für Einzelne von innen erlebbar und erfahrbar gemacht werden. Rollenspiele als Methode der qualitativen Sozialforschung können immer dann besonders gut eingesetzt werden, wenn unbewusste gruppendynamische Prozesse darstellbar gemacht werden sollen. Neben dem Rollenspiel verhelfen dazu auch z. B. das szenische Spiel und Theater (Tilemann 2005, S. 343–352). Insgesamt bleibt das Rollenspiel jedoch als Methode der qualitativen Sozialforschung bis auf wenige Ausnahmen (Flick et al. 1995) unerwähnt. Für den englischsprachigen Raum ist insbesondere das Werk von Yardley-Matwiejczuk (1997) zu nennen, der sich der Theorie und Praxis des Rollenspiels für die Bereiche Forschung, Psychotherapie und (Weiter-)Bildung widmet. Aktuell wird die Forschungsmethode Rollenspiel im Kontext organisationspsychologischer (Nagler 2009) und wirtschaftswissenschaftlicher Forschung zum Verlauf von Interaktionen in Gruppen in Wirtschaft und Management angewendet:
Rollenspiel
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„Game or role-playing, as described by, mainly consists of individuals taking part in specific roles in a business and management settings, which is a simulation of a real business world and accordingly, provides a researcher an opportunity to analyse the behaviour and interpersonal reaction of each participant.“ (Remenyi und Money 2004, S. 76)
Darüber hinaus können Rollenspiele im Kontext organisationspsychologischer Forschung z. B. für das psychologische Verstehen von Entscheidungsprozessen in betrieblichen Strukturen sinnvoll eingesetzt werden: „Im Rollenspiel kann eine Erhebungssituation geschaffen werden, die es erlaubt, betrieblich relevante Handlungsanforderungen sowie Normen und Werte, die mit Entscheidungen, Problem- oder Konfliktlösungen verbunden sind, in Aktion zu erleben, und die der Organisationsforschung die Möglichkeit eröffnet, subjektive Erlebnisperspektiven der Akteure in einer ganzheitlichen Weise zu analysieren. Wie jede andere Methode qualitativer Sozialforschung ist sie mit einem gewissen Zeitaufwand verbunden und verlangt von den Anwendern bestimmte Qualifikationen sowohl bei der Durchführung als auch bei der Auswertung.“ (Nagler 2009, S. 124)
Bezogen auf die arbeits- und organisationspsychologische Forschung liegen weiterhin Erfahrungen mit Rollenspielen aus dem Feld des Beschwerdemanagements im Rahmen der Kundenbetreuung in öffentlichen Behörden vor, in denen soziale Situationen aus den Perspektiven von Kund/innen, Mitarbeiter/innen und Führungskräften aus Behörden systematisch analysiert wurden (Leithäuser und Stahlke 1998). Im Kontext qualitativer sozialpsychologischer Forschung wurden Rollenspiele im Rahmen von Präventionsarbeit dokumentiert und ausgewertet, um die Entstehung von (gewalthaltigen) Konflikten in jugendlichen Paarbeziehungen zu analysieren (Stahlke et al. 2013). In beiden Feldern erfolgte die Anwendung der Erhebungsmethode des Rollenspiels wiederum in Verbindung von Weiterbildung/Präventionsworkshops mit sozialpsychologischer/arbeits- und organisationspsychologischer bzw. kommunikationspsychologischer Forschung. Die Methode findet zudem Erwähnung auf Plattformen wie der der englischen Vereinigung von Marktforschungsinstituten AQR (Association for Qualitative Research) im Feld der qualitativen Marktforschung als eine mögliche Methode zur Analyse von Beziehungsmustern. Vorrangig wird jedoch in der qualitativen Marktforschung weiterhin mit Interviews, Gruppendiskussionen oder Fokusgruppen gearbeitet (Naderer und Balzer 2011).
2
Forschungstheoretischer Hintergrund
2.1
Handeln und Kommunizieren in Rollen
In der soziologischen Theoriebildung ist besonders das Werk George Herbert Meads als wichtiger Ausgangspunkt für die Entwicklung der Rollentheorie zu würdigen. Er verwendet sowohl den Begriff der „Rolle“ wie auch den der „Rollenübernahme“ primär in der kulturanthropologischen Beschreibung einer menschlichen Form der Kommunikation.
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I. Stahlke
Der Rollenbegriff, den Mead in seiner Untersuchung menschlicher Kommunikationsstrukturen und deren Einflussnahme auf die Entwicklung von Identität eingesetzt hat, umfasst auch „die Verhaltenserwartung an den Interaktionspartner“ (Joas 1991, S. 138). Rollenübernahme ist demzufolge „die Antizipation des situationsspezifischen Verhaltens des anderen“ (Joas 1991, S. 138). Mead versteht den Vorgang der Rollenübernahme als anthropologische Grundlage für die Bildung eines verallgemeinerten Elements der Struktur der eigenen Identität. Dies ist nach Mead das direkte Ergebnis einer differenzierten Interaktion des Individuums mit der sozialen Welt. Der Prozess der Entwicklung jenes Aspekts der Identität ist abhängig von der Fähigkeit zum Rollenhandeln, welche sich gerade im Kindesalter in der Aneignung der sozialen Welt (basierend auf deren Nachkonstruktion) bildet. Auf Kooperation ausgerichtete soziale Interaktion kann sich erst dann entwickeln, wenn ein Individuum lernt, sich in die Rolle eines anderen Individuums hineinzuversetzen. Kinder erlernen dies insbesondere durch Spiele und die Nachahmung bestimmter Rollen von Erwachsenen. Während der Phase des Spiels nutzt das Kind nach Mead seine Reaktionen auf bestimmte Stimuli, um dadurch Identität zu entwickeln: „Es spielt zum Beispiel, dass es sich etwas anbietet, und kauft es; es gibt sich selbst einen Brief und trägt ihn fort; es spricht sich selbst an, als Elternteil, als Lehrer; es verhaftet sich selbst, als Polizist. Es hat in sich Reize, die in ihm selbst die gleiche Reaktion auslösen wie in anderen.“ (Mead 1973 [1934], S. 193)
In einem organisierten Spiel (einem Wettkampf nach Regeln), das Mead vom Kinderspiel unterscheidet, muss das Kind in der Lage sein, die Haltungen der verschiedenen Personen, die an dem Spiel teilnehmen, zu antizipieren. Die Teilnahme an einem Wettkampf symbolisiert den Übergang von der spielerischen Übernahme von Rollen, die das Kind in sich selbst ausgelöst hat, hin zur Übernahme von gesellschaftlich organisierten Handlungen. Voraussetzung dafür ist der gelungene Erwerb der Rollenübernahmefähigkeit im Stadium des Spiels. Das verallgemeinerte Element der eigenen Identität beschreibt Mead als das zunächst „verallgemeinerte Andere“: „Die organisierte Gemeinschaft oder gesellschaftliche Gruppe, die dem einzelnen seine einheitliche Identität gibt, kann ‚das verallgemeinerte Andere‘ genannt werden. Die Haltung des verallgemeinerten Anderen ist die der ganzen Gemeinschaft“ (S. 196). Gerth und Mills (1970) teilen die Position Meads und explizieren seine Auffassung, indem sie neben dem Einfluss des „verallgemeinerten Anderen“ die Wirkung des „signifikanten Anderen“ (S. 78) auf die Veränderung des Selbstbildes hervorheben. Die „signifikanten Anderen“ sind Menschen, die für die Entwicklung der Persönlichkeit eines Individuums von großer Bedeutung sind: „In manchen Gesellschaften und Familien ist die Mutter für das Kind der bedeutendste ‚signifikante Andere‘, da sie direkt für die körperlichen Bedürfnisse sorgt und durch ihre Handlungen die impulsiven Anfänge der Handlungen des Kindes ergänzt. In solchen Fällen ist wahrscheinlich das Bild des Kindes, das es von sich selbst hat, identisch mit dem, das die Mutter von ihm hat. Wenn aber die Person heranwächst, dann beginnt eine Vielzahl von ‚signifikanten Anderen‘ zu wirken.“ (Gerth und Mills 1970, S. 78)
Rollenspiel
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Diese Veränderung geschieht durch die Reflexion der Einschätzungen und Forderungen des oder der „signifikanten Anderen“. Die Differenzierung des/der „verallgemeinerten Anderen“ durch die Betonung der Bedeutung des/der „signifikanten Anderen“ für den Prozess der Aneignung und Verinnerlichung von Rollenerwartungen erweitert Meads soziologische Analyse der Entstehung und Entfaltung von Identität. Der Prozess der Rollenübernahme, d. h. sich selbst mit den Augen eines oder einer Anderen betrachten und mit sich selbst als quasi „andere“ Person einen Dialog führen zu können, ist ein wichtiger Vorgang zum Erwerb von Identität und zur Ausbildung der Fähigkeit der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und zu dessen Gestaltung. Goffman (1969) greift den Begriff des Rollenhandelns auf, das er als eine Form der Selbstdarstellung im Alltag versteht und anhand einer Analogie zur Welt des Theaters analysiert: „Da finden wir auf der einen Seite den Darsteller, der vollständig von seinem eigenen Spiel gefangen genommen wird; er kann ehrlich davon überzeugt sein, daß der Eindruck von Realität, den er inszeniert, ‚wirkliche‘ Realität sei. [. . .] Auf der anderen Seite steht der Darsteller, den seine eigene Rolle überhaupt nicht zu überzeugen vermag. [. . .] Ist der Darsteller nicht von seiner eigenen Rolle überzeugt und nicht ernsthaft an den Überzeugungen seines Publikums interessiert, mögen wir ihn ‚zynisch‘ nennen, während wir den Ausdruck ‚aufrichtig‘ für Darsteller reservieren, die an den Eindruck glauben, den ihre eigene Darstellung hervorruft.“ (Goffman 1969, S. 19–20)
Das Rollenhandeln kann so als Prozess des Positionierens zwischen Polen verstanden werden, in dem die Person mit mehr oder weniger Rollendistanz agiert. Rollendistanz ermöglicht dem oder der Einzelnen die Reflexion von Rollen und bietet die Möglichkeit, verschiedene z. T. konträre Rollen zu integrieren. Dreitzel definiert in seiner rollentheoretischen Analyse Rollenhandeln als Rollenspiel: „[V]on Rollenspiel oder Rollenhandeln (im Englischen auch: ‚role enactment‘) [wird] gesprochen, wenn es sich um tatsächliches Verhalten handelt, das an Rollenerwartungen orientiert ist“ (Dreitzel 1979, S. 71). Rollenhandeln und (nach Dreitzel) Rollenspiel besteht in diesem Fall aus tatsächlichem, realen Verhalten. Ist soziologisch der Begriff des „Rollenspiels“ durchaus dem des „Rollenverhaltens“ oder „Rollenhandelns“ gleichzusetzen, ist der Begriff „Rollenspiel“ mit Sader (1986) auf eine eher theateranaloge Zuordnung hin zu explizieren: „Wir sollten [. . .] den Schwerpunkt auf die thematische, willentliche und kurzdauernde Übernahme von Handlungs- und Verhaltenssequenzen legen, die in der Alltagssprache ebenfalls mit dem Rollenbegriff gekennzeichnet wird und die ich als ‚theateranaloge Verwendung‘ bezeichnet habe“ (Sader 1986, S. 15). Gemeinsam ist der soziologischen und die theateranalogen Verwendung des Begriffs „Rollenspiel“ ein Verständnis von „Rolle“ als einer Sammlung von Verhaltensmustern, die sich in gesellschaftlicher Interaktion herausbilden. Zugleich ist das Rollenspiel eine Situation, in der ein Individuum sich zum einen durch die Rollendistanz als ein bewusst handelndes Individuum erfährt. Das Hineinversetzen in eine Rolle und auch das Erleben von gegensätzlichen Rollen können einen Perspektivwechsel ermöglichen, die Haltungen anderer können aus verschiedenen Positionen
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nachvollzogen und z. B. Konflikte besser verstanden werden. Daher ist diese Form des Rollenspiels auch Bestandteil in psychologischer Therapie, Supervision, Weiterbildung und Forschung. Zum anderen kann das subjektive Rollenhandeln im Rollenspiel Auskunft über unbewusste Anteile von Identifikationen mit bestimmten Rollenideologien geben, denn die Übernahme einer Rolle kann verknüpft sein mit der Übernahme von Ideologien, die hinter den Erwartungen an ein bestimmtes Verhalten in einer Rolle stehen. Rollenspiele ermöglichen die Reflexion dieser Aneignungsprozesse vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Normen. Sie können als Erhebungsmethode in der qualitativen Sozialforschung insbesondere auf dem Hintergrund eines tiefenhermeneutischen Verständnisses Auskunft über die Formung von Alltagsbewusstsein durch kollektive unbewusste Erfahrungen geben. Unbewusste Anteile von Rollenhandeln können für die Forschungsarbeit erfasst und systematisch dargestellt werden. Rollenspiele ermöglichen auch die Erfassung gruppendynamischer Prozesse in ihrer Bedeutung für die Ausgestaltung und Prägung von Interaktionen, z. B. können Erfahrungen der am Rollenspiel Teilnehmenden im Kontext spezifischer Forschungsfragestellungen so darstellbar werden. Im Vergleich verschiedener gesellschaftlicher Gruppen können kollektive Erfahrungen aufgenommen werden und im theoretischen Reflexionsprozess in eine psychologische Theoriebildung münden.
2.2
Rollenhandeln im Rollenspiel und in weiteren Interaktionsspielen
Insbesondere in der therapeutischen Methode des Psychodramas, aber auch generell in gruppenpsychotherapeutischen Zusammenhängen, wird das Rollenspiel vergleichsweise häufig verwendet: Das Psychodrama ist im Gegensatz zum Rollenspiel eine Form der (Gruppen-)Psychotherapie, das Rollenspiel eher eine Methode der jeweiligen Psychotherapieausrichtung. Im Psychodrama gibt es einen sehr differenzierten Aufbau des Rollenspiels: neben der sogenannten Bühne, dem Schauplatz, gibt es verschiedene vorgeschriebene Rollen für die Leiterinnen und Leiter und die Teilnehmenden, z. B. die „des Protagonisten (das griechische Wort für den ersten Schauspieler, den Hauptdarsteller, in der griechischen Tragödie, im Psychodrama wird das Wort Protagonist auch für ein ‚rollenspielendes Subjekt‘ oder einen Patienten benützt), des therapeutischen Leiters (oder kurz Leiter, Therapeut, Arzt), des Stabes der therapeutischen Hilfskräfte, der ‚Hilfs-Iche‘ (das gebräuchliche Wort dafür in der amerikanischen Literatur ist ‚auxiliary ego‘) und des Publikums.“ (Moreno 1959, S. 77)
Moreno selbst hat auch Rollentrainings erwähnt: „Durch die Bühne ist einer psychodramatischen Sitzung der Weg zu lebendiger Forschung und zu lebendiger Therapie geebnet, zu Rollentest und Rollentraining“ (Moreno 1959, S. 79), sodass eine Differenzierung im Sinne des Übungscharakters des „klassischen“ Rollenspiels
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im Gegensatz zum kreativen Rollenspiel im Psychodrama nicht haltbar ist. Das psychodramatische Rollenspiel kann ebenso einen mehr oder weniger ausgeprägten Übungscharakter haben wie das „klassische“ Rollenspiel. Und das „klassische“ Rollenspiel kann ebenso kreativ sein wie sein psychodramatisches Pendant. Die Rollenspielszenarien der Theater-Methoden nach Boal (2006) werden ebenfalls ähnlich wie Morenos Rollentrainings in therapeutisch-pädagogischen Settings und in künstlerischen Kontexten verwendet. Bei den Theater-Methoden nach Boal wird die Trennung zwischen Schauspieler/innen und Zuschauer/innen aufgehoben, und die Zuschauer/innen erhalten je nach Ausrichtung der jeweiligen Methode die Möglichkeit, das Rollenspiel auf der Bühne mitzugestalten und zu verändern. Ein weiteres konstruiertes Spiel neben dem Rollenspiel ist das „Planspiel“ (Antons 1992, S. 135–136). Hier geht es um die Darstellung, Beobachtung und Auswertung der Beziehung in und zwischen Gruppen, die aufgrund einer bestimmten Situation zusammenarbeiten, in einem Wettbewerb stehen oder Entscheidungen gemeinsam treffen (müssen). Im Planspiel versetzen sich die Teilnehmenden zwar durchaus in verschiedene Rollen, sind aber in der Darstellung wenig an Rollenvorgaben gebunden. Ein Planspiel ist also ein auf die Interaktion von Gruppen bezogenes Rollenspiel, wobei nicht nur jede/r einzelne in der Gruppe eine Rolle spielt, sondern auch kollektive Gruppenidentitäten vorgegeben sind. In einem „Interaktionsspiel“, wie es z. B. Volmerg, Volmerg und Leithäuser (1983) in ihrer Studie „Kriegsängste und Sicherheitsbedürfnis“ als Forschungsmethode angewandt haben, geht es ähnlich wie in einem Planspiel um die Simulation eines Entscheidungsprozesses zu einem brisanten Thema. Interaktionsspiele werden allgemein in der Erlebnispädagogik eingesetzt in Gruppen, in denen z. B. Konfliktlösungs-, Gruppenbildungs- oder Entscheidungsfindungsprozesse ausgehandelt werden müssen (Reiners 2000; Vopel 2000). Volmerg et al. nennen ihre Form des Rollenspiels „Interaktionsspiel“, da für sie der Fokus in der Offenbarung von Regeln der Interaktion und der Interpretation von Alltagswirklichkeit durch den Modus des Spielens besteht. Das heißt, durch die Art und Weise der Ausgestaltung der Beziehungen im Spiel (der Interaktion) werden die Alltagsvorstellungen der Spielenden, z. B. über den Umgang mit Konflikten, nachvollziehbar: „Die Spieler interpretieren ihre Rollen nach ihren eigenen Erfahrungen und Anschauungen, die im Spiel aufeinandertreffen, wobei jeder Spieler eine mögliche Variante des Spiels repräsentiert“ (Volmerg et al. 1983, S. 374). Eine wichtige Differenz zwischen Interaktionsspiel und Planspiel besteht jedoch darin, dass in einem Planspiel immer Gruppenzusammenhänge bzw. Konflikte in und zwischen Gruppen und im Interaktionsspiel Konflikte in Entscheidungsprozessen zwischen Einzelpersonen dargestellt werden. Ein Interaktionspiel ist also ein Rollenspiel, in dem, bezogen auf eine mehr oder weniger festgelegte Thematik, Rolleninformationen vorgegeben werden. Die Vorgabe von Rolleninformationen begrenzt einerseits den Interpretationsspielraum des oder der Einzelnen, andererseits gehen Volmerg et al. davon aus, dass der Spielraum im Interaktionsspiel im Vergleich zum Rollenspiel größer ist, da die Ausgestaltung der Rollen durch die vage Vorgabe von Funktionen sehr offen sei.
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Erhebung und Auswertung
Das Rollenspiel wird allgemein als eine Form des Spiels definiert, in dem die Teilnehmenden erdachte Rollen annehmen und bestimmte Situationen und Beziehungen in den Situationen interaktiv inszenieren. Die Spielenden handeln in einer gestellten Situation bzw. in einem imaginären Umfeld. Bereits im Kindesalter sind solche Vorgehensweisen in Spielen wie „Räuber und Gendarm“ oder „MutterVater-Kind“ zu finden. Rollenspiele können einen spontanen Charakter haben oder auch vorher festgelegten Regeln folgen. Dabei erhalten Rollenspiele in verschiedenen pädagogischen und psychologischen Bereichen unterschiedliche Funktionen (Schaller 2006). In der Pädagogik dienen sie beispielsweise der Unterstützung von Lernprozessen (z. B. dem Einüben von Gesprächsverläufen), in der Gruppenpsychotherapie der Aufbereitung und Aufarbeitung von Konflikten, in der Verhaltenstherapie der Entfaltung und dem Einübung von Verhalten, in sozialtherapeutischen Zusammenhängen der Intervention oder in der Gruppendynamik z. B. bei Systemaufstellungen, einer Psychotherapie-, Beratungs- und auch Supervisionsmethode, die dem Erkennen eigener Persönlichkeitsanteile in problematischen Beziehungen durch das Nachstellen mittels Vertreter/innen. Klient/innen können dabei durch eine Spiegelung eigene bewusste und unbewusste Beziehungsstrukturen verstehen (Ruppert 2001). In der psychologischen Forschung werden Rollenspiele in den Teildisziplinen verwendet, die sich mit der Analyse von Interaktions- und Kommunikationsprozessen zwischen Individuen sowie mit Gruppenprozessen beschäftigen: Sie eignen sich für Forschungs-Fragestellungen aus der Sozialpsychologie (z. B. das Konformitätsexperiment von Asch 1955, S. 31–32), der Arbeits- und Organisationspsychologie (z. B. die Erfassung betrieblicher Handlungsroutinen; Nagler 2002, S. 175–176, 2009) und der Persönlichkeitspsychologie (z. B. das psychodramatische Rollenspiel bei Schwinger und Burmeister 1996, S. 178–179). Rollenspiele können in der kommunikationspsychologischen Forschung im Kontext qualitativer Beobachtungen (Döring und Bortz 2016, S. 323–355) zur Rekonstruktion von Handlungssequenzen angewendet werden. Sader (1986, S. 8–9) unterscheidet weiter drei verschiedene Anwendungsbereiche, nämlich „Rollenspiel zur systematischen Erfassung von Kognitionen und Emotionen hinsichtlich vorgegebener Konstruktbereiche [. . .,] Rollenspiel zur systematischen Erfassung von Verhaltensstrategien [. . . und] Rollenspiel zur Erfassung von Handlungszielen und Utopien.“ Der Fokus soll im Folgenden vor allem auf der Untersuchung des Einsatzes von Rollenspielen in einem sozialpsychologischen Forschungskontext liegen, da Interaktions-, Kommunikations- und Gruppenprozesse explizit Themen sozialpsychologischer Forschung sind. Das Rollenspiel kann in diesem Zusammenhang in psychologischen Forschungsdesigns eingesetzt werden, die z. B. an der Analyse von Entscheidungsprozessen (Fietkau und Trénel 1999, S. 3) oder von Konfliktlösungen in Gruppen interessiert sind.
Rollenspiel
3.1
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Anwendung der Erhebungsmethode Rollenspiel
Im Hinblick auf die generelle Durchführbarkeit von Rollenspielen im sozial-, arbeitsund organisations- oder kommunikationspsychologischen Forschungssetting ist es wichtig, dass durch ein wertschätzendes und zugewandtes Setting in der zu untersuchenden Gruppe rollenspezifische Erfahrungen ermöglicht werden. Forschende haben hier eine besondere Verantwortung: Sie eröffnen ein neues Handlungsfeld, indem sie durch geeignete methodische Schritte ein Vertrauensverhältnis zu und in der zu untersuchenden Gruppe befördern und auch genügend Raum zum Ausdruck eigener Erfahrungen der Teilnehmenden anbieten. Bedenken von einzelnen Teilnehmenden sollten in der Gruppe ernst genommen und thematisiert werden, ohne eine therapeutische Zuschreibung zu erhalten (Tilemann 2005, S. 349–350). Idealerweise sind mindestens drei Forschende in die Erhebungssituation involviert: eine Person führt das Rollenspiel durch, eine zweite übernimmt die Videodokumentation des Rollenspiels und eine dritte Person erstellt Protokolle bei der teilnehmenden Beobachtung. Rollenspiel, Videodokumentation und Protokollierung erfolgen zeitgleich in derselben Rollenspielsituation. Die Durchführung der Rollenspiele sollte in einem für die Teilnehmenden nachvollziehbaren methodischen Schritt als Konsequenz aus zuvor erarbeiteten spezifischen Fragestellungen auf einem sozialpsychologischen Hintergrund erfolgen. Rollenvorgaben sollten so offen wie möglich gestaltet werden, um durch ein „freies“ Spiel allen Teilnehmenden maximale Entfaltungs- und Ausgestaltungsmöglichkeiten zu geben. Im Vorfeld gilt es für das Forschungsteam, sich mit der Fragestellung auseinanderzusetzen und ggf. Themen für die Rollenspiele schon bei der Themenfindung als nicht geeignet auszuschließen; z. B. kann ein Thema dann ungeeignet sein, wenn bereits in der Vorbereitung des Rollenspiels deutlich wird, dass es zu nah an den persönlichen Problemen einer oder eines Teilnehmenden ist. Eine Verfremdung der zu spielenden Szenen ist bereits im Vorfeld durch z. B. eine Veränderung von Namen, Orten oder Personenzahl zu gewährleisten. Die Vorbereitung des Rollenspiels sollte immer in einer Kleingruppe mit Moderation erfolgen, um die Teilnehmenden bei der Auswahl der Szenen und bei der Aufteilung der Rollen zu begleiten und um ggf. auf eine Überforderung durch ungeeignete Themen (z. B. hoher Anteil von körperlicher Gewalt) hinzuweisen. Eine Moderation ist auch beim Aufbau der „Bühne“ für das Rollenspiel erforderlich, ebenso bei der Einführung in das Rollenspiel, in der die einzelnen Spielenden in ihre Rollen eingewiesen werden. Einige Auflagen für den Ablauf, die im Vorfeld des Rollenspiels thematisiert werden sollten, können sein: • keine Kommunikation zwischen Spielenden und Publikum; • kein Eingreifen des Publikums in das Rollenspiel; • Festlegung des Endes des Rollenspiels entweder durch die darstellende Kleingruppe oder die Leitung. Während der Durchführung und ebenso bei der Auswertung sollten alle Beteiligten durch die Rollenspielanleiter/innen begleitet werden. Im Anschluss an die Erhebungs-
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situation sollten die Rollenspielanleiter/innen die Möglichkeit haben, Instrumente zur Unterstützung der Selbstreflexion im Forschungsprozess (z. B. Supervision) zu nutzen. Durch dieses Verfahren kann das eigene Rollenhandeln als Forschende, Rollenspielanleitung und Moderation kritisch reflektiert und ggf. dem Forschungsfeld gegenüber angemessen verändert werden. Als allgemeiner Hinweis für einen sinnvollen Modus der Anwendung der Erhebungsmethode Rollenspiel kann folgender Leitsatz gelten: Die Schaffung der größtmöglichen Realitätsnähe in einem Rollenspiel als Methode der qualitativen Sozialforschung durch das Nachspielen eigener Erfahrungen sollte unter der Bedingung der Konstruktion der dafür notwendigen Verfremdung der Inhalte und der Rollen erfolgen, um durch ein Ausbalancieren von Nähe und Distanz der Spielenden zu ihren Erfahrungen die Erkenntnis fördernden Möglichkeiten des Rollenspiels in ihrer ganzen Vielfalt nutzen zu können. Eine neue Option kann in der Erweiterung oder Umstrukturierung von Rollenspielen zu Planspielen (Antons 1992) gesehen werden, auch hier ist Realitätsnähe gegeben, wie aus den folgenden Ausführungen im Rahmen einer explorativer Anwendung deutlich wird. In zwei eintägigen Planspielen im Rahmen von Lehrveranstaltungen zu (psychosozialen) Beratungsformaten mit abschließender Darstellung einer Szene aus einer Hauptverhandlung bei Gericht sowie sich anschließenden Gruppendiskussionen konnten interessante Erfahrungsfelder der einzelnen Beteiligten einer Gerichtsverhandlung herausgearbeitet werden. Ist die Kommunikation in einer Gerichtsverhandlung zwar nach bestimmten Prinzipien organisiert, bleibt doch eine Ebene der Erfahrung zwischenmenschlicher Begegnungen (Fokus liegt bei jugendlicher Opferzeugin/ jugendlichem Opferzeugen), die wertvolle Erkenntnisse für die begleitende Arbeit von Jugendlichen zu Gericht durch Psycholog/innen oder Sozialpädagog/innen ergibt (zum Konzept der Psychosozialen Prozessbegleitung s. Fastie 2008). Das Planspiel sollte in diesem Fall nur begrenzt auf die zum Abschluss darzustellende Szene, eine Hauptverhandlung in einem Gerichtsverfahren, gefilmt werden, sie ist der zentrale Inhalt, die Schlüsselszene. Weiterführend methodologisch ausgearbeitet werden muss, für welchen Gegenstandsbereich sich die Methode des Planspiels als qualitative Erhebungsmethode eignet und mit welcher Auswertungsmethodik sie idealerweise verbunden werden sollte. Zudem muss gefragt werden, in welchem Forschungskontext und bezogen auf welchen Forschungsgegenstand das Planspiel einem Rollenspiel vorzuziehen ist. (Erste Beobachtungen zeigen, dass ein Planspiel gerade bezogen auf solche Situationen Spielmöglichkeiten bietet, bei denen eine übermäßige Identifizierung wie in einem Rollenspiel problematisch werden könnte: z. B. die einer geschädigte Zeugin/ eines geschädigten Zeugen bei Gericht.) Die zwei bisher durchgeführten Planspiele in 2016 und 2017 können als Erprobungsphase betrachtet werden und dienen der Vorbereitung auf eine erste mit Video dokumentierte Erhebungsphase im März 2018.
3.2
Dokumentation und Auswertung
Die Videoaufzeichnung der Rollenspiele liefert hervorragendes Auswertungsmaterial, denn einzelne Szenen können genauer analysiert werden als z. B. in einer teilnehmenden Beobachtung, da sie wiederholt betrachtet und ggf. neu interpretiert
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423
werden können. Einzelne Bilder können angehalten und im Hinblick auf ihre spezifische Bedeutung betrachtet und ausgewertet werden. Die Videoaufnahmen können sowohl einzeln als auch im Vergleich ausgewertet werden. Wichtig ist jedoch die Ergänzung durch andere Forschungsmethoden, in unserem Fall Beobachtungsprotokolle, da ein Mitschnitt des Rollenspiels per Videokamera nur einen Ausschnitt der Szene aufnimmt; die Auswertung des Videomaterials greift in der Regel zu kurz, wenn nur die Videoaufnahme ohne Ergebnisse aus der Beobachtung interpretiert wird. Mit der Videoaufnahme selbst erfolgt noch keine Festlegung bezüglich der Auswertungsmethodik. Hier stehen verschiedene Verfahren zur Auswahl, die auch im späteren Verlauf noch modifiziert werden können. Videobasierte Aufnahmen von Rollenspielen aus Weiterbildungsseminaren ermöglichen eine genaue Betrachtung von Ausschnitten und tragen der Prozesshaftigkeit der sozialen Interaktion im Rollenspiel Rechnung. Neben diesen Vorzügen der Anwendung von Videomitschnitten soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Kombination dieser Methode mit anderen qualitativen Methoden (Gruppendiskussionen, Interviews) aber auch quantitativen Methoden vielfältige Zugänge zum Forschungsgegenstand eröffnen (zur Videobeobachtung und Videografie s. Bohnsack 2011; Mayring et al. 2005; Reichertz und Englert 2011; Tuma et al. 2013). Im Rahmen der Auswertung sollten zunächst ausgewählte Videoaufzeichnungen transkribiert werden. Auswahlkriterium der Rollenspiel-Videoaufnahmen sollte u. a. die Verständlichkeit der Dialoge im Rollenspiel bzw. in der Videoaufzeichnung sein. Diese kann aufgrund technischer Mängel und/oder einer fehlerhaften Durchführung der Aufnahme z. T. für das Vorhaben der Textinterpretation unzureichend sein. Je nach Wahl der Auswertungsmethode ist zwischen einer einfachen Transkription und einem Feintranskript zu unterscheiden (Dresing und Pehl 2015, S. 18). Für die Transkription von Rollenspielsequenzen, die tiefenhermeneutisch ausgewertet werden sollen, kann eine einfache Transkription als ausreichend betrachtet werden, da hier der Fokus nicht auf Aspekte wie Lautstärke, Sprachgeschwindigkeit oder Tonhöhe gelegt wird. (Entsprechende Software kann für Transkriptionszwecke genutzt werden.) Für die Transkription empfiehlt es sich, neben der Wiedergabe des sprachlichen Inhalts auch die Interaktionen zu dokumentieren. Dies erfolgt durch die Beschreibung der Interaktionen im Vorlauf zur entsprechenden Verbalisierung. Ein Beispiel einer Transkription aus dem Jahr 2010 (unveröffentlicht) : Eine Fahrerin und drei männliche Fahrgäste befinden sich in einem Fahrzeug des ÖPNV. Zwei der Fahrgäste beginnen hinten im Fahrzeug einen Streit. Fahrgast A zu Fahrgast B: „Eh, Du Skinhead Du!“ Der angesprochene Fahrgast steht auf, es kommt zu einem Handgemenge zwischen Fahrgast A und B, welches Fahrgast A beginnt. Fahrgast A steht auf und greift Fahrgast B an die Schulter. Die Fahrerin steht ebenfalls auf. Fahrgast B: „Was?“ Fahrgast A: „Skinhead Du!“ Fahrgast B: „Setz Dich mal lieber hin und kümmere Dich ....“ Fahrgast A: „Ich lass mich doch nicht anfassen.“ Fahrgast A zur Fahrerin: „Er ist Skinhead hier.“ Ein weiterer Fahrgast (C) sitzt unbeteiligt vorne im Fahrzeug. Die Fahrerin steht auf, als der Streit lauter wird.
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I. Stahlke Sie geht nach hinten und sagt zu den beiden sich streitenden Fahrgästen: „Hallo, können Sie ihren Streit bitte draußen weiterführen.“ Fahrgast A zur Fahrerin: „Lass mich zufrieden, Mensch.“ Fahrerin: „Also, ich weiß ja nicht, wer angefangen hat, aber draußen weiterzumachen wäre besser.“ Sie macht eine Handbewegung zur Tür. Beide steigen aus, im Aussteigen bewirft Fahrgast B die Fahrerin mit etwas (einer Dose o. Ä.). Fahrerin: „So, die sind dann ausgestiegen, das war meine erste Situation. Ich war über und über mit Buttermilch besprüht und der andere Fahrgast auch.“ Fahrerin: „Ich habe dann einen Notruf abgesetzt: Otto soundso, ich bin mit zwei Fahrgästen aneinandergeraten und bin von oben bis unten jetzt mit Buttermilch beschmiert, ich brauche eine Ablösung.“ Antwort Otto: „Ja, fahren Sie nach H. dort steht dann jemand.“ Fahrerin: „Das war die erste Szene. Wir spielen jetzt gleich noch ´ne zweite Szene, weil der Fahrgast eine Beschwerde schreibt und ich zu meinem Gruppenleiter zitiert werde. Wollen wir?“
Damit der Verlauf der Handlung als auch die verbale Auseinandersetzung nicht wie im Beispiel in ihrem Fluss „unterbrochen“ werden, kann auch im Format eines tabellarischen Protokolls dokumentiert werden: Zeit
Handlung (Wer spricht zu wem?)
Gespräch/Dialog
Die Anfertigung einer Feldpartitur, wie sie Moritz (2010) vorschlägt, oder auch eines Sequenz- oder/und Einstellungsprotokolls nach Peltzer und Keppler (2015) könnte zukünftig auch für Rollenspiele in Erwägung gezogen werden; der Vorteil wäre die detailliertere Aufschlüsselung des Materials für verschiedene Auswertungsebenen. Für die Auswertungsmethode der tiefenhermeneutischen Textinterpretation genügt jedoch die oben angegebene Form der Transkription, da die Ausführungen zur Interaktion nur begleitend erhoben werden und dem vertieften Verständnis der ausgewählten Szene(n) dienen. Die Transkription der Videoaufzeichnung wird an die Mitglieder des Forschungsteams mit der Bitte um Lektüre verteilt. Ein Mitglied des Forschungsteams wird beauftragt, die Transkripte zu interpretieren. In der Regel gibt es von dem gewählten Rollenspiel nicht nur einen Text, sondern zumeist zwei bis drei Texte, die die Varianten des Rollenspiels in dem konkreten Zusammenhang widerspiegeln. Jedes Rollenspiel kann zwar inhaltlich vorbesprochen sein, nichtsdestotrotz ergeben sich häufig spontane Interaktionen, die nicht planbar und die trotzdem für die Auswertung der Gesamtsituation von Bedeutung sind. Als mögliche Verfahren der Textinterpretation können z. B. die Konversationsanalyse (Deppermann 2008) oder die qualitative Inhaltsanalyse (Mayring 2000) Anwendung finden; meiner Erfahrung nach bietet allerdings gerade die tiefenhermeneutische (Text-)Interpretation (Leithäuser und Volmerg 1979, 1988; Klein 2004; König 2003) einen guten Zugang zum vorliegenden Material. Werden Rollenspiele mit der Konversationsanalyse nach Deppermann (2008) ausgewertet, liegt der Fokus in der Auswertung auf der Organisation von (Alltags) Gesprächen und Interaktionen z. B. im Kontext von Arbeitsbeziehungen. Die Frage nach dem Modus des Aushan-
Rollenspiel
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delns z. B. von Redeanteilen oder der Abfolge von Sequenzen steht im Vordergrund, was eine sehr detaillierte Transkription erforderlich macht. Eine Auswertung im Rahmen einer qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2000) ermöglicht die Festlegung eines Kategoriensystems, das die zentralen Inhalte des Textes in verdichteter Form abbildet. Hier empfiehlt sich das Transkriptionssystem nach Kuckartz (2008), bei dem z. B. besonders betonte Wörter unterstrichen werden oder auch Lautäußerungen in Klammern aufgenommen werden. Für die tiefenhermeneutische (Text) Interpretation nach Leithäuser und Volmerg (1988) ist eine wortwörtliche Transkription erforderlich, allerdings keine Feintranskription. Letztere erschwert beim gemeinsamen Lesen und Interpretieren des Materials den Lese-/Redefluss. Die tiefenhermeneutische (Text) Interpretation erlaubt, nahe dem Unbewussten sich befindende Fantasien, Vorstellungen und Gefühle verstehen zu können. Daher eignet sich dieses Verfahren speziell, um unbewusste gruppendynamische Prozesse zu beschreiben, die, basierend auf den Erhebungen mittels Rollenspiel, im Fokus qualitativer psychologischer Forschung stehen sollten. Mit der Konversationsanalyse können zwar auch Interaktionen, die dem Erzeugen einer sozialen Ordnung dienen, aufgezeigt werden, jedoch fehlt die Berücksichtigung unbewusster Anteile an der Gestaltung sozialer Wirklichkeit. Das Modell der tiefenhermeneutischen Textinterpretation bezieht sich darauf, dass „vermittels der Interpretation einer ausgewählten Passage der Text als Ganzes verstanden werden kann“ (Volmerg et al. 1983, S. 380). Volmerg et al. gehen weiter davon aus, dass ein vorliegender Text an verschiedenen Stellen den gleichen unbewussten Grundkonflikt (verändert) wiedergibt. Merkmale einer Textstelle, auf die sich die Forschenden beziehen sollten, sind zum einen Wiederholungen im Text, lebendiger Sprachgebrauch und die Beteiligung und Betroffenheit der am Rollenspiel Teilnehmenden. Der Text wird verstanden als Prozess der Interpretation in der Rollenspiel-Gruppe. Bei einer ersten gemeinsamen Lektüre des transkribierten Textes der Videoaufnahme werden zumeist bereits im Mittelpunkt stehende Themen deutlich. In einer weiteren Interpretation wird nun im Forschungsteam das Material mittels einer vertikalen und horizontalen Analyse ausgewertet. In der vertikalen Textanalyse wird ein einzelner Text eingehend interpretiert, in der horizontalen Analyse hingegen werden alle als Textmaterial dargelegten Rollenspiele verglichen im Hinblick auf das Vorkommen bestimmter Kernthemen, die systematisiert werden können. Die horizontale Textanalyse baut im Auswertungsprozess stets auf der vertikalen Analyse auf. Ergebnis dieses Auswertungsprozesses können bestimmte „Kernsätze“ sein, die mittels der ihnen inhärenten Ambivalenz häufig etwas über die Dynamik ihrer Entstehung aussagen. Sie beschreiben z. B. einen bestimmten Konflikt zwischen verschiedenen Erwartungen oder Rollenanforderungen. Eine „interne Validität“ stellt sich dabei auf folgende Weise her: „Intersubjektivität – ein Erfordernis der internen Validität – wird dadurch erreicht, daß allgemein geltende, intersubjektiv geteilte Regeln alltäglicher Kommunikation als Erhebungsmethoden systematisiert werden, so daß eine Wiederholung der Erhebungssituation im Prinzip für jeden kompetenten Forscher möglich ist.“ (Leithäuser et al. 1995, S. 265)
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Anwendungsbeispiel
In dem folgenden Abschnitt soll die Gestaltung und Durchführung eines Rollenspiels zur Datenerhebung sowie eine Rollenspielinterpretation aufbauend auf der Grundlage des oben beschriebenen tiefenhermeneutischen Textinterpretationsverfahrens dargestellt werden. Im Rahmen eines qualitativen Forschungsprojektes (Herrmann et al. 1996) war die Durchführung der Rollenspiele in den Kontext von Weiterbildungsseminaren mit Fahrerinnen und Fahrern des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) eingebunden. Am jeweils zweiten Tag der Weiterbildungsseminare wurden die Teilnehmenden gebeten, sich in zwei Gruppen aufzuteilen, die die Aufgabe hatten, sich intern mit Moderation durch eine Seminarteamerin oder einen Seminarteamer über von ihnen erlebte Krisensituationen auszutauschen. In einem zweiten Schritt sollte die Gruppe sich darüber verständigen, welche der von ihnen berichteten Krisensituationen sie in einem Rollenspiel der jeweils anderen Gruppe darstellen möchte. Anschließend wurde der Verlauf des Rollenspiels soweit möglich festgelegt, und einzelne Sequenzen wurden bei Bedarf geprobt. Federführend bei der Ausgestaltung der Rollen und Szenen war jeweils die Person, deren Krisensituation für ein Rollenspiel ausgewählt worden war. Vor Beginn des Rollenspiels wurde jeweils von der Person, die für die Videoaufnahme zuständig war, Einverständnis für die Aufzeichnung eingeholt. Insgesamt wurden in dem Forschungsprojekt 31 Seminare durchgeführt, 25 davon wurden mit Einverständnis der Teilnehmenden videografiert. Die Notwendigkeit und die Vorzüge der Videoaufzeichnung wurden zum einen mit der Erhebung von Material für die Begleitforschung zu dem Weiterbildungsprojekt begründet, zum anderen wurde auf die besseren Möglichkeiten der Auswertung und Nutzung im Weiterbildungsseminar hingewiesen. Durch die Videoaufnahme konnte das Geschehen im Rollenspiel aus einer gewissen Distanz nach einiger Zeit analysiert werden. Lag der Fokus der Auswertung im Weiterbildungsseminar auf der Frage „Was kann die Fahrerin und der Fahrer zur Deeskalation einer Krisensituation beitragen?“, ging es in der Auswertung der Videoaufzeichnungen im Rahmen der Begleitforschung um die Genese und Dynamik der dargestellten Krisensituationen. Hierbei zielte die Auswertung auf die Erfassung der komplexen Beziehungsstrukturen von Fahrgästen, Fahrer/innen sowie anderen an der jeweiligen Szene Beteiligten, um Formen von Eskalation oder Deeskalation in Krisensituationen zu rekonstruieren. Ein Vergleich von einzelnen Szenen sollte eine mögliche Typisierung von Elementen befördern (Stahlke 2001). Das folgende Rollenspiel wurde in einem wie oben beschriebenen Seminar durchgeführt. Es wurde in drei Szenen mit jeweils verschiedenen Fahrer/innen inszeniert (von der dritten Szene gibt es keine Videoaufzeichnung, daher konnte sie nicht ausgewertet werden). Das Rollenspiel begann jeweils mit einer kurzen Vorlauf-Sequenz, in der Rollen festgelegt und Anweisungen vonseiten des Forschungsteams gegeben wurden, die sich darauf bezogen, wie z. B. jemand aus dem Rollenspiel „aussteigen“ kann (und hier im wahrsten Sinne des Wortes aus der Straßenbahn oder dem Bus), falls es ihr
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oder ihm persönlich zu nahe geht. Zudem wurde vom Forschungsteam versucht, die Teilnehmenden dazu zu motivieren, das „Ende“ des Rollenspiels noch nicht vorzugeben, sondern zunächst offenzulassen. In der ersten Szene des Rollenspiels nahm ein eskalierender Streit unter Fahrgästen sehr viel Raum ein. Aus diesem Streit entwickelte sich eine Krisensituation. Nachdem die Intervention eines weiteren Fahrgastes keine Beruhigung der Streitenden erbrachte und auch der Fahrer von seinem Platz aus nichts veränderte, entschloss sich Letzterer, Hilfe anzufordern. Diese zweite Szene beginnt im Rollenspiel mit dem Notruf des Fahrers. Fahrer: „Otto 999, Kurs 4542 . . . bitte einmal Polizei, ich halte direkt vor der Wache.“ Fahrgast: „Das bringt doch sowieso nichts.“ Fahrer: „So es geht weiter.“ (Herrmann et al. 1996, S. 112)
Es gibt in der Spielszene keine Anweisung vonseiten der Betriebsleitstelle, die eine Weiterfahrt erforderlich gemacht hätte. Der Fahrer setzte für sich in diesem Rollenspiel eine negative Antwort seiner Vorgesetzten bzw. der Betriebsleitstelle voraus und gab sich selbst das Kommando zur Fortsetzung der Fahrt. (Er hätte auch stehen bleiben und abwarten können.) Unterstützend wirkte dabei die Aussage des Fahrgastes, der in dieser Sequenz seiner Resignation Ausdruck gab mit den Worten: „Das bringt doch sowieso nichts.“ Ein Modus von Gleichgültigkeit, Resignation und Hilflosigkeit ist mit der Anforderung von Hilfe durch die Betriebsleitstelle verbunden. Der Fahrer fühlte sich allein gelassen und ging dem Hinweis, dass im Rollenspiel auch Handlungsalternativen ausprobiert werden könnten, nicht nach. Hier wirkte der Fahrplan in diese Krise hinein: Im Berufsalltag heißt es als „gute Fahrerin“ oder „guter Fahrer“ stets „Weiterfahren“; im Rollenspiel heißt es auch „Weiterspielen“, ein „Stehen bleiben“ ist nicht möglich. Das Rollenspiel bildete also eine Krise aus dem Berufsalltag ab. In dem Rollenspiel (und in verschiedenen Versionen derselben Ausgangsszene) bestand der Umgang des Fahrers mit der Krisensituation in einem zeitweiligen Ignorieren des Geschehens (1. Szene: „Vielleicht beruhigt der sich ja wieder“) über eine Anfrage an die Streitenden (2. Szene: „Hören Sie mal, würden Sie sich mal bitte hinsetzen hier“) schließlich in der Konsequenz des Notrufs an die Betriebsleitstelle (3. Szene: „Otto 999, Kurs 4542 . . . bitte einmal Polizei, ich halte direkt vor der Wache“). Anhand dieser Vorgehensweise wird das unbewusste (De-)Eskalationsmodell dieses Fahrers deutlich, das mit den Rollenspielen anderer Fahrer/innen verglichen wurde im Hinblick auf generelle unbewusste Handlungsmuster in Krisensituationen. Im weiteren Verlauf wurden so zwei Pole der Berufsrolle kenntlich: 1. die aufmerksamer, höflicher und engagierter Fahrer/innen und demgegenüber 2. die abgewiesener, verhöhnter und nicht ernst genommener Fahrer/innen. Diese Pole zeigen die rollenspezifischen Erfahrungen der Teilnehmenden und die mit den Berufsrollen einhergehende Problematik in Alltagssituationen (Weber 2009, S. 227–228). Der eigentliche Konflikt, den die Fahrer/innen darstellen wollten, nämlich eine Geiselnahme, wurde nicht umgesetzt. Aus Sicht des Forschungsteams lag der Grund
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darin, dass es für die Teilnehmenden zu belastend gewesen wäre, eine solche drastische Situation zu inszenieren; diese Veränderung der vorab berichteten Szene zu einem „milderen“ Geschehen erlebten wir häufig. Die Fahrer/innen schwächten die Szene im Rollenspiel ab, Vorgabe und Durchführung wichen teilweise erheblich voneinander ab. Sinn der Abmilderung war u. a. die kollegiale „Schonung“.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Rollenspiele sind als qualitative Erhebungsmethode insbesondere in der Sozialpsychologie, aber auch in der Arbeits- und Organisationspsychologie oder der Kommunikationspsychologie einsetzbar, da es hier vielfach um verschiedenste Aushandlungsprozesse in Gruppen geht. Durch das Einnehmen einer Rolle im Rollenspiel wird es Einzelnen ermöglicht, selbst den Grad der Beteiligung am Geschehen zu bestimmen und durch ein Gruppenhandeln sowie das entsprechende Setting zur Einführung mehr Sicherheit zu erlangen. Im Rollenspiel kann sich jede und jeder vom Geschehen distanzieren, indem z. B. eine Rolle eingenommen wird, die eher außerhalb des zentralen Geschehens steht. Ein sich an das Rollenspiel anschließender „Ausstieg aus der Rolle“ stellt die „Normalität“ wieder her und bietet individuellen Schutz. Das Rollenspiel eröffnet durch die sich in ihm entwickelnde Gruppendynamik Erkenntnismöglichkeiten, z. B. über die Struktur von Aushandlungsprozessen in bestimmten Problemstellungen. Der Einsatz von Rollenspielen als Erhebungsmethode im qualitativen Forschungsprozess ermöglicht es den Forschenden, die (unbewusste) Dynamik von Gruppenprozessen, aber auch z. B. die Eskalationsstufen bestimmter Konfliktfelder zu erfassen und systematisch zu beschreiben. Daraus lässt sich in Verbindung mit dem tiefenhermeneutischen Textinterpretationsverfahren eine gegenstandsbezogene Theorie im sozialpsychologischen Themenkreis entwickeln. Grenzen der Methode sind einmal in der Problematik der Rollen-Einnahme bei der Darstellung besonders schwieriger Personen (Geiselnehmer/in) oder Handlungen (z. B. dem Zufügen von Verletzungen) und zum zweiten in der nicht vorhandenen Berücksichtigung und systematischen Erfassung sowie Auswertung der nonverbalen Inhalte des Rollenspiels zu sehen. Hier müsste ein entsprechendes Modell zur Erfassung und Auswertung z. B. körpersprachlicher Elemente entwickelt werden (Moritz 2010; Peltzer und Keppler 2015). Zudem kann eine Darstellung schwieriger Szenen, bei denen die Teilnehmenden nur wenige Informationen vorab erhalten, ethische Probleme beinhalten. Teilnehmende können durch die Haltung oder die Aussagen der Rollenspielleitung zu Handlungen motiviert werden, die ihnen im Alltag zutiefst widersprechen und durch die ihre persönliche Integrität Schaden nehmen kann. Besteht die Gefahr einer Überidentifikation mit Rollen, die andere schädigen oder bei denen der/die Rollenspielteilnehmende selbst geschädigt werden könnte, empfiehlt sich, die Methode des Planspiels in Erwägung zu ziehen. Für eine sinnvolle und effektive Nutzung von Rollenspielen als Erhebungsmethode müssen verschiedene Faktoren erfüllt sein (Nagler 2002, S. 196–197)
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• Rollenspiele müssen inhaltlich und zeitlich sinnvoll in einen Seminar- bzw. Projektkontext eingebettet sein. • Die Freiwilligkeit der Rollenübernahme muss bei den Teilnehmenden gewährleistet sein. • Die Rollenspiele sollten mit weiteren Erhebungsmethoden wie z. B. der teilnehmenden Beobachtung, sich anschließenden Gruppendiskussionen oder Interviews verknüpft werden, um die einzelnen Perspektiven des Erlebens noch differenzierter abbilden zu können. • Situationsbeschreibungen der Teilnehmenden und Instruktionen durch die Forschenden müssen abgestimmt werden. • Die „Als-Ob-Situation“ muss zum Schutz der Einzelnen gewahrt bleiben. • Eine einheitliche Dokumentation und Transkription gewährleistet die Vergleichbarkeit der Daten. • Die Forschenden sollten gegenüber der subjektiven Sichtweise der am Rollenspiel Teilnehmenden offen sein. • Das Interpretationsverfahren sollte so gewählt werden, dass die im Zentrum der Forschungsfrage stehenden Themen, z. B. Handlungsmuster oder Kommunikationsstrukturen, sinnerschließend damit dargelegt werden können. • Die Ergebnisse sollten an die an der Forschung beteiligten Akteure rückgemeldet werden, damit sie in einem weiteren Kreis nutzbar gemacht werden können. Werden Rollenspiele unter Berücksichtigung der genannten Erfordernisse und unter Beachtung der genannten Grenzen in der qualitativ-psychologischen Forschung eingesetzt, bieten sie die Möglichkeit, einen wichtigen Beitrag zum Verständnis eines durch Interaktion sich bildenden und verändernden Bedeutungsgehaltes von (Alltags-) Situationen zu leisten. Hierbei scheinen ihre Einsatzgebiete vielfältig, so könnten sie z. B. in der organisationspsychologischen Forschung zu Fragen der Zusammenarbeit in interkulturellen Teams, in der sozialpsychologischen Forschung zur Analyse der Entstehung von Gewaltdynamiken in (Paar-)Beziehungen und Gruppen sowie in der rechtspsychologischen Forschung zum Belastungserleben von Zeug/innen vor Gericht eingesetzt werden
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Qualitative Netzwerkanalyse Holger von der Lippe und Peter Kaiser
Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Historische Einordung: Netzwerke als Gegenstand qualitativer Forschung in der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Zum Gegenstandsbereich: Definition einer qualitativen Netzwerkanalyse in der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Aktueller Stellenwert und Themen der qualitativen Netzwerkanalyse in der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
In diesem Beitrag widmen wir uns einleitend der historischen Entwicklung der psychologischen Netzwerkforschung, um dann den Gegenstandsbereich der qualitativen Netzwerkanalyse festzulegen. Anhand aktueller empirischer Beispiele wird das Potenzial dieser Forschungsrichtung verdeutlicht, das für die Psychologie insbesondere darin besteht, individuelle Wahrnehmungen und Bewertungen sowie die subjektive Sicht auf Effekte, Praktiken und Dynamiken in egozentrierten Beziehungsnetzwerken zu rekonstruieren. Qualitative Netzwerkanalysen bedeuten für uns, dass Beziehungen zwischen wenigstens drei Personen in ihren Wechselwirkungen und subjektiven Zusammenhängen untersucht werden. Als
H. von der Lippe (*) MSB Medical School Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] P. Kaiser Universität Vechta, Vechta, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_42
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eine Möglichkeit für die integrative methodologische Konzeption psychologischer Partialnetzwerke werden qualitative Interviews zu Genosoziogrammen als egozentrierte Netzwerke subjektiv bedeutsamer Beziehungen eingeführt. Hieran werden abschließend die Perspektiven einer methodenintegrativen Ausrichtung der qualitativen Netzwerkanalyse in der Psychologie verdeutlicht. Schlüsselwörter
Social Network Analysis (SNA) · Egozentrierte Netzwerke · Qualitative Sozialforschung · Mixed Methods · Genosoziogramme
1
Einleitung
Für die Klärung der Bedeutung qualitativer Netzwerkanalysen in der Psychologie ist zunächst eine doppelte Festlegung notwendig: zum einen, was Netzwerke als Gegenstand der Psychologie genau meinen und umfassen sollen, und zum anderen, wodurch eine qualitative Netzwerkanalyse definiert werden kann. Ausgehend von zentralen Autor/innen wird hierzu zunächst die historische Entwicklung einer qualitativen Netzwerkanalyse zu illustrieren sein, bevor dann die Frage nach einer Festlegung des Gegenstandsbereiches im Sinne einer Definition angezeigt ist. Für manche Forschende dürfte es sich bei dem Begriff „qualitative Netzwerkanalysen“ auf den ersten Blick um eine Contradictio in Adjecto oder um eine einfache Erweiterung der sozialen Unterstützungsforschung handeln. Dass dem nicht so ist, kann anhand aktueller konzeptueller wie empirischer Beispiele qualitativer Netzwerkanalysen leicht gezeigt werden. Dabei wird insgesamt ein hohes und derzeit nur partiell ausgeschöpftes theoretisches, methodologisches und empirisches Potenzial der qualitativen Netzwerkanalytik feststellbar werden.
2
Historische Einordung: Netzwerke als Gegenstand qualitativer Forschung in der Psychologie
2.1
Die Anfänge: frühe Studien zur Psychologie von Netzwerkbeziehungen
Der Beginn der empirischen Netzwerkforschung ist eine Geschichte vieler beteiligter Disziplinen und zunächst unverbundener Quellen. Diese Geschichte ist inzwischen gut nachgezeichnet worden und liegt in Überblicksdarstellungen vor (z. B. Gamper und Reschke 2010; Straus 2013). Für die Psychologie fungieren hierbei zumeist – und zu Recht – Jakob Moreno und Fritz Heider als Gründungsväter eines genuinen Netzwerkdenkens. Dies bedeutet: einer wissenschaftlichen Perspektive, welche der Struktur zwischenmenschlicher Beziehungen für die Erklärung individuellen Erlebens und Handelns eine zentrale Bedeutung beimisst. So formu-
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lierte Moreno bereits 1937 im ersten Band der von ihm begründeten Zeitschrift Sociometry: „Wenn wir uns die differenzierte Struktur einer Gemeinschaft anschauen, sehen wir die konkrete Position jedes einzelnen in ihr, aber auch einen Nukleus von Beziehungen um jeden einzelnen herum [. . .] Dieser Nukleus der Beziehung ist [. . .] ein soziales Atom. [. . .] [Es] verbinden sich bestimmte Teile mit Teilen anderer sozialer Atome, und diese wiederum mit Teilen wieder anderer sozialer Atome und bilden auf diese Weise komplexe Beziehungsketten, die in Begriffen der deskriptiven Soziometrie psychologische Netzwerke genannt werden.“ (zit. n. Moreno 2001, S. 61; unsere Hervorhebung)
Und Heider beschrieb 1958 „Systeme“ von Beziehungen sowie systematische Effekte innerhalb dieser: „Als Arbeitshypothese haben wir die Annahme benutzt, es gäbe bei [Systemen] interpersonale[r] Beziehungen eine Tendenz zu Gleichgewichtszuständen. Diese Hypothese liefert uns [. . .] eine Sprache, mit deren Begriffen wir einen großen Bereich von Phänomenen erfassen können, die eine neue Bedeutung erhalten.“ (zit. n. Heider 1977, S. 248–249; Herv.d.A.)
Obwohl Morenos und Heiders Pionierarbeiten (die freilich selbst wiederum an die Gestalt- und Feldpsychologien ihrer Zeit anknüpften) zunächst vor allem auf einem eher interpretativen Vorgehen beruhten, war Netzwerkforschung im Folgenden einer starken Tendenz zur Quantifizierung unterworfen. Dies geschah in Form von mathematischen Netzwerkindizes, die Gamper und Reschke (2010, S. 20–23) bereits für die 1930er- und 1940er-Jahre nachgewiesen haben. Die Quantifizierung von Netzwerkstrukturen bildete seither den Hauptstrang einer Forschungsrichtung, die als Social Network Analysis (Wassermann und Faust 1994) bezeichnet wird. Das in der Psychologie am weitesten verbreitete Beispiel für die quantitative soziale Netzwerkanalyse ist sicherlich die Soziometrie in Form der Analyse von Soziogrammen (für ein eindrückliches Beispiel aus der Hochphase soziometrischer Gruppendiagnostik siehe etwa Dollase 1976). Als den Beginn einer psychologisch anschlussfähigen und explizit qualitativen Netzwerkforschung identifiziert Straus (2013) daher auch die berühmte Studie von Bott (1957) zu Beziehungsnetzen von Ehepaaren: Bott und Mitarbeitende hatten 20 Londoner Ehepaare in mehreren aufeinanderfolgenden Interviews nach ihrem Umfeld persönlicher Beziehungen befragt und dabei ein Vorgehen gewählt, das Straus (2013, S. 35) als einen „historischen Meilenstein qualitativer Sozialforschung“ bezeichnet. Aus heutiger Sicht hatte Bott – ohne es seinerzeit explizit so zu thematisieren – eine methodenintegrative (qualitativ-quantitative), egozentrierte, längsschnittliche, fallrekonstruktive und typologische Netzwerkanalyse mit qualitativem Schwerpunkt zum network-overlap in dyadischem Design durchgeführt. Ihr zentrales Ergebnis in Form von zwei Haupt-Netzwerktypen hatte sie als eine der ersten mit den auch heute noch üblichen Visualisierungen aus Knoten und Kanten (d. h. Punkten für Personen und Verbindunglinien für Beziehungen) illustriert (Schnegg 2010; Straus 2013; für eine Übersicht über aktuelle Netzwerk-Visualisierungen siehe etwa Schönhuth et al. 2013; Straus 2010).
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Die methodische Rezeption der Bott-Studie im deutschsprachigen Raum im Sinne einer systematisierten qualitativen Netzwerkforschung blieb in der Folge jedoch aus (Straus 2013). Dies führte dazu, dass für die späten 1980er- bzw. frühen 1990er-Jahren von einer allmählichen Wiederentdeckung qualitativer Netzwerkforschung für die (deutschsprachige) Psychologie gesprochen werden kann.
2.2
Die Wiederentdeckung der qualitativen Netzwerkanalyse in der Psychologie: Studien der 1980er- bis 2000er-Jahre
Straus sieht in dieser Zeit ein beschwerliches Heraustreten der qualitativen Netzwerkforschung aus einer „dreifachen Diaspora“ (Straus 2013, S. 36). Diese bestand für ihn aus den notwendigen Auseinandersetzungen 1. mit dem quantitativen Hauptstrom der Psychologie und der Sozialwissenschaften im Allgemeinen, 2. mit der quantitativen Netzwerkforschung im Besonderen und 3. mit dem allfälligen Widerstand qualitativer Kolleg/innen gegen den Einsatz (potenziell quantifizierbarer) Netzwerkkarten als visuellem Element in narrativen Interviews. Interessanterweise erschienen für die genannte Renaissance qualitativer Netzwerkforschung maßgebliche Werke in internationaler Perspektive betrachtet fast zeitgleich. Im englischsprachigen Raum war der Sammelband von Milardo (1988a) zu „Familien und sozialen Netzwerken“ eine zentrale Bezugsgröße. Milardo (1988b) stellte in der Einleitung einige relevante qualitative Arbeiten aus der Netzwerkforschung in den Vordergrund, im Band selbst dominierten jedoch wiederum quantitative Ansätze mit geringen qualitativen Anteilen. Im deutschsprachigen Raum ist dem Sammelband von Keupp und Röhrle (1987) ein ähnlicher Stellenwert für die qualitative Netzwerkforschung in der Psychologie beizumessen. Hier lag der Schwerpunkt der Beiträge tatsächlich auf qualitativen Studien, die sich meist in einen Forschungszusammenhang mit der Wahrnehmung und Rekrutierung sozialer Unterstützung in verschiedenen psychologisch relevanten Kontexten stellten. An diese historische Arbeiten anknüpfend ließen sich in den 1990er-Jahren im deutschsprachigen Raum einige erste größere qualitative bzw. methodenintegrative Netzwerkstudien finden. Hier sind beispielsweise die Arbeiten von Laireiter (1993), Gmür und Straus (1994) sowie Neyer (1996) zu nennen, die teilweise eine Rezeption auch im Hauptstrom der deutschsprachigen Psychologie erfuhren (Asendorpf und Banse 2000, S. 223). Die Pionierarbeit aus dem „Sfb 333: Entwicklungsperspektiven von Arbeit“ nutzte in einem Teilprojekt (um Heiner Keupp, Bernd Röhrle, Florian Straus, Wolfgang Gmür und andere) zu den Beziehungsnetzen junger Erwachsener bereits ein methodenintegratives Vorgehen, das aus einem halbstrukturierten Interview, einem Life-Event-Kalender und einer papiernen, halb-strukturierten Netzwerkwerkkarte auf einem A3-Papier bestand (Gmür und Straus 1994, S. 229–230; Kraus 2000). Letztere wurde vor allem qualitativ-typologisierend ausgewertet und eröffnete den Forschenden ein besonderes Verständnis für das hohe Maß an Heterogenität und Desynchronisation der Beziehungswelten junger Erwachsener.
Qualitative Netzwerkanalyse
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Methodologisch verhielten sich die genannten frühen Studien der wiederentdeckten psychologischen Netzwerkforschung häufig jedoch noch wenig eindeutig, da neben den durchaus vorhandenen qualitativen Anteilen das Ziel der Quantifizierung von Netzwerkdaten meist, wenn auch nicht immer, im Vordergrund stand. Erst der Band von Hollstein und Straus (2006) gab im deutschsprachigen Raum einen dezidierten methodologischen Startschuss für die Fundierung einer qualitativen Netzwerkanalyse, da jener eine „erste systematische Aufarbeitung der Möglichkeiten qualitative[r] Forschungsmethoden für die Analyse von sozialen Netzwerken“ (Straus 2006, S. 481) darstellte. In jenem Band wurde offenkundig, dass sich einige qualitativ forschende Psychologen und Psychologinnen – neben den das Feld dominierenden Sozialwissenschaftler/innen und Ethnolog/innen – bereits der qualitativen Netzwerkanalyse zugewandt hatten. So stellten die Psycholog/innen Höfer, Keupp und Straus (2006) eine qualitative Netzwerkanalyse zur Erforschung individueller Verortungen in Szenen und Organisationen sozialen Engagements vor. Sie zeigten anhand von 40 methodenintegrativen Interviews mit jungen Erwachsenen, wie sich mittels eines interpretativ-typologischen Ansatzes sowie einer Visualisierung per Netzwerkkarte aus den Informationen eines narrativen Interviews drei Netzwerk- und zwei Figurationstypen individueller Beziehungsverortung herausarbeiten ließen. Für die Psychologie, so postulierten die Autor/innen, ergäben sich durch die qualitative Netzwerkforschung relevante Erkenntnismöglichkeiten zu Fragen der beziehungsbezogenen individuellen Konstruktion von Lebensstilen und Identitäten. Der Beitrag des Psychologen Kühn (2006) in demselben Band stellte eine Netzwerkanalyse im Rahmen der im „Sfb 186: Statuspassagen und Risikolagen im Lebenslauf“ eingerichteten qualitativen Forschungsdatenbank zur Diskussion. Hier waren insgesamt 770.000 Textzeilen aus über 300 biografischen Interviews für die qualitative Netzwerk-Sekundäranalytik aufbereitet worden. Auf dieser Datengrundlage war es dem Autor möglich, seine genuine Typologie von sechs biografischen Gestaltungsmodi junger Erwachsener in einen systematischen Zusammenhang mit der wahrgenommenen Einbettung in Netzwerke zu setzen. Kühn konnte anhand der qualitativen Netzwerk- und Beziehungserzählungen der Befragten unterschiedliche Netzwerktypen identifizieren und beispielsweise weite von engen, große von kleinen, zeitintensiv gepflegte von sporadisch anfallenden sowie intensiv von schwach genutzten Netzwerken unterscheiden. Für die Psychologie, so führte der Autor aus, bestünde in der qualitativen Netzwerkanalyse die Möglichkeit, zu einem vertieften Verständnis der Bedeutung sozialer Unterstützung und Einbettung für biografische Laufbahnentscheidungen zu gelangen. Schließlich stellten Bernardi, Keim und von der Lippe (2006) in jenem Band den Ansatz einer qualitativen Netzwerkanalyse im Kontext eines interdisziplinären Mixed-Methods-Projekts mit psychologischer Beteiligung zur Erklärung unterschiedlicher Familienplanungsstrategien junger Erwachsener vor. In der Kombination quantifizierbarer Netzwerkkarten und -tabellen mit Informationen aus problemzentrierten Interviews (Witzel und Reiter 2012), die über die Themen „Entscheidung zur Elternschaft“ und „soziale Beziehungen“ geführt wurden, beschrieben die Autor/ innen eine besondere Möglichkeit des empirischen Zugangs zur Frage, warum
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manche jungen Erwachsene relativ früh, andere aber relativ spät bzw. nie eine Elternschaft im Lebenslauf eingehen. Für die Psychologie bestünde den Autor/innen zufolge in qualitativen Netzwerkanalysen ein relevanter Beitrag, um die notorischen Schwierigkeiten bei der Erklärung differenzieller Familienplanung (von Rosenstiel et al. 1986; Stöbel-Richter 2010) mit einem neuen methodischen Zugriff anzugehen (s. auch Bernardi et al. 2007; Bernardi und Klärner 2014). Diese Übersicht verdeutlicht, dass gerade der Band von Hollstein und Straus (2006) die qualitative Netzwerkanalytik nachhaltig im Bewusstsein vieler Psycholog/innen und interdisziplinär Forschenden etabliert hat.
3
Zum Gegenstandsbereich: Definition einer qualitativen Netzwerkanalyse in der Psychologie
Für eine allgemeine Klärung der Anwendungsbereiche qualitativer Netzwerkanalysen in der Psychologie sollen nun zwei Themen eingehender behandelt werden: zum einen die Frage, was Netzwerke als Gegenstand der Psychologie eigentlich genau meinen und umfassen sollen (Abschn. 3.1), und zum anderen, wodurch sich eine qualitative Netzwerkanalyse definieren lässt (Abschn. 3.2).
3.1
Netzwerke als Gegenstand der Psychologie
Bisweilen findet sich in der Literatur die unzutreffende Annahme, dass man mit Netzwerkanalysen lediglich eine Art von Unterstützungsforschung bezeichne. Dies greift allerdings deutlich zu kurz, wie Heidbrink et al. (2009) zutreffend kritisieren. Sie beziehen sich hierbei unter anderem auf eine Feststellung von Keupp, dass eine solche Sichtweise „zu eng und zu defensiv“ sei (Keupp 1999, zit. n. Heidbrink et al. 2009, S. 180), da Netzwerke mehr bedeuteten und umfassten als Unterstützungsleistungen. Definiert man Netzwerke mithilfe der klassischen Formulierung von Mitchell als „set of actors and linkages between these actors“ (Mitchell 1969, zit. n. Hollstein 2011, S. 405; Herv. d. A.), dann wird deutlich, dass insbesondere für die qualitative Psychologie Spezifikationsbedarf besteht. Denn während in benachbarten Disziplinen auch Organisations-, Zitations-, Innovations-, Handels- oder neuronale Netzwerke beforscht werden, argumentieren wir, dass Netzwerke als Gegenstand der Psychologie zuvörderst Objekte des Erlebens und Handelns von Individuen im Kontext zwischenmenschlicher Beziehungen beschreiben sollen: Actors sind für die Psychologie insbesondere Individuen, und Linkages dyadische Beziehungen zwischen diesen Individuen. Laireiter (2009) weist nun in einer zusammenfassenden Darstellung auf den wichtigen Punkt hin, dass wir als Forschende diese Beziehungen zwischen Individuen vorab definieren müssen. Denn Menschen besitzen nicht nur ein Netzwerk als Objekt des Erlebens und Handelns, sondern unterhalten bzw. perzipieren sehr unterschiedliche und nur z. T. überlappende Beziehungsgeflechte. Da sind etwa
Qualitative Netzwerkanalyse
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andere Menschen, mit denen sie sich austauschen („Kommunikationsnetzwerk“); Menschen, mit denen sie etwas unternehmen („Aktivitätsnetzwerk“); Menschen, denen sie sich eng verbunden fühlen („emotionales Netzwerk“) –, um nur einige der vielen Möglichkeiten von Netzwerken zu nennen (Laireiter 2009). Je nach Klassifikationsansatz entstehen daher mitunter sehr lange Listen von sogenannten Partialnetzwerken, wie Laireiter (2009) diese unterschiedlichen Beziehungsgeflechte allgemein bezeichnet. Es gibt darüber hinaus einen weiteren wichtigen Aspekt, der für den Gegenstandsbereich von psychologischen Netzwerken bedeutsam ist. Wird das Individuum („Ego“) mit seinen – wie auch immer definierten – dyadischen Beziehungspartnern („Alteri“) als Gegenstand einer Netzwerkanalyse befragt, so bezeichnet dies im Grunde ein unvollständiges Netzwerk aus reinen Ego-Alter-Beziehungen (der sogenannte „first order star“ nach Barnes 1969, zit. n. Hollstein 2006, S. 21), da in einem solchen Vorgehen unterschlagen wird, dass auch die Alteri untereinander Beziehungen unterhalten können (Asendorpf und Banse 2000; Straus 2002). Denn – um in den genannten Beispielen zu bleiben – Egos Kommunikationspartner/innen können prinzipiell auch untereinander kommunizieren, Egos emotionale Beziehungspartner/innen können auch untereinander emotional verbunden sein und so weiter. Ohne diese Information – die sogenannten Alter-Alter-Beziehungen oder „first order zone“ (nach Barnes, zit. n. Hollstein 2006, S. 21) – würde übersehen, dass es dichtere vs. loser geknüpfte Netzwerke geben kann; aus diversen Gruppen bestehende vs. auf einen Kern hin zentralisierte; aus balancierten vs. unbalancierten triadischen oder tetradischen Beziehungszirkeln bestehende; und viele weitere Strukturmerkmale mehr, in denen sich soziale Netzwerke unterscheiden.1 Nun wird dieses Gesamt der vollständigen Beziehungsinformationen in der first order zone auch in der Psychologie typischerweise mithilfe quantitativer Strukturmaße beschrieben, wie beispielsweise Maßen der Netzwerkgröße, -dichte, -zentralisierung, -homogenität, -homophilie, triadischen Balanciertheit, -löchrigkeit (structural holes), Zentralisierung oder Brokerage-Rollen von Netzwerkpersonen (z. B. Friemel 2008; Fuhse 2018; Gamper und Herz 2017; Kalish und Robins 2005; McFarland und Pals 2005; Robins und Kashima 2008; Wrzus et al. 2012). Die Frage lautet also: Wie lässt sich der Gegenstandbereich einer qualitativen Netzwerkanalyse im Verhältnis zum Hauptstrom der quantitativen Social Network Analysis definieren?
1
Wir beschränken unsere Darstellung auf egozentrierte oder personale Beziehungsnetze von Individuen. Die vor allem in der Soziologie und Ethnografie weiter gefasste Perspektive etwa einer second order zone oder eines Gesamtnetzwerkes, in dem alle Mitglieder einer definierten Gruppierung (z. B. eines Dorfes oder einer Schulklasse) stets vollständig befragt werden, bleibt hier aus Platzgründen unbehandelt. Sie lässt sich aber in erster Näherung als die Summe aller egozentrierten oder personalen Netzwerke in einer Gruppierung verstehen (s. hierzu die ausführliche Darstellung bei Fuhse 2018; Gamper und Herz 2017).
440
3.2
H. von der Lippe und P. Kaiser
Qualitative Netzwerkanalyse in der Psychologie: eine Gegenstandsbestimmung
Die zweite notwendige Gegenstandsklärung bezieht sich auf die Frage, was unter einer qualitativen Forschung zu Netzwerken zu verstehen ist. Hierzu liegt eine relevante theoretische Rahmung von Hollstein (2011, insbesondere S. 406–409; vgl. für eine andere Klassifikation etwa Fuhse 2018, S. 138–139) vor, deren Darstellung wir in der in den nächsten Absätzen leicht modifizierend folgen. Mit ihr lassen sich aus unserer Sicht fünf für die Psychologie besonders zentrale Beiträge qualitativer Zielstellungen im Rahmen von qualitativen Netzwerkanalysen formulieren.2 1. Netzwerkexploration und Feldzugang: Immer wieder stehen Forschende vor der Schwierigkeit, mehr über einen Bereich in Erfahrung zu bringen, in dem die Verflechtung von Akteur/innen möglicherweise von hoher Bedeutung, der Zugang für Außenstehende aber schwer realisierbar ist. Dies stellt in der Psychologie beispielsweise in der Devianz- und Delinquenzforschung („Dunkelfeld“) ein Problem dar, aber auch in anderen sozialen Bereichen, in denen Menschen den Forschenden skeptisch gegenüberstehen, z. B. aufgrund kultureller Unterschiede oder prekärer Lebensverhältnisse. Hier kommen Hollstein zufolge die besonderen Stärken qualitativer Verfahren auch der Netzwerkforschung zugute, etwa indem durch (teilnehmende) Feldbeobachtung oder durch Interviews ein Feldzugang gebahnt wird und zuvor unbekannte Netzwerkphänomene exploriert werden. 2. Netzwerkwahrnehmungen und -bewertungen: Qualitative Netzwerkstudien können Hollstein zufolge ebenso den Schwerpunkt verfolgen, „individual perceptions, meanings, orientations, and strategies“ (Hollstein 2011, S. 407) in Bezug auf ihre relationale Einbettung und sozialen Bezüge zu erheben. Ob bzw. wie sehr sich Menschen integriert oder einsam in ihren Netzwerken fühlen, lässt sich häufig nicht aus rein quantitativen Strukturmaßen vorhersagen. Welche unterschiedlichen Bedeutungen sie ihren Netzwerkteilen beimessen oder worin für die Einzelnen der Unterschied zwischen engen und relevanten versus losen und weniger wichtigen Beziehungen besteht, lässt sich qualitativ leichter rekonstruieren. Mithin dienen qualitative Verfahren in diesem Zielbereich häufig einem genaueren Verständnis von Netzwerken aus der Sicht der Akteur/innen selbst. 3. Netzwerkeffekte: Dass qualitative Netzwerkforschung nicht ausschließlich deskriptiven Zielen verhaftet sein muss, verdeutlicht Hollstein im Zusammenhang mit Netzwerkeffekten. Hiermit ist gemeint, dass der Frage nach den kausalen Wirkungen und Konsequenzen von sozialen Netzwerken für die Individuen mithilfe qualitativer Verfahren auf den Grund gegangen werden kann. Im Gegensatz zu quantitativen Methoden, bei denen kausale Erklärungen zumeist durch a priori formulierte theoretische Modelle vorgenommen werden, erlauben es
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Siehe hierzu auch die Darstellung des allgemeinen Beitrags der qualitativen Psychologie für den quantitativen Hauptstrom des Fachs, wie er in den einschlägigen Lehrwerken diskutiert wird (z. B. Hussy et al. 2010).
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qualitative Verfahren, neue Zusammenhänge zu ermitteln (Crossley 2010). Diese Zielstellung sei angezeigt, wenn vermutet wird, dass „context and actor strategies [. . .] play a crucial role in determining network impact or network composition and network dynamics“ (Hollstein 2011, S. 408, unsere Herv.). 4. Netzwerkpraktiken: Ein wichtiger weiterer Punkt bezieht sich auf die Annahme der qualitativen Psychologie, dass Individuen in ihrem Erleben und Handeln nicht nur quasi passiv äußeren oder inneren Faktoren unterworfen sind, sondern dass sie sich als soziale Agent/innen in Form eines sinnhaften und bezogenen Handelns in ihre Beziehungskontexte einbringen. In der arbeits- und organisationspsychologischen Forschung hat sich hier bereits der Begriff des Networking etabliert, der zweckorientiertes Handeln bei geschäftlichen Kontakten beschreibt (Wolff und Moser 2006). Ob und in welcher Weise sich dies auch innerhalb bzw. in Bezug auf Beziehungsnetze in anderen, beispielsweise emotional bedeutsamen, privaten Beziehungskontexten zeigen lässt, ist eine relevante Frage für die qualitative Netzwerkforschung. In einer explorativen Studie (Barthen 2009, zit. n. von der Lippe 2012) ließ sich etwa zeigen, dass junge Erwachsene nach dem Umzug in eine andere Stadt die aktuelle Komposition ihres gesamten Beziehungsnetzes subjektiv reflektierten (z. B. zu klein, zu groß, zu eng, zu distant, zu wenig lokale Personen, zu viele Personen ohne Kinder, zu dicht verbundene Gruppe) und sich daraufhin gezielt bestimmter Netzwerkstrategien bedienten (z. B. mehr oder wenig oft ausgehen, andere Kreise aufsuchen, ausgewählte Kontakte reduzieren, alte Kontakte reaktiveren). Hierbei geht es, und das ist wichtig, nicht (oder allenfalls am Rande) um den bekannten Topos der „Mobilisierung sozialer Unterstützung“ (Klauer und Winkeler 2005, S. 157), denn konkrete Unterstützungswünsche für ihr „Networking“ hatten die von Barthen Befragten oft nicht. Es ging vielmehr im Sinne Hollsteins um die übergreifende Gestaltung von Sozialität und Einbettung durch die Individuen selbst: ein mitunter übersehener Aspekt sozialer Netzwerkforschung. 5. Netzwerkdynamiken: Eine theoretisch leicht zu postulierende, aber empirisch schwer zu erfassende Eigenschaft von sozialen Beziehungsnetzen wird als Netzwerkdynamik bezeichnet. Je nach interessierendem Partialnetzwerk sind Struktur, Qualität und Funktionalität eines Beziehungsnetzes mehr oder weniger starken und kurzfristigen Veränderungen unterworfen. Für die Rekonstruktion dieser Prozesse sind quantitative Methoden oft zu starr oder träge, und so kommt qualitativen Verfahren hier die Aufgabe zu, diese Dynamiken aufzudecken – und ggf. in einen sinnvollen Zusammenhang mit den vier erstgenannten Punkten zu stellen: „so far little is still known about the emergence and change of networks“ (Hollstein 2011, S. 408; für eine aktuelle Arbeit, die solche Dynamiken methodenintegrativ herausarbeitet, z. B. Klärner et al. 2016). Fassen wir diese Punkte mit den Überlegungen aus Abschn. 3.1 in Form einer definitorischen Gegenstandsbestimmung qualitativer Netzwerkforschung in der Psychologie zusammen, erhalten wir die folgende Position:
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Qualitative Netzwerkforschung in der Psychologie befasst sich grundsätzlich mit verschiedenen Arten von Beziehungsnetzen (Partialnetzwerken) des Individuums aus seiner subjektiven Sicht und im Zusammenhang mit seinem subjektiven Erleben oder Handeln. Man kann und sollte dann, und nur dann, von einer qualitativen Netzwerkforschung sprechen, wenn 1. sowohl daten- als auch analyseseitig zwei oder mehr Beziehungen (Relationen) von drei oder mehr Personen (Akteur/innen) untereinander betrachtet werden, wenn 2. wenigstens eine – wie auch immer geartete – Form von Wechselwirkung zwischen diesen Beziehungen von Interesse ist und wenn 3. Erleben oder Handeln als subjektive Ursache, Konkomitante oder Konsequenz dieser Wechselwirkungseffekte mittels qualitativer Methoden rekonstruiert werden.
Als ein klassisches und in der Psychologie weithin bekanntes Beispiel eines solchen Ansatzes, in dem sämtliche der geforderten Bestimmungsstücke eines Netzwerkansatzes vorliegen, kann die bereits erwähnte Balancetheorie Heiders aufgeführt werden (Heider 1977). In der klassischen Beziehungstriade der Balancetheorie (dies sind drei dyadische Beziehungen zwischen den Personen A, B und C) wird eine dyadische Beziehung zweier Personen in Abhängigkeit von der Symmetrie der beiden anderen Beziehungen erklärt. Leicht lässt sich das Gemeinte anhand des Freund-meines-Freundes-ist-mein-Freund-Effektes erläutern: eine dyadische Beziehung zwischen A und B wird durch A umso positiver und stabiler erlebt und gestaltet werden, je mehr B eine positive Beziehung zu C unterhält, zu der A ebenfalls eine positive Beziehung hat. Analog ist der Feind-meines-Feindes-ist-mein-FreundEffekt triadisch zu verstehen: Die dyadische Beziehung zwischen A und B wird durch A umso positiver und stabiler erlebt und gestaltet werden, je mehr B eine negative Beziehung zu C unterhält, zu der A ebenfalls eine negative Beziehung hat. Immer dann, wenn nun das subjektive Beziehungserleben oder -handeln von Ego (A) vor dem Hintergrund des wahrgenommenen Beziehungsgeflechts mit qualitativen Methoden thematisiert wird, kann also von einer qualitativen Netzwerkanalyse gesprochen werden. Dabei stellen die Heider'sche Triade und unsere obige Definition freilich nur die kleinstmögliche Netzwerkstruktur dar: Nach oben hin erscheint uns die Komplexität denkbarer Konstellationen und Analysen allenfalls sachlogisch oder pragmatisch begrenzt.
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Aktueller Stellenwert und Themen der qualitativen Netzwerkanalyse in der Psychologie
Ausgehend von der soeben gegebenen Gegenstandsbestimmung der qualitativen Netzwerkanalyse in der Psychologie soll die Frage behandelt werden, welche Themen aktuell in konzeptuellen oder empirischen Arbeiten bearbeitet bzw. diskutiert werden. Vor allem in Bezug auf die sozialwissenschaftlichen Fächer kann man mit Fuhse (2018, S. 151) von einem „regelrechten Boom“ qualitativer Netzwerkanalysen sprechen, der in der Psychologie vergleichsweise noch eher am Anfang steht. Eine für diesen Beitrag durchgeführte Abstractsuche in wissenschaftlichen Zeitschriften der Datenbank PsycInfo (01.05.2017) nach „network*“, verbunden mit explizit ausgewiesener, d. h. unter Tests & Measures verschlagworteter, qualitativer
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Methodik jeglicher Art (von semi-structured interview bis focus groups), erzielte 241 Treffer – ohne die explizite Nennung der Methodik wurden sogar 1420 Treffer erreicht. Die zugehörigen Studien erfüllten nicht immer die strengen Kriterien des von uns definierten Gegenstandsbereichs qualitativer Netzwerkforschung, dokumentierten aber einen breiten Anwendungsbereich in sämtlichen Teildisziplinen der Psychologie. So ließen sich beispielsweise Arbeiten aus der sozial- oder entwicklungspsychologischen Grundlagenforschung (z. B. decision making, biographical transitions) wie auch aus der gesundheits- oder klinisch-psychologischen Anwendungsforschung (z. B. health service, relapse prevention) finden. Wir haben einige der jüngeren oder methodisch besonders interessanten Forschungsarbeiten ausgewählt, um einen exemplarischen Einblick zu leisten, wie aktuelle qualitative Netzwerkforschung – auch nach den strengen Kriterien des von uns definierten Gegenstandsbereich qualitativer Netzwerkforschung – konkret aussehen kann, und um damit auf die Perspektiven für die weitere Forschung überzuleiten.
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Aktuelle Themen qualitativer Netzwerkanalysen: Grundlagenforschung
Eine grundlegende konzeptuelle und empirische Arbeit zu psychologisch relevanten Beziehungswechselwirkungen in egozentrierten Beziehungsnetzen legten Wendt et al. (2008) vor. Die Autor/innen postulieren auf der Grundlage von qualitativen Vorstudien drei allgemeine Arten solcher Wechselwirkungen: Kompensation, Konkurrenz und Generalisierung. Kompensation bedeutet den Autor/innen zufolge, dass „Beziehungen als Ressourcen für die Stabilisierung anderer Beziehungen fungieren und mögliche Belastungen und Anforderungen in einem anderen Teilnetzwerk ausgleichen“ (Wendt et al. 2008, S. 460). Kompensation kann im Netzwerk somit in verschiedenen Bereichen, Arten und Stärken vorliegen: Bestimmte Mangel- oder Belastungserfahrungen in einem Beziehungsbereich können in ihrer Wirkung durch andere Beziehungen kompensatorisch abgemildert werden. Einen Spezialfall von Kompensation stellt hierbei die Substitution von Beziehungen dar: Der Ausfall einer Beziehung (z. B. durch Tod, Krankheit oder Trennung) wird durch das Eingehen oder Intensivieren anderer Beziehungen ausgeglichen. Unter Konkurrenz-Wechselwirkungen von Beziehungen verstehen Wendt und Kollegen „die Aufteilung von Zeit und Engagement auf den Aufbau und die Pflege verschiedener Beziehungsbereiche“ (Wendt et al. 2008, S. 460) und somit potenziell negative Auswirkungen, die Beziehungen auf Beziehungen haben können. Aus der Alltagspsychologie sind hier Phänomene wie beispielsweise das Vernachlässigen von Freund/innen aufgrund einer neu eingegangenen Paarbeziehung oder das Reduzieren von Familienbeziehungen aufgrund intensiver Arbeitsbeziehungen einer Person wohl bekannt und stellen Konkurrenzeffekte dar. Und schließlich wird von den Autor/innen Generalisierung (auch als „Spill-overEffekte“ bezeichnet) als eine Wechselwirkung definiert, in der bestimmte Beziehungsmerkmale in einem Netzwerkteil auf andere Beziehungen oder Beziehungsbereiche ausstrahlen, d. h. im Netzwerk diffundieren bzw. „überschwappen“. Dies
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wäre etwa dann der Fall, wenn Konflikte in Arbeitsbeziehungen auch Familienbeziehungen belasten – und umgekehrt – oder wenn sich positive Erfahrungen im Familienbereich auf eine Verbesserung aller anderen Beziehungen im Beziehungsnetz auswirken. Diese von Wendt et al. (2008) vorgeschlagene Systematik von Beziehungswechselwirkungen ist bislang lediglich in ersten Vorstudien weiter verfolgt worden und wäre sicherlich durch eine Vielzahl von weiteren Effekten in der Struktur von Beziehungsnetzen zu ergänzen. Als Beispiele für weitere psychologisch interessierende Beziehungseffekte könnten Vermittlungs- oder Gatekeeping-Effekte in Beziehungsnetzen dienen, wie sie etwa von Friemel (2008) oder von Fuhrmans et al. (2014) beschrieben wurden. Insgesamt stehen konzeptuelle Überlegungen und das Wissen über diese Effekte aber erst am Anfang der Erforschung – auch der qualitativen. Hier seien nun einige Beispiele für diese Forschung angeführt. In einer jüngeren empirischen Studie zu Mechanismen der Netzwerkkommunikation in gemischt-ethnischen heterosexuellen Paarbeziehungen führten Brummett und Steuber (2015) halbstrukturierte Netzwerkinterviews mit 27 US-Amerikaner/ innen durch, die aktuell in einer solchen Beziehungen lebten. In der thematischen Analyse der Interviews wurden ein systematisches Informationsmanagement der Befragten zwischen den verschiedenen Bereichen ihrer Netzwerke sowie spezifische Konkurrenz- und Generalisierungs-Effekte zwischen diesen Bereichen rekonstruiert. Die Ergebnisse zeigten auf, dass und wie die Befragten sowohl Netzwerkbeziehungen, die ihre Paarbeziehung missbilligten, als auch solche, die sie guthießen, wahrnahmen. Sie nutzten dann je nach Netzwerkbereich unterschiedliche und gezielt gewählte Kommunikationsstrategien, um unerwünschte Reaktionen und negative Beziehungseffekte zu vermeiden. Der Erfolg dieser Handlungsstrategien stand subjektiv wiederum in einem direkten Zusammenhang mit der weiteren Entwicklung ihrer Paarbeziehung. Die Ergebnisse dieser Studie stellen somit ein gutes Beispiel für den individuellen Umgang mit potenziellen Beziehungswechselwirkungen zwischen Netzwerkpartner/innen aus unterschiedlichen Netzwerksektoren dar. In einer Studie mit kanadischen jugendlichen Schmerzpatient/innen gingen Forgeron et al. (2013) der allgemeinen Frage der sozialen Identitätsbildung im Kontext von Familien- und Freundschaftsbeziehungen nach. Hierzu wurden mittels eines interpretativ-phänomenologischen Ansatz Interviews mit 16 Jugendlichen geführt und analysiert. Die Ergebnisse verdeutlichten, dass die subjektive Positionierung im sozialen Netzwerk aus Beziehungen und die Aufgabe dysfunktionaler Freundschaften zugunsten zukünftiger funktionalerer Beziehungen zwei Kernprozesse der jugendlichen Schmerzpatient/innen beschrieben. Dies war subjektiv dann besonders bedeutsam, wenn Freundschaften zur Bewältigung zusätzlicher Belastungen (z. B. Familienkonflikte oder schulische Misserfolge) durch die Befragten gewünscht wurden. Auch in dieser Studie wurde die subjektive Sicht auf ein individuelles „trade-off“ bzw. ein Kompensationseffekt zwischen unterschiedlichen Netzwerksegmenten deutlich, in diesem Fall zwischen Familienbeziehungen, alten sowie zukünftig avisierten neuen Freundschaften.
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Aktuelle Themen qualitativer Netzwerkanalysen: Anwendungsforschung
In einer qualitativen Studie zur beraterischen Unterstützung psychologischer Resilienzentwicklung bei 30 US-amerikanischen Jugendlichen aus Veteran/innenFamilien verwendeten Baptist et al. (2015) einen Interviewleitfaden, mit dem sie die Jugendlichen nach konkreten Unterstützungsmöglichkeiten bei der Bewältigung schwieriger Entwicklungsbedingungen durch belastete Elternteile befragten. Auch ohne das strukturierende Element einer Netzwerkkarte oder Ähnlichem fanden die Autor/innen in den Interviews deutliche Hinweise auf kompensatorische bzw. ausbleibende kompensatorische Funktionen unterschiedlicher Beziehungssektoren im Netzwerk. Hier wurden die Beziehungen aus verschiedenen Netzwerksektoren (z. B. Familie, Freund/innen, Schule, Nachbarschaft) für psychologische Unterstützung gegenübergestellt und nach ihrer subjektiven Vergleichbarkeit, Verfügbarkeit und Bedeutung jeweils individuell gewichtet: „Friends and school offered a means of escape from the stresses at home by providing muchneeded distraction. However, friends [. . .] could not appreciate what adolescents were going through, and as such, could not serve as trusted confidants. [. . .] The involvement of the community was incredibly meaningful, though rare.“ (Baptist et al. 2015, S. 325)
In den Ergebnissen dieser Studie wird außerdem eine Rückwirkung ausbleibender Kompensation im Netzwerk auf Familienbeziehungen deutlich: „When support was not rendered by friends/peers and school, adolescents turned to their families“ (Baptist et al. 2015, S. 318). Eine andere Interviewstudie aus England mit Müttern von minderjährigen Anorexie-Patientinnen fragte ebenfalls auf Basis von Interviews nach den praktischen Möglichkeiten für Unterstützung durch soziale Beziehungen im Kontext der Diagnose (Tuval-Mashiach et al. 2014). Auch hier ergaben sich kompensatorische, generalisierende bzw. konkurrierende Effekte zwischen unterschiedlichen Beziehungsbereichen aus der Sicht der befragten Mütter: „One aspect was their network of relationships and how these relationships were challenged or compromised as a result of their daughters’ illnesses. This aspect included the mothers’ relationships with their daughters, the mothers’ relationships with other family members and with their spouses/partners, the mothers’ relationships with the professionals treating their daughters, and the mothers’ relationships with themselves.“ (Tuval-Mashiach et al. 2014, S. 613)
Hier gelang es den Forschenden, qualitativ zu rekonstruieren, wie die Mütter das Wechselspiel aus Mutter-Tochter-Beziehung, aus Beziehungen zu anderen Familienmitgliedern und ihren Partnern, zu den professionellen Behandler/innen sowie zu sich selbst im Kontext der Therapie subjektiv erlebten und gestalteten.
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4.3
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Aktuelle Themen qualitativer Netzwerkanalysen: Mixed Methods-Ansätze im egozentrierten Netzwerk subjektiv relevanter Beziehungen und das Beispiel des Genosoziogramms
Das in den vorgestellten Beispielstudien qualitativ rekonstruierte subjektive Erleben und Handeln in simultanen Beziehungswelten illustrierte in knapper Form das in Abschn. 3.2 skizzierte übergreifende Forschungsparadigma einer qualitativen Netzwerkanalyse für psychologische Fragestellungen. Dabei bleibt die Frage nach dem Verhältnis qualitativer zu quantitativer Forschungsergebnisse meist wenig systematisch behandelt, ein Thema, das gerade für Netzwerkanalysen aber eine gewisse Offensichtlichkeit und auch Dringlichkeit besitzt (Hollstein und Domínguez 2014; Schönhuth et al. 2013; Teddlie und Tashakkori 2009, S. 256). So wird in der Psychologie die grundsätzliche Frage diskutiert, inwiefern sich quantitative und qualitative Forschungsmethodologien eben nicht nur bekämpfen, sondern auch gegenseitig befruchten können (z. B. Kelle 2014; Mayring et al. 2007; von der Lippe et al. 2011). Diese Frage hat kürzlich ebenfalls Einzug in die Netzwerkforschung gehalten (Bernard 2014; Hollstein 2014). Seit einigen Jahren gibt es nun allgemeine und genuine Konzepte zu Mixed Methods-Designs für die Forschung, und solche Fortschritte weisen unseres Erachtens darauf hin, dass es zukünftig verstärkt darum gehen wird, den Begriff der Methodenintegration nicht mehr nur metaphorisch oder theoretisch zu verstehen, sondern deutlich in Richtung einer „integrativen Methodenlehre“ mit Empiriebezug (Kelle 2014, S. 213) voran zu schreiten. Für die Psychologie dürfte der zentrale Empiriebezug – wie wir im Abschn. 3.1 argumentiert haben – häufig in den subjektiv relevanten Beziehungen aus der Sicht des Subjekts liegen (egozentrierte Netzwerke). Dabei muss keineswegs nur auf soziologische Konzepte zurückgegriffen werden, es gibt genuin psychologische Ansatzpunkte. Als ein solcher wurde unlängst ein Zugang aufgegriffen, in dem Familienbeziehungen, außerfamiliale Beziehungen und ihre möglichen Wechselwirkungen in einer gemeinsamen Methode rekonstruiert werden können: das Genosoziogramm (von der Lippe 2015, 2016). Dieser Begriff wurde der Psychodramatikerin und Familientherapeutin Ancelin Schützenberger (2007, S. 26) zufolge erstmals durch den Ethnopsychiater Henri Collomb in den 1970er-Jahren in die Forschung eingeführt. Bei Genosoziogrammen wird – theoretisch wie auch methodisch – die Integration zentraler Aspekte 1. des individuellen Familiennetzwerks (Genogramm, s. McGoldrick et al. 2008) mit 2. der wahrgenommenen Struktur des Freundes- und Bekanntenkreises (kognitives Soziogramm oder Soziales Atom; Moreno 2001) vorgenommen, was dann (parallel oder sequentiell) um das Erleben und Handeln der jeweils befragten Person qualitativ ergänzt werden kann. Als quantitatives Analyseinstrument ist dabei eine egozentrierte Netzwerkanalyse vorgesehen (Gamper und Herz 2017), während die qualitative Netzwerkanalyse die subjektive Perspektive auf ein solches Beziehungsganzes beiträgt. Hierzu sind beispielsweise Interviewanalysen empfehlenswert. Dieses Rahmenmodell ist als ein gemeinsames Tool für die konzeptuelle Fundierung vergleichender methodenintegrativer Analysen in Form von zukünftigen Mixed Methods-Netzwerkansätzen in der Psychologie konzipiert und steht für den Einsatz in unterschiedlichen Grundlagen- wie Anwendungsstudien bereit.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
In diesem Beitrag haben wir die geschichtlichen Vorläufer, den Gegenstandsbereich und Beispiele qualitativer Netzwerkanalysen in der Psychologie umrissen. Die historischen Pioniere Moreno und Heider sowie die aktuellen konzeptuellen wie empirischen Arbeiten von Hollstein, Straus und anderen stellen für uns grundlegende Ausgangspunkte für die zukünftige Weiterentwicklung und Etablierung dieser Methodologie dar. Gerade auch, aber nicht nur, im Zusammenhang mit dem aktuellen Interesse an Mixed Methods-Ansätzen in der Psychologie (Mayring et al. 2007; von der Lippe et al. 2011) erscheint uns ein zukünftiger Aufschwung qualitativer Netzwerkanalysen geboten und wahrscheinlich. Im Grundlagenwerk „Foundations of Mixed Methods Research“ treffen Teddlie und Tashakkori (2009, S. 256) gar die kategorische Aussage: „Social network analysis is necessarily a M[ixed]M[ethods] technique because it generates both QUAL[itative] and QUAN[titative] results“. Obwohl diese Aussage auf den ersten Blick verlockend klingt, haben die vorangegangenen Ausführungen verdeutlicht, inwiefern qualitative Netzwerkanalysen spezifische Forschungsgegenstände zum Ziel haben und sich dabei unter Umständen an quantitativen Netzwerkmaßen orientieren können, dies aber nicht zwangsläufig müssen. Die qualitative Netzwerkanalyse stellt vielmehr ihr ureigenes qualitatives Forschungsinteresse am Erleben und Handeln von Individuen im Kontext subjektiven (Beziehungs-)Sinns in einen Erkenntniszusammenhang mit dem wissenschaftlichen Konstrukt der Netzwerke. Zum einen hat die vorangegangene Darstellung hier eine Festlegung vorgeschlagen, die an dieser Stelle noch einmal kritisch betrachtet werden soll. Qualitative Netzwerkforschung befasst sich – zunächst wie andere qualitative Forschung auch – mit subjektiven Wahrnehmungen, Bewertungen, Effekten, Praktiken und Dynamiken, und dies bedeutet hier: im Kontext sozialer Beziehungsnetze. Solche Beziehungsgeflechte sollen genau dann als Netzwerke bezeichnet werden, wenn davon auszugehen ist, dass es sich (potenziell) um zwei oder mehr dyadische Beziehungen handelt und Wechselwirkungen oder Zusammenhänge zwischen diesen Beziehungen von Interesse sind bzw. rekonstruiert werden sollen. Sämtliche der im vierten Kapitel referierten Studien befassten sich in der Tat mit mehr als zwei dyadischen Beziehungen, und in allen ging es um Wechselwirkungen zwischen diesen: beispielsweise zwischen alten und neuen Freund/innen; zwischen Freund/innen und Familie; zwischen der Mutter-Tochter und anderen Beziehungen der Mutter; zwischen der Paarbeziehung und wohlwollenden bzw. missbilligenden Freundschaften; zwischen Arbeits- und Familienbeziehungen. Sobald wir hier also mit qualitativen Methoden nach der „Sicht des Subjekts“ (Bergold und Flick 1987) fragen, ist der von Hollstein (2011) vorgeschlagene Gegenstandsbereich (Abschn. 3.2) einer qualitativen Netzwerkanalyse erfüllt. Kritischer ist für uns die Frage, was genau mit „Wechselwirkungen“ oder „Zusammenhängen“ zwischen Beziehungen in der qualitativen Netzwerkforschung gemeint sein kann. Die Definitionen von Wendt et al. (2008) sind hier sparsam und klar: Es gehe den Autor/innen zufolge um Kompensation (und Substitution), Konkurrenz und Generalisierung zwischen Beziehungen. Hier wird es wahrscheinlich aber so sein, dass, sobald wir das Individuum als Agenten in die Mitte des eigenen
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Netzwerks stellen, zusätzliche Effekte qualitativ zu beschreiben sein dürften, für die wir bislang kaum ausgearbeitete Konzepte kennen. Was bedeutet es, wenn zum Beispiel die Wahrnehmung einer sich verschlechternden Beziehung(swelt) A zu der Motivation führt, eine Beziehung(swelt) B in Zukunft aufzubauen? Womit hat man es zu tun, wenn eine Beziehung(swelt) C intensiviert wird, während man eine belastende Entwicklung in der Beziehung(swelt) D erwartet? Und womit hat man es zu tun, wenn sich subjektiv von einer Beziehung(swelt) E distanziert wird, weil man die Gestaltung zukünftiger Beziehung(swelt)en F oder G avisiert? Bisweilen finden sich in qualitativen Rekonstruktionen sozialer Netzwerkberichte durchaus recht vage anmutende Beschreibungen des „Vielleicht“ einer zukünftigen Dynamik oder Wechselwirkung im Netzwerk (z. B. Bernardi et al. 2007). Dies ist dann gerade kein Zeichen vermeintlicher Schwäche qualitativer Methoden, sondern vielmehr deren genuine Stärke, selbst nicht (vollständig) bewussten Vorgängen einen empirischen Niederschlag in qualitativen Netzwerkstudien zu ermöglichen (Stokman 2001). Dies dürfte sich in Zukunft womöglich als eine Besonderheit qualitativer Netzwerkforschung jenseits der Trias von Kompensation, Konkurrenz und Generalisierung erweisen, welche in quantitativen Studien kaum je zu erheben wäre, da gerade erst durch den interpretierten Sinn der vagen Beschreibung diese verständlich werden kann. Somit kommen wir hier im Hinblick auf zukünftige Perspektiven der qualitativen Netzwerkanalytik auf eine Binsenweisheit zu sprechen, die vor dem Gesagten jedoch nur vermeintlich trivial ist: dass der Einzelfall komplex ist, dass immer viele Beziehungseffekte zugleich in einem Fall vorhanden sein dürften und dass diese für den Einzelfall kaum partikularistisch, sondern eben systemisch zusammenwirken. Das bedeutet nun für die qualitative Netzwerkanalyse in einer sehr präzisen Weise, dass sie es in Aussicht stellen kann, auch das gleichzeitige Zusammenwirken vieler paralleler Netzwerkeffekte im „holographic network of relationships“ (Ibarra et al. 2005, S. 365) zu rekonstruieren und zu verstehen. Denn es geht ja in Wirklichkeit kaum um die Frage, ob Kompensation/Substitution oder Konkurrenz oder Generalisierung (oder etwas Anderes) sich im Netzwerk auswirken, sondern um das „Und“ dieser Effekte sowie ihre individuelle Erleb- und Gestaltbarkeit. Insofern kann das Plädoyer, das die mit Genosoziogrammen praktisch arbeitende Therapeutin Ancelin Schützenberger (2007) im Zusammenhang mit diesen Netzwerken formuliert hat, auch für zukünftige Entwicklungslinien qualitativer Netzwerkanalysen Gültigkeit beanspruchen. Es gehe für die Psychologie, so paraphrasieren wir eine Schlussfolgerung ihrer Arbeit, vielleicht gerade nicht darum, „seltsame Netzwerkeffekte“ mit immer ausgefeilteren Methoden quantitativ zu berechnen (zur Kritik an der Soziometrie, s. Schnell et al. 1999, S. 171), sondern um das wissenschaftliche Beweisen, wie sich Effekte und Wechselwirkungen in Beziehungsnetzwerken tatsächlich ereignen (Ancelin Schützenberger 2007, S. 105). Damit lässt sich die Hoffnung verknüpfen, dass bald mehr gegenstandsverankertes qualitativ und methodenintegrativ erarbeitetes Netzwerkwissen dazukommt „zu dem Wissen [. . .], das wir von uns als Wesen in Interaktion [. . .] haben“ (Ancelin Schützenberger 2007, S. 201). In dieselbe Richtung weisen auch die jüngeren, seine Forschungsarbeiten zu einem gewissen Grade zusammenfassenden Überlegungen von Keupp (2008). Er betont, dass wir nach wie vor viel zu wenig psychologische Kenntnisse über unser
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modernes Leben in Netzwerken besitzen: sowohl über die Leistungsfähigkeit von Netzwerken (Stichworte sind hier: soziale Einbettung des Individuums, Identitätsanerkennung, Unterstützung) als auch über die Grenzen und Risiken unserer Vernetzung (Stichworte: Aufwand der Netzwerkpflege, schädliche Netzwerkwirkungen, neue soziale Ungleichheiten). Für diese lohnenswerten Ziele zukünftiger Forschung werden auch qualitative Netzwerkanalysen in der Psychologie gefragt sein.
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Introspektion Harald Witt
Inhalt 1 Historischer Hintergrund der Introspektionsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische Grundannahmen zur Methode der Introspektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Zentrale Diskussion: Kritik an der Methode der Introspektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Das Verfahren der gruppengestützten dialogischen Introspektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Anwendungsgebiete der gruppengestützten dialogischen Introspektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Die historischen Wurzeln des Introspektionsverfahrens werden beschrieben, Definitionen von Introspektion zusammengestellt, Abgrenzungen gegen andere Verfahren, die sich auf innere Prozesse beziehen, vorgenommen sowie die Argumente aufgelistet, die die Verwendung dieser zentralen psychologischen Methode beendeten. Im Zentrum steht die Darstellung der gruppengestützten dialogischen Introspektion als Versuch einer Wiederbelebung der Introspektionsmethode und die Veranschaulichung an einem prototypischen Experiment. Hinweise auf erprobte und noch nicht erprobte Einsatzfelder sollen darüber hinaus die Möglichkeiten des Verfahrens zeigen.
Harald Witt verstarb im November 2018. Seine Artikelfassung stammt aus dem Sommer 2017. Die Durchsicht der Korrekturfahne erfolgte durch seinen Kollegen Thomas Burkart, E-Mail: [email protected]. H. Witt (*) Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_36
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H. Witt
Schlüsselwörter
Introspektion Gruppenverfahren Experiment Innere Prozesse Erleben
1
Historischer Hintergrund der Introspektionsmethode
Die Introspektion wurde um 1900 von vielen noch heute renommierten Forschenden als Standardmethode verwendet, von Brentano (1973 [1874]) und Wundt (1888, 1918 [1896]) bis zu Titchener (1907 [1886]) und der Würzburger Denkpsychologie (Bühler 1999 [1907]). Schon damals gab es viele Varianten der Methode, die entweder auf unterschiedliche Forschungsfragen zurückgingen oder die Schwachstellen der Methode (s. Abschn. 3) zu kompensieren versuchten. Im Folgenden werden zwei experimentelle Anordnungen beschrieben, wie sie seinerzeit zur Untersuchung innerer Vorgänge benutzt wurden, zum einen die Experimente von Wundt (Leipzig, um 1907) zur Untersuchung von Empfindungen, zum anderen Bühlers Denkexperimente (Würzburg, um 1907). Introspektionsexperiment von Wilhelm Wundt Wundt (1832–1920) und seine Schüler führten in dem berühmten Leipziger Laboratorium eine Vielzahl von Experimenten durch, die am Vorgehen der Naturwissenschaft orientiert waren. Insbesondere die Orientierung an der Chemie findet sich in seinem auf Elemente des Bewusstseins ausgerichteten Vorgehen. Um kontrollierbare Expositions- und Antwortbedingungen zu haben, wurden Instrumente wie optische Verschlüsse oder elektrisch gesteuerte Zeitmessungen eingesetzt. Als ein Prototyp dieser Experimente wird hier eine Anordnung von Scripture (1907, S. 50–76.) dargestellt, weil sie ausnahmsweise auch eine Beschreibung der äußeren Bedingungen enthält. Es kamen optische, akustische und taktile Reize zum Einsatz, die in der Regel vier Sekunden exponiert wurden. Die Exposition wurde jeweils zwei Sekunden vorher durch das Wort „Jetzt“ angekündigt. Während der Expositionszeit sollte die Versuchsperson alle assoziierten Vorstellungen mitteilen. Sie saß während der Versuche in einem mit Tüchern abgedunkelten Kasten. Begriffe wurden als geschriebene bzw. gesprochene Worte oder als Bilder präsentiert, Gegenstände mussten im Dunklen ertastet werden. Es ging in diesen Assoziationsversuchen um die Frage: Wie ist der assoziative Verlauf von Vorstellungen? Beispiel 1 Reiz: gesprochenes Wort: Palme Assoziation: „Erinnert an eine Landschaft in den Tropen, stammt von einem Bild“ Beispiel 2 Reiz: Tasteindruck von einer Haarnadel Assoziation: „Zuerst kam der Tasteindruck; zu diesem gesellten sich dann die Tast- und Gesichtsvorstellungen eines gekrümmten Drahtes. Die Gesichtsvorstel-
Introspektion
455
lung wurde immer stärker, und die Tastvorstellung verschwand sehr rasch. Endlich war die Vorstellung des Drahtes zu einer Haarnadel geworden.“ Ergebnis der Versuche waren Aussagen über den Inhalt und Verlauf von Vorstellungen, über den Zusammenhang von Reiz und Empfindung (Psychophysik) und die Unterscheidung von gebundenen Vorstellungen (Wahrnehmungen, Anschauungen und Perzeptionen) und freien bzw. selbstständigen Vorstellungen. Wundt wollte die beiden für ihn zentralen Probleme klären: „Welches sind die Elemente des Bewußtseins? Und: Welche Verbindungen gehen diese Elemente ein, und welche Verbindungsgesetze lassen sich hierbei feststellen?“ (Wundt 1911, S. 29). Introspektionsexperiment von Karl Bühler Ganz anders geartet waren die Untersuchungen von Karl Bühler (1879–1963), der im Psychologischen Institut in Würzburg im Rahmen seiner Habilitation Experimente über das Denken machte. Versuchspersonen waren häufig der Institutsleiter Külpe und andere Kollegen. Es ging um die Frage: Was erleben wir, wenn wir denken? Gegenstand waren komplexe Bewusstseinsinhalte. Die prägnanteste Beschreibung von Bühlers Experimenten findet sich bei Wundt: „Der Experimentator liest der Versuchsperson jedes Mal einen mehr oder minder schwierigen Satz aus einem möglichst nach dem Geschmack und der Gedankenrichtung dieser Person ausgewählten Schriftsteller vor (z. B. Nietzsche, EbnerEschenbach, Rückert). Die Versuchsperson hat dann mit Ja oder Nein zu antworten, wobei dieses Ja oder Nein je nach vorheriger Verabredung entweder bedeutet, dass sie den Gedanken des Satzes verstanden hat oder nicht verstanden hat, oder dass sie ihm zustimmt oder nicht zustimmt. Nach dem Versuch werden jedes Mal die Erscheinungen protokolliert, die in der Selbstbeobachtung vorgekommen sind. Auch wird mit der Fünftelsekundenuhr die Zeit annähernd bestimmt, die zwischen Frage und Antwort verflossen ist“ (Wundt 1907, S. 304). Die Versuchsperson saß am Tisch, der Versuchsleiter in der Nähe. In der Regel waren es recht schwierige Fragen oder Aphorismen, die Zeit bis zur Antwort konnte recht lang sein (z. B. 45 Sek.), war aber auch bei schwierigen Fragen oft erstaunlich kurz. Beispiel 1 Frage: „Können wir mit unserem Denken das Wesen des Denkens erfassen?“ Antwort: „Ja (6 Sek.). – Die Frage berührte mich erst komisch; ich dachte, es sei eine Vexierfrage. Dann fiel mir plötzlich ein, was Hegel Kant vorgeworfen und dann sagte ich mit Entschiedenheit: ja. Der Gedanke an Hegels Vorwurf war ziemlich reich, ich wußte momentan genau, auf was es dabei ankommt ,gesprochen hab‘ ich nichts dabei, auch nichts vorgestellt, nur das Wort Hegel klang mir nachträglich an (akustisch-motorisch)“ (Bühler 1907, S. 304). Beispiel 2 Frage: „Können Sie die Geschwindigkeit eines frei fallenden Körpers berechnen?“
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Antwort: „Ja (5 Sek.)“. – . . . – „ Den Satz sofort verstanden. Habe gleich an die Formel gedacht und gewusst, dass ich sie nicht in extenso gegenwärtig habe (vorgestellt habe ich nichts dabei). Es war zugleich ein unbehaglicher Zustand. Dann kam eine Erinnerung an M . . . [Name] ganz komplex, dabei nur M. gesprochen. Dann das Bewußtsein: ich könnte sie mir gleich vergegenwärtigen, wenn ich mich darauf besänne. Einen Moment Schwanken, ob ich’s tun solle, dann gleich ja“ (Bühler 1907, S. 304–305). Ergebnis der Versuche waren Aussagen über die Bestandteile und die Struktur von Denkprozessen (Gedanken, Gedankentypen) und über die Konstitution dieser Bestandteile (Gedanken = Bestandstücke der Denkerlebnisse; Gedankentypen sind das Regelbewusstsein, das Beziehungsbewusstsein und die Intention; Bühler 1907, S. 314–349). Wundt und Bühler kritisierten gegenseitig ihre jeweiligen Experimente aufs Schärfste. Wundt stellte der experimentellen Selbstbeobachtung die reine Selbstbeobachtung gegenüber (beiläufig, spontan und nicht provoziert) und hielt eine provozierte Selbstbeobachtung, die das Bearbeiten einer Aufgabe und das gleichzeitige Beobachten der inneren Vorgänge erforderte, für nicht möglich bzw. für fehleranfällig und nicht kontrollierbar (Wundt 1918 [1896]). Bühler auf der anderen Seite sah keine Möglichkeit, unter den Bedingungen der kontrollierten Laborexperimente von Wundt komplexe innere Prozesse zu untersuchen. Wundts Elementenpsychologie betrachtete er als grundsätzlich nicht weiterführend (Bühler 1908). Eine dritte Variante waren die Introspektionsversuche von Brentano (1973 [1874]). Er unterschied zwei verschiedene Arten von Introspektion: die „innere Wahrnehmung“ und die „innere Beobachtung“. Die „innere Wahrnehmung“ erfolgt quasi „nebenbei“, sie richtet sich beiläufig auf mentale Prozesse in Handlungs- und Denkabläufen (die später Grundlage von Reflexion und Analyse werden können). Demgegenüber erfordert die innere Beobachtung nach Brentano eine bewusste Lenkung und Konzentration der Aufmerksamkeit auf die zu beobachtenden Bewusstseinsvorgänge. Im Zentrum der inneren Beobachtung steht eine genauere Erfassung der inneren Vorgänge, die über deren bloßes Bemerken weit hinausgeht und eine Spaltung des Bewusstseins in einen beobachtenden und einen erlebenden/handelnden Teil erfordert. Diese umfassende Verwendung der Methode der Introspektion wurde mit dem Aufkommen des Behaviorismus radikal beendet (axiomatische Ablehnung der Introspektion), so dass die Methode entweder ganz verschwand oder nur noch unter diversen Umbenennungen (z. B. verbale Protokolle oder Protokollanalyse) oder in bestimmten Settings (z. B. Therapie) benutzt wurde.
2
Theoretische Grundannahmen zur Methode der Introspektion
2.1
Was ist Introspektion
Introspektion ist die (Selbst-)Beobachtung innerer Prozesse. Sie kann sich auf körperliche, kognitive, willentliche oder emotionale Abläufe in bewusst erlebten Situationen beziehen. Während des Agierens in Situationen wird quasi in einem
Introspektion
457
Parallelprozess das eigene Erleben/das eigene innere Prozessgeschehen innerlich protokolliert. Die Introspektion kann vorsätzlich (aktiv bzw. geplant) oder beiläufig erfolgen und sich auf sehr kurze oder auf ausgedehnte Zeiträume erstrecken. Von der eigentlichen Introspektion ist der Prozess der Retrospektion zu trennen, der nach der Introspektion einsetzt, um die Introspektionsdaten zugänglich zu machen. Dazu werden nach der Introspektion – die quasi selbständig und autonom (in Grenzen auch willentlich lenkbar) abläuft – die Introspektionsdaten wieder erinnert, d. h. aus dem Gedächtnis abgerufen und auf verschiedene Weise nach außen gebracht (gesprochen, geschrieben, gemalt etc.). Erst diese nach außen gebrachten Daten sind für andere Personen zugänglich und können damit einer wissenschaftlichen Analyse unterzogen werden.
2.2
Was ist Introspektion nicht?
Die Abgrenzung zu anderen Methoden, die auf innere Prozesse zielen, ist nicht immer einfach (Witt 2010): • Erinnern greift auf mehr oder weniger lange zurückliegende Gedächtnisinhalte zurück. Beziehen sich diese Inhalte auf abrufbares Wissen (gelernte Fakten) und nicht auf die mit dem Erinnern oder Wissen verbundenen Prozesse, handelt es sich wohl nicht um Introspektion; betrifft es die inneren Prozesse, handelt es sich um den Zugang zu Introspektionsdaten mittels Retrospektion. • Freie Assoziationen, wie sie in der Psychoanalyse verwendet werden, sind zwar das Ergebnis innerer Prozesse, sie sagen aber zunächst nichts über diese Prozesse selbst aus. Erst in der therapeutischen Arbeit kann der Analytiker bzw. die Analytikerin sie als Zugang zu diesen Prozessen einsetzen. • Automatisches Schreiben (écriture automatique) wurde von den französischen Surrealist/innen verwendet, um Texte zu produzieren, die frei von gesellschaftlichen Zwängen und der eigenen inneren Zensur sind (Bürger 1996, S. 145–148). Ziel ist die „Automatik“ des Prozesses, die die Selbstbeobachtung als Störung bewertet. • Reflexion (Antizipation) meint alltagssprachlich das Nachdenken über eine vergangene (oder geplante/erwartete) Situation, die damit von allen Seiten beleuchtet und untersucht wird, um sie besser zu verstehen, aus ihr zu lernen oder sie zu antizipieren. Erst das Lenken der Wahrnehmung oder Beobachtung auf die dabei ablaufenden inneren Prozesse macht die Introspektion aus. • Lautes Denken, wie es in der kognitiven Psychologie verwendet wird (Konrad 2010) und von Duncker (1966 [1935]) eingeführt wurde, spiegelt die Denkprozesse wider und erlaubt die Analyse dieser Prozesse. Das laute Denken kommt nach Duncker ganz ohne Selbstbeobachtung im Sinne einer Richtung von Aufmerksamkeit auf die jeweiligen stattfindenden Bewusstseins- und Erlebensvorgänge aus. • Kontemplation, Meditation, Tagträume, Sinnieren, Grübeln, Brainstorming sind weitere Methoden, die innere Prozesse betreffen, i. d. R. aber ohne ausdrückliche introspektive Anteile.
458
3
H. Witt
Zentrale Diskussion: Kritik an der Methode der Introspektion
Kritik an der Methode der Introspektion gab es aus verschiedenen Richtungen. Während jedoch die Kritik aus den eigenen Reihen der Introspektionsforschung zu Verbesserungen und Variationen der Methode führte, folgte der massiven Kritik des Behaviorismus die rigorose Verbannung aus dem Arsenal der akzeptierten Forschungsmethoden (Burkart 1999, 2010a; Städtler 1998; Traxel 1964). Im Folgenden soll nur auf introspektionsspezifische Kritikpunkte eingegangen werden, nicht auf solche Kritik, die auch für viele andere Forschungsmethoden gilt (z. B. widersprüchliche Ergebnisse, nicht reliable oder nicht valide Ergebnisse, begrenzte Anwendbarkeit). Die introspektionsspezifischen Einwände sind 1. das Spaltungsargument, 2. die Reaktivität und 3. die mangelnde Nachprüfbarkeit • Das Spaltungsargument betont das schon oben erwähnte Problem der Spaltung der Aufmerksamkeit: ein Teil der Aufmerksamkeit sei auf das Erleben zu richten, ein anderer auf die Beobachtung, und das sei nicht möglich, weil es eine Spaltung des Bewusstseins in einen erlebenden und einen beobachtenden Teil voraussetze. • Das Argument der Reaktivität bezieht sich darauf, dass das Subjekt gleichzeitig Gegenstand der Beobachtung und Beobachter/in ist, d. h. durch die Tätigkeit des Beobachtens werde der Gegenstand der Beobachtung zwangsläufig verändert. • Mangelnde Nachprüfbarkeit ist das behavioristische Argument: Der Behaviorismus akzeptiert nur Daten, die von außen zugänglich und messbar sind. Da Introspektionsdaten nur dem jeweiligen Subjekt zugänglich sind, werden sie vom behavioristischen Standpunkt aus nicht akzeptiert. Stattdessen wird argumentiert, auch innere Prozesse hätten äußere und beobachtbare Korrelate und über die seien die inneren Prozesse erschließbar, d. h. Introspektionsdaten seien nicht nur inakzeptabel, sondern auch überflüssig. Zwar haben Karl Marbe und Narziss Ach versucht, diese früh gesehenen Einwände zu entkräften – Marbe (1901) durch Trennung von Beobachtenden und Forschenden sowie durch sofortiges Berichten nach dem Erleben, Ach (1905) zusätzlich durch Erweiterung des apparativen Aufwandes im Labor; die behavioristische Kritik hat aber die Methode trotzdem verbannt. Alle drei Einwände haben zweifellos ihre Berechtigung. Die Frage ist, ob sie so gravierend sind, dass deswegen die ganze Methode verworfen werden muss, oder ob es Mittel und Wege gibt, die Einwände handhabbar zu machen, zu entschärfen oder zu kontrollieren, wie es in dem nachfolgend beschriebenen Verfahren der „gruppengestützten dialogischen Introspektion“ vorgeschlagen wird.
Introspektion
4
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Das Verfahren der gruppengestützten dialogischen Introspektion
Die Hamburger „Forschungswerkstatt Introspektion“ – ein Zusammenschluss von Interessierten aus den Fächern Psychologie, Soziologie und Pädagogik – hat das Verfahren der gruppengestützten dialogischen Introspektion entwickelt, ein Verfahren zur Gewinnung subjektiver Daten zum jeweils individuellen Erleben (Burkart et al. 2010; Burkart 2018). Das Verfahren ist eingebettet in die Methodologie der qualitativen Heuristik (Kleining 1982, 2010) und durch ein systematisches Vorgehen bei der Versuchsplanung, dem Datengewinn und der Datenanalyse gekennzeichnet. Hierbei wird das „klassische“ Vorgehen um die Komponenten der Gruppe und des Dialogs erweitert. Es entsteht ein neues Verfahren, das die Vorteile introspektiver Daten – wie Zugang zum subjektiven Erleben, Reichhaltigkeit und Differenziertheit der Daten und Leichtigkeit der Erhebung – nutzt und die Einwände – wie NichtBeobachtbarkeit, Subjektivität und Reaktivität – entkräftet, wendet oder aufhebt. Das Verfahren wird in der Gruppe durchgeführt, ermöglicht dadurch eine Unterstützung der individuellen Intro- und Retrospektion und verbessert so u. a. auch die Nachprüfbarkeit der Daten. Im Folgenden wird das Verfahren anhand eines Beispiels (Weckerexperiment) beschrieben. Es handelt sich um ein (prototypisches) Experiment, an dem gleichzeitig mehrere Personen teilnehmen, bei denen aber jede Person für sich ein Ereignis (das experimentelle Ereignis) erlebt und anschließend die erlebten inneren Prozesse protokolliert. Nach der Präsentation des experimentellen Ereignisses und der Protokollierung tritt die Gruppe in Aktion, um den individuellen Datengewinn zu unterstützen und damit einige Aspekte der Qualität der Daten (Genauigkeit, Umfang, Tiefe und Differenzierung) zu verbessern. Das Experiment besteht darin, dass während der Arbeit einer Gruppe (Seminar, Workshop) unvermutet und überraschend ein versteckter Wecker laut klingelt. Unmittelbar im Anschluss an dieses Ereignis – nach einer kurzen Phase des Erschreckens, der Irritation und des Neu-Orientierens – werden die Gruppenmitglieder zur Intro-/ Retrospektion über den Zeitpunkt des Ereignisses aufgefordert. Die Instruktion lautet etwa folgendermaßen: „Bitte schreiben Sie alles auf, was Ihnen im Moment des Weckerklingelns und kurz danach durch den Kopf ging, was sie gedacht und gefühlt haben.“ Das Aufschreiben dauert ca. 5–10 Minuten. Danach werden reihum die Aufzeichnungen vorgetragen, die Anderen hören zu und enthalten sich aller Kommentare. Es folgt eine zweite Runde, in der jedes Gruppenmitglied eigene Ausführungen ergänzen kann um die Teile, die ihm oder ihr durch das Anhören der Beiträge der Anderen wieder eingefallen sind. Erst danach können Diskussionsbeiträge, Kommentare und sonstige Beobachtungen beigetragen werden. Alle mündlichen Äußerungen werden auf Tonträger aufgezeichnet. Sie sind das Material für die anschließende Analyse, die i. d. R. nicht mehr in der Gruppe stattfindet, sondern von Einzelnen (z. B. der Versuchsleitung) zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt wird.
460
H. Witt
Die ganze Prozedur, die in ähnlicher Form in einer Reihe verschiedenartiger Experimente durchgeführt wurde, kann in mehrere Phasen unterteilt werden.
4.1
Phase 1: Datenentstehung
Während des Versuchs entstehen die Daten „im Kopf“, sie sind – mehr oder weniger deutlich – Teil des bewussten Erlebens im Moment z. B. des Erschreckens und gleichzeitig Gegenstand der Introspektion, d. h. ich erlebe etwas, denke und fühle dabei und gleichzeitig registriere ich dieses alles durch Selbstbeobachtung. Es wird davon ausgegangen, dass im Erleben einer Situation immer auch ein zweiter Prozess abläuft, der es ermöglicht, das eigene Erleben zu beobachten, sodass bei einer späteren Vergegenwärtigung der Situation auch diese Beobachtungsdaten wieder abgerufen werden können. Diese parallel laufende Beobachtung kann sowohl beiläufig als auch vorsätzlich geschehen, das hängt von den jeweiligen Versuchsbedingungen ab, die auf vielfältige Weise variiert werden können.
4.2
Phase 2: Datenprotokollierung
Eine zweite Phase betrifft das Notieren dieses durch Selbstbeobachtung registrierten Erlebens, das Versprachlichen und Verschriftlichen nach der Aufforderung durch die Versuchsleitung. Wie oben dargestellt, handelt es sich jetzt um eine Retrospektion, denn es wird festgehalten, was nach dem Ereignis noch erinnerbar ist, was für Wert gehalten wird, aufgeschrieben zu werden und was sich in Sprache umsetzen lässt. Diese beiden Aspekte (Intro- und Retrospektion) lassen sich allerdings nicht ganz voneinander trennen, weil auch bei der (nachträglichen) Retrospektion wieder Teile des Erlebens aktualisiert werden und somit in der Phase der Retrospektion auch wieder eine Introspektion ermöglicht wird. Die Notizen sind in der Regel schnell (5–10 Minuten) zu Papier gebracht, meist mit einem deutlichen Gefühl wie „das war’s“, „mehr ist mir nicht durch den Kopf gegangen“, „fertig, der Rest ist unwichtig, banal oder flüchtig“.
4.3
Phase 3: Datenpräsentation
In der dritten Phase kommt die Gruppe zum Einsatz. Die individuellen Protokolle werden der Gruppe präsentiert. Sie können reihum entweder durch Vorlesen des schriftlichen Protokolls oder als mündlicher Bericht – der sich an den Notizen orientiert – präsentiert werden. Beim mündlichen Bericht wird mehr oder weniger abgewichen von den eigenen Aufzeichnungen: sie werden entweder weiter aufgefächert, ergänzt, detailliert oder auch reduziert, wenn das Berichten eine andere Richtung nimmt. Während dieses Vortragens und Zuhörens werden jetzt weitere Erinnerungen – bei der berichtenden Person und bei den Zuhörenden – mobilisiert. In erstaunlich sicherer Weise sind die einzelnen Gruppenmitglieder in der Lage,
Introspektion
461
einzelne Aussagen einer anderen Person als Teil ihres eigenen Erlebens wiederzuerkennen oder als nicht dazugehörig zu verwerfen. Auch jetzt ist wieder jedes Gruppenmitglied aufgefordert, sich Notizen zu machen als Material für die zweite Runde. Diese Phase ist der entscheidende Teil der Gruppennutzung, der folgende Punkte umfasst: • Die individuellen Erinnerungen können erweitert werden: Ich erkenne in der Aussage einer anderen Person einen eigenen Erlebnisinhalt wieder, den ich selbst nicht genannt habe, weil er mir z. B. als zu banal und nicht erwähnenswert vorkam oder er nur sehr flüchtig war und ich ihn während des Schreibens nicht mehr präsent hatte oder er als nicht mitteilbar erschien, weil sozial nicht akzeptabel oder nicht vereinbar mit meinem Selbstbild oder er von einem anderen Aspekt überlagert war. • Die individuellen Erinnerungen können präzisiert und differenziert werden, indem ich in den Mitteilungen der anderen Teilnehmenden Komponenten wiedererkenne, die bei mir zwar ähnlich waren, aber doch verschieden. Diese Verschiedenheit wird aber erst deutlich durch die genaue Darstellung der anderen Teilnehmenden. • Darüber hinaus können die eigenen Erinnerungen auch abgegrenzt werden von denen anderer Mitglieder, indem ich sie als deutlich anders als meine eigenen erlebe und einstufe. Diese Nichtübereinstimmung trägt sehr zur Abrundung des eigenen Erinnerungsbildes bei und steckt die Grenzen deutlich ab. Sie fördert auch das Interesse an den Introspektionen der anderen. Durch den Einsatz der Gruppe unterscheiden sich die Versuche der Hamburger Forschungswerkstatt gravierend von den klassischen Introspektionsexperimenten, die alle als Einzelexperimente durchgeführt wurden (Mayer 2010). Da sich die damaligen Forschenden alle gut untereinander kannten, werden sie sicher auch gemeinsam über die Experimente gesprochen haben, aber eben außerhalb der Versuchsanordnung und nicht systematisch. Der Einsatz der Gruppe an dieser Stelle ist auch insofern ungewöhnlich, weil in ähnlichen Settings die Befürchtungen der gegenseitigen Beeinflussung bestehen. In dem beschriebenen Vorgehen hat die Gruppe aber eher den gegenteiligen Effekt: durch Beiträge aus der Gruppe wird die individuelle Introspektion angereichert, präzisiert und differenziert, ohne dass die Gefahr der Vermengung von Eigenem und Fremdem zu bestehen scheint bzw. dass etwas in die eigene Erinnerung einverleibt wird, ohne es wirklich erlebt zu haben. Zumindest in dem praktizierten Setting, das eine intensive Mitarbeit erfordert, ist es nicht beobachtet worden. Dieses Gefühl der Sicherheit im Wiedererkennen der eigenen oder im Verwerfen der Erinnerungen der anderen ist eine übereinstimmende Erfahrung bei diversen Experimenten dieser Art, wie sie von der Hamburger Werkstatt durchgeführt wurden. Sie steht in deutlichem Widerspruch zu Konformitätsexperimenten à la Asch (1956) u. a., ist aber aus der Art der Versuchsanordnung (Manipulation der Versuchspersonen durch instruierte „Maulwürfe“) leicht zu erklären. Es kann sogar vermutet werden, dass das Ausmaß der „Redefinition“ der Daten aus der ursprünglichen
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Selbstbeobachtung, wie sie beim Protokollieren zu erwarten ist, durch die Präsentation in der Gruppe reduziert wird. Die Basis der Gruppenergänzung scheint ein Phänomen der Resonanz zu sein, ein Gefühl des Miterlebens oder des Mitgehens mit den Berichten anderer Gruppenmitglieder zu deren jeweiliger Introspektion. Voraussetzung dafür sind ähnliche Erfahrungen der Gruppenmitglieder, sodass sie sich in die berichtete Situation und das berichtete Erleben einfühlen können. Auf dieser Basis können ähnliche Empfindungen reaktiviert werden, die dann mitgeteilt werden können und die jedes Gruppenmitglied für sich auf Übereinstimmung oder Differenz zum eigenen Erleben prüfen kann.
4.4
Phase 4: Datenergänzung
Eine vierte Phase ist die zweite Runde, in der Erinnerungen weiter differenziert, präzisiert und erweitert werden, indem die eigenen Angaben durch die in der ersten Runde angeregten Resonanzprozesse ergänzt werden. In dieser zweiten Runde kann es auch zu einem gewissen Rechtfertigungsdruck kommen, wenn sich ein bestimmtes Erleben als Minderheitenposition erweist. Hier sind das Wohlwollen und die Offenheit der Gruppe gefordert, um keinen Konformitätsdruck entstehen zu lassen. Ansonsten ist das Vorgehen wie in der ersten Runde: reihum ergänzen die Gruppenmitglieder ihren 1. Bericht an Hand der Notizen aus der ersten Runde.
4.5
Phase 5: Datenanalyse
Eine fünfte Phase betrifft die Analyse der Daten. Sie kann in mehreren Stufen erfolgen: • Stufe 1: Während der Präsentation der individuellen Aufzeichnungen, stärker noch während der Kommentierung und Diskussion, werden Muster deutlich, die in der Gruppe benannt und herausgearbeitet werden können: z. B. zeigte sich bei dem Weckerexperiment, dass die Sitzposition relativ zum Wecker eine Rolle spielte und sich dadurch unterschiedliche „Schrecktypen“ erklären ließen. Diejenigen, die mit dem Rücken zum versteckten Wecker saßen, brauchten länger, um sich neu zu orientieren und hatten von daher ein intensiveres Erleben, eine größere Verunsicherung, ein heftigeres Erschrecken, als die, die durch einfaches Kopfheben den Wecker entdecken und damit die Situation sehr schnell als harmlos und ungefährlich identifizieren konnten. Diese Muster gehen als Daten mit ein in die nächste Stufe. • Stufe 2: Nach der Gruppensitzung kann jede/r für sich das Datenmaterial sichten, interpretieren, Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten herausarbeiten sowie Themen identifizieren, die im Verlauf der Gruppensitzung im Zusammenhang mit dem Weckerklingeln genannt wurden, oder es kann eine Person alle Daten
Introspektion
463
analysieren. In jedem Fall wird nach den Regeln der heuristischen Sozialforschung vorgegangen, die eine Analyse nach Gemeinsamkeiten in den Mittelpunkt stellt (Kleining 1982). Diese Analyse funktioniert besser in Einzelarbeit, sie benötigt sehr viel Zeit und erfordert einen Überblick über das gesamte Datenmaterial. In dem Weckerexperiment zeigte sich z. B., dass sich allgemeine Muster der Reaktion auf Störungen finden lassen, die sowohl den Versuch einer schnellen Neuorientierung umfassen als auch eine emotionale Beteiligung, Verunsicherung, Verärgerung und Erleichterung bzw. Befreiung bei gelungener Neuorientierung. Auch körperliche Begleiterscheinungen und ihre Veränderungen, unwillkürliche, aber nicht erinnerte verbale Äußerungen und die Wahrnehmung der jeweils anderen ließen sich ziemlich genau rekonstruieren (Witt und Kleining 2010).
4.6
Rahmenbedingungen
Das gute Funktionieren der Prozeduren des Datengewinns, des Datenabgleichs und der Datenanalyse ist vermutlich an einige Rahmenbedingungen gekoppelt, die aber noch nicht systematisch variiert wurden. • Eine wohlwollende Gruppe mit Interesse an dem jeweils untersuchten Gegenstand oder an der Methode scheint wichtig zu sein. • Eine gewisse Harmlosigkeit des Gegenstandes (wie beim Weckerexperiment) scheint nicht Bedingung zu sein, denn auch bei eher „intimen“ Themen konnte die erforderliche Offenheit (der Präsentation des inneren Erlebens und der damit verbundenen Gedanken) in der Gruppe erreicht werden. • Ein Interesse an den eigenen inneren Prozessen ist wohl erforderlich, weil sonst leicht der subjektive Eindruck entstehen kann, man schreibe nur Banales auf, der in einem deutlichen Kontrast zu der sehr engagierten, interessierten, vertiefenden Diskussion steht, wenn die Introspektionsnotizen erst einmal mitgeteilt sind. • Ein besonderes Training scheint nicht erforderlich zu sein, obwohl sicher durch Übung alle Schritte der Prozedur verbessert werden können. Die Gruppenmitglieder müssen allerdings in der Lage und willens sein, eigene innere Prozesse zu beobachten und mitzuteilen. • Die Gruppenmitglieder dürfen auch nicht durch Ähnlichkeiten des Settings zu Mitteilungen verleitet werden, die gar nicht das innere Erleben betreffen, wie es z. B. leicht passieren kann mit Gruppenmitgliedern, die Erfahrungen mit Fokusgruppen haben, weil hier eher nach Bewertungen als nach innerem Erleben gefragt wird und diese Bewertungen untereinander diskutiert werden. • Die Gruppenkohäsion scheint unproblematisch. Zumindest schien es keinen negativen Effekt zu haben, wenn zu verschiedenen Versuchen die Gruppenzusammensetzung verändert war. Im Gegenteil, eine Variation der Gruppenzusammensetzung schien eher einen belebenden Effekt zu haben.
464
4.7
H. Witt
Aufgabe und Funktion des Einzelnen
Die Aufgabe der einzelnen Gruppenmitglieder ist in den beschriebenen Phasen unterschiedlich. Grundlage der ganzen Prozedur ist aber, dass in der Phase 1 tatsächlich parallel zu dem Ereignis eine Introspektion stattfindet, dass sie differenziert ist und erinnert und mitgeteilt werden kann. Die verschiedenen Interaktionsprozesse bei diesem Vorgehen machen das „Dialogische“ des Verfahrens aus. Die erhebliche Verbesserung des Datengewinns, die damit verbunden ist, kann z. T. die Vorwürfe der Subjektivität und der Nicht-Nachprüfbarkeit entschärfen, aber natürlich nicht völlig aufheben.
4.8
Aufgabe und Funktion der Gruppe
Die Aufgabe der Gruppe besteht darin, einen Austausch zu ermöglichen, das Spektrum der zur Sprache kommenden Aspekte zu erweitern, sich gegenseitig anzuregen und zu ermutigen. Gerade sehr flüchtige Introspektionen, die von den meisten Teilnehmenden gar nicht erst zu Papier gebracht wurden, werden über die Schwelle des „Erinnerten“ gehoben, wenn sie zur Sprache gebracht werden. Sie bereichern das Datenspektrum erheblich und sind trotz ihrer Flüchtigkeit mithilfe der Gruppe relativ leicht zugänglich. Die Gruppe trägt auch dazu bei, beim Thema zu bleiben und keine Beliebigkeit zuzulassen: Jede/r wird immer wieder durch die Beiträge der Anderen darauf gestoßen, dass eigenes inneres Erleben gefragt ist, nicht Assoziationen zum Thema oder intellektuelle Reflexionen auf der Basis breiten Hintergrundwissens. Es geht auch nicht darum, eine kollektive Introspektion zu betreiben. Die Introspektionen bleiben auf das Individuum bezogen und auf den in diesem Fall kurzen Moment der Selbstwahrnehmung bei dem experimentellen Introspektionsereignis.
5
Anwendungsgebiete der gruppengestützten dialogischen Introspektion
5.1
Aktuelle Verwendungen der Methode der Introspektion
Die Hamburger Forschungswerkstatt ist zwar vermutlich die erste, aber nicht die einzige Gruppe, die neuerdings wieder die Methode der Introspektion einzusetzen versucht. In einem Artikel von Deterding (2008) werden vier aktuelle Verfahren der Introspektion beschrieben: • Lautdenken/Protokollanalyse: Neben dem „lauten Denken“ in seiner klassischen Form wird hier auch das mindtaping genannt, bei dem auf der Basis von Videoaufzeichnungen des Verhaltens die zugeordneten Bewusstseinsinhalte verbalisiert werden. Abgesehen davon, dass dieses Vorgehen dem „lauten Denken“ nicht mehr sehr ähnlich ist, ist es doch ein gut funktionierendes Verfahren, das dann
Introspektion
465
eingesetzt werden kann, wenn beobachtbare (und aufzeichenbare) Handlungsvollzüge vorliegen, wie z. B. bei der Bedienung von Computern oder Werkzeugmaschinen (s. auch Schulze 2001). • Descriptive Experience Sampling: Hier wird versucht, zufällige Momente im Alltag von Versuchspersonen zu erfassen: ein am Körper getragener Apparat fordert in unregelmäßigen Abständen (durch einen Piepton) zum Notieren der Bewusstseinsinhalte unmittelbar vor dem Ton auf. Nach sechs Episoden werden die Aufzeichnungen durch ein „expositionales Interview“ detailliert beschrieben. • Systematic Self-Observation: Dieses Verfahren zielt auf die Erfassung von „taziten“ Erfahrungen und Handlungen (Schulze 2001). Beim Auftauchen eines bestimmten Phänomens ist die Versuchsperson aufgefordert, ihre Handlung normal fortzusetzen, dabei aber bewusst zu beobachten und unmittelbar danach aufzuzeichnen. Dieses Vorgehen entspricht dem in Abschn. 5.2 erwähnten Versuch „Ärger und andere starke Gefühle“ mit dem Unterschied, dass es bei der Hamburger Forschungswerkstatt um Gefühle, nicht um Handlungen ging. • Gruppengestützte dialogische Introspektion (das hier vorgestellte Verfahren). Die Verfahren 1 bis 3 arbeiten wiederum nur als Einzelverfahren, obwohl sie vermutlich leicht mit der Gruppenunterstützung verknüpft werden könnten.
5.2
Anwendungsbeispiele mit dem Verfahren der gruppengestützten dialogischen Introspektion
Die Hamburger Forschungswerkstatt hat eine ganze Reihe von Untersuchungen zur Erprobung des Verfahrens durchgeführt, von denen einige in Burkart et al. (2010) beschrieben sind: • Das „Erleben eines Bahnhofs“ zielte auf die Atmosphäre eines großen öffentlichen Gebäudes und demonstriert u. a. die Möglichkeiten der Verwendung von Daten aus nicht gemeinsam erlebten Situationen und unterschiedlichen Orten, aber gemeinsamer Datensammlung in der Gruppe. • Ein ähnlicher Versuchsaufbau lag beim Thema „Ärger und andere starke Gefühle“ vor. Beim zufälligen Auftreten von Situationen, die mit starken Gefühlen verbunden waren, wurden zeitnah Aufzeichnungen gemacht, die dann wiederum in der Gruppe zusammengetragen wurden. • Das Thema Medienrezeption wurde am Beispiel von Kurzfilmen und zwei Versionen (eine aktuelle, eine historische) der Tagesschau bearbeitet. Kurzfilme wurden gemeinsam angesehen, die Tagesschauen hat jede/r im privaten Umfeld gesehen. • Das Erleben im Umgang mit technischem Gerät im Alltag, z. B. des PCs (Burkart 2009) und des Autos (Burkart 2011). • Die Wirkung von Begriffen wurde an verschiedenen Beispielen untersucht: „Was ist eine Tafel“, „Brücke und Tor“, „Vertrauen“, „Wolken“ oder „Armut“. Die
466
H. Witt
Nennung des Begriffs stellte die „introspektive Situation“ dar, zu der die inneren Prozesse/das innere Erleben protokolliert werden sollten.
5.3
Emotionen als neues Anwendungsfeld für die gruppengestützte dialogische Introspektion
In verschiedenen Settings (Experiment, Alltagssituation, interkulturelle Gruppen) wurde der Zugang zu den je individuellen Emotionen erprobt. Der Blick nach Innen und die Artikulation der eigenen Gefühle in der Gruppe erwiesen sich als ergiebig, reichhaltig und differenziert. Die gruppengestützte dialogische Introspektion stellt eine gute Ergänzung zu anderen bewährten Zugängen zum Erleben der Gefühle dar (Burkart und Weggen 2015).
5.4
Mögliche Anwendungsfelder des Verfahrens der gruppengestützten dialogischen Introspektion
Die Hamburger Forschungswerkstatt hat auch Überlegungen angestellt, in welchen Feldern, die bisher nicht erkundet wurden, das Verfahren eingesetzt werden könnte (Burkart et al. 2010): • Soziale Arbeit und Sozialpädagogik: Die dialogische Introspektion könnte in der Supervision zur Analyse von Gegenübertragungsprozessen, wie sie beim Fallvortrag deutlich werden, eingesetzt werden. • Psychotherapie: In Gruppentherapien könnte die dialogische Introspektion zur vertieften Exploration des Erlebens und zur Steigerung des Introspektionsvermögens eingesetzt werden. • Gestaltungstherapie/Kunsttherapie: Mit der dialogischen Introspektion könnten selbstproduzierte Bilder gruppengestützt bearbeitet/interpretiert werden. • Beratung von (Non-Profit-)Organisationen: Der Verlauf organisationaler Dynamiken könnte anhand vorgestellter Szenarien untersucht werden. In allen benannten Feldern könnte die gruppengestützte dialogische Introspektion mit mehr oder weniger großen Einschränkungen eingesetzt werden. Weitere Felder, die hier nicht aufgeführt wurden, wären noch zu diskutieren, z. B. die Arbeitspsychologie, die Softwareergonomie, der Strafvollzug usw.
6
Ausblick: Stand und Perspektiven
Die Methode der Introspektion ist keineswegs von der Bildfläche verschwunden. An vielen Orten wird sie wieder eingesetzt, sodass die oben genannten Einwände hier noch einmal aufgegriffen werden sollen.
Introspektion
6.1
467
Gegenargumente zu den Einwänden gegen Introspektion als Forschungsmethode
• Spaltung der Aufmerksamkeit: Die Zugänglichkeit sehr flüchtiger Introspektionsdaten mithilfe der Gruppe ist auch ein Argument gegen den Einwand der „Spaltung der Aufmerksamkeit“: Es muss gar nicht ein relevanter Teil der Aufmerksamkeit vom normalen Tun abgezogen und auf die Introspektion gerichtet werden, sondern der Introspektionsprozess läuft quasi nebenher ab, er wird nur normalerweise gar nicht bewusst, weil große Teile davon sehr flüchtig sind. Wenn sie nicht methodisch unterstützt abgerufen werden, sind sie einfach wieder verschwunden. Zumindest für die hier beschriebenen, sehr kurzen Sequenzen scheint das zuzutreffen. Auch bei längeren Introspektionssituationen, etwa dem Ansehen eines Kurzfilms oder der Tagesschau im Fernsehen, kann die Aufmerksamkeit von der Doppelaufgabe entlastet werden, indem während der Situation kurze Stichwörter notiert werden, die nach der Situation als Anker für die Retrospektion dienen und relativ leicht durch differenzierte Notizen vervollständigt werden können. • Reaktivität: Auf den ersten Blick scheint die Reaktivität ein gravierendes Problem bei Introspektionsuntersuchungen zu sein. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass – z. B. bei einer Medienrezeption (Burkart 2010b) – die Aufforderung zur aufmerksamen Betrachtung eines Kurzfilms den Hauptteil der Reaktivität ausmacht, das Beobachten der inneren Prozesse fügt dem nur noch relativ wenig hinzu. Das heißt das gezielte Beobachten (bewusste Konzentration der Aufmerksamkeit) eines Kurzfilms führt zu einer anderen Medienrezeption als das alltagspraktische Ansehen desselben Films. Durch das gezielte Beobachten wird dann die Introspektion – die beiläufig immer abläuft – stärker in das Bewusstsein gelenkt. Reaktivität ist also in dem gewählten Beispiel vorrangig ein Problem der Medienrezeption, nicht der Introspektion. Das Niederschreiben von kurzen Stichwörtern während der Rezeption unterbricht allerdings den Beobachtungsprozess und beeinträchtigt damit beides: Beobachtung und Introspektion. • Mangelnde Nachprüfbarkeit: Die erhebliche Verbesserung des Datengewinns, die mit dem oben beschriebenen mehrstufigen und gruppengestützten Verfahren ermöglicht wird, kann z. T. die Vorwürfe der Subjektivität und der Nicht-Nachprüfbarkeit entschärfen, aber natürlich nicht völlig aufheben. Das Resonanzphänomen, das in der Gruppe möglich ist, trägt weiter zu einem in Richtung Intersubjektivität gehenden Datengewinn bei. Überprüfungen der Vergleichbarkeit der Ergebnisse bei gleichen Introspektionssituationen stehen jedoch noch aus.
6.2
Vor- und Nachteile der gruppengestützten dialogischen Introspektion
Das oben beschriebene Verfahren der gruppengestützten dialogischen Introspektion unterscheidet sich von den klassischen Formen und von anderen in der Literatur berichteten Formen durch mehrere Aspekte:
468
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Es ist eingebunden in die heuristische Methodologie (dies betrifft die Versuchsplanung, die Durchführung, das Sampling und die Analyse, Kleining 1982) und wird entsprechend systematisch und kontrolliert eingesetzt. Vielfältig genutzt werden dialogische und interaktive Momente in den verschiedenen Phasen der Umsetzung: der Dialog mit dem Gegenstand ist damit ebenso gemeint wie die dialogischen und interaktiven Aktionen in der Gruppe oder das mehrmalige Durchlaufen der Auseinandersetzung mit den eigenen Introspektionen. Schließlich unterscheidet es sich von allen anderen Verfahren durch den Einsatz der Gruppe. Die Gruppe dient hier als Unterstützungsmedium, das die Introspektion einzelner zu fördern vermag. Die Vorteile des Datengewinns mit Gruppenunterstützung liegen in zwei wesentlichen Punkten: • Die Qualität der individuellen Daten (Genauigkeit, Umfang, Tiefe und Differenzierung) wird verbessert und • die individuellen Daten werden durch die beteiligten Personen selbst zu den Daten der Gruppe in Beziehung gesetzt mit der Möglichkeit, Abgrenzungen, Überschneidungen, Beziehungen oder Leerstellen zu identifizieren.
6.3
Perspektiven des Einsatzes von gruppengestützter dialogischer Introspektion
Die Leichtigkeit des Vorgehens, die Reichhaltigkeit der Ergebnisse und die Bandbreite der Gegenstände lassen es angeraten erscheinen, die Methode der Introspektion wieder aufzugreifen und allen grundsätzlichen und auch z. T. noch verbleibenden Bedenken zum Trotz ihre explizite Verwendung im Rahmen psychologischer, soziologischer oder pädagogischer Fragestellungen zu propagieren. Anhand der Regeln zur Durchführung sollten Interessierte in der Lage sein, die gruppengestützte dialogische Introspektion in eigenen Untersuchungen einzusetzen. Die Beschreibung von Versuchsanordnungen der Hamburger Forschungswerkstatt gibt zudem einen Eindruck von der Bandbreite möglicher Variationen, die im Sinne der Qualitativen Heuristik die Anpassung des Vorgehens an die Fragestellung und an die Veränderungen der Problemsicht im Laufe der Untersuchung erforderlich und möglich machen.
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469
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Autoethnografie Tony E. Adams, Carolyn Ellis, Arthur P. Bochner, Andrea Ploder und Johanna Stadlbauer
Inhalt 1 Anliegen und Geschichte der Autoethnografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Der autoethnografische Arbeitsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Gattungen, Epistemologie, Ethik und Gütekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Autoethnografie im Lichte der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Verbreitung der Autoethnografie in den USA und im deutschsprachigen Raum . . . . . . . . . . 6 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dies ist eine erweiterte und aktualisierte Fassung des Beitrages von Ellis, Adams und Bochner aus der Erstauflage von 2010, der von Paul Sebastian Ruppel und Katja Mruck aus dem Englischen übersetzt wurde. Die Ergänzungen (insb. die Abschn. 3.2, 4 und 6) gehen teilweise zurück auf andernorts publizierte Artikel (Ploder und Stadlbauer 2013, 2016, 2017; Stadlbauer und Ploder 2016), Abschn. 5 beruht zum Teil auf Ausführungen von Carolyn Ellis und Tony E. Adams (2014). T. E. Adams Department of Communication, Bradley University, Peoria, Vereinigte Staaten E-Mail: [email protected] C. Ellis · A. P. Bochner Department of Communication, University of South Florida, Tampa, Vereinigte Staaten E-Mail: [email protected]; [email protected] A. Ploder (*) Soziologie, Universität Konstanz, Konstanz, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Stadlbauer (*) Institut für Männer- und Geschlechterforschung, Verein für Männer- und Geschlechterthemen Steiermark, Graz, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_43
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Zusammenfassung
In diesem Beitrag charakterisieren wir Autoethnografie als Methode der psychologischen Forschung. Wir gehen auf die Geschichte, den Arbeitsprozess und die Ergebnisse autoethnografischer Untersuchungen ein, unterscheiden verschiedene Gattungen innerhalb des Genres, erläutern das Konzept performativer Epistemologie, die Bedeutung von Schreiben als Erkenntnisprozess (method of inquiry) und die forschungsethischen Fragen, die damit verbunden sind. Wir diskutieren, wie sich Autoethnografie zu traditionellen Gütekriterien verhält und welcher Kritik der Ansatz vonseiten unterschiedlicher Fachcommunities ausgesetzt ist. Am Ende geben wir einen Überblick über die Verbreitung autoethnografischer Arbeit in den USA und im deutschsprachigen Raum. Schlüsselwörter
Ethnografie · Narration · Performanz · Reflexivität · Schreiben · Subjektivität
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Anliegen und Geschichte der Autoethnografie
Autoethnografie ist ein Forschungsansatz, mit dem persönliche Erfahrung (auto) beschrieben und systematisch analysiert wird (grafie), um soziokulturelle Erfahrung (ethno) zu verstehen (Ellis 2004). Autoethnograf/innen nutzen Grundsätze und Verfahrensweisen der Autobiografie und Ethnografie und betrachten das subjektive Erleben der Forscher/innen als zentrale Ressource für Erkenntnisprozesse. Der Ansatz gehört damit zu jenen stark reflexiven Zugängen, die den Einfluss der Forschenden auf ihr Feld und den Forschungsprozess als konstitutiven und wertvollen Teil ihrer Arbeit begreifen (Breuer 2000; Bonz 2014; Kühner et al. 2016; Ploder und Stadlbauer 2016, 2017). Autoethnograf/innen verstehen Forschung immer auch als politischen und sozialen Akt (Adams und Holman Jones 2008) und stellen damit kanonische Weisen, Forschung zu betreiben und zu präsentieren, infrage (Spry 2001). Die vom Postmodernismus der 1970er- und 1980er-Jahre angeregte crisis of confidence (Ellis und Bochner 2000; Elms 1975) legte es nahe, die Ziele und Formen sozialwissenschaftlicher Forschung zu überdenken: Wissenschaftler/innen waren zunehmend beunruhigt über die ontologischen, epistemologischen und axiologischen Beschränkungen ihrer Disziplinen (Ellis und Bochner 2000) und begannen aufzuzeigen, dass die „gefundenen“ „Fakten“ und „Wahrheiten“ untrennbar mit dem Vokabular und den jeweils genutzten Paradigmen verbunden sind (Kuhn 1967). Sie erkannten die Grenzen großer, universeller Erzählungen (de Certeau 1984; Lyotard 1984) und dachten über neue Beziehungen zwischen Autor/innen, Leser/innen und Texten nach (Barthes 1977). Es entstand das Bedürfnis, sich kolonialistischen und sterilen Forschungsintentionen zu widersetzen, bei denen Wissenschaftler/innen in „fremde Kulturen“ eindrangen, deren Mitglieder ausnutzten und dann wieder gingen, interessiert an eigenem materiellen oder professionellen Nutzen und ohne
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Rücksicht auf die Beziehungen, die im Verlauf der Forschung entstanden waren (Conquergood 1991; Ellis 2007). Sozialwissenschaftler/innen fragten sich auch, wie sich ihre Herkunftsdisziplinen verändern würden, wenn sie sich stärker an der Literaturwissenschaft statt an den Naturwissenschaften orientierten, wenn sie Erzählungen gegenüber Theorien den Vorzug gäben und wenn ihre Forschung bewusst wertorientiert wäre, anstatt zu behaupten, wertfrei zu sein (Winter 2011). Einige – vor allem nordamerikanische – Wissenschaftler/innen wandten sich in dieser Zeit der Autoethnografie zu, da sie sich von ihr eine positive Antwort auf die Kritik an den kanonischen Vorstellungen darüber versprachen, was Forschung ist und wie sie betrieben werden sollte. Im Besonderen wollten sie Wege finden, Forschung zu betreiben, die politisch relevant, sinnstiftend und lesbar, auf persönlicher Erfahrung gegründet und respektvoll gegenüber fremder Erfahrung ist (Ellis und Bochner 2000). Dies bedeutete zugleich zu reflektieren, in welcher Weise persönliche Erfahrung den Forschungsprozess beeinflusst: Forschende entscheiden, wen oder was, wann, wo und wie sie jemanden oder etwas untersuchen, und sind dabei an institutionelle Rahmenbedingungen (z. B. Begutachtungsgremien), Ressourcen (z. B. Finanzierung) und persönliche Umstände gebunden. Obwohl einige Wissenschaftler/innen immer noch annehmen, Forschung könne von einem neutralen und objektiven Standpunkt aus betrieben werden, halten die meisten dies mittlerweile für nicht machbar (Breuer et al. 2017; Bonz 2014; Denzin und Lincoln 2017; Kulick und Willson 1995; Mruck und Mey 2019; Winter 2011). Stattdessen wird zunehmend akzeptiert, dass Menschen verschiedene Weltanschauungen, Sprech- und Schreibweisen, Bewertungs- und Glaubensformen etc. haben, die u. a. mit Konstruktionen von race, Gender, Alter, Klasse, Bildung oder Religion zusammenhängen können. Diejenigen, die für kanonische Formen von Forschung plädieren, vertreten hingegen meist implizit eine weiße, maskuline, heterosexuelle, christliche und (körperlich/psychisch) normalisierende Perspektive der Mittel- und Oberschicht, die andere Formen von Wissen ausklammert bzw. als unzulänglich und ungültig erscheinen lässt. Heute wird Autoethnografie in verschiedenen Kontexten rezipiert: Als prominente Spielart der arts-based-research bzw. fiction-based-research (Schreier 2017, Abs. 5–11, 14), als Methode im Kanon der performativen Sozialwissenschaft (Roberts 2008), im Rahmen des narrative turn und der Konjunktur des storytelling (Schreier 2017, Abs. 7), sowie als Zugang, der Reflexivität im Forschungsprozess ernst nimmt und dadurch eine Antwort auf aktuell drängende methodologische Fragen verspricht (Breuer et al. 2017; Mruck und Mey 2019; Ploder und Stadlbauer 2016).
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Der autoethnografische Arbeitsprozess
Als Methode verbindet die Autoethnografie Merkmale der Autobiografie und der Ethnografie. Wenn Autor/innen eine Autobiografie verfassen, schreiben sie nachträglich und selektiv über vergangene Erfahrungen. Für gewöhnlich durchleben sie diese Erfahrungen nicht (nur) mit dem Ziel der Veröffentlichung, sondern fügen sie vielmehr im Nachhinein zu einer Erzählung zusammen (Freeman 2004). Während des
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Schreibens werden verschiedene Erinnerungshilfen genutzt, zum Beispiel Interviews mit anderen Personen (Foster 2006), aber auch Texte, Fotos oder Zeitschriften (Goodall 2006). Am häufigsten schreiben Autobiograf/innen über „Epiphanien“ – Momente, die sie als besonders bedeutsam wahrnehmen oder existenzielle Krisen, die eine Auseinandersetzung mit dem Erzählten erzwingen (Zaner 2004). Obwohl es sich um Phänomene handelt, bei denen eine Person eine Erfahrung als verändernd ansehen mag, während eine andere dies vielleicht nicht tut, wird in ihnen ersichtlich, wie Menschen „intensive Situationen“ erleben und deren Folgen bewältigen, die noch lange nach dem eigentlichen Ereignis nachwirken (können) (Bochner 1984, S. 595). Wenn Forscher/innen Ethnografie betreiben, interessieren sie sich dafür, wie „Andere die Wirklichkeit wahrnehmen, handeln, begehren – Subjekt sind“ (Bonz 2014, S. 37), und werden teilnehmende Beobachter/innen, d. h. sie lassen sich ein auf den Alltag derjenigen, über die sie forschen, fertigen Feldnotizen zu Ereignissen, ihrer eigenen Rolle und der Beteiligung von anderen Personen an (Geertz 1973), kurz: Sie setzen ihre eigene Subjektivität als methodisches Instrument ein (Bonz 2014), um soziokulturell verfasste Erfahrung zu verstehen. Autoethnograf/innen schreiben retrospektiv und selektiv über Ereignisse, die daraus resultieren, dass sie Teil einer Kultur sind und/oder eine bestimmte soziokulturelle Identität besitzen. Als Datenbasis dienen persönliche Aufzeichnungen, Ergebnisse systematischer Introspektion (Ellis 1991, 2008), Tagebucheinträge und Dokumente, Briefe, Fotos, Zeichnungen und alle anderen Materialien, die einen Zugang zum Erleben bzw. einer Erinnerung daran ermöglichen. Das Erlebte wird in weiterer Folge nicht nur erzählt, sondern auch analysiert. „Otherwise [you’re] telling [your] story–and that’s nice–but people do that on Oprah [eine US-amerikanische Talkshow] every day. Why is your story more valid than anyone else’s? What makes your story more valid is that you are a researcher. You have a set of theoretical and methodological tools and a research literature to use. That’s your advantage. If you can’t frame it around these tools and literature and just frame it as ‚my story,‘ then why or how should I privilege your story over anyone else’s I see 25 times a day on TV?“ (Mitch Allen, persönliches Interview mit einer der Autor/innen, 4. Mai 2006)
Autoethnograf/innen bedienen sich zur Analyse nicht nur ihrer methodologischen Werkzeuge und der Forschungsliteratur. Um mithilfe persönlicher Erfahrungen Facetten soziokultureller Erfahrung zu veranschaulichen, kann es erforderlich sein, die eigene Erfahrung mit Forschungsergebnissen anderer zu vergleichen und zu kontrastieren (Martini und Jauhola 2014; Ronai 1996), andere Personen mit ähnlichen Erfahrungen zu interviewen und/oder relevante soziokulturelle Artefakte zu untersuchen (Boylorn 2008). So beziehen sich Autoethnograf/innen auch auf Produkte gemeinsamer Schreib- und Forschungsprozesse, die im Austausch mit anderen entstanden sind, sowie auf „konventionellere“ ethnografische Daten wie Beobachtungsprotokolle oder Interviewtranskripte. Unter Rückgriff auf dieses Material stellen sie Texte her, die sie im Zuge der Forschung mehrfach überarbeiten und umschreiben. Das Wiederlesen und Umschreiben des Textes mit der Frage, welche Themen und Motive in ihm verborgen sind, was er über das Erlebte sagt und wo die Rezipient/innen mit eigenen Geschichten anschließen können, die Suche nach emotional produktiven und damit epistemisch
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gehaltvollen Elementen sowie die systematische sprachliche Stärkung wichtiger Themen und Passagen hat in der Autoethnografie einen ähnlichen Stellenwert wie die Interpretation/Auswertung in anderen qualitativen Verfahren. Das Schreiben wird selbst zur „method of inquiry“ (Richardson und Adams St. Pierre 2005). Autoethnografie bezeichnet sowohl eine Methode/einen Prozess als auch dessen Ergebnis. Wenn Forscher/innen Autoethnografien schreiben, bemühen sie sich um ästhetisch dichte Beschreibungen persönlicher und zwischenmenschlicher Erfahrungen, die die Leser/innen fesseln und von Konventionen der Erzählkunst wie Figur, Szene und Handlungsentwicklung (Ellis 1999, S. 676) und/oder einem chronologischen oder fragmentarischen Erzählverlauf (Didion 2005; Frank 1995) Gebrauch machen. Um Texte ästhetisch ansprechend zu gestalten und Leser/innen mit dem Schauplatz des Geschehens sowie mit Gedanken, Emotionen und Handlungen der Protagonist/innen vertraut zu machen (Ellis und Bochner 2006), können verschiedene Techniken des „Zeigens“ (Adams 2006; Reichertz 1992) angewendet werden. Es kann z. B. die Dialogform genutzt werden, um Ereignisse anschaulich und emotionsreich zu schildern. „Erzählen“ ist eine weitere Strategie des Schreibens, die eine gewisse Distanz zu den beschriebenen Ereignissen verschafft, sodass auf abstraktere Weise darüber nachgedacht werden kann. Meist wird die Perspektive der 1. Person verwendet, um eine Geschichte über etwas zu erzählen, was vom Autor/der Autorin selbst beobachtet oder durchlebt wurde und Charakteristika eines „Augenzeugenberichts“ (Caulley 2008) hat. Es ist aber auch möglich, die Erzählperspektive zu wechseln. Sollen Leser/innen in eine Szene hineinversetzt werden, um mit der Autorin oder dem Autor eine Erfahrung intensiv mitzuerleben und Teil eines Geschehens zu sein, empfiehlt sich die Verwendung der 2. Person; diese Erzählperspektive kann auch zur Beschreibung von Episoden genutzt werden, deren Thematisierung in der 1. Person als zu belastend empfunden wird (Glave 2005). Manchmal verwenden Autoethnograf/innen auch die 3. Person, um z. B. den Handlungskontext darzustellen (Caulley 2008). Aus dem Genre der Ethnografie entlehnen Autoethnograf/innen oft die Technik der „dichten Beschreibung“ (Geertz, 1973, S. 10), um ein Phänomen oder Praktiken besser verstehbar zu machen. Dabei werden (induktiv) erkannte Muster soziokultureller Erfahrung durch Feldnotizen, Interviews, Artefakte usw. belegt (Leder Mackley und Pink 2014). Die Veröffentlichung autoethnografischer Arbeiten erfolgt nicht nur in Textform, es können auch Skripte für Performances produziert und vor Publikum aufgeführt werden (Canella 2014; Schneider 2005; Wendel 2015).
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Gattungen, Epistemologie, Ethik und Gütekriterien
3.1
Autoethnografische Gattungen
Autoethnografien unterscheiden sich idealtypisch hinsichtlich der Themenwahl (liminale Phasen oder alltägliche Praxis), des Textgenres (eher literarisch oder eher konventionell akademisch-sozialwissenschaftlich) und des Ziels des Textes (analytisch, deskriptiv oder evokativ (Bochner und Ellis 2016, S. 174; Ploder und
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Stadlbauer 2013, S. 380). Unterschiede bestehen auch darin, wie stark der Akzent auf die Beforschung anderer oder die Forscher/innen selbst und deren Interaktion, auf traditionelle Analysen und den Interviewkontext und/oder auf Machtbeziehungen gelegt wird. So werden z. B. indigene Ethnografien genutzt, um Machtverhältnisse in der Forschungsbeziehung zu thematisieren, insbesondere den Anspruch autoritativer (außenstehender) Forscher/innen, (exotische) „Andere“ zu beforschen. Indigene Ethnograf/innen arbeiten nicht im Dienste der Ethnograf/innen, sondern mit ihren eigenen persönlichen und kulturellen Erzählungen (Denzin et al. 2008). Reflexive Ethnografien dokumentieren, wie sich Wissenschaftler/innen durch ihre Feldforschung verändern. Sie treten in verschiedenen Formen auf – von Texten, die ihren Ausgangpunkt in der Biografie der Ethnograf/innen nehmen, über Berichte von Ethnograf/innen, die ihr Leben und das von Mitgliedern einer spezifischen Kultur beforschen, bis hin zu ethnografischen Memoiren (Ellis 2004, S. 50) oder confessional tales (Van Maanen 1988), bei denen ethnografische Forschungsbemühungen hinter den Kulissen thematisiert werden (Ellis 2004). Sog. layered accounts heben den Prozesscharakter von Forschung hervor. Ähnlich der Grounded-Theory-Methodologie (GTM) wollen sie veranschaulichen, wie Datenerhebung und -analyse gleichzeitig voranschreiten (Charmaz 1983, S. 110); bereits verfügbare Forschung wird in diesem Zusammenhang eher als Quelle für Fragen und Vergleiche statt als „Wahrheitsmaß“ (Charmaz 1983, S. 117) genutzt. Anders als bei der GTM kommen bei layered accounts aber Vignetten, Mehrstimmigkeit und Introspektion (Ellis 2008) zum Einsatz, um Lesenden zu ermöglichen, die emergente Erfahrung, Forschung zu betreiben und (darüber) zu schreiben, nachzuvollziehen (Ronai 1992, S. 123). Bei interaktiven Interviews setzen sich Forschende und Forschungsteilnehmende im gemeinsamen Gespräch mit geteilten Erfahrungen (z. B. Essstörungen oder Brustkrebs) auseinander. Die Gespräche erstrecken sich üblicherweise über mehrere Sitzungen, in denen die Teilnehmer/innen gemeinsam ein tieferes Verständnis von emotionsgeladenen und sensiblen Themen erarbeiten (Ellis et al. 1997, S. 121). Im Unterschied zu traditionellen Einzelinterviews mit Fremden ist für das interaktive Interview die (teilweise erst langsam entstehende) vertrauensvolle Beziehung zwischen den Beteiligten charakteristisch (Adams 2008). Gegenstand der Analyse sind neben den Geschichten und Erfahrungen, die von beiden Seiten in die Forschungsbegegnung mitgebracht werden, auch die Interaktionen im Interviewsetting. Ähnlich wie interaktive Interviews nutzen auch sog. community autoethnographies persönliche Erfahrung von Forscher/innen in einem kollaborativen Forschungsprozess, um aufzuzeigen, wie sich bestimmte soziale/kulturelle Praktiken in einer Gemeinschaft manifestieren (z. B. whiteness, Toyosaki et al. 2009). Sie fördern so nicht nur gemeinschaftsbildende Forschungspraktiken, sondern schaffen auch die Möglichkeit zur kulturellen und sozialen Intervention (Toyosaki et al. 2009, S. 59). Ko-konstruierte Erzählungen veranschaulichen Beziehungserfahrungen, z. B. die Bewältigung von Ambiguitäten, Unsicherheiten und Widersprüchen in Freundschaft, Familie und/oder Partnerschaft. Beziehungen werden dabei als gemeinsam hervorgebracht und historisch situiert verstanden und deshalb auch in der Forschung
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gemeinsam reflektiert. Jede Person schreibt zuerst ihre oder seine Erfahrung auf – sie handelt oft direkt oder indirekt von einer Epiphanie –, teilt diese mit und geht auf die Erzählung ein, die die andere Person zeitgleich geschrieben hat (Bochner und Ellis 1995; Vande Berg und Trujillo 2008). Das Ergebnis sind ko-konstruierte Erzählungen, die nicht nur den Forschenden zu einem tiefer gehenden Verständnis der eigenen Beziehung verhelfen, sondern auch den Leser/innen ungewöhnliche Einblicke in das innere Erleben spezifischer Beziehungsdynamiken ermöglichen. Sie können außerdem dabei helfen, die eigene Positionierung gegenüber dem Forschungsfeld zu reflektieren und diesen Prozess für Leser/innen nachvollziehbar zu machen (Martini und Jauhola 2014). In persönlichen Erzählungen setzen sich die Autor/innen mit sich selbst, ihrem akademischen und privaten Leben auseinander (z. B. Berry 2007; Tillmann 2009). Diese Form der Autoethnografie wird von traditionellen Sozialwissenschaftler/innen oft besonders scharf kritisiert, vor allem dann, wenn sie nicht von herkömmlichen Analysen und/oder Bezügen zu wissenschaftlicher Literatur begleitet wird (Campbell 2017). Ziel der persönlichen Erzählung ist es, ein Selbst oder Aspekte eines Lebens, das in einem spezifischen kulturellen und sozialen Kontext steht, der Reflexion zugänglich zu machen. Leser/innen werden in die „Welt“ der Autorin bzw. des Autors eingeladen, um über ihr eigenes Leben nachzudenken, es besser zu verstehen und zu meistern (Ellis 2004, S. 46). Persönliche Geschichten ermöglichen das „Bezeugen“ (Ellis und Bochner 2006) von spezifischen Problemlagen, die als solche erkannt, benannt und öffentlich gemacht werden können. Beispiele sind Machtstrukturen an der Universität (Birck 2003; Hacker 2012; Hefel 2014; Mendel 2016), die Verschwörung einer Regierung (Goodall 2006), gesellschaftliche Isolation aufgrund einer Krankheit (Frank 1995; Krasowska 2016) oder benachteiligende Gender-Normen (Crawley 2002; Pelias 2007). Analytische Autoethnografie verbindet herkömmliche Paradigmen der qualitativen Sozialforschung mit Elementen der Autoethnografie. Sie zielt stärker als andere autoethnografische Ansätze darauf ab, neue theoretische Einsichten zu gewinnen, bestehende Theorien zu verfeinern und theoretische Konzepte von einem Kontext oder Fall auf andere Kontexte und Phänomene zu übertragen (Antony 2015; Bochner und Ellis 2016, S. 59; Bönisch-Brednich 2012, S. 58).
3.2
Performative Epistemologie
Die Autoethnografie arbeitet mit einem performativen Erkenntnisbegriff (Ploder 2011), der sich in einigen Punkten von hermeneutisch-interpretativen Zugängen innerhalb der qualitativen Forschung unterscheidet: Autoethnografien verkörpern nicht das Produkt eines Verstehensprozesses, sondern den Verstehensprozess selbst – auf der Seite der Schreibenden, aber auch im Dialog mit den Rezipient/innen. Der Prozess des Schreibens wie der des Lesens wird jeweils als bedeutungskonstitutiv gedacht. Elemente interpretativer und performativer Forschungslogik treten in vielen wissenschaftlichen Arbeiten gemeinsam auf, dennoch lässt sich eine idealtypische Unterscheidung machen: Interpretativ-hermeneutische, „verstehende“ Forschung
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zielt auf die Rekonstruktion von Bedeutungen ab, möchte die beforschte Wirklichkeit repräsentieren und versteht die Leser/innen als Konsument/innen von Forschungsergebnissen. Die performative Forschungslogik hingegen geht davon aus, dass Bedeutung im Forschungsprozess konstituiert, die beforschte Wirklichkeit durch Forschung transformiert wird und Leser/innen im Zuge der Rezeption Forschungsergebnisse produzieren. Autoethnografie bringt neue Verhältnisbestimmungen zwischen den unterschiedlichen Akteur/innen der Forschung mit sich. Eine wichtige Akteur/innen-Gruppe im autoethnografischen Forschungsprozess sind aktive, reflexive Lesende, die dazu bereit sind, in einen engagierten partnerschaftlichen Dialog mit den Schreibenden und der Geschichte einzutreten (Bochner 2001) und sich auf eine identifikatorische und bedeutungsgenerierende Beziehung mit dem Text/der Performance einzulassen. Der Prozess der Erkenntnis endet nicht mit der Produktion des Textes durch die Forschenden, sondern erst mit dem sinnlichen, emotionalen Erleben der jeweiligen Leser/innen bzw. des Publikums. Wenngleich auch hier wissenschaftliche Autorität in Form von Entscheidungen für und gegen bestimmte Forschungsthemen, Perspektiven und Details präsent ist, bleiben Autoethnografien dennoch offen für verschiedene Wege der Aneignung, Kritik und Weiterbearbeitung durch die Rezipient/innen und kommen damit dem Anspruch poststrukturalistischer Wissenschaftskritik entgegen.
3.3
Beziehungsethik
Die meisten Forscher/innen leben eingebunden in soziale Netzwerke von Freund/ innen und Verwandten, Partner/innen und Kindern, Arbeitskolleg/innen und Studierenden, und thematisieren diese Beziehungen in ihrer autoethnografischen Arbeit. Dadurch werden andere Menschen in ihre Forschung und deren Veröffentlichung verwickelt, was unweigerlich forschungsethische Fragen aufwirft (von Unger et al. 2014). In vielen ethnografischen Studien sind die Wohnorte der Gruppen, über die geschrieben wird, identifizierbar, ebenso einige der Teilnehmenden in Feldforschungsprojekten (Dahinden und Efionayi-Mäder 2009; Vidich und Bensman 1958). Die Publikation von ethnografisch erhobenen Daten kann auf unterschiedlichen Ebenen Konsequenzen für den konkreten Alltag der Forschungsteilnehmer/ innen haben. Bei Autoethnografien stellt sich die Frage der Beziehungsethik noch verstärkt (Tullis 2013). Indem sie persönliche Erfahrung nutzen, beziehen Autoethnograf/ innen nicht nur sich selbst in ihre Arbeit ein, sondern auch andere, ihnen nahe stehende und vertraute Personen (Adams 2006; Hefel 2014). Wird z. B. in einem Text die Mutter des Autors/der Autorin erwähnt, dann ist es schwer, diese „zu tarnen“, ohne den Sinn und die Bedeutung der Geschichte zu verändern. Wird über rassistische Handlungen von Nachbar/innen geschrieben, bedarf es oft keiner großen Mühe, den Wohnort des Autors/der Autorin herauszufinden und folglich die Nachbar/innen zu identifizieren.
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Autoethnograf/innen halten Beziehungen mit den Forschungsteilnehmer/innen häufig über längere Zeiträume aufrecht, was ethische Fragen kompliziert. Teilnehmende sind zudem manchmal bereits zu Beginn der Forschung befreundet oder werden es im Forschungsverlauf, sie sind keine „gesichtslosen Subjekte“, die nur Daten liefern sollen. Ethische Fragestellungen in Verbindung mit Freundschaft werden so zu einem wichtigen Teil des Forschungsprozesses und seiner Ergebnisse (Tillmann 2009, 2015). Beziehungsbelange bilden eine äußerst wichtige Dimension der autoethnografischen Arbeit (Bochner und Ellis 2016; Ellis 2007; Trahar 2009) und müssen während des gesamten Forschungsprozesses mitberücksichtigt werden. Dies verpflichtet Autoethnograf/innen in vielen Fällen dazu, anderen, die mit ihren Texten in Verbindung stehen oder gebracht werden können, ihre Arbeit zu zeigen, damit diese reagieren und ggf. widersprechen können. Ähnlich wie traditionelle Ethnograf/innen müssen Autoethnograf/innen gegebenenfalls die Privatsphäre anderer schützen, indem sie Merkmale abwandeln, die eine Identifizierung erlauben würden. Obwohl die Sinnhaftigkeit der Forschungserzählung wichtiger ist als die genaue Wiedergabe von Einzelheiten (Bochner 2002; Tullis Owen et al. 2009), muss Autoethnograf/ innen bewusst sein, wie diese Schutzmaßnahmen sowohl die Integrität ihrer Forschung beeinflussen können als auch die Art und Weise, wie ihre Arbeit interpretiert und verstanden wird. Forschungsethik wird bisher vor allem als Verantwortung gegenüber den Forschungsteilnehmenden thematisiert, seltener auch gegenüber der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Da in der Autoethnografie aber die eigenen Erfahrungen das Material bilden, wird die Relevanz und zugleich auch die Schwierigkeit von Anonymisierung, informed consent, Nicht-Schädigung und anderer forschungsethischer Dimensionen besonders deutlich – sie wird sozusagen „am eigenen Leib“ erfahren (Tamas 2009a). Forschungsethische Verantwortung kann sich deshalb auch auf die Person der Forscherin selbst richten (Tamas 2009b). Die Autoethnografie bietet dabei auch viele Anregungen für alternative Formen der Erzeugung und Darstellung von Forschungsergebnissen, die forschungsethische Bedenken in stärkerer Weise berücksichtigen als konventionelle Ethnografien (Ploder und Stadlbauer 2013, S. 401).
3.4
Gütekriterien: Reliabilität, Generalisierbarkeit und Validität
Autoethnografien zielen auf die Produktion narrativer Wahrheit: Wichtig ist, was eine Erzählung auslöst – wie sie verwendet und verstanden wird, wie Autor/innen, Teilnehmer/innen, Publikum usw. auf sie reagieren (Denzin 2008, S. 231; Winter 2011). Dabei wird anerkannt, dass „Wahrheit“ in verschiedenen Genres des Schreibens oder Darstellens von Erfahrung (z. B. Romanliteratur oder Sachbücher, Memoiren, Geschichtsbücher oder wissenschaftliche Literatur) unterschiedliches bedeutet. Außerdem wird Kontingenz akzeptiert: Erinnerung ist fehlbar, und es ist unmöglich, Ereignisse so „abzubilden“, wie sie erlebt und empfunden wurden; oft erzählen Menschen, die das „selbe“ Ereignis erlebt haben, sehr verschiedene Geschichten darüber (Tullis Owen et al. 2009). Wenn traditionelle sozialwissenschaftliche Güte-
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kriterien wie Reliabilität, Validität und Generalisierbarkeit auf Autoethnografie angewendet werden, verändern sich folglich der Kontext, die Bedeutung und der Nutzen dieser Begriffe. Fragen der Reliabilität beziehen sich in der Autoethnografie auf die Glaubwürdigkeit der Erzählenden. Können sie in Anbetracht verfügbarer „faktischer Beweise“ die beschriebenen Erfahrungen „tatsächlich“ gemacht haben? Ist das Erzählte „wirklich“ so geschehen? (Bochner 2002, S. 86) Oder haben sie die „literarische Freiheit“ so weit ausgedehnt, dass es sich eher um Dichtung als um einen erlebnisgetreuen Bericht handelt? In engem Zusammenhang zur Reliabilität stehen auch Fragen der Validität. Für Autoethnograf/innen bedeutet Validität, dass ein Werk sich um Plausibilität bemüht und in den Leser/innen den Eindruck hervorruft, dass die beschriebene Erfahrung glaubhaft ist, dass das, was dargestellt worden ist, wahr sein könnte. Die Geschichte sollte deshalb kohärent sein und Anschlussmöglichkeiten zwischen Autor/innen und Leser/innen schaffen. Sie sollte es Leser/innen ermöglichen, in die Welt der Erzähler/ innen „einzutauchen“ und sie mit deren Augen zu sehen (Plummer 2001, S. 401). Eine Autoethnografie kann auch danach beurteilt werden, ob sie Leser/innen dabei unterstützt, mit Menschen zu kommunizieren, die andere Erfahrungen gemacht haben als sie, oder ob sie dazu beiträgt, das Leben von Forschungsteilnehmer/innen, Leser/innen und Autor/innen zu verbessern (Anderson und Glass-Coffin 2013; Ellis 2004, S. 124). Eine der wichtigsten Fragen mit Bezug auf die Güte eines autoethnografischen Textes ist, wie nützlich die Geschichte ist und wofür sie verwendet werden kann (Bochner 2002). Auch Generalisierbarkeit ist für Autoethnografie wichtig, jedoch nicht in der traditionellen, sozialwissenschaftlichen Bedeutung, die sich auf Stichproben bezieht. In der Autoethnografie verschiebt sich der Fokus der Verallgemeinerung von den Befragten zu den Leser/innen: Wenn Rezipient/innen beim Lesen einer Geschichte an eigene Erfahrungen oder an die Erfahrung von anderen Menschen, die wir kennen, anschließen können, ist das ein Zeichen für ihre Generalisierbarkeit. Dasselbe gilt, wenn sie beim Lesen beginnen darüber nachzudenken, inwiefern ihr Leben dem der Protagonist/innen ähnlich oder von ihm verschieden ist und bemerken, dass sie Neues über ihnen vormals unbekannte Menschen erfahren haben (Ellis 2004, S. 195). Auch einige jener Gütekriterien, die speziell für die Forschung mit qualitativen Methoden erarbeitet wurden, kommen in der Autoethnografie – je nach Gattung – nur bedingt zur Anwendung (Bochner 2000).
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Autoethnografie im Lichte der Kritik
Da Autoethnografie sich das Genre der Ethnografie und der Autobiografie zunutze macht, ziehen Kritiker/innen sie häufig für die (Nicht-)Einhaltung von Kriterien zur Rechenschaft, die entweder auf traditionelle Ethnografien oder auf autobiografische Schreibstandards angewendet werden (ausführlich: Ploder und Stadlbauer 2016). Autoethnografie wird entweder dafür kritisiert, zu künstlerisch und nicht wissen-
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schaftlich, oder zu wissenschaftlich und nicht genügend künstlerisch zu sein. Diese Kritik teilt sie mit anderen Ansätzen im Kanon der arts-based-research (Schreier 2017, Abs. 5–11). Der traditionellen Ethnografie ist die Autoethnografie, bezogen auf sozialwissenschaftliche Standards, mithin nicht genügend streng, theoretisch und analytisch bzw. zu ästhetisch, emotional und therapeutisch (Geimer 2014; Hooks 1994). Autoethnograf/innen werden dafür kritisiert, zu wenig Feldforschung zu betreiben (Delamont 2009). Statt auf „methodisch kontrolliertes Fremdverstehen“ (Geimer 2011, S. 315) werde auf persönliche Erfahrung zurückgriffen, es würden „verzerrte“ Daten (Anderson 2006; Atkinson 1997) verwendet. Autoethnograf/innen seien „Nabelschau betreibende“ (Madison 2006) Narzisst/innen, die die wissenschaftlichen Pflichten des Hypothesenbildens, Analysierens und Theoretisierens nicht erfüllten. Kritisiert werden auch eine fehlende Distanz zum Untersuchungssubjekt, die in unhinterfragter Parteinahme münde, sowie das autoethnografische Postulat der Verständlichkeit und Zugänglichkeit von Texten. Letzteres sei anti-intellektuell und ignoriere gesellschaftliche Differenzen naiv (Timm 2016). Umgekehrt wird Autoethnografie, bezogen auf autobiografische (Schreib-)Standards, oft als ästhetisch, literarisch und künstlerisch unzureichend bewertet. Es werde versucht, durch Rückgriff auf literarische Formen wissenschaftliche Legitimität zu erlangen, während „echte“ Imagination und künstlerische Qualitäten und Talente außer Acht gelassen würden (Gingrich-Philbrook 2005). Nach Moro (2006) sind nur „verdammt gute“ Autor/innen in der Lage, Autoethnografie zu betreiben. Beide Kritiken positionieren Kunst und Wissenschaft in einem Widerspruchsverhältnis, während Autoethnograf/innen sich darum bemühen, gerade diese Dichotomie aufzulösen: Forschung kann ihnen zufolge strikt theoretisch/analytisch und emotional, persönlich und therapeutisch sein. Autoethnograf/innen schätzen auch die Möglichkeit und Notwendigkeit, Forschung auf plastische und ästhetisch ansprechende Art und Weise zu schreiben und darzustellen (z. B. Ellis 2004; Pelias 2000), ohne dass deshalb Belletristik zitiert werden muss oder eine Ausbildung im literarischen Schreiben oder darstellender Kunst erforderlich wäre. Vor allem in Disziplinen wie der Psychologie, die in weiten Teilen einem naturwissenschaftlichen Forschungsideal verpflichtet sind, sieht sich die Autoethnografie (noch stärker als andere qualitative Zugänge) mit dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit konfrontiert. Performative Epistemologie fordert das Wissenschaftsverständnis der Psychologie heraus, demzufolge Forschende die Aufgabe haben, etwas über ihren Gegenstand „herauszufinden“ und die Ergebnisse ihrer Forschung dem wissenschaftlichen Publikum zur Kritik und Rezeption zur Verfügung zu stellen. An diese Überlegungen knüpft auch der Vorwurf an, es gäbe keine angemessenen Kriterien für gelungene Autoethnografien, weil sie sich mit dem Anspruch auf interpretative Offenheit Ergebnissen verweigerten, die an traditionellen Gütekriterien gemessen werden könnten (s. Abschn. 3.4). Diese kritische Haltung ist zum Teil aus dem Bemühen heraus zu verstehen, qualitative Zugänge u. a. durch Erarbeitung von Gütekriterien als „ernst zu nehmende Empirie“ zu etablieren (für die deutschsprachige Sozialforschung Geimer 2011, 2015). Eine entsprechende Debatte zur Qualität von Forschung wird seit einiger Zeit auch in der
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Zeitschrift „Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research“ (kurz: FQS) geführt.1 Nicht selten sehen sich Autoethnograf/innen auch mit einer persönlichen Form der Kritik konfrontiert, die einer Erwiderung mit „guten Gründen“ nicht zugänglich ist. Ihr Fokus auf die eigene Geschichte und die Erweiterung hergebrachter Standards von Wissenschaftlichkeit wird in manchen Settings (zum Beispiel online) zum Anlass für emotionale Kritik an der Person der Forscherin. Dass Angriffe dieser Art schnell zum Belästigungsrisiko werden können (Stichwort: „trolling“) hat etwa Campbell (2017) eindrucksvoll geschildert.
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Verbreitung der Autoethnografie in den USA und im deutschsprachigen Raum
In den USA hat sich in den letzten 15 Jahren eine beachtliche autoethnografische Community herausgebildet, deren Forschung in den Kanon anderer performativer Ansätze (wie etwa dem Ethnodrama, z. B. Roberts 2008) eingebettet ist. Ihre Mitglieder forschen und lehren in unterschiedlichen Disziplinen, auch in der Psychologie. Eine zentrale Veranstaltung ist der seit 2004 jährlich stattfindende International Congress of Qualitative Inquiry (ICQI) in Urbana/Champaign (Illinois), auf dem drei Tage lang in zahlreichen parallel veranstalteten Panels Autoethnografien und andere performative Arbeiten, ergänzt durch methodologische Beiträge, präsentiert werden. Hier gibt es seit einigen Jahren auch einen „Tag der qualitativen Psychologie“, der autoethnografische Performances beinhaltet. Auch im deutschsprachigen Raum findet der Ansatz in den letzten Jahren eine wachsende Resonanz. Vermehrt werden Lehrveranstaltungen zum Thema angeboten, Autoethnografie findet Eingang in Überblicksveranstaltungen zur qualitativen Forschung, oder dient zur Veranschaulichung z. B. von Fragen der Forschungsethik oder der Selbstreflexion (u. a. 2010 durch Henriett Primecz an der Wirtschaftsuniversität Wien; 2012/13 durch Sarah Scholl-Schneider in Mainz und Johanna Stadlbauer/Andrea Ploder in Graz; 2014 durch Daniela Jauk in Graz). Auch Workshops zum Thema werden vermehrt nachgefragt. Eine Ende 2017 initiierte deutschsprachige Mailingliste zur Autoethnografie hatte innerhalb einer Woche über 100 Abonnent/innen, viele Personen scheinen Autoethnografie in Qualifizierungsarbeiten zu verwenden.2 Im Gegensatz zur Situation in den USA spielen aber performative „Aufführungen“ autoethnografischer Arbeiten sowie die politische Dimension des Zugangs im deutschsprachigen Raum (bisher) eine untergeordnete
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http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/pages/view/quality. Zugegriffen am 13.03.2018. Die deutschsprachige Liste kann über https://groups.google.com/d/msgid/autoethnographie abonniert werden, die seit 2005 bestehende englischsprachige unter diesem Link: https://groups.yahoo. com/neo/groups/autoethnography/info. 2
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Rolle. Auch die hiesige Zeitschriftenlandschaft nimmt Autoethnografien bisher nur zögerlich auf, Hauptanlaufstelle ist bis heute die Zeitschrift FQS. Bereits seit längerer Zeit werden in verschiedenen Disziplinen Arbeiten verfasst, die sich autoethnografischer Techniken und Formate bedienen oder zur autoethnografischen Wissensproduktion beitragen, aber nicht explizit als solche ausgewiesen sind (Birck 2003; Heimerdinger und Scholz 2007; Mey 2018; Mruck 1999; Riemann 2011; Schönberger 2001). Das wachsende Interesse an Autoethnografie steht im Kontext allgemeiner Entwicklungen im Feld der qualitativen Forschung. Eine große Rolle spielt dabei die anhaltende Auseinandersetzung mit Fragen der Subjektivität und Reflexivität von Forscher/innen (siehe die beiden FQS-Schwerpunktausgaben zu Subjectivity and Reflexivity in Qualitative Research – Mruck und Breuer 2003, und jünger Bonz 2016; Breuer et al. 2017; Kühner et al. 2016; Mruck und Mey 2019; Reichertz 2015), also dem systematischen Rückbezug der Forschenden auf sich selbst, auf ihre Verstrickungen mit dem Feld, ihre Vorannahmen, ihren Einfluss und ihre Reaktionen auf die Forschungsbeziehung. Die Akzeptanz autoethnografischer Perspektiven variiert mit den wissenschaftstheoretischen Grundüberzeugungen bzw. -kontroversen in den unterschiedlichen Disziplinen. Die Psychologie scheint mit ihrem Fokus auf das Individuum stärker als andere Disziplinen dazu prädestiniert, der Perspektive der einzelnen Forscherin bzw. des einzelnen Forschers einen besonderen Stellenwert einzuräumen. Dennoch ist die deutschsprachige Psychologie nach wie vor vornehmlich quantitativ orientiert und vertritt ein Wissenschaftsideal, das mit dem der Autoethnografie schwer in Einklang zu bringen ist. Auch im englischsprachigen Forschungsraum verorten sich viele Psycholog/innen nahe den Naturwissenschaften und in einigem Abstand von den Geisteswissenschaften (Wertz 2011). Es besteht ein komplexes und widersprüchliches Verhältnis zu Introspektion und Selbstbeobachtung in Bezug auf die Bewertung ihrer wissenschaftlichen Zuverlässigkeit und Messbarkeit (McIlveen et al. 2010; Schultz und Schultz 2012). Die Anerkennung qualitativer Forschung fand daher in der Psychologie später als in anderen Disziplinen statt (Marecek et al. 1997; Mruck und Mey 2005; Wertz 2011; Levitt et al. 2018). Dennoch verwenden einige Psycholog/innen – ob sie sich nun selbst als Autoethnograf/innen bezeichnen oder nicht – im englischsprachigen Raum seit einiger Zeit autoethnografische Praktiken, haben selbst Autoethnografien verfasst oder ihre Verwendung in der Forschung untersucht. Von Amia Lieblich zum Beispiel stammt die Monografie „Learning about Lea“ (2003), die zugleich eine Biografie der Dichterin Lea Goldberg und eine Erzählung über Lieblichs „persönliche Reise“ und „Entdeckung“ von Goldberg ist. Peter McIlveen et al. (2010) haben Autoethnografie als Ansatz für berufspsychologische Forschungen vorgeschlagen. Der Gesundheitspsychologe John L. Smith (2004) untersuchte Essstörungen autoethnografisch. Die Gemeinschaftspsychologin Regina Day Langhout (2006) nutzte Autoethnografie, um Fragen von race, Klasse und Geschlecht zu untersuchen. Tessa Muncey (2014) schrieb mit „Creating Autoethnographies“ eine praktische Anleitung für ein autoethnografisches Projekt. Ken und Mary Gergen treten in ihrem Buch „Playing with Purpose“ (Gergen und Gergen 2016) für autoethnografisches Schrei-
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ben und Performances ein, und es gibt noch viele weitere Beispiele (Rosenwald und Ochberg 1992; Josselson et al. 2002; McAdams et al. 2002; Martin et al. 2011; Speedy 2015). Ein zentraler und bisher zu wenig rezipierter deutschsprachiger psychologischer Beitrag zur autoethnografischen Wissensproduktion ist die Dissertation von Katja Mruck aus dem Jahr 1999. In dieser Arbeit wird der Begriff der Autoethnografie nicht ein einziges Mal genannt, die Person der Forscherin steht aber sowohl auf inhaltlicher als auch auf formaler Ebene im Zentrum. Ausgehend von wachsendem Unbehagen an einem ihr vormals unhinterfragbar erscheinenden Ideal sicheren wissenschaftlichen Wissens rekonstruiert und dekonstruiert die Autorin die Ideengeschichte von Subjektivität und Objektivität in der Erkenntnistheorie und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Geschichte und Systematik des epistemisch starken Forschungssubjekts. Darüber hinaus verlässt der Text auch auf formaler Ebene das dominante akademische Textgenre. So erfolgt die Auseinandersetzung mit theoretischen Positionen zunächst in Form des klassischen Literaturberichts und wird dann u. a. durch ein „unakademisches Protokoll polyfoner Wissenschaft“ und am Ende durch ein Selbstgespräch dekonstruiert. In seinem experimentellen Charakter kommt dieser Text in vieler Hinsicht dem performativen Forschungsideal nahe und bietet eine seltene Vorlage für eine „Autoethnografie der Ideen“, die sich als Format für den theoretischen Teil bzw. den Stand der Forschung in autoethnografischen Qualifizierungsarbeiten anbietet. Auch auf einer weiteren Ebene ist diese Dissertation stark reflexiv: Sie thematisiert auf jeder Seite auch den Prozess des Arbeitens selbst, die Krisen und Motive, sowie die Dispute mit jenen Personen, die die Autorin beim Schreiben des Textes begleitet haben. Im Rückblick ist außerdem interessant, welche Vorbilder die Autorin zu Rate gezogen hat: Auf theoretischmethodologischer Ebene ist der Ethnopsychoanalytiker Georges Devereux eine zentrale Bezugsgröße, praktisch dienten ihr unter anderem die „Experimentierfreude und [. . .] die experimentellen Versuche zeitgenössischer Ethnolog(inn)en“ (Mruck 1999, S. 170) als Ressource.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Auf den vorangegangen Seiten ist deutlich geworden, dass Autoethnograf/innen in vielerlei Hinsicht methodisches Neuland betreten, während der Ansatz zugleich in mehrere aktuelle Strömungen innerhalb der qualitativen Forschung eingebettet ist. Es werden einige Grundüberzeugungen der Sozial- und Kulturwissenschaften allgemein, aber auch des qualitativen Forschens im Besonderen herausgefordert und kritisiert. Trotz und zum Teil gerade wegen der Schwierigkeiten, mit denen sie das gängige Wissenschaftsverständnis konfrontiert, hat die Autoethnografie große Potenziale für qualitative Forschung, insbesondere auch in der Psychologie. Als Methode, die an der Erfahrung der Forschenden ansetzt, ermöglicht sie eine Annäherung an Phänomene, die mit anderen Methoden der qualitativen Psychologie (Interviews, Beobachtungen, Diskurs- und Dokumentanalysen etc.) schwer zu fassen sind. Das betrifft insbesondere stark emotional aufgeladene Themen, die mit
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Liebe, Freude, Angst oder Trauer zu tun haben (Stadlbauer und Ploder 2016), aber auch körpernahe Forschungsfelder wie Sport (Hockey 2015; Ronkainen et al. 2014; Saerberg 2014), Sexualität (Kulick und Willson 1995; Luckett 2018), Disability (Saerberg 2014), Gewalt (Khosravi 2011) oder Krankheit. In Selbsterzählungen und deren Deutung können die Forschenden ihr wissenschaftliches Interesse direkt an das (eigene) Erleben herantragen und so um einiges detaillierter erheben und analysieren, als das bei Interviews mit anderen möglich wäre. Die Autoethnografie eignet sich außerdem besonders gut zur Erforschung von liminalen Phasen und Lebenskrisen, die mithilfe von Beobachtungen und Interviews ebenfalls nur schwer, jedenfalls kaum in ihrem krisenhaften Charakter erforscht werden können. Autoethnografie greift dabei Zugänge wie die systematische Introspektion auf, die in der Fachgeschichte eine gewisse Tradition haben (Mey 2018). In wissenschaftspolitischer Hinsicht betont die Autoethnografie das gesellschaftsverändernde Potenzial qualitativer Forschung und bietet damit Anregungen auch für etabliertere Ansätze der qualitativen Psychologie (Schreier 2017, Abs. 56). Auf konzeptueller Ebene begegnet die Autoethnografie den methodologischen Herausforderungen des narrative turn, der arts-based research, fiction-based research und der performativen Sozialwissenschaft. Sie verwirklicht die Idee einer performativen Epistemologie, die die in der qualitativen Forschung weit verbreitete interpretative Forschungslogik infrage stellt. Nicht zuletzt aufgrund ihres Textformats ist sie anschlussfähiger an etablierte Zugänge als z. B. Musik oder Tanz; sie verfügt über einen höheren Grad an Referenzialität und erlaubt genauere Ausdrucksformen (Schreier 2017, Abs. 13). In den letzten Jahren ist in der deutschsprachigen Psychologie ein verstärktes Interesse an autoethnografischen Herangehensweisen zu beobachten, einige Projekte sind zurzeit im Entstehen. Es ist denkbar, dass im Zusammenhang mit der Verbreitung qualitativer Zugänge auch das Interesse an der Autoethnografie in der deutschund englischsprachigen Psychologie zunehmen wird. Ob und wie die Methode sich in diesem Feld etablieren kann, werden aber erst die kommenden Jahre zeigen.
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Autoethnografie
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Teil III Auswertung
Qualitative Inhaltsanalyse Philipp Mayring
Inhalt 1 Entstehungsgeschichte der Qualitativen Inhaltsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische und methodologische Grundannahmen der Qualitativen Inhaltsanalyse . . . . 3 Computereinsatz für qualitative Inhaltsanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Beispiele qualitativ inhaltsanalytischer Studien aus der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Verwandte Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
496 498 502 503 505 507 510
Zusammenfassung
Der Beitrag geht zunächst auf die Entstehungsgeschichte der Qualitativen Inhaltsanalyse ein, die sich auf die quantitativen Content Analysis in der Methodik bezieht, aber den Zuordnungsprozess von Kategorien zu Textstellen als qualitativ-interpretativen Prozess konzipiert. Die theoretischen und methodologischen Grundlagen des Vorgehens werden dargestellt, Ablaufmodelle skizziert, Computereinsatzmöglichkeiten vorgestellt sowie eine Beispielanalyse angeführt. Schließlich werden verwandte Verfahren genannt und die spezifischen Leistungen und Grenzen der Qualitativen Inhaltsanalyse verdeutlicht. Schlüsselwörter
Inhaltsanalyse Textanalyse Qualitative Inhaltsanalyse CAQDAS Induktive Kategorienbildung Deduktive Kategorienanwendung
P. Mayring (*) Institut für Psychologie, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_52
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1
P. Mayring
Entstehungsgeschichte der Qualitativen Inhaltsanalyse
Techniken qualitativer Inhaltsanalyse sind in den Sozialwissenschaften zu einer Standardmethode der Textanalyse geworden. Die von mir vorgeschlagenen Verfahrensweisen (Mayring 2014, 2015) wurden vor dreißig Jahren in einem Forschungsprojekt zur Untersuchung der psychosozialen Folgen von Arbeitslosigkeit (Ulich et al. 1985) entwickelt, in dem halb-strukturierte offene Interviews nach bereichsspezifischen Belastungen, kognitiver Verarbeitung und Bewältigungsversuchen im Längsschnitt (insgesamt etwa 600 Interviews) ausgewertet werden mussten. Daher kam die Notwendigkeit, nach einem effizienten Verfahren zu suchen, um die großen Mengen an Material zu bewältigen. Die Inhaltsanalyse bot sich hier zunächst an, da sie, aus den Kommunikationswissenschaften stammend, auf große Materialmengen (z. B. Zeitungsanalysen) ausgerichtet war (Krippendorff 2004; Merten 1995). Allerdings wurde sie dort zunächst als rein quantitative Analysetechnik entwickelt: „Content analysis is a research technique for the objective, systematic and quantitative description of the manifest content of communication“ (Berelson 1952, S. 18). Kennzeichnend war dabei über die rein quantitative Ausrichtung hinaus die Beschränkung auf den manifesten Inhalt. Es wurde eine Reihe systematischer, regelgeleiteter, intersubjektiv nachvollziehbarer und überprüfbarer Verfahren entwickelt, die sich in vier Gruppen einteilen lassen (Gerbner et al. 1969): • Einfache Häufigkeitsanalysen greifen bestimmte Textbestandteile heraus und zählen sie aus. Dies können auch formale Eigenschaften oder komplexere Bestandteile wie Themen sein. • Komplexe Häufigkeitsanalysen setzen theoriegeleitet bestimmte Variablenindikatoren im Text fest und zählen diese aus. So wurden beispielsweise Textindikatoren für Autoritarismus entwickelt, um Beschwerdebriefe auszuwerten oder Psychotherapieprotokolle auf Anzeichen für Erregtheit oder Ruhe der Patient/ innen hin untersucht. • Kontingenzanalysen untersuchen Kategorienzusammenhänge, also das gemeinsame Auftreten innerhalb bestimmter Textabschnitte. Hier sind Bedeutungsfeldanalysen, aber auch komplexe Ansätze wie Argumentationsstrukturanalysen anzuführen. • Valenz- und Intensitätsanalysen schätzen das Textmaterial in Richtung kategorialer oder ordinaler Variablen bzw. Kategorien ein. Für die erstgenannten Gruppen wird so vorgegangen, dass auszählbare Textelemente bestimmt und die Häufigkeiten dann in Richtung der Projektfragestellung interpretiert werden (was nicht immer einfach ist). Bei der letzten Gruppe müssen aber bereits bei der Zuordnung der Kategorien zum Text Interpretationen vorgenommen werden, es wurden dafür aber keine Kriterien oder inhaltsanalytische Regeln systematisch entwickelt. So ist es kein Wunder, dass Unzufriedenheit mit der quantitativen Inhaltsanalyse aufkam; u. a. Ritsert (1972) kritisierte die mangelnde Berücksichtigung latenter Sinnstrukturen und die Beschränkung auf Quantifizierbares.
Qualitative Inhaltsanalyse
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Die qualitative Inhaltsanalyse möchte gerade hier ansetzen: das technische Knowhow im Umgang mit großen Textmengen verwenden, um auch stärker die interpretative Textanalyse intersubjektiv überprüfbar durchzuführen. Dabei sind wiederum verschiedene Techniken ausgearbeitet worden. Sie differenzieren sich aber nicht wie bei der quantitativen Inhaltsanalyse von den technischen Möglichkeiten her, sondern von Grundformen im Umgang mit Texten. Drei Grundtechniken qualitativer Inhaltsanalyse sind vorgeschlagen worden (Mayring 2015): • Zusammenfassungen wollen den Text auf seine wesentlichen Bestandteile reduzieren, um zu Kernaussagen zu gelangen. Die induktive Kategorienbildung stellt hier eine wichtige Vorgehensweise dar. • Explikationen wollen an unklaren Textstellen ansetzen und sie durch Rückgriff auf den Textstellenkontext verständlich machen. • Strukturierungen wollen im Textmaterial Querauswertungen vornehmen, bestimmte Aspekte herausgreifen. Dazu wird mit vorab deduktiv gebildeten Kategorien gearbeitet, entlang derer das Material systematisiert wird. Der qualitativen Inhaltsanalyse geht es darum, diese Grundformen des Interpretierens von Text mit inhaltsanalytischen Regeln beschreibbar und überprüfbar werden zu lassen. Sind mit diesen Verfahren Zuordnungen von Kategorien zum Textmaterial regelgeleitet vorgenommen worden, so lassen sie sich gegebenenfalls auch quantitativ (Kategorienhäufigkeiten in bestimmten Textsegmenten) weiterverarbeiten. Deshalb nimmt die qualitative Inhaltsanalyse im (wenig produktiven) Streit um qualitative oder quantitative Methoden eine gewisse Zwischenstellung ein. In der Folge sind Techniken qualitativer Inhaltsanalysen in den Sozialwissenschaften äußerst erfolgreich geworden (vielleicht gerade wegen ihres qualitativquantitativen Charakters). So haben Titscher et al. (2000) in einer systematischen bibliometrischen Analyse in den Literatur- und Forschungsdatenbanken FORIS, SOLIS, Sociofile, Psyndex und MLA offene inhaltsanalytische Formen mit 39 Prozent (1621 Fundstellen) als häufigstes textanalytisches Verfahren identifiziert, gefolgt von Konversationsanalysen (21 %), standardisierter Inhaltsanalyse (19 %), Grounded-Theory-Methodologie (12 %), Objektiver Hermeneutik (5 %) und Ethnografie (2 %). Insofern scheint die qualitative Inhaltsanalyse zu einem Standardverfahren sozialwissenschaftlicher Textanalyse geworden zu sein. In eine ähnliche Richtung weisen die Ergebnisse von Carrera-Fernandez et al. (2014) einer Analyse von qualitativ orientierten Zeitschriftenartikeln speziell in der Psychologie (Web of Science als Datenbasis). Die qualitative Inhaltsanalyse steht hier weit an erster Stelle, dann folgen Grounded-Theory-Methodologie, Diskursanalyse und Aktionsforschung. In den letzten Jahren sind qualitativ-inhaltsanalytische Ansätze entwickelt worden (Kuckartz 2012; Schreier 2012), die zum Teil auf von uns entwickelten Ansätzen aufbauen, zum Teil Modifikationen vornehmen, auf die in Abschn. 5 eingegangen werden soll.
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2
P. Mayring
Theoretische und methodologische Grundannahmen der Qualitativen Inhaltsanalyse
Die methodischen Grundsätze der qualitativen Inhaltsanalyse sind an verschiedenen Stellen ausführlich dargestellt worden (insbesondere Mayring 2015). Hier sollen die wichtigsten Prinzipien kurz zusammengefasst werden: • Die qualitative Inhaltsanalyse ordnet das zu analysierende Material in ein Kommunikationsmodell ein, um festzulegen, auf welchen Teil des Modelles durch die Textanalyse Schlussfolgerungen gezogen werden sollen. Hierbei geht es weniger um den Text an sich (wie bei literaturwissenschaftlicher Textanalyse), sondern zum Kommunikationsmodell gehören der/die Autor/in des Textes, der soziokulturelle Hintergrund, die textproduzierende Situation, der/die Adressat/in des Textes und letztlich auch der/die Inhaltsanalytiker/in selbst. • Qualitative Inhaltsanalyse setzt sich von sog. „freien“ oder „impressionistischen“ Interpretation ab (s. Bortz und Döring 2006), indem vorab Regeln formuliert werden (Ablaufmodelle, Analyseeinheiten, inhaltsanalytische Regeln), nach denen die Textanalyse erfolgt. Diese Regeln werden in Rückkoppelungsschleifen während der Analyse überarbeitet, bleiben aber für den letztendlichen Materialdurchgang konstant. • Solche Ablaufmodelle werden an die Fragestellung angepasst. Aus den vorgeschlagenen Modellen (Zusammenfassung/induktive Kategorienbildung, Explikation, Strukturierungen) wird die passende Grundform oder ggf. eine Kombination der Grundformen ausgewählt und auf das konkrete Material adaptiert (Mayring und Brunner 2009). • Im Zentrum der Analyse steht das Kategoriensystem. Kategorien stellen die Auswertungsaspekte in Kurzform dar, haben formal Ähnlichkeit mit den Kodes in der Grounded-Theory-Methodologie (Muckel 2011). Die Kategorien müssen jedoch in der Inhaltsanalyse genau definiert und mit inhaltsanalytischen Regeln muss die Zuordnung zum Text festgelegt werden (das wird bei komplexeren quantitativen Inhaltsanalysen oft vernachlässigt). Dies geschieht in der Regel theoriegeleitet, bei deduktiven Kategorienanwendungen explizit durch die vorab festgelegte Definition der Kategorien, bei induktiver Kategorienbildung durch die Gruppierung der induktiven Kategorien zu Hauptkategorien. • Die Zuordnung der Kategorie zur Textstelle geschieht, das ist die entscheidende Abgrenzung zur rein quantitativen Inhaltsanalyse, nie automatisch, sondern gestaltet sich als regelgeleitete Interpretation (Mayring 2002). Dies kann sehr komplex werden, wenn deduktive Kategorien für ein ganzes Interview (Analyseeinheit) einmalig vergeben werden sollen und mehrere relevante Textstellen („Fundstellen“) im Material aufgefunden wurden. Hier müssen Interpretationsentscheidungen getroffen werden (die dann allerdings in Kodierregeln für zukünftige ähnliche Fälle münden können). • Die zentralen qualitativ-inhaltsanalytischen Regeln finden ihre theoretische Fundierung in Prozessen alltäglicher Textverarbeitung, wie sie in der kognitiven
Qualitative Inhaltsanalyse
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Psychologie und Psycholinguistik analysiert werden. Für Zusammenfassung und induktive Kategorienbildung sind dies die reduktiven Operatoren (Mandl 1981), für deduktive Kategorienanwendungen sind es die Kategorisierungstheorien (Definitionsansatz, Prototypenansatz, Entscheidungsgrenzenansatz, Murphy 2002), die den Kodierleitfaden begründen (Mayring 2015). • Zentral in qualitativer Inhaltsanalyse sind Rückkoppelungsschleifen in der Festlegung der Kategoriendefinitionen, es handelt sich also um ein zirkuläres Verfahren (Mayring 2007a). Grund dafür ist, dass das Kategoriensystem mit seinen Definitionen das zentrale Instrument der Analyse ist und in aller Regel für das konkrete Forschungsprojekt erst entwickelt wird. Neue Instrumente müssen aber – das ist ein Grundprinzip wissenschaftlicher Methodik – in Pilotstudien erst getestet und adaptiert werden. Bei Textanalysen kann man dies am gleichen Material vornehmen. Nach diesen Pilotdurchgängen kann erst von einer bewährten, verlässlichen Methodik ausgegangen werden. • Der systematische Einsatz von speziellen Gütekriterien ist für die qualitative Inhaltsanalyse besonders wichtig, wiederum ein bedeutsames Unterscheidungskriterium zu anderen, offeneren textanalytischen Verfahrensweisen. Mindestens zwei Kriterien sollen bei jeder Inhaltsanalyse überprüft werden: Die Intra-Koderreliabilität wird überprüft, indem nach Abschluss der Analyse zumindest Teile des Materials erneut durchgearbeitet werden, ohne auf die zuerst erfolgten Kodierungen zu sehen. Eine hohe Übereinstimmung gilt als Indikator für die Stabilität des Verfahrens. Die Inter-Koderreliabilität (eigentlich Auswertungsobjektivität) wird überprüft, indem zumindest ein Ausschnitt des Materials einem zweiten Kodierer bzw. einer zweiten Kodiererin vorgelegt wird. Die Regeln sind hier nicht ganz so streng wie bei der quantitativen Inhaltsanalyse: Die Zweitkodierer/innen werden ausführlich in das Regelwerk eingearbeitet. Bei Nicht-Übereinstimmung werden die fraglichen Textstellen in einer Kodierkonferenz besprochen. Nur wenn Zweitkodierer/innen den Erstkodierer/innen, die in der Regel über mehr Hintergrundwissen zum Material oder der interviewten Person verfügen, Fehlkodierungen nachweisen, gilt dies als Nicht-Übereinstimmung. Gerade bei induktiver Kategorienbildung kann auch nicht von hundertprozentiger Übereinstimmung ausgegangen werden. • Wenn auf diese Weise Textstellen Kategorien stabil zugeordnet werden konnten, so kann das alleinige Vorhandensein dieser Kategorien bereits als Ergebnis der Analyse gelten. Bei induktiver Kategorienbildung könnte das die Liste der herauskristallisierten Kategorien sein. In vielen Fällen werden aber Kategorien mehrfach dem Material zugeordnet. Dann bieten sich quantitative Analysen an: Eine Ordnung der Kategorien nach Auftretenshäufigkeit stellt einen ersten Schritt dar. Dann können Materialuntergruppen gebildet und Kategorienhäufigkeitsränge verglichen werden. Bei der skalierenden Strukturierung können auch ordinale Kategoriensysteme verwendet werden, die die quantitative Analyse von Variablenzusammenhängen (Rangkorrelationen) ermöglichen.
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P. Mayring
Aufgrund dieser Darstellung dürfte klar geworden sein, dass der Begriff „qualitative Inhaltsanalyse“ nicht mehr ganz passend ist. Zum einen erscheint mir die Formulierung „qualitativ orientiert“ adäquater, da ja auch Quantifizierungen ermöglicht werden und dadurch die unfruchtbare Dichotomisierung qualitativ vs. quantitativ relativiert wird. Zum anderen widmet sich die qualitative Inhaltsanalyse nicht nur den Textinhalten, denn sie geht einerseits auf formale Textbestandteile ein, andererseits auf tiefer liegende Bedeutungsstrukturen. So wäre der Begriff „qualitativ orientierte kategoriengeleitete Textanalyse“ treffender. Es sei darauf hingewiesen, dass mit diesen Verfahrensweisen analog auch Videoaufnahmen ausgewertet werden können (Mayring et al. 2005). Hier werden wiederum Kategorien nach Definitionen und inhaltsanalytischen Regeln Videomaterialstellen zugeordnet. Dies kann computergestützt vereinfacht werden, indem in der Fenstertechnik in einem Fenster die Videoaufnahmen, in einem weiteren die inhaltsanalytischen Definitionen und Regeln und in einem dritten Fenster die eigentliche Auswertung visualisiert werden (Kuckartz 2010). Um das Verfahren weiter zur verdeutlichen, soll das Zentrum der qualitativinhaltsanalytischen Arbeit, das Ablaufmodell, vorgestellt werden. In Abb. 1 werden dabei zwei Grundverfahren, die wir neben einer ganzen Reihe weiterer Verfahren (Zusammenfassung, Explikation, inhaltliche, formale und typisierende Strukturierung) in ein Modell vereinigt: die deduktive Kategorienanwendung (rechter Strang in der Abbildung) und die induktive Kategorienentwicklung (linker Strang). Die einzelnen Schritte sind andernorts expliziert worden (Mayring 2014, 2015; Mayring und Gläser-Zikuda 2008). Die wesentlichen inhaltsanalytischen Interpretationsregeln stellen beim induktiven Verfahren die Festlegung der Kategoriendefinition und des Abstraktionsniveaus dar, beim deduktiven Verfahren ist dies der Kodierleitfaden. Dabei kann auch beim induktiven Verfahren zum Zwecke erhöhter Genauigkeit ein ausführlicher Kodierleitfaden eingesetzt werden. Zentral beim induktiven Verfahren wird auch die Weiterarbeit mit den Kategorien sein. Hier kann man durch Gruppierungen theoriegeleitet Hauptkategorien bilden und damit das Abstraktionsniveau, wie bei Zusammenfassungen, schrittweise erhöhen. Solche Ablaufmodelle werden in der qualitativen Inhaltsanalyse noch durch weitere Auswertungsregeln präzisiert. Darauf aufbauend lauten die Regeln für die zusammenfassenden Inhaltsanalysen (s. Mayring 2015, S. 72): Z1:. Paraphrasierung Z1.1: Streiche alle nicht (oder wenig) inhaltstragenden Textbestandteile wie ausschmückende, wiederholende, verdeutlichende Wendungen! Z1.2: Übersetze die inhaltstragenden Textstellen auf eine einheitliche Sprachebene! Z1.3: Transformiere sie auf eine grammatikalische Kurzform! Z2:. Generalisierung auf das Abstraktionsniveau Z2.1: Generalisiere die Gegenstände der Paraphrasen auf die definierte Abstraktionsebene, sodass die alten Gegenstände in den neu formulierten impliziert sind! Z2.2: Generalisiere die Satzaussagen (Prädikate) auf die gleiche Weise!
Qualitative Inhaltsanalyse
501
Schritt 1: Präzisierung und theoretische Begründung der Fragestellung
Schritt 2: Auswahl und Charakterisierung des Materials
Schritt 3: Einordnung des Materials in Kommunikationsmodell; Bestimmung der Richtung der Analyse
Schritt 4: Festlegung der Analyseeinheiten
Schritt 5: Festlegen der Kategoriendefinition
Schritt 5: Theoriegeleitete Festlegung der Kategorien
Schritt 6: Bestimmung des Abstraktionsniveaus
Schritt 6: Formulierung des Kodierleitfadens
Schritt 7: Beginn der induktiven Kategorienbildung
Schritt 7: Beginn der deduktiven Kategorienanwendung
Schritt 8: Überarbeitung des Kategoriensystems, Intra-kodercheck
Schritt 9: Endgültiger Materialdurchgang
Schritt 10: Intercoder-Reliabilitätsprüfung
Schritt 11: Qualitative und quantitative Analyse der Kategorien Abb. 1 Ablaufmodell induktiver Kategorienbildung und deduktiver Kategorienanwendung (nach Mayring und Brunner 2006)
502
P. Mayring
Z2.3: Belasse die Paraphrasen, die über dem angestrebten Abstraktionsniveau liegen! Z2.4: Nimm theoretische Vorannahmen bei Zweifelsfällen zu Hilfe! Z3:. Erste Reduktion Z3.1: Streiche bedeutungsgleiche Paraphrasen innerhalb der Auswertungseinheiten! Z3.2: Streiche Paraphrasen, die auf dem neuen Abstraktionsniveau nicht als wesentlich inhaltstragend erachtet werden! Z3.3: Übernehme die Paraphrasen, die weiterhin als zentral inhaltstragend erachtet werden (Selektion)! Z3.4: Nimm theoretische Vorannahmen bei Zweifelsfällen zu Hilfe! Z4:. Zweite Reduktion Z4.1: Fasse Paraphrasen mit gleichem (ähnlichem) Gegenstand und ähnlicher Aussage zu einer Paraphrase (Bündelung) zusammen! Z4.2: Fasse Paraphrasen mit mehreren Aussagen zu einem Gegenstand zusammen (Konstruktion/Integration)! Z4.3: Fasse Paraphrasen mit gleichem (ähnlichem) Gegenstand und verschiedener Aussage zu einer Paraphrase zusammen (Konstruktion/Integration)! Z4.4: Nimm theoretische Vorannahmen bei Zweifelsfällen zu Hilfe! Durch solche Regeln wird das Vorgehen weiter präzisiert und intersubjektiv nachvollziehbar sowie überprüfbar.
3
Computereinsatz für qualitative Inhaltsanalysen
Da schriftliche Dokumente in der Sozialforschung (z. B. Interviewtranskripte) heute in aller Regel in digitaler Form vorliegen, bietet sich der Einsatz von Computerprogrammen zur Unterstützung der Analyse an (Computer Assisted/Aided Qualitative Data Analysis, kurz CAQDAS, s. Kuckartz 2010). Gängige Computerprogramme für Textanalyse (z. B. ATLAS.ti, MAXQDA, NVivo) sind in der Regel an der Grounded-Theory-Methodologie orientiert (enthalten Kodefenster und Memofunktion). Qualitativ-inhaltsanalytisches Arbeiten ist hier zwar möglich, aber nicht sehr komfortabel. So muss zum Beispiel der Kodierleitfaden für deduktive Kategorienanwendung umständlich im Memofenster untergebracht werden. Zusammenfassende Inhaltsanalyse ist in den Programmen selbst kaum möglich, da sie eine flexible Tabellenverwendung erfordert. So haben wir ein eigenes Computerprogramm zur Unterstützung Qualitativer Inhaltsanalyse entwickelt (QCAmap). Das Programm ist interaktiv aufgebaut, führt also Schritt für Schritt durch die einzelnen Analyseprozeduren, ist webbasiert, also mit beliebigen Internetbrowsern benutzbar und steht kostenlos zur Verfügung (www. qcamap.org). Ein ausführliches Handbuch und weitere Materialien sind ebenfalls frei abrufbar (www.qualitative-content-analysis.org).
Qualitative Inhaltsanalyse
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Beispiele qualitativ inhaltsanalytischer Studien aus der Psychologie
Mit Techniken qualitativer Inhaltsanalyse können die verschiedensten Materialien analysiert werden. Beispiele wären: • • • • • •
Transkripte von narrativen oder halb-strukturierten Interviews, Gruppendiskussionsprotokolle (Fokusgruppen), Material aus offenen Fragebögen, Beobachtungsprotokolle, Feldnotizen, Medienprodukte (von Zeitungen bis zum World Wide Web), Dokumente, Akten, „Spuren“.
Auch die direkte Auswertung von Tonbandaufnahmen ohne Transkription ist ähnlich wie bei Videoaufnahmen (s. Abschn. 2) möglich, wenn die Kategorienzuordnung dies erlaubt. Um eine Vorstellung von den Ergebnissen qualitativ-inhaltsanalytischen Arbeitens zu ermöglichen, sollen zunächst Beispiele aus eigenen Projekten gegeben werden. Im Projekt „Virtualisierung im Bildungsbereich VIB“ wurden E-Learning-Projekte in der Hochschullehre in Baden-Württemberg in einem Projektverbund evaluiert (Mayring und Hurst 2005a, b). Dazu wurde u. a. mit Forschungstagebüchern gearbeitet. Die Teilprojekte sollten durch wöchentliche Einträge in offener Form festhalten, was die Hauptprojekttätigkeiten waren. Durch induktive Kategorienbildung wurden diese Einträge ausgewertet. Die Kategorien wurden dann schrittweise theoriegeleitet generalisiert und konnten schließlich in vier Gruppen zusammengefasst werden (Abb. 2). Mit den vier Hauptkategorien konnten dann quantitative Analysen vorgenommen werden, zudem Häufigkeitsanalysen über alle Projekte hinweg, und ferner konnte auch den einzelnen Teilprojekten rückgemeldet werden, welche Tätigkeitsschwerpunkte im Zeitverlauf und im Vergleich zu den anderen Teilprojekten ihre Arbeit prägten. Ein Beispiel für deduktive Kategorienanwendung stammt aus einem Projekt zur Evaluation eines Drogenpräventionsprogrammes (Mayring und Brunner 2006). In halb-strukturierten offenen Interviews wurden dabei Sozialarbeiter/innen zu den betreuten Klient/innen befragt. Aufgrund der Gespräche wurden die Klient/innen dann in drei Kategorien eingestuft und die Ergebnisse wiederum häufigkeitsanalytisch ausgewertet. Die drei Kategorien sind in Abb. 3 dargestellt. Weitere Beispiele aus psychologischer Forschung, die explizit mit qualitativer Inhaltsanalyse gearbeitet haben, sind: • Silvio Herzog (2007) hat 155 Interviews mit narrativen und problemzentrierten Teilen mit Lehrer/innen geführt, um auf berufliches Wohlbefinden, Belastungen und Bewältigungen zu schließen. • Christine Petermann (2004) hat 384 offene Fragebögen u. a. mit strukturierender Inhaltsanalyse ausgewertet, um zu untersuchen, inwieweit die Bedeutung von
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■ Verbesserung der Infrastruktur und allgemeine Arbeitsverbesserungen (Projektverbesserungen) Verbesserung der Basisinfrastruktur Verbesserung der Hardware-Ausstattung für spezifische Anforderungen Verbesserung der Softwareausstattung Verbesserung der Wissensbasis und Medienkompetenz der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ■ Verbesserung des Produktes (Produktverbesserungen) Verbesserung des Produktes allgemein Verbesserung des Produktes durch Testung Verbesserung des Produktes inhaltlich und fachlich Verbesserung der Anpassung der Inhalte an das Medium Verbesserung der Navigation Verbesserung der Textgestaltung Verbesserung der graphischen Gestaltung Verbesserung des Seminarkonzeptes Verbesserung der Kommunikation innerhalb des Seminars Verbesserung des Verständnisses, der Leistungen bei den Studierenden Prozessbegleitende Evaluation durch Studierende (Selbstevaluation) ■ Prozessoptimierungen Verbesserung der Forschungstagebücher Verbesserung von Erhebungsinstrumenten und -methoden Anpassung, Präzisierung von Projektzielen Verbesserung der Kooperation und Kommunikation ■ Verbesserungen der Wirkung und Präsentation nach Außen Verbesserung von Publikationen Verbesserung von Präsentationen
Abb. 2 Induktive Kategorien aus Forschungstagebüchern im VIB-Projekt (nach Mayring und Hurst 2005b)
Kürzel Kategorienname
Kodierregeln
Ankerbeispiele
K1
Probierkonsum
Die Droge wird fallweise „Der X war ein typischer Probierer, der konsumiert, es liegt keine hat vielleicht drei oder vier Mal was mit Abhängigkeitsproblematik vor. seinen Freunden geraucht.“
K2
Regelmäßiger Drogenkonsum
Die Droge wird regelmäßig, mehrmals wöchentlich oder sogar täglich konsumiert.
„Die A war eine leidenschaftliche Kifferin, die hat schon öfters mal was geraucht, mehrmals in der Woche.“
K3
Schwere körperliche Abhängigkeit/ harte Drogen
Es liegt eindeutig eine Abhängigkeitsproblematik vor (diagnostische Richtlinien).
„Beim Z lag eindeutig ein Mischkonsum vor, der hat auch Härteres genommen und war auch schon körperlich drauf.“
Abb. 3 Deduktive Kategorien aus einer Drogenpräventionsstudie (nach Mayring und Brunner 2006)
Gesten vom jeweiligen komplementären mimischen Ausdruck der Gestenproduzent/innen abhängt. • Arnold Hitz (2000) führte 42 offene Interviews mit Studierenden zum Zeiterleben durch, extrahierte Strategien im Umgang mit Zeit (Planung, Spontaneität, Aufschieben, Perfektionismus) und kombinierte die Ergebnisse mit einer Fragebogenerhebung.
Qualitative Inhaltsanalyse
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• Jurkat et al. (2003) haben standardisierte Interviews mit Ärzt/innen im Krankenhaus zu Arten des Konflikterlebens durchgeführt und qualitativ-inhaltsanalytisch ausgewertet. • Hansen et al. (2004) haben Interviews zu Anforderungen und Nutzen eines kassenorientierten Krankenhausmanagements durchgeführt und mit zusammenfassender Inhaltsanalyse ausgewertet. Weitere Beispiele finden sich in dem Praxisband zur qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring und Gläser-Zikuda 2008), der auf Beiträgen zu den jährlich stattfindenden Workshops Qualitative Inhaltsanalyse1 basiert. Eine Open-Access-Schriftenreihe sammelt weitere aktuelle Studien.2
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Verwandte Verfahren
Neben den von unserer Arbeitsgruppe vorgeschlagenen Techniken qualitativer Inhaltsanalyse gibt es eine Reihe ähnlicher Verfahren, die kurz angesprochen werden sollen. Der Medienforscher David Altheide (1996) hat unter dem Titel ethnographic content analysis ein Verfahren konzipiert, das mit deduktiven Kategorien (Kodes), die im Analyseprozess verfeinert werden, an das Material geht und für jede Kategorie Zusammenfassungen erstellt, ein Vorgehen, das einer Prozedur qualitativer Inhaltsanalyse ähnlich, allerdings nicht so regelgeleitet festgelegt ist. Zur Auswertung von Protokollen lauten Denkens (eine in der Kognitionsforschung bedeutsame Erhebungsmethode) haben Ericsson und Simon (1999) eine protocol analysis entwickelt, nach der im Material nach Erklärungen, Beschreibungen, Rechtfertigungen und Rationalisierungen gesucht wird und diese in eine Sequenz gebracht werden. Relativ unklar bleiben die genauen Interpretationsregeln. Im amerikanischen Sprachraum verbreitet ist eine aus der quantitativen Inhaltsanalyse entwickelte codebook analysis (z. B. Neuendorf 2002), die an den Prozeduren der content analysis ansetzt, aber Kategorien verwendet, die definiert werden müssen und nicht automatisch erfassbar sind. Das dafür verwendete codebook enthält die Kategoriennamen und Kurzdefinitionen, allerdings ohne die Genauigkeit des in der qualitativen Inhaltsanalyse für ähnliche Zwecke verwendeten Kodierleitfadens (tabellarische Zusammenstellung von Definitionen, Ankerbeispielen und abgrenzenden Kodierregeln). Ähnliche Wege geht die thematic text analysis, die im Material inhaltliche Gegenstandsbereiche mit den Prozeduren der content analysis (z. B. Stone 1997) erfassen und auszählen will und bei der Suche nach den zentralen Themen entweder 1
https://www.qualitative-content-analysis.org. Die vom Institut für Psychologie der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt herausgegebenen „Beiträge zur Qualitative, Inhaltsanalyse“ sich abrufbar vom PsyDok-Volltextserver der Virtuellen Fachbibliothek Psychologie, http://psydok.sulb.uni-saarland.de/portal/klagenfurt/.
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mit theoretischen Vorgaben arbeitet oder sich an Worthäufigkeitslisten und Wortkombinationshäufigkeiten orientiert. In beiden Fällen kann die qualitative Inhaltsanalyse genauer definiert und textnäher vorgehen. Allerdings werden unter der Bezeichnung theme analysis auch ganz frei interpretative, an phänomenologischer Psychologie orientierte Vorgehensweisen beschrieben (Meier et al. 2008). Ähnlichkeiten bestehen auch zum qualitativ inhaltsanalytischen Vorgehen bei der Auswertungstechnik, die von Berg (2004) in seinem Lehrbuch qualitativer Sozialforschung vorgeschlagen wird. Es nimmt Bezug auf die quantitative Inhaltsanalyse und argumentiert, dass das Auszählen von Textelementen ein Zwischenschritt im Textverstehen sein kann, „a means for identifying, organizing, indexing, and retrieving data“ (Berg 2004, S. 269). Dabei können deduktive (analytic) oder induktive (grounded) Kategorien, die explizit definiert werden müssen, verwendet werden. Unklar bleibt allerdings, wie dies genau zu geschehen hat. Auch die neue Konzeption von qualitativer Inhaltsanalyse von Schreier (2012) geht in eine ähnliche Richtung, theoriegeleitete und materialgeleitete Kategorien zu unterscheiden. Allerdings wird hier das Verfahren so beschrieben, dass zunächst das Kategoriensystem entwickelt wird, die Kategorien dann definiert werden und schließlich in einem weiteren Schritt auf das Material angewendet werden. Das halten wir bei induktiver Kategorienentwicklung für viel zu aufwändig. Hier entwickeln wir in einem einzigen Materialdurchgang die Kategorien und weisen sie den Textstellen zu. Bei induktiver Kategorienentwicklung ist auch nicht, wie Schreier beschreibt, ein aufwändiger Kodierleitfaden (Kategoriendefinition, Ankerbeispiele und Kodierregeln) notwendig, wie wir es nur für deduktive Kategorienanwendungen konzipiert haben. Theoriegeleitete Definitionen jeder einzelnen Kategorie sind hier gar nicht machbar, da ja die Kategorien am Material ad hoc entwickelt wurden. Ankerbeispiele sind nicht notwendig, da ja die Textstelle, an der die Kategorie entwickelt wurde, bereits markiert ist. Einzig Kodierregeln zur Abgrenzung könnte man andenken, aber auch das wäre sehr aufwändig, müsste diese doch für jede einzelne induktive Kategorie gemacht werden, die in der Regel im Verlauf zusammengefasst oder hierarchisch strukturiert (Hauptkategorien) werden. Schreier (2012) beschreibt dann zur Entwicklung induktiver Kategorien (data-driven) vier unterschiedliche Ansätze: Zusammenfassung, Grounded-Theory-Koding, Subsumption und Kontrastierung. Auch dies erscheint wenig einleuchtend und wenig anwendbar. Zusammenfassung ist für induktive Kategorienbildung meist viel zu aufwändig, da ja alles Material berücksichtigt werden muss. Wir sehen Zusammenfassungen nur sinnvoll bei sehr homogenem Material und sehr offener, deskriptiver Fragestellung. In induktiver Kategorienbildung hingegen werden laufend, einer Kategoriendefinition und einem festgelegten Abstraktionsniveau folgend, neue Kategorien zu einer vorher festgelegten Thematik gebildet, Grounded-Theory-Koding folgt einer sehr offenen explorativen, theoriebildenden Strategie, die eigentlich von weiteren Prozessen der Fallkontrastierung, des theoretical samplings und des Memoverfassens begleitet werden sollte. Subsumption führt überhaupt nicht zu induktiven Kategorien, sondern weist nur, falls das gewünscht ist, bereits entwickelten induktiven Kategorien weitere Textstellen zu, um zu Kategorienhäufigkeiten zu gelangen. Die von Schreier angesprochene inhaltliche Strukturierung wurde von uns als Mischtechnik beschrieben (Mayring 2014), wobei ich nicht die
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Ansicht teile, dies sei „die zentrale Variante qualitativer Inhaltsanalyse“ (Schreier 2014, Abs. 16). Deduktive Kategorienanwendung (Schreier 2012: concept-driven coding frame) werden von Schreier im Gegensatz zur hier vertretenen Anschauung als eher unüblich in qualitativer Forschung bezeichnet, da sie eher hypothesentestend und nicht explorativ oder deskriptiv orientiert sei. Wenn ich aber wissen möchte, ob in offen erhobenem Textmaterial bestimmte vorab bestimmte (und durch Kodierleitfaden genauestens definierte) Aspekte angesprochen werden, so kann dies durchaus deskriptive Funktionen erfüllen, und der Zuordnungsprozess der Kategorien zum Textmaterial bleibt ein qualitativ-interpretativer. An der deduktiven Kategorienanwendung knüpft auch Kuckartz (2012) an, allerdings nur an einer Form, der ordinalen deduktiven Kategorienanwendung, von uns in den frühen Auflagen der Qualitativen Inhaltsanalyse skalierende Strukturierung genannt. Kuckartz bezieht sich darauf und benennt die Form als evaluative qualitative Inhaltsanalyse. Sie stellt neben der inhaltlich-strukturierender und typenbildenden Form eines der drei Basismodelle qualitativer Inhaltsanalyse dar. Nicht klar wird, warum aus der Vielzahl vorgeschlagener Techniken von Kuckartz nur diese drei herausgegriffen werden. Kuckartz beschreibt qualitativ-inhaltsanalytisches Arbeiten immer (außer bei typenbildender Analyse) als mit initiierender Textarbeit beginnend, ein hermeneutisch-interpretatives Erschließen des Textes in eigenen Lesedurchgängen, ein Erarbeiten eines Gesamtverständnisses, der Argumentationslinien, ggf. mit Fallzusammenfassungen und Memos unterstützt. Dies ist nicht unbedingt falsch, aber man vergibt den Vorteil der Bearbeitung größerer Textmengen. Eine Studie beispielsweise mit 30 offenen Interviews kann über 1000 Seiten Transkript nach sich ziehen, die so fast nicht zu bearbeiten sind. Der Vorteil der von uns vorgeschlagenen Techniken qualitativer Inhaltsanalyse besteht gegenüber diesen Ansätzen darin, dass ein ganzes Bündel von Verfahren entwickelt und theoretisch begründet wurde.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Die hier vorgeschlagenen Techniken qualitativer Inhaltsanalyse haben sich zu einer Standardmethode sozialwissenschaftlicher Textanalyse entwickelt. So wird die Abschn. 3 angesprochene von uns entwickelte Inhaltsanalysesoftware QCAmap mittlerweile in über Zehntausend Projekten weltweit eingesetzt. Sie kann rein qualitativ eingesetzt werden (z. B. induktive Entwicklung eines Kategoriensystems), aber auch als zweiten Schritt eine quantitative Analyse von Kategorienhäufigkeiten vornehmen, sofern Kategorien mehreren Textstellen zugeordnet wurden. Gerade in der traditionell quantitativ orientierten Psychologie stellt sie damit ein Bindeglied dar, eine methodische Alternative zu voll standardisierten Methoden, die direkt zu numerischen Daten führen (z. B. Test, geschlossener Fragebogen, Messung). Da aber auch in der Psychologie Textmaterialien durch Erhebungsmethoden anfallen (aus offenen Interviews, Beobachtungsprotokollen, Dokumenten), werden Textanalysemethoden benötigt, unter denen die qualitative Inhaltsanalyse gerade wegen der Quantifizierungsmöglichkeiten immer mehr Akzeptanz findet.
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Es sind allerdings auch kritische Punkte vorgebracht worden. Die Einschätzung mancher prononcierter Vertreter/innen qualitativer Forschung, die von uns vorgeschlagenen Verfahrenweisen seien der quantitativen und nicht der qualitativen Forschung zuzurechnen (z. B. Reichertz 2007), dürfte durch die oben dargestellten Zusammenhänge entkräftet sein (zur expliziten Erwiderung Mayring 2007b). Andererseits lässt sich die „qualitativ orientierte kategoriengeleitete Textanalyse“ auch in einer Zwischenstellung zwischen qualitativer und quantitativer Forschung lokalisieren. Norbert Groeben und Ruth Rustemeyer (1995) sehen die Inhaltsanalyse gerade in dieser Zwischenposition, als Scharnier zwischen qualitativem und quantitativem Paradigma. Sie stellen fest, dass ein Verständnis der Inhaltsanalyse als klassisch empiriewissenschaftliche „Beobachtungsmethode“ keineswegs Bedeutungsaspekte völlig ausschließt, ihre Verstehensmethode allerdings auf konstante „Abbildung“ ausgerichtet sei, weniger auf Verstehen als „subjektive Explikation ästhetischer oder pragmatischer Sinnpotenziale“ (Groeben und Rustemeyer 1995, S. 529) in einem nie abgeschlossenen Rekonstruktionsprozess. Die Einschätzung allerdings, die qualitative Inhaltsanalyse sei nur eine quantitative Inhaltsanalyse ohne abschließende Quantifizierungsschritte (ähnlich auch Lamnek 1989, S. 192), ist ein Missverständnis, da gerade in den ersten Schritten der Zuordnung von Kategorien zu Text qualitativ orientierte Interpretationsregeln das Zentrum bilden, wie es in quantitativer Inhaltsanalyse üblicherweise vernachlässigt wird. In ähnliche Richtung argumentiert Ulrich Oevermann (2004), wenn er qualitativinhaltsanalytisches Textinterpretieren als „subsumptionslogisch“ kritisiert; Textstellen würden Kategorien fix zugeordnet. Dabei wird übersehen, dass die Kategorien in einem zirkulären Prozess sorgfältig schrittweise an das Material angepasst werden. Ist dies einmal geschehen, ist die Einschätzung allerdings durchaus treffend. Wie man völlig ohne Subsumptionslogik zu wissenschaftlichen Ergebnissen gelangen könnte, bleibt aber unklar. Jochen Gläser und Grit Laudel (2009) diskutieren die Möglichkeiten der qualitativen Inhaltsanalyse in der Auswertung von offenem Interviewmaterial und kritisieren die von uns vorgeschlagenen Vorgehensweise als „methodologischen Prinzipien der Sozialforschung nicht gleichzeitig angemessen berücksichtigen[d]“ (Gläser und Laudel 2009, S. 9), da die Kategoriensysteme an das empirische Material angepasst werden müssen, weshalb sie Modifizierungen der Verfahrensweisen vorschlagen. Mir scheint dagegen dieser Schritt der Pilottestung der Kategorien und Modifizierung in Rückkoppelungsschleifen gerade zentral und unverzichtbar und auch arbeitsökonomisch machbar. Gläser und Laudel (2009) behaupten, dass das Kategoriensystem nur an 30 bis 50 % des Materials abgeglichen wird, wie aber oben beschrieben wurde gilt dies nur für die Regeln (Kategoriendefinition, Abstraktionsniveau) bei induktiver Kategorienbildung; auch auf der letzten Seite des Materials können neue induktive Kategorien hinzugefügt werden. Auf dieser Fehlrezeption beruht dann auch die Einschätzung, „dass das Mayringsche Verfahren letztlich Häufigkeiten analysiert, anstatt Informationen zu extrahieren“ (Gläser und Laudel 2009, S. 199). Denn bei induktiver Kategorienentwicklung kann das gewonnene Kategoriensystem als eigenständige Antwort auf die Forschungsfrage (Welche Formen von xy gibt es?) ohne Häufigkeiten stehen bleiben, ganz abgesehen davon, dass
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die Aussage, welche Kategorien häufig auftauchen, oft eine wichtige Information darstellt. Sandra Steigleder (2008) hat aus dem Bündel der vorgeschlagenen Techniken die strukturierende qualitative Inhaltsanalyse einem „Praxistest“ unterworfen und kommt zu dem Schluss, dass sie sich in vielen Studien bewährt hat. Mit ihren differenzierten Auswertungstechniken ist sie von ihrer methodologischen Anlage her grundsätzlich hervorragend dazu geeignet, qualitativ erhobenes Material – auch unter ungünstigen theoretischen Voraussetzungen (beispielsweise bei explorativen Studien) und schwierigen Arbeitsbedingungen (etwa bei nicht dialektbereinigten Transkriptionen) – auszuwerten. (Steigleder 2008, S. 197–198)
Olaf Jensen (2004) schlägt für die Auswertung von Gesprächen in Familien über die NS-Vergangenheit eine Kombination aus Grounded-Theory-Methodologie und qualitativer Inhaltsanalyse vor. „Der ‚analytic style‘ (Strauss 1987, S. XIV) ist hierbei der Ausgangspunkt von Erhebung und Analyse, die vielfach diskutierten operationellen Schwächen der Grounded Theory [. . .] werden dabei durch das regelgeleitete Vorgehen der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (1997) kompensiert“ (Jensen 2004, S. 64). Florian Kohlbacher (2006) zeigt die Möglichkeiten von Verfahren qualitativer Inhaltsanalyse im Rahmen von Fallanalysen auf. Er sieht folgende Punkte als Stärken des Verfahrens (Kohlbacher 2006, Abs. 77–84): • • • • •
Openness and ability to deal with complexity, Theory-guided analysis, Integration of context, Integration of different material/evidence, Integration of quantitative steps of analysis,
sodass sich die qualitative Inhaltsanalyse auch für Einzelfallanalysen eigne. Keinesfalls soll jedoch argumentiert werden, dass die qualitative Inhaltsanalyse die einzig wissenschaftlich fundierte oder legitime Vorgehensweise sozialwissenschaftlicher Textanalyse sei. Ich habe versucht, ihre methodologischen Grundlagen und Verfahrensweisen sowie einige Anwendungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Inhaltsanalyse eignet sich immer dann, wenn es um größere Materialmengen geht und eine systematische, generalisierende Auswertung im Vordergrund steht. Wenn allerdings stärker die Tiefenstrukturen des Textes angestrebt werden, zeigen sich die Grenzen. Wir haben in unserer Klagenfurter Arbeitsgruppe einen Methodenvergleich am selben Material mit psychoanalytischer Textinterpretation vorgenommen. Dabei wurde klar, dass durch die Kategoriengeleitetheit und Regelgeleitetheit im Einzelfall Bedeutungsgehalte verloren gehen und durchaus unterschiedliche Ergebnisse die Folge sein können. Allerdings ist die Vorgehensweise erheblich aufwändiger. Andererseits wollte ich mit diesem Beitrag auch zeigen, dass qualitative Inhaltsanalyse eine methodische Alternative sein kann, um den unfruchtbaren Streit zwischen qualitativer und quantitativer Forschung aufzuheben.
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Grounded-Theory-Methodologie Günter Mey und Katja Mruck
Inhalt 1 Zur Entstehungsgeschichte der Grounded-Theory-Methodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Entwicklungslinien und Varianten der Grounded-Theory-Methodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Essentials der Grounded-Theory-Methodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Heute gilt die vor 50 Jahren von Glaser und Strauss entwickelte GroundedTheory-Methodologie (GTM) weit über die Soziologie hinaus als einer der prominentesten Ansätze in der qualitativen Forschung. In dem Beitrag wird zunächst die Geschichte der GTM – von den Gründervätern über die sog. „Second Generation“ bis hin zu neueren Entwicklungen – skizziert. Im Anschluss
Gegenüber dem Beitrag in der ersten Auflage handelt es sich hier um einen komplett neu ausgerichteten Artikel, bei dem wir uns für den Aufbau weitgehend an einem Text im OxfordHandbook (Ruppel und Mey 2017) orientiert haben. Wir bedanken uns bei Paul Sebastian Ruppel, mit dem wir seit Jahren Workshops zur „Grounded-Theory-Methodologie“ geben und der auch am „Grounded-Theory-Reader“ (Mey und Mruck 2011a) mitgewirkt hat. G. Mey (*) Angewandte Humanwissenschaften, Hochschule Magdeburg-Stendal, Hansestadt Stendal, Deutschland Institut für Qualitative Forschung, Internationale Akademie Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Mruck Institut für Qualitative Forschung, Internationale Akademie Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_46
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G. Mey und K. Mruck
werden mit „Theoretical Sampling“, „All is Data“ sowie Ausführungen zum Kodieren und Memoschreiben die Essentials der GTM charakterisiert, die trotz aller Diversität als deren Grundbestand gelten können. Schlüsselwörter
Grounded-Theory-Methodologie · Kodierung · Kategorien · Theoretical Sampling · Situationsanalyse · Reflexivität
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Zur Entstehungsgeschichte der Grounded-TheoryMethodologie
Die Grounded-Theory-Methodologie (GTM) zählt zu den prominentesten Ansätzen innerhalb der qualitativen Forschung (Titscher et al. 2000). In den letzten 50 Jahren wurde sie kontinuierlich weiterentwickelt. Sie kommt in den Sozialwissenschaften zum Einsatz, um soziologische, pädagogische und psychologische Fragenstellungen zu untersuchen, GTM-Studien finden sich aber auch in den Gesundheits-, Wirtschaftsund Technikwissenschaften sowie beispielsweise in Geografie und Medizin. Ihre Popularität erlangte die GTM nicht zuletzt, weil sie methodologische Vorschläge und ein Set an methodischen Elementen bereithält, um eine Studie von der Auswahl und Erhebung von Daten bis zu deren Analyse systematisch zu planen und zu steuern mit dem Ziel, eine in den Daten begründete Theorie (eben eine Grounded Theory1) zu erarbeiten. Am Ende stehen – entgegen der damaligen Dominanz von Universaltheorien und der mit ihnen einhergehenden Entfremdung zwischen Theorie und empirischer Sozialforschung – i. d. R. Theorien mittlerer Reichweite,2 die bedeutsame Perspektiven für definierte und praktisch relevante Untersuchungsfelder eröffnen sollen. Ein Spezifikum der GTM ist die kontinuierlich enge Bindung der Theoriebildung bzw. die Modellierung theoretisch gehaltvoller Aussagen an die herangezogenen Daten, um über die bloße Deskription hinaus eine Konzeptualisierung des Untersuchungsbereichs vorzunehmen. Wie auch im Falle anderer qualitativer Forschungsansätze gründet die GTM nicht in einer Lehnstuhlwissenschaft, sondern ist das Resultat intensiver Forschungsarbeiten: In den frühen 1960er-Jahren führten die GTM-Begründer Barney Glaser und Anselm Strauss eine Feldstudie durch zur Art und Weise, wie das Thema Sterben in US-Krankenhäusern verhandelt wurde. Ihr Ergebnis war eine Grounded Theory über
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Wir unterscheiden zwischen der Grounded-Theory-Methodologie (GTM) als dem Forschungsstil und den darin eingelagerten methodischen Schritte auf der einen Seite und der Grounded Theory (GT) als dem Resultat einer GTM-Studie auf der anderen Seite. 2 Merton (1949) grenzte middle range theories als für die Soziologie vorrangig anzustrebend von Theorien unbegrenzter Reichweite und Gültigkeit (grand theories) einerseits und Mikrotheorien, die sich auf das Sammeln von Fakten beschränken andererseits ab.
Grounded-Theory-Methodologie
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„das Wahrnehmen des Sterbens“ (Awareness of Dying) (Glaser und Strauss 1995 [1965]), in der die Interaktionen zwischen den Sterbenden, ihren Angehörigen und dem Krankenhauspersonal (Ärzt/innen, Pflegekräften, Krankenschwestern) rekonstruiert wurden. Glaser und Strauss untersuchten dazu das interaktive Geschehen in sechs Krankenhäusern und auf verschiedenen Abteilungen, um zu erfahren, ob der Sterbeprozess schnell oder langsam verläuft, ob er antizipiert werden kann oder überraschend eintritt etc. Ausgewählt haben sie dazu u. a. eine Frühgeborenenstation, eine onkologische Abteilung und die Notfallaufnahme. Als zentrale Unterscheidung kristallisierte sich heraus, ob und in welchem Ausmaß den Menschen der nahende Tod bewusst war bzw. gemacht wurde und wie daraufhin die Interaktionen zwischen den Beteiligten strukturiert wurden. Schon während der Studie und insbesondere im Anschluss daran haben Glaser und Strauss ihre Forschungspraxis reflektiert und systematisiert, indem sie ihren Ansatz unter Bezugnahme auf damalige Debatten zur qualitativen Forschung explizierten. In ihrem einzigen gemeinsamen method(olog)ischen Buch „The Discovery of Grounded Theory“ (Glaser und Strauss 1998 [1967]) zeigten sie auf der Basis ihrer „Awareness“-Studie, wie Forschung jenseits des dominanten hypothetico-deduktiven Modells gestaltet werden kann. Ihr Buch eröffneten sie dann auch mit einer programmatischen Standortbestimmung: „Überwiegend befaßt sich die Literatur zur soziologischen Methodenlehre damit, wie man zu klaren Sachverhalten gelangt und wie theoretische Aussagen sich dadurch strenger überprüfen lassen. In diesem Buch widmen wir uns der ebenso wichtigen Aufgabe, wie die Entdeckung von Theorie aus – in der Sozialforschung systematisch gewonnenen und analysierten – Daten vorangetrieben werden kann. Wir glauben, daß die Entdeckung von Theorie auf der Grundlage von Daten – was wir Grounded Theory nennen – eine der größeren der Soziologie heutzutage gestellten Aufgaben ist, weil eine solche Theorie [. . .] empirisch beschreibbaren Situationen gerecht wird und Soziologen wie Laien gleichermaßen verständlich ist.“ (Glaser und Strauss 1998 [1967], S. 11)
Wie erwähnt, forderten Glaser und Strauss in „The Discovery of Grounded Theory“ die Entwicklung von gegenstandsnahen Theorien mittlerer Reichweite auf Basis von empirischen Daten, statt umgekehrt Daten zum Testen von Universaltheorien zu nutzen und auf diese auszurichten. Ziel war nicht zuletzt, der Kluft zwischen akademischen Diskursen und Anforderungen aus der Praxis entgegenzuwirken. Indem Glaser und Strauss die Arbeitsschritte während der Datenerhebung und -auswertung transparent machten, wollten sie qualitative Forschung als nachvollziehbare, systematische und der quantitativen Forschung (mindestens) gleichwertige wissenschaftliche Praxis voranbringen. Sie wehrten sich damit sowohl gegen eine beschränkte Nutzung qualitativer Verfahren nur für „Vorstudien“ (von quantitativer Seite) als auch gegen ihre Selbstbescheidung auf Deskription und nur illustrative Zwecke (von qualitativer Seite). Und noch mehr: Sie votierten für den „freedom of research“, indem sie den Forschenden selbst die Kompetenz zusprachen, eine entdeckende Haltung einzunehmen: Sie sollten in ihre „scientific intelligence“ vertrauen, statt als „proletarische Theorietester“ weiter „theoretischen Kapitalisten“ zuzuarbeiten.
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Entwicklungslinien und Varianten der Grounded-TheoryMethodologie
Nach der wegweisenden Schrift „The Discovery of Grounded Theory“, mit der Glaser und Strauss die Grundlinien der GTM skizzierten (allerdings keine genauen Ausführungen zu Auswertungsschritten anboten), entwickelten sie die GTM in der Folge getrennt voneinander (Abschn. 2.1). Dies führte zu zwei verschiedenen Auslegungen der GTM, die dann durch andere Wissenschaftler/innen ausdifferenziert und weiterentwickelt wurden (Abschn. 2.2) und laufend werden (Abschn. 2.3). Mittlerweile findet sich unter dem „Label“ GTM ein Nebeneinander an unterschiedlich epistemologisch fundierten und auch konkret-forschungspraktisch ausbuchstabierten Versionen. Diese Entwicklung spiegelt sich auch wider in den Sortierungs- und Kartierungsversuchen, wie sie etwa die beiden Auflagen des „Sage Handbook of Grounded Theory“ (Bryant und Charmaz 2007, 2019) und des „Grounded-Theory-Reader“ (Mey und Mruck 2007, 2011a) leisten oder sich in dem „Handbuch Grounded Theory“ (Equit und Hohage 2016) angedeutet finden.
2.1
Die Arbeiten der „Gründungsväter“ der Grounded-TheoryMethodologie und der erste Grundsatzstreit
1978 legte Glaser seine Monografe „Theoretical Sensitivity“ vor, um darin einige Grundlinien aus dem „Discovery“-Buch zu elaborieren. Es folgten zahlreiche Bände zu zentralen Fragen und Arbeitsschritten der GTM, so etwa zu „Emergence vs. Forcing“ (Glaser 1992), „Doing Grounded Theory“ (Glaser 1998), „Conceptualization Contrasted With Description“ (Glaser 2001) oder „Theoretical Coding“ (Glaser 2005). Mit dem 1999 gegründeten Grounded-Theory-Institute3 und den dort angebotenen Workshops sollte zur Verbreitung der Version der GTM beigetragen werden, die er als „klassisch“ im Sinne der Ursprungsschrift von 1967 begreift und gegen spätere „Abwandlungen“ verteidigt: Glaser erhebt mit Blick auf andere GTM-Varianten den Vorwurf des „Remodeling“, d. h., es handele sich hierbei lediglich um Formen der qualitativen Datenanalyse, die die zentralen Merkmale der GTM unterbestimmt ließen oder gar aufgegeben hätten (Glaser 2004). Im Gegensatz dazu hat Strauss die GTM mit seinen dem „Discovery“-Buch folgenden Ausarbeitungen in den größeren Kontext der qualitativen Forschung gestellt, was sich auch in dem Titel seiner ersten monografischen Darstellung der GTM ausdrückt, die als „Qualitative Analysis for Social Scientists“ (Strauss 1987; dt. 1991: „Grundlagen qualitativer Forschung“) auf den Markt kam. Später hat er zusammen mit Juliet Corbin seine Vorstellungen in der eher als Lehrbuch angelegten Publikation „Basics of Qualitative Research: Grounded Theory Procedures and Techniques“ (Strauss und Corbin 1990, dt. 1996: „Grounded Theory: Grundlagen 3
www.groundedtheory.com.
Grounded-Theory-Methodologie
517
qualitativer Forschung“) systematisiert. Nach der überarbeiteten Fassung dieser Schrift, erschienen zwei Jahre nach Strauss’ Tod (Strauss und Corbin 1998), folgten später deutlich veränderte Ausgaben (Corbin und Strauss 2008, 2015), bei denen Corbin sich zwar weiter der gemeinsamen Tradition mit Strauss verpflichtet fühlt, aber auch deutliche Umakzentierungen vorgenommen hat (dazu: Corbin 2011). Der Bruch zwischen den beiden Gründungsvätern erfolgte bereits in den frühen 1990er-Jahren und wurde von Glaser angesichts des von Strauss mit Corbin vorgelegten Buches „Basics of Qualitative Research“ explizit formuliert: „I request that you pull the book. It distorts and misconceives grounded theory, while engaging in a gross neglect of 90 % of its important ideas“ (Glaser 1992, S. 2). Als für diesen Konflikt wesentlich angesehen wurde – neben persönlichen und sozialen Hintergründen – die unterschiedliche Forschungssozialisation von Glaser und Strauss (z. B. Kelle 1998, zusammenfassend 2005; Strübing 2014): Strauss kam aus der Tradition der Chicagoer Schule und fühlte sich dem Pragmatismus und – u. a. unterrichtet von Herbert Blumer – dem symbolischen Interaktionismus verpflichtet (Hildenbrand 2000), während Glaser an der Columbia School u. a. bei Paul Lazarsfeld und Robert K. Merton studierte und eine teilweise traditionelle Ausbildung mit überwiegend positivistischer Ausrichtung absolvierte. Eine Konsequenz war, dass Strauss bereits verfügbares Wissen/vorliegende Literatur als eine wertvolle Quelle im Sinne „sensibilisierender Konzepte“ (Blumer 1954) erachtete, während Glaser großen Wert auf den Prozess der Induktion als Erkenntnisgenerator legt und den Einbezug von Literatur zu Beginn des Forschungsprozesses strikt ablehnt. Er fordert Forschende auf, in das Emergieren von Kategorien zu vertrauen (Glaser 1992), Strauss (und Corbin) votieren hingegen mit ihrer Version des Kodierens und der Kategorienentwicklung für eine Heuristik, die den kokonstruktiven und interaktiven Charakter des Forschens zumindest prinzipiell anerkennt. Zugleich bleiben sie zum Teil einer positivistischen Terminologie verhaftet (Mills et al. 2006) und leisten mit ihren Kodierprozeduren einer mechanistischen Vorgehensweise Vorschub, dies in deutlichem Gegensatz zu Glaser, der mit seinem Insistieren auf den Verzicht vorgängiger Theorie durchaus den offenen, den Daten verpflichteten Ansatz des „Discovery“-Buches verfolgen möchte – ein Widerspruch, auf den Bryant (2009) verweist und auch darauf, dass sich hier eine eigentümliche Verkehrung der Anfänge ihrer Zusammenarbeit finde, bei der Strauss seine eigene, eher intuitive Vorgehensweise der systematischeren von Glaser entgegengesetzt hatte.
2.2
Die „Second Generation“ – Zur Unterscheidung einer objektivistischen, konstruktivistischen und postmodernen Grounded-Theory-Methodologie
Parallel zu den Ausarbeitungen von Glaser und Strauss haben sich überwiegend deren Schülerinnen an Weiterführungen der GTM durch eigene Beiträge beteiligt. Mittlerweile wird sogar von der sogenannten „second generation“ (Morse et al. 2008) gesprochen.
518
G. Mey und K. Mruck
Einen wichtigen Beitrag für die Ausdifferenzierung der GTM leistete Kathy Charmaz, die schon früh Auseinandersetzungen um einen eher objektivistischen vs. einen stärker subjektivistischen Strang der GTM ausmachte (Charmaz 2000). Durch die Kontrastierung mit Glasers „positivistischer“ Perspektive und einer für die GTM insgesamt zu konstatierenden „objektivistischen“ Haltung entwickelte sie ihren eigenen Ansatz einer „constructivist grounded theory“ (Charmaz 2006, 2014; s. auch Charmaz und Keller 2016). Zentral ist hierbei, dass sie die Involviertheit der Forschenden explizit in die GTM einzuschreiben versucht und damit deren Rolle bei der Datenerhebung und der Datenanalyse zum Gegenstand der Betrachtung macht: „In the original grounded theory texts, Glaser and Strauss talk about discovering theory as emerging from data separate from the scientific observer. Unlike their position, I assume that neither data nor theories are discovered either as given in the data or the analysis. Rather, we are part of the world we study, the data we collect, and the analyses we produce. We construct our grounded theories through our past and present involvements and interactions with people, perspectives, and research practices.“ (Charmaz 2014, S. 17)
Diesen Überlegungen folgend sind Forschende gefordert, Forschung als einen Prozess zu begreifen, der dem Einfluss der eigenen Subjektivität und Positionierung den gleichen Rang einräumt wie den methodischen Prozeduren, auf die sie in ihren Studien zurückgreifen. Dies bedeutet, dass Forschende eine herausragende Rolle bei der Entwicklung ihrer Theorien spielen und daher eine selbst-reflexive Grundlegung der GTM zwingend ist (Mruck und Mey 2007, 2019). Parallel zu (aber unabhängig von) Charmaz hat Franz Breuer im deutschsprachigen Raum die Ausarbeitung einer „reflexiven GTM“ vorangetrieben (Breuer 1996, 2009; Breuer et al. 2017). Anders als Charmaz, die sich zur Begründung ihres Ansatzes auf sozialkonstruktivistische Arbeiten bezieht, schließt Breuer insbesondere an den Ethnopsychoanalytiker Georges Devereux und dessen (wie das „Discovery“-Buch) 1967 veröffentlichte Schrift „Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften“ (Devereux 1973 [1967]) an. Eine die Rolle der Subjektivität der Forschenden anerkennende GTM bedeutet allerdings nicht den Rückgriff auf eine nur impressionistischen Daten(re)präsentation (und sollte z. B. auch nicht mit autoethnografischen Ansätzen verwechselt werden; siehe für Letztere z. B. Ellis et al. 2010). Stattdessen sollte die Unhintergehbarkeit von (Inter-)Subjektivität in jedweder Forschung in ihrer Bedeutung für die Theorieentwicklung reflektiert werden, wie Charmaz dies durch die Gegenüberstellung einer „objektivistischen“ und einer – von ihr vertretenen – „konstruktivistischen“ Variante herausarbeitet und mit Blick auf Grundannahmen, Gegenstandskonstruktionen und Implikationen für die Forschungspraxis systematisiert (s. Tab. 1). Einen ebenfalls über die traditionelle GTM hinausreichende Ausarbeitung hat Adele Clarke (2012 [2005]) mit ihrer „Situationsanalyse“ vorgelegt, die sie selbst als „postmodern“ bezeichnet. Clarke erweitert die GTM durch Anleihen aus der Diskursforschung/-analyse und der Akteur-Netzwerk-Theorie, um so den Zugang z. B. auf Diskurse oder nicht-humane Aktanten zu ermöglichen, die bis dahin
Grounded-Theory-Methodologie
519
Tab. 1 Objektivistische Grounded-Theory-Methodologie vs. konstruktivistische GroundedTheory-Methodologie. Vergleiche und Gegenüberstellungen (entnommen aus Charmaz 2011, S. 196) Objektivistische Grounded-TheoryMethodologie Grundannahmen • Geht von einer äußeren Wirklichkeit aus • Geht von der Entdeckung von Daten aus • Geht davon aus, dass sich Konzeptualisierungen aus den Daten ergeben • Betrachtet die Repräsentation von Daten als unproblematisch • Geht von der Neutralität, Passivität und Autorität der Beobachter/innen aus Gegenstände • Zielt auf kontextunabhängige Verallgemeinerungen
• Strebt sparsame, abstrakte Konzeptualisierungen an, die über historische und lokale Standorte hinausweisen • Definiert Variablen • Zielt darauf, eine Theorie zu entwickeln, die passt, funktioniert, relevant und modifizierbar ist Implikationen für die Datenanalyse • Betrachtet die Datenanalyse als einen objektiven Prozess • Betrachtet entstehende Kategorien als formgebend für die Analyse • Betrachtet Reflexivität als eine mögliche Datenquelle • Rückt die analytischen Kategorien und die Autorität der Forscher/innen in den Vordergrund
Konstruktivistische Grounded-TheoryMethodologie • Geht von multiplen Wirklichkeiten aus • Geht von der gemeinsamen Konstruktion der Daten in Interaktion aus • Geht davon aus, dass Forschende Kategorien konstruieren • Betrachtet die Repräsentation von Daten als problematisch, relativ, situativ und unvollständig • Geht davon aus, dass die Werte, Prioritäten, Positionen und Handlungen der Beobachter/ innen Einfluss auf deren Sichtweise haben • Betrachtet Verallgemeinerungen als unvollständig, bedingt und als situiert in Zeit, Raum, Positionen, Handlungen und Interaktionen • Strebt ein interpretatives Verständnis historisch kontextualisierter Daten an • Bestimmt die Breite der Variation • Zielt darauf, eine Theorie zu entwickeln, die glaubwürdig, originär, resonant und nützlich ist • Anerkennt Subjektivität während der gesamten Datenanalyse • Anerkennt, dass die Ko-Konstruktion von Daten die Analyse prägt • Reflexivität durchzieht den gesamten Forschungsprozess • Sucht und (re-)präsentiert die „Stimmen“ der Teilnehmer/innen als integralen Teil der Analyse
kaum im Blickfeld der GTM waren. Auch für Clarke ist von herausgehobener Bedeutung, dass Forschende die eigene Involviertheit und damit auch die eigenen Interessen mit Blick auf den analytischen Prozess und die entstehende Theorie reflektieren (Tab. 2; s. auch Clarke und Keller 2014). Für sie stehen am Ende nicht nur komplexe Antworten auf komplexe Fragen, sondern aus multiplen sozialen Prozesse resultieren multiple Formen von Wissen und multiple „Wahrheiten“ (Clarke et al. 2018).
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G. Mey und K. Mruck
Tab. 2 Von traditionellen/positivistischen zu postmodernen/konstruktivistischen Orientierungen in der Grounded-Theory-Methodologie (entnommen aus Clarke 2011, S. 225) Traditionelle/positivistische GroundedTheory-Methodologie Die folgenden Angaben sollten stets als nur teilweise zutreffend betrachtet werden, d. h. nicht immer bzw. in jedem Fall. Positivistisch/realistisch Dualismus von Subjekt und Objekt Entdecken/finden Korrespondenztheorie der Wahrheit Naive Objektivität (Über-)Homogenisierung, (Über-) Generalisierung A-priori-Verwerfung der Möglichkeit von Widersprüchen Erwünschtheit von Vereinfachung Strebt Schlussfolgerungen an Dominanz der Stimme der Autor/innen bzw. Expert/innen (Trügerische/überzogene) Klarheit „Normale/durchschnittliche“ und „negative Fälle“ Stillschweigend progressiv, linear Annahme von Normativität Metaphern der Normalverteilungskurve Ziel: Entwurf eines basic social process (BSP) und einer formalen Theorie
2.3
Postmodernes/konstruktivistisches Grounded Theorizing Für die folgenden Angaben gilt stets‚ sie nach der Maxime aufzugreifen, „falls und wie sie in den Daten vorgefunden werden“. Konstruktivistisch/relativistisch Kontinuitäten von Subjekt und Objekt Konstruieren/machen Sozialkonstruktivistische Theorie der Wissensproduktion Nichtunschuldige Subjektivität/Reflexivität Multiple Positionen, heterogene Darstellungen Darstellung von Widersprüchen als analysiert/ interpretiert Darstellung von Komplexität Vorläufig, eröffnend, widerstreitend, störend Multiple Stimmen, Perspektiven, Intensitäten, Reflexivitäten Ambiguität der Darstellung Verschiedenheit, Variationsbreite, Ausreißer, Positionalität Zweifelhaft, gegen den Strom Annahme von Positionaliät Metaphern der Kartografie Ziel: Konstruktion von Prozessen, sensibilisierenden Konzepten, Situationsanalysen und Theoretisierungen
Weitere Entwicklungslinien und die Pluralisierung der Grounded-Theory-Methodologie
Neben den von den Gründern vorgelegten Arbeiten und den von Clarke und Charmaz ausgearbeiteten Weiterentwicklungen sind zusätzliche method(olog)ische und epistemologische Positionierungen zu beobachten: Nicht zuletzt aufgrund der Anwendung in verschiedenen Disziplinen, aber auch wegen neuer Arbeitsfelder und diverser neuer Datenformate befindet sich die GTM mehr denn je in Bewegung. Inwieweit deshalb bereits von einer „Third Generation“ gesprochen werden kann, lässt sich noch nicht sagen. Anzeichen für eine Ausdifferenzierung finden sich etwa durch die Kombination von anderen Forschungsansätzen mit der GTM. So wurden erste Grundzüge einer „Grounded Action“ mit Fokus auf Interventionsstrategien und unter Einbeziehung
Grounded-Theory-Methodologie
521
von Grundannahmen der Aktions- und partizipativen Forschung vorgelegt (Olson 2007; Simmons und Gregory 2003). Hierbei wird der – durchaus in der GTM von Beginn an angelegte – gesellschaftskritische Anspruch weiter akzentuiert, den auch Charmaz und Clarke unterstreichen (Offenberger 2019). So schreibt z. B. Charmaz (2017, S. 36): „[C]ritical inquiry addresses power, inequality and injustice. Consistent with Donna Mertens [. . .] and Norman Denzin [. . .], I see critical inquiry as embedded in a transformative paradigm that seeks to expose, oppose, and redress forms of oppression, inequality, and injustice.“ Ebenso finden sich erste Vorschläge für eine „narrative GTM“ (Mey und Ruppel 2016; Ruppel und Mey 2015), bei der die innerhalb der Biografieforschung vorgenommenen Adaptionen der GTM (Riemann 2003; Riemann und Schütze 1991) unter Hinzuziehung narrationstheoretischer Überlegungen und erweitert um Konzepte der narrativen Psychologie zum Ausgangspunkt werden. Anliegen ist es, sowohl bei der Analyse als auch im Zuge der Ergebnispräsentation den Anspruch der GTM, am Ende eine „Geschichte“ über die Daten zu erzählen, zu systematisieren. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Beschäftigung mit visuellen Daten (Knoblauch et al. 2008) und in Auseinandersetzung mit Bildtheorien finden sich zusätzlich erste Vorschläge für eine „Visual GTM“, d. h., Adaptionen der GTM für die Analyse von nicht-textuellen Daten wie Fotos (Konecki 2011; Mey und Dietrich 2016) oder von Bewegtbildern wie Filmen/Videos (Dietrich und Mey 2018a). Weitere konzeptuelle Arbeiten sind zu erwarten, wenn berücksichtigt wird, dass verschiedene Sprachen und damit die Frage von Übersetzungen (Tarozzi 2013) oder über visuelle Daten hinaus andere Formate (Materialität) für GTM-Studien zunehmend relevant werden.
3
Essentials der Grounded-Theory-Methodologie
Angesichts der Ausdifferenzierung und Pluralisierung der GTM scheint es zunehmend schwieriger, von „der“ GTM zu sprechen, vielmehr ist von „GTM im Plural“ auszugehen. Insofern wird es auch schwieriger, unter den Forschenden Einigkeit darüber herzustellen, welche Elemente genau eine GTM-Untersuchung kennzeichnen (wie dies etwa Glaser 2004 versucht hat) oder hiervon ausgehend Kriterien auszumachen, entlang derer eine Studie eben als (nicht) GTM-geleitet eingeordnet werden kann (wie z. B. von Strauss und Corbin 1996 [1990], Kap. 14 für den Prozess und das Produkt von GTM-Arbeiten versucht). Trotz dieser Diversität scheint es uns aber weiter möglich und sinnvoll, einige Essentials von GTM-Forschung und damit sozusagen einen Minimalkonsens zu benennen (Mey und Mruck 2009a, 2011b). Hierzu gehören das Theoretical Sampling (Abschn. 3.1), eine grundsätzliche Offenheit gegenüber den einzubeziehenden Daten gemäß dem Diktum „All is Data“ (Abschn. 3.2) sowie das Kodieren (Abschn. 3.3) und damit verbunden das Schreiben von Memos (Abschn. 3.4).
522
3.1
G. Mey und K. Mruck
Theoretical Sampling
Auf das Theoretical Sampling wird auch jenseits der GTM in anderen qualitativen Studien rekurriert, nicht zuletzt, weil zumeist kleine Fallzahlen zugrunde gelegt werden. Anders als bei Samplingverfahren, die wie die Zufallsstichprobe auf statistische Repräsentativität zielen, geht es bei geringen Fallzahlen darum, z. B. spezifische Personen (-gruppen) (Menschen mit bestimmten Krankheiten, marginalisierte Gruppen, Menschen mit ausgewählten Handlungspraxen usw.) begründet in die Forschung einzubeziehen. Hier ist die sogenannte „absichtsvolle Stichprobenbildung“ (purposive sampling) die geeignete Strategie zur Rekrutierung der Untersuchungsteilnehmer/innen. Das Theoretical Sampling kann als eine spezielle Variante des purposive sampling verstanden werden. Bereits im „Discovery“-Buch eingeführt (Glaser und Strauss 1998 [1967], Kap. 3), setzt es eine enge Verschränkung von Erhebung und Analyse voraus: Es muss jeweils bestimmt und begründet werden, welcher nächste Fall für die sich entwickelnde Theoriebildung „theoretische Relevanz“ hat: Die „grundlegende Frage lautet: Welchen Gruppen oder Untergruppen wendet man sich zwecks Datenerhebung nächstens zu? Und mit welcher theoretischen Absicht?“ (Glaser und Strauss 1998 [1967] S. 55). In der Studie zu „Awareness of Dying“ hatten Glaser und Strauss (1995 [1965]) ihre Erkundungen auf der Frühgeborenenstation begonnen, da hier die Sterbeerwartung als hoch eingeschätzt wurde und Kleinstkinder keine Bewusstheit über die Risikosituation haben. Daran anschließend wurde die onkologische Abteilung aufgesucht, da hier die Mortalitätsrate ebenfalls hoch war, aber der Zeitpunkt des Todes ebenso wie die Bewusstheit über ihn variierte. Glaser und Strauss führten dann, um zusätzliche Fälle in die Studie einzubeziehen, ihre Arbeit auf der Geriatrie, der Notfallstation und der Pädiatrie fort, um die Bedingungen, den Bewusstheitsgrad über den Tod sowie die kommunikativen und interaktiven Prozesse zu variieren. Bei dem Theoretical Sampling ist somit lediglich der Beginn/der erste Fall festgelegt aufgrund des Zugangs zum Feld oder von vorläufigem (und zu explizierendem) Wissen. Die weiteren Fälle werden sukzessive ausgewählt und dienen dazu, sich – dem jeweiligen Erkenntnisstand vor dem Hintergrund der je letzten Datenanalyse folgend – theoriegeleitet durch das Untersuchungsfeld weiterzubewegen. Hierzu werden minimale und maximale Kontrastierungen gewählt, um so den jeweiligen Aussagegehalt zu prüfen, zu explizieren und wenn nötig infrage zu stellen (Mey und Mruck 2009b). Idealtypisch gilt der Prozess erst dann als beendet, wenn durch das Hinzuziehen weiterer Fälle kein (wesentlicher) Erkenntnisgewinn zu erwarten ist. Es wird dann von „theoretischer Sättigung“ (theoretical saturation) gesprochen. Allerdings sind es zuweilen auch pragmatische (wiederum: in ihrer Konsequenz für die Theoriebildung zu explizierende) Gründe (wie z. B. das nahende Projektende), die zum Abschluss führen. Es liegen zahlreiche Vorschläge vor, wie die Vergleichsprozesse in der GTM gestaltet werden können, wobei diese im Zuge des Kodierens und im Rahmen des Theoretical Samplings variieren, insofern sowohl Daten mit Daten, Konzepte als Ergebnisse der Analyse mit weiteren Daten oder dann auch Konzepte mit anderen Konzepten konfrontiert werden (s. Abschn. 3.3).
Grounded-Theory-Methodologie
3.2
523
All is Data
Die Arbeit mit der GTM ist nicht auf eine Datensorte limitiert, sondern es sind diejenigen Daten in die Untersuchung einzubeziehen, die am ehesten die fortschreitende Theoriebildung zu gestalten helfen. Das von Glaser formulierte Diktum lautet entsprechend: „All is Data“ (Glaser 2001, Kap. 11), d. h., „whatever may come the GT researcher’s way while theoretically sampling: documents and current statistics, newspaper articles, questionnaire results, social structural and interactional observations, interview, casual comments, global and cultural statements, historical documents, whatever, whatever as it bears on the categories. [. . .] GT is a general methodology usable on any data, and it is up to the researcher to figure out exactly what the data is.“ (Glaser 2007, unpag.)
Welche Daten einbezogen werden, hängt somit von der Forschungsfrage und den leitenden Kriterien ab, die sich im Laufe der Analyse herausschälen. In den meisten GTM-Studien werden – wie in der qualitativen Forschung generell – Interviews oder allgemeiner verbale Daten verwendet; darüber hinaus vor dem Hintergrund methodologischer Ausführungen zu Daten- und Methoden-Triangulation (Flick 2011) textuelle Daten (neben Interviewtranskripten Protokolle von Beobachtungen oder Dokumente wie Akten, Borschüren etc.). Zusätzlich werden angesichts des pictorial turn (Mitchell 1992) aber auch Bilder, Fotos, Filme/Videos oder Zeichnungen in die Untersuchung einbezogen. Dadurch sind Forschende allerdings auch gefordert zu explizieren, wie sie solche Daten für die Analyse aufbereiten (für die Analyse visueller Daten mit der GTM siehe Dietrich und Mey 2018a; Mey und Dietrich 2016), denn trotz des Credo des „All is Data“ hat sich die GTM zunächst über lange Zeit als ein Textanalyseverfahren etabliert. Weitaus seltener führt der Weg im Zuge des Theoretical Sampling etwa zu Romanen (wie z. B. bei Breuer, der sich den Fragen der Gestaltung von transgenerationalen Weitergabeprozessen widmete und u. a. das Buch „Vom Wasser“ von John von Düffels gleichberechtigt in die Analyse einbezogen hat; Breuer 2013). Folgt man Straub (1999, S. 211–226) und dessen Darlegungen zur „relationalen Hermeneutik“, können auch die Ergebnisse anderer empirischer Studien oder Theorien in den Vergleich einbezogen oder „gedankenexperimentelle“ Variationen vorgenommen werden. Und schließlich ist im Einklang mit dem Anliegen der reflexiven bzw. konstruktivistischen GTM sowie der Situationsanalyse das persönliche (biografische und professionelle) Erfahrungswissen der Forschenden eine zentrale Datenbasis, allerdings finden Daten, die sich auf die Subjektivität und Positionierung der Forschenden beziehen, in den eigentlichen Analyseprozess weit weniger Eingang, als dies aufgrund der Zustimmung zu diesen GTM-Varianten zu erwarten wäre. Insoweit bleibt es künftigen GTM-Studien vorbehalten, die Ko-Konstruktion von Daten und Methoden nicht nur anzuerkennen, sondern auch einzulösen, „focusing on the researcher’s continuous impact on every single decision during the data analysis process. [He/she has to keep in mind that] each encounter with the Other, each
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G. Mey und K. Mruck
single word heard during the interview or written in a text, has to pass the bodily, cognitive, and emotional filters of the analyst, and leads to specific embodied resonances – there is no way to not (re)act personally. Researchers should not ignore this in the hope that, if they pretend ‚long enough that it does not exist, it should just quietly go away‘ (Devereux 1967: xviii). Instead, the researcher’s anxieties and ‚warding-off manoeuvres‘, quite as much as his/her ‚research strategy, perception of data, and decision making . . . can shed light‘ (ibid.) on the topic under interest, and enrich data analysis and theory development.“ (Mruck und Mey 2019, S. 480)
3.3
Kodierformen und Kategorienbildung
3.3.1 Zum Kodieren In der GTM finden sich in allen Phasen Vergleichsprozesse. Nicht zuletzt deshalb wird die GTM zuweilen auch als „Methode des permanenten Vergleichens“ (constant comparative method; Glaser 1965) bezeichnet. Glaser (2004) umreißt das wie folgt: „The constant comparative method enables the generation of theory through systematic and explicit coding and analytic procedures. The process involves three types of comparison. Incidents are compared to incidents to establish underlying uniformity and its varying conditions. The uniformity and the conditions become generated concepts and hypotheses. Then, concepts are compared to more incidents to generate new theoretical properties of the concept and more hypotheses. The purpose is theoretical elaboration, saturation and verification of concepts, densification of concepts by developing their properties and generation of further concepts. Finally, concepts are compared to concepts. The purpose is to establish the best fit of many choices of concepts to a set of indicators, the conceptual levels between the concepts that refer to the same set of indicators and the integration into hypotheses between the concepts, which becomes the theory.“ (Glaser 2004, Abs. 53)
Das Ziel der GTM ist die Entwicklung einer in den Daten begründeten Theorie, die „relevante Vorhersagen, Erklärungen, Interpretationen und Anwendungen“ (Glaser und Strauss 1998 [1967], S. 11) erlauben soll. Kodes sind die kleinsten Einheiten solcher Theorien, die im Zuge des Analyseprozesses zu Kategorien verdichtet werden. Kategorien können ihrerseits mit Eigenschaften und Dimensionen durchaus komplex angelegt sein und zahlreiche Subkategorien beinhalten. Die Kategorien (inkl. ihrer möglichen Subkategorien und Dimensionen) stehen wiederum mit anderen Kategorien (inkl. deren Subkategorien und ihren Dimensionen) in einem relationalen Gefüge, das am Ende die erarbeitete Grounded Theory bildet. In den 50 Jahren der GTM sind verschiedene Bezeichnungen für die Kodierschritte vorgeschlagen worden. Hierzu gehören etwa das „offene“, „initiale“, „axiale“, „selektive“ oder „fokussierte“ Kodieren. (Für einen Überblick zu Kodierformen der GTM und allgemeiner innerhalb der qualitativen Forschung siehe Saldaña 2009.) Trotz der unterschiedlichen Terme lassen sich einige Gemeinsamkeiten mit Blick auf das Kodieren ausmachen. So bezeichnet Kodieren innerhalb der GTM generell einen Arbeitsprozess, um konzeptuell gehaltvolle Ideen zu generieren, die am Ende
Grounded-Theory-Methodologie
525
dazu beitragen, eine Theorie zu entwickeln. Kodieren meint Interpretationsarbeit, bei der die Daten (z. B. einzelne Worte, Segmente etc.), die als Indikatoren für Konzepte verstanden werden, mit einem Begriff bezeichnet werden. Leitend dafür ist das auf Glaser zurückgehende „Konzept-Indikator-Modell“, zu dem Strauss schreibt: „Daten sind Indikatoren für ein Konzept, das der Forscher zunächst vorläufig, später aber mit mehr Sicherheit aus den Daten ableitet“ (Strauss 1991 [1987], S. 54). Besonders wichtig ist, dass das Kodieren als Konzeptualisierung verstanden wird, nicht als Beschreibung. Zugleich sollen die Kodes nicht zu abstrakt formuliert sein, sondern sich so nah wie möglich/nötig an den Daten orientieren. Unterschieden werden dabei sogenannte „In-vivo“-Kodes und „sozial-konstruierte“ (aus der Theorie „geborgte“) Kodes (Strauss 1991 [1987], S. 64–65).
3.3.2 Eröffnung Der Ausgangspunkt des Kodierens wird wahlweise als „offene Kodierung“ oder „initiale Kodierung“ bezeichnet und beinhaltet einen detaillierten feinanalytischen Prozess der „Wort-für-Wort“- oder „Zeile-für-Zeile“-Analyse. Es gilt, nach den in den Daten „angezeigten“ (und vermuteten) Konzepten zu suchen und diese zu benennen; dabei sollte vermieden werden, die Inhalte nur zu paraphrasieren oder zusammenzufassen. Das offene/initiale Kodieren wird in der Regel für einen kleinen Teil der Daten geleistet, d. h. für begründet ausgewählte Auszüge (i. d. R. einige Abschnitte, kaum mehr als wenige Seiten). Welche Ausschnitte ausgewählt werden, kann variieren, denkbar sind der Beginn eines Interviews, Passagen, in denen das interessierende Phänomen direkt angesprochen wird, Stellen, die auf den ersten (und zweiten!) Blick unverständlich sind oder Sequenzen, in denen etwas sehr verdichtet angesprochen ist. Im Weiteren beschleunigt sich dieser initiale Analyeprozess: „Wenn ein Kode eine relative Sättigung erreicht hat – ‚nichts Neues passiert mehr‘ –, dann wird der Forscher die Daten automatisch schneller durchgehen, in der Zeile-für-ZeileAnalyse Wiederholungen finden und folglich die Daten überfliegen, bis etwas Neues seine Aufmerksamkeit erregt. Dann beginnt wieder die minutiöse Untersuchung.“ (Strauss 1991 [1987], S. 61)
Um von den Daten zu Konzepten und damit zu Kodes zu kommen, liegen verschiedene Vorschläge vor, insbesondere wird immer wieder auf die Funktion von „generativen“ Fragen hingewiesen. So rät Böhm (2000, S. 487–488), folgende „W-Fragen“ an das Material zu stellen: Was – um welches Phänomen geht es; wer – welche Akteure/ Akteurinnen sind beteiligt, welche Rollen nehmen sie ein bzw. werden ihnen zugewiesen; wie – welche Aspekte des Phänomens werden behandelt, welche werden ausgespart; wann/wie lange/wo – welche Bedeutung kommt der raum-zeitlichen Dimension zu (biografisch bzw. für eine einzelne Handlung); warum – welche Begründungen werden gegeben bzw. sind erschließbar; womit – welche Strategien werden verwandt; wozu – welche Konsequenzen werden antizipiert oder wahrgenommen. Mittels dieser Fragen soll das Material „aufgebrochen“ werden, um sukzessive zu gehaltvollen Einsichten über das untersuchte Phänomen zu kommen. Im besten Falle
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G. Mey und K. Mruck
entstehen so „ganz neue“ Ideen – insofern dient das offene Kodieren auch dazu, die Forschenden für den Untersuchungsgegenstand zu sensibilisieren. Am Ende des offenen Kodierens liegt eine Fülle an Kodes – wahlweise in Kodelisten sortiert – vor, die es im weiteren Verlauf der Kodierarbeit zu (vorläufigen) Kategorien zu verdichten gilt. Durch die Verdichtung werden die Konzepte elaboriert, indem nach möglichen Subkategorien gefragt und auf Eigenschaften und mögliche Dimensionen hin gearbeitet wird.
3.3.3 Systematisierung Der größte Teil der analytischen Arbeit ist den „höheren“ Kodierprozeduren vorbehalten. Diese werden je nach Ansatz wahlweise als „fokussiertes“, „axiales“, „selektives“ oder „theoretisches“ Kodieren bezeichnet. Im Zuge dieser Kodierarbeit werden die vorläufig gebildeten Kategorien mit zusätzlichen Daten konfrontiert, um sie weiter auszuarbeiten. Dabei ist wichtig anzumerken, dass die offene/initiale Kodierung und die „höheren“ Kodierformen keine klar voneinander separierten Vorgehensweisen sind, sondern ineinander übergehen bzw. miteinander verschränkt sein können. Das heißt Forschende können immer wieder zum offenen/initialen Kodieren zurückkehren, wenn eine eingehendere Analyse angezeigt ist. Das Ziel der „höheren“ Kodierformen ist es, die Daten in Richtung einer Grounded Theory zu systematisieren, was angesichts der „Methode des permanenten Vergleichens“ meint, laufend die vorliegenden Ergebnisse aufeinander zu beziehen. Auch für stärker strukturierende Kodierweisen liegen verschiedene Vorschläge vor. Der wohl bekannteste ist das Kodierparadigma von Strauss und Corbin (1996 [1990], 1998). Dem Kodierparadigma (z. T. auch als „paradigmatisches Modell“ bezeichnet) unterliegt ein allgemeines Handlungsmodell, mit dem das untersuchte Phänomen hinsichtlich des Kontextes, der (ursächlichen sowie intervenierenden) Bedingungen, der Interaktionen und Strategien/Techniken (und Routinen) sowie der Konsequenzen relationiert wird. Als weitere Hilfe werden „generative Diagramme“ vorgeschlagen, um die Sortierungen in Form von „Netzwerken“ oder – wie innerhalb der Situationsanalyse – als Maps zu visualisieren (Clarke 2012 [2005]; Clarke et al. 2018). Solche Visualisierungen sollen helfen, die Verbindungen und Relationen (sowie auch die Hierarchien) zu explizieren, um so auf die Kontext-Bedingungen-Strategien-Konsequenzen-Matrix hinzuarbeiten, die im Zuge des „selektiven“ oder „theoretischen Kodierens“ auf eine finale Integration der gebildeten Kategorien zielt. Visuelle Darstellungen können dann auch als Teil der Ergebnispräsentation genutzt werden. Insofern sind die „generativen Diagramme“ nicht nur Analysetools, sondern auch Resultate der GTM-Arbeit. 3.3.4 Kodierformen im Plural Jenseits der zuvor skizzierten konzeptuellen Gemeinsamkeiten finden sich in den verschiedenen Ansätzen der GTM verschiedene Bezeichnungen für Kodierformen, z. T. werden gleichlautende Begriffe gewählt, aber anderes wird damit gemeint. Glaser (2004) unterscheidet in seiner „klassischen“ GTM das gegenstandsbezogene Kodieren (substantive coding), das sich zusammensetzt aus dem „offenen“ und „selektiven“ Kodieren, von dem am Ende der Arbeit vorzunehmenden „theoreti-
Grounded-Theory-Methodologie
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schen“ Kodieren (Holton 2010). Strauss und Corbin (1996 [1990]) strukturieren den Analyseprozess über das „offene“, „axiale“ und „selektive“ Kodieren. In der neuen Auflage (Corbin und Strauss 2015) findet sich dann das „fokussierte“ Kodieren, und v. a. wird die Anwendung des „Kodierparadigmas“ (das im Zentrum des „axialen“ Kodierens steht) weit weniger zentral gestellt als in früheren Auflagen. Charmaz unterscheidet bei dem von ihr entwickelten „constructionist GTM approach“ (Charmaz 2014) das „initiale“ Kodieren (das dem „offenen“ Kodieren bei Glaser ähnlich ist) von dem „fokussierten“ Kodieren (das Ähnlichkeiten zum „theoretischen Kodieren“ bei Glaser aufweist). Sie schlägt zudem vor, das Gerundium (im engl. Verständnis von gerund für sog. „-ing“-„Formen“) bei der Formulierung von Kodes (und Kategorien) offensiv einzusetzen: „Think of the difference in imaginary between the following gerunds and their noun forms: describing versus description; stating versus statement, and leading versus leader. We gain a strong sense of action and sequence with gerunds“ (Charmaz 2014, S. 120). In der Situationsanalyse greift Clarke (2012 [2005]) zwar Überlegungen des Kodierens auf, legt aber besonderen Wert auf die Entwicklung von Maps: Sie unterscheidet dabei Maps von sozialen Welten/Arenen zur Offenlegung der Beziehungen der beteiligten Akteur/innen und Institutionen; Situationsmaps, um aufzeigen, in welche kulturellen und diskursiven Rahmensituationen die Forschungssituation selbst integriert ist, und schließlich Maps von Positionen, die die Lagerung (nicht-)eingenommener Positionen von Sprecher/innen und Institutionen veranschaulichen sollen.
3.4
Memos
Ebenso zentral wie das Kodieren ist das Schreiben von Memos (Memoing), das über den gesamten Prozess einer GTM-Studie zu leisten ist. Corbin (Corbin und Strauss 2015) und Charmaz (2014) haben in den zurückliegenden Jahren zunehmend auf die Bedeutung von Memos hingewiesen. Hiernach ist das Schreiben von Memos eine kontinuierlich mit der Analyse zu verschränkende Arbeit und nicht auf einen einzelnen Analyseschritt zu begrenzen. Das Memoing unterstützt den gesamten Kodierprozess, denn in den Memos findet die zentrale Interpretations- und Konzeptualisierungsarbeit statt. Aber im Grunde ist mit Aufnahme der Forschungsarbeit das Abfassen von Memos angezeigt, und es endet erst mit Abschluss der Studie. Entsprechend lassen sich verschiedene Memosorten – insbesondere „theoretische/ konzeptuelle Memos“, „Planungs-/Methoden-memos“ und „Reflexionsmemos“ – und damit Funktionen unterscheiden. Das Schreiben von „konzeptuellen“ oder „theoretischen Memos“ ist die grundlegendste Maßnahme auf den Weg zu Theorieentwicklung (Glaser und Strauss 1998 [1967], Kap. 5). olche Memos sollen zur Konzeptbildung beitragen, statt bei bloßer Deskription stehenzubleiben, und durch ihre Hilfe soll auch die Sortierung von Kodes und Kategorien „theoretisiert“ werden. Gerade bei den späteren Kodierprozeduren hilft das Schreiben von Memos, um systematisch die Eigenschaften und Dimensionen der Kategorien auszuarbeiten sowie schließlich die in den generativen
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G. Mey und K. Mruck
Diagrammen angelegten Relationen auszubuchstabieren. Insofern werden über Memos auch Lücken in der Analyse und der sich entwickelnden Theorie aufgedeckt. Glaser notiert hierzu, die „discovery of slowness“ bilde die zentrale Grundhaltung der Forschenden: „the analyst must pace himself, exercise patience and accept nothing until something happens, as it surely does“ (Glaser 2004, Abs. 60). Zudem unterliegt dem Schreiben von Memos ihm zufolge eine besondere Dynamik: „Later on memos generate new memos, reading literature generates memos, sorting and writing also generate memos – memoing is never done!“ (Glaser 2004, Abs. 64) In „Planungsmemos“ bzw. Methodenmemos sind Reflexionen aller methodischen Schritte zu leisten und zu dokumentieren. So sind z. B. die Schritte und Entscheidungen im Zuge des Theoretical Sampling festzuhalten, um so auch Begründungen für die Auswahl der nächsten Fälle zu explizieren (mitunter findet auch in diesen Memos also Konzeptarbeit statt). Schließlich sind – zumindest im Ansatz der „reflexiven GTM“ und der „constructivist GTM“ – auch „reflexive Memos“ zu schreiben, in denen die fachlichen und persönlichen Erfahrungen festgehalten werden, die intendiert oder en passant mit Feldeintritt und -aufenthalt und in Auseinandersetzung mit dem Material gewonnen werden (und entsprechend im Dienste der Konzeptarbeit stehen, d. h. reflexive Memos tragen hier auch zur Konzeptualisierung bei). Hierzu gehören auch alle Formen des emotionalem Involviertseins mit dem Untersuchungsthema, den beforschten Personen (-gruppen) oder Institutionen bis hin zu Unsicherheiten und persönlichen wie fachlichen Krisen, die durch die Forschungsarbeit ausgelöst werden können. Das Schreiben von Memos bedeutet, die Entscheidungen im Verlauf einer GTM-Studie und ihre Ergebnisse kontinuierlich zu dokumentieren, da die Memos bei allen Forschungsschritten angelegt und laufend überarbeitet (und d. h. teilweise auch miteinander verschränkt) werden, sodass die Texte am Ende das Grundgerüst der Veröffentlichung bilden.
3.5
Organisation des Arbeitsprozesses
Zwar nicht als Essential der GTM, aber als durchaus relevant für den Arbeitsprozess sollen abschließend noch der Einsatz von Auswertungssoftware und die Einbindung in Forschungsgruppen kurz erwähnt werden. Anfang der 1990er-Jahre wurde an der TU Berlin – z. T. unter Beteiligung von Strauss – begonnen, eine nahe an den GTM-Prozeduren ausgerichtete Auswertungssoftware zu entwickeln (s. Mühlmeyer-Mentzel 2011). Mittlerweile gehört das daraus hervorgegangene ATLAS.ti4 zu den führenden Programmen zur computergestützten qualitativen Datenanalyse (QDA). Aber auch andere QDA-Programme wie MAXQDA5 oder NVivo6 lassen sich gut in GTM-Studien einsetzen. Die 4
www.atlasti.com. www.maxqda.com. 6 www.qsrinternational.com. 5
Grounded-Theory-Methodologie
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Vorzüge solcher Programme sind vielfältig beschrieben (insbesondere das darüber ermöglichte Datenmanagement; Kuckartz 2010), es ist aber darauf hinzuweisen, dass die Interpretationsarbeit bei den Forschenden verbleibt und von diesen zu leisten ist (Friese 2016; Konopásek 2008; Mey 2019). Die Forderung, die Arbeit in Forschungsgruppen zu organisieren, gilt in der qualitativen Forschung mittlerweile als ebenso selbstverständlich wie der Einsatz von QDA, wird aber z. T. weit weniger praktiziert. Insbesondere bei Strauss finden sich schon früh Hinweise auf solche Arbeitsformen (Strauss 1991 [1987], Kap. 13), bei denen an die Tradition der Chicagoer Schule angeknüpft wurde (Riemann 2011). Die konkrete Ausgestaltung von Forschungsgruppen variiert erheblich (Allert et al. 2014); idealiter sollten diese den gesamten Forschungsprozess begleiten (Mruck und Mey 1998), ganz sicher sollte aber zumindest die Datenanalyse in einer Interpretationsgruppe umgesetzt werden. In welcher Weise dabei die Interpretationen als gemeinsame Hervorbringungen von Sinn und Bedeutung, als Korrekturen „blinder Flecken“ oder gar als Validierung und Konsensherstellung verstanden werden – und welcher Beitrag der Gruppe damit bei der Theorieentwicklung zukommt – ist wesentlich abhängig von der epistemologischen Verortung der Forscher/innen und ihrer Nähe oder Ferne zu konstruktivistischen bzw. reflexiven GTM-Spielarten.
4
Ausblick: Stand und Perspektiven
Innerhalb der Psychologie finden sich viele Anschlüsse an die GTM. Wie schon die zentrale empirische Arbeit zu „Awaress of Dying“ haben auch die Studien von Strauss (z. T. gemeinsam mit Corbin) zu Fragen von Gesundheit oder im Bereich der Pflegewissenschaften – eine Forschungslinie, die sich auch bei Kathy Charmaz findet –, die GTM zu der Methode in Teilen der gesundheitsbezogenen psychologischen Forschung und darüber hinaus werden lassen. Ähnliches gilt für die klinische Psychologie und Psychotherapiewissenschaft (Rennie 2006) und für entwicklungspsychologische Fragestellungen z. B. zu intergenerationalen Beziehungen in Familien (Dieris 2006), zur Gestaltung von transgenerationalen Prozessen (Breuer 2013) oder zu Inszenierungsformen und generationalen Aushandlungen innerhalb von Jugendkulturen (Dietrich und Mey 2018b; Mey und Dietrich 2019). Diese beispielhaft angeführten Studien verdeutlichen ein mit der GTM verbundenes Potenzial für insbesondere für psychologische Fragenstellungen, in denen Handlungsmöglichkeiten und Interaktionen eine zentrale Rolle spielen und Modellierungen von Passungsprozessen erarbeitet werden sollen. Die GTM gilt heute als der am weitesten verbreitete qualitative Forschungsstil: Sie findet über ihre Ursprungsdisziplin Soziologie hinaus in allen sozial-, human-, wirtschafts- und technikwissenschaftlichen Fächern und über ihre nordamerikanische Herkunft hinaus weltweit Anwendung. Für Deutschland ist dabei eine Rezeptionsbesonderheit zu erkennen. Denn bis vor einigen Jahren war, wenn auf die GTM rekurriert wurde, überwiegend die von Strauss (und Corbin) geprägte Variante gemeint. Zurückzuführen ist dies zum einen auf die Nähe von Anselm Strauss zur deutschsprachigen Soziologie (durch Einla-
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G. Mey und K. Mruck
dungen an die Universitäten Konstanz, Bielefeld und Hagen etwa durch Hans-Georg Soeffner oder die Aufenthalte von Fritz Schütze oder Gerhard Riemann bei Strauss) bzw. Psychologie (durch die Einbindung von Strauss durch Heiner Legewie in das ATLAS-Projekt). Teilweise hiermit einhergehend wurden die Arbeiten von Strauss vergleichsweise früh ins Deutsche übersetzt. So hat Legewie die Übersetzung des wohl bekanntesten Buches von Strauss und Corbin von 1990 verantwortet, das 1996 erschienen ist; bereits 1991 – vier Jahre nach dem Erscheinen des englischen „Qualitative Research for Social Scientists“ – lag die Übersetzung von Astrid Hildenbrand vor. „The Discovery of Grounded Theory“ ist erstmals 1998, also erst nach über 30 Jahren, übersetzt von Axel T. Paul und Stefan Kaufmann in Deutsch erschienen. Dagegen liegen die Schriften von Glaser bis heute fast nur auf Englisch vor. Auch die Präsenz auf dem Buchmarkt fällt sehr unterschiedlich aus: Glaser vertreibt seine Werke ausschließlich über sein eigenes Institut. Hinzukommt, dass vor dem Hintergrund der Kontroverse zwischen Glaser und Strauss und der teilweise heftigen Polemiken Glasers eine Lesart zugunsten von Strauss dominant ist (s. insbesondere Strübing 2014). Erst einige Veröffentlichungen von Glaser in der Open-Access-Zeitschrift FQS sowie die dann im „Grounded-Theory-Reader“ (Mey und Mruck 2011a) ins Deutsche übersetzten Beiträge und ein mit ihm geführtes Interview ermöglichten eine leichtere Rezeption. In dem „Grounded-Theory-Reader“ wurden (gegenüber dem Vorgänger; Mey und Mruck 2007) ebenfalls Originalbeiträge und Interviews mit Kathy Charmaz, Adele Clarke und Juliet Corbin erstmals in deutscher Übersetzung publiziert, sodass heute in den meisten aktuellen Übersichten zur GTM (wie z. B. bei Equit und Hohage 2016) die zuvor einseitig auf Strauss oder auf die Glaser vs. Strauss-Kontroverse verengte Darstellung überwunden scheint. Durch die breitere Rezeption ist allerdings die Diskussion nicht einfacher geworden, denn zunehmend wird ersichtlich, dass der GTM verschiedene Basistheorien zugrunde gelegt werden und sich auch die epistemologischen Fluchtpunkte ändern. Ursprünglich im Pragmatismus und im symbolischen Interaktionismus verortet, sind nun konstruktivistische/konstruktionistische Annahmen oder poststrukturelle/postmoderne Grundierungen leitend. Hinzu kommen Kombinationen mit anderen Theoriepositionen vor den jeweiligen in den Sozialwissenschaften lokalisierten und proklamierten „turns“, etwa „narrative“, „dicoursive“, „reflective“, „pictorial“ „visual“ etc. Vor diesem Hintergrund wird es schwieriger auszumachen und festzulegen, was mit der GTM verfolgt und wie die GTM konkret umgesetzt wird. Diese „Definitionsschwierigkeit“ begleitet die GTM seit Langem, denn nicht selten berufen sich Autor/ innen auf die GTM, auch wenn sie nur einzelne Elemente nutzen oder GTM lediglich als attraktives Label verwenden: „I note, with some concern, that ‚grounded theory‘ is often used as rhetorical sleight of hand by authors who are unfamiliar with qualitative research and who wish to avoid close description or illumination of their methods“ (Suddaby 2006, S. 633). Insofern geht es darum, dass die Forschenden, die mit der GTM arbeiten (wollen), sich mit deren theoretischen Hintergründen und Basisannahmen ebenso vertraut machen wie mit den in den verschiedenen Varianten vorgeschlagenen Prozeduren,
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immer wissend, dass es nicht um die strikte Einhaltung von Vorgaben geht, sondern um immer neu zu begründende und zu reflektierende Entscheidungen mit Blick auf eine Forschungsfrage, die jeweils verfolgten Ziele und das konkrete Forschungsfeld. Dies ist nicht als Einladung zur Beliebigkeit zu verstehen, sondern zu einer reflexiven Auseinandersetzung mit und Aneignung von der GTM – ganz im Sinne ihrer Gründerväter, die sie als eine Strategie des freedom of research und des empowerment verstanden und Forschende ermutigen wollten, in die eigene scientific intelligence zu vertrauen.
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Dokumentarische Methode Aglaja Przyborski und Thomas Slunecko
Inhalt 1 Zur historischen Relevanz und disziplinären der dokumentarischen Methode . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische und methodologische Prinzipien der dokumentarischen Methode . . . . . . . . . . 3 Zur Forschungspraxis der dokumentarischen Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Forschungsbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Aktueller Stellenwert und wichtige Einsatzfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Der Beitrag gibt zunächst Einblicke in die historische Entwicklung der dokumentarischen Methode. Es folgt eine erkenntnistheoretische Positionierung und eine Diskussion einiger Grundbegriffe: des konjunktiven Erfahrungsraums, der in Gemeinsamkeiten der existenziellen Lagerung verankert ist, sowie des Konzepts eines impliziten bzw. atheoretischen Wissens im Unterschied zum kommunikativ-generalisierten Wissen. Die forschungspraktische Umsetzung der Methode wird dann am Beispiel der Textinterpretation demonstriert. Abschließend geht es um aktuelle Entwicklungen, Einsatzfelder sowie Möglichkeiten und Grenzen der Methode.
A. Przyborski (*) Department für Psychotherapie, Bertha von Suttner Privatuniversität, St. Pölten, Österreich Institut für Psychologische Grundlagenforschung, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] T. Slunecko Institut für Psychologische Grundlagenforschung, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_45
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Schlüsselwörter
Dokumentarische Methode · Praxeologie · Konjunktiver Erfahrungsraum · Kollektives Wissen · Rekonstruktive Forschung
1
Zur historischen Relevanz und disziplinären der dokumentarischen Methode
Das erkenntnislogische und methodologische Fundament der dokumentarischen Methode wurde von Karl Mannheim gelegt. In seinen wissenssoziologischen Schriften der 1920er-Jahre (Mannheim 1964 [1921–1928]) machte er als einer der ersten die Beobachtung von Beobachtungen zum Ausgangspunkt sozialwissenschaftlicher Bemühungen – eine Position, die heute in der Soziologie sehr bestimmend geworden ist (Luhmann 1990). Auch seine fundamentale Kritik an der Forschungslogik der Psychologie hat seit ihrer Formulierung vor fast 90 Jahren wenig von ihrer Gültigkeit eingebüßt: Die „naturwissenschaftliche Psychologie“ habe „mit ihren Methoden nicht jene Erwartungen zu erfüllen vermocht, die die Geisteswissenschaften ihr entgegenbrachten“, sie „erwies sich als unzureichend zur Klärung und Deutung höherer seelischer Phänomene“ (Mannheim 1980 [1922–1925], S. 84). Es ist zu einem großen Teil den historischen Umständen geschuldet, dass Mannheims Schlüsselarbeiten erst mit jahrzehntelanger Verspätung (Mannheim 1964 [1921–1928], 1980 [1922–1925]) einem breiteren Publikum zugänglich wurden: 1930 zum Professor für Soziologie in Frankfurt/Main berufen, musste er 1933 wegen seiner jüdischen Abstammung nach England emigrieren, gelangte dort zunächst in keine vergleichbare akademische Position und starb mit 54 Jahren zudem relativ jung. Diese verzögerte Rezeptionsgeschichte brachte dann aber auch besondere Chancen mit sich, denn mittlerweile hatten sich an verschiedenen Orten qualitative Forschungsansätze entwickelt, die sich produktiv damit in Verbindung bringen ließen. Es war Ralf Bohnsack, der Mannheims theoretische Schriften mit der Chicagoer Schule, der Ethnomethodologie, der Konversationsanalyse und anderen Quellen qualitativen Forschung verknüpfte und sie so für eine breite Anwendung in der empirischen Forschungspraxis fruchtbar machte. Bereits im Zuge seiner Promotionsschrift (Bohnsack 1983), in der er Beratungsgespräche rekonstruierte, beschäftigte er sich mit den Schriften Mannheims. Eine Studie (Bohnsack 1989; Mangold und Bohnsack 1988), die sich dem Problem stellte, dass jugendtheoretische Konzepte in der Praxis kaum greifen (Hornstein und Lempp 1983), kennzeichnet den Beginn einer systematischen Entfaltung der dokumentarischen Methode in engem Zusammenspiel mit empirischer Forschung: Man versuchte, dem Problem mangelnder Praxisrelevanz anders beizukommen als durch „Ad-hoc-Forschung“, die sich jeweils einzelner, eng abgegrenzter Probleme der aktuellen Praxis annimmt, ohne die Ergebnisse dann in einen größeren theoretischen Gesamtzusammenhang zu integrieren. Ziel war es dagegen, systematisch zur Erfahrungsbildung der Jugendlichen selbst vorzudringen, diese empirisch zu rekonstruieren und so zu einer empirisch fundierten Theorie zu gelangen. Zentralen Stellenwert nahm dabei das Gruppendiskussionsverfahren ein (s. Przyborski 2004).
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Hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes orientierten sich Ralf Bohnsack und Werner Mangold an der Bedeutung der Peer-Group in der Jugendphase, methodologisch an Erkenntnissen, die Mangold aus Gruppendiskussionen gewonnen hatte: In den 1960er-Jahren hatte er in solchen Diskussionen systematisch auftretende „Integrationsphänomene“ (Mangold 1960, S. 39) wie komplexe Sinnproduktion durch Personen, die einander zuvor nie gesehen hatten, entdeckt. Für diese Phänomene lieferte Mannheims Konzeption von Kollektivität (die „Konjunktion“) einen fruchtbaren theoretischen Rahmen. Dieses Konzept (wir werden es in Abschn. 3 ausführlich vorstellen), beschreibt, wie Menschen durch gemeinsame existenzielle Hintergründe verbunden sind, einander von daher unmittelbar verstehen und so in der Lage sind, sich gemeinsam, als wären sie aufeinander abgestimmt, zu artikulieren. Im Zuge dieser ersten Studie wurde u. a. eine Entwicklungstypik rekonstruiert, die in Folgeprojekten über einen Zeitraum von zehn Jahren zu einer Theorie von Stadien der Adoleszenzentwicklung ausgearbeitet wurde. Weitere Ergebnisse betrafen die sozialräumlichen Bindung, Gewalt und Aktionismus sowie Migrationserfahrung (Bohnsack 1989; Bohnsack et al. 1995, 2001; Mangold und Bohnsack 1988). Jugendforschung und fast stärker noch Schul- und Bildungsforschung sind nach wie vor Themenfelder, die vielfach mit der dokumentarischen Methode bearbeitet werden (Przyborski und Slunecko 2009a; Streblow 2014). Das Spektrum der Methode lässt sich heute allerdings kaum mehr mit Hinweisen auf Themen angemessen darstellen (Loos et al. 2013). Jedenfalls war damit eine empirische Forschungstradition begründet, die heute in den Sozialwissenschaften einen regen Zustrom erfährt. In der Psychologie wurde sie bisher vergleichsweise wenig aufgegriffen.
2
Theoretische und methodologische Prinzipien der dokumentarischen Methode
Die bislang eher geringe Nutzung der dokumentarischen Methode in der Psychologie ist umso bedauerlicher, als die metatheoretischen und metamethodologischen Überlegungen und Ansätze in der Tradition Mannheims gerade für die Psychologie (in ihrer landläufigen Verfassung) ein wichtiges Korrektiv darstellen, insofern sie empirischen Zugang zu jenem großen Feld von handlungspraktisch und kollektiv hervorgebrachten Sinneinheiten eröffnen, welche die klassische mentalistische und auf das Individuum zentrierte Forschungslogik vollkommen ausblendet. Zudem handelt der Hauptstrom der Psychologie seine Phänomene im Modus reiner Vergegenständlichung ab, d. h., dass sie den Forschenden als bereits fix verdichtete Objekte gegenüberstehen – eine Reifizierung, die unserer Überzeugung nach der Kardinalfehler des Hauptstroms der Psychologie ist (Przyborski und Slunecko 2009b). Die dokumentarische Methode hingegen beansprucht im Gegensatz dazu sowohl theoretische Grundlegung als auch forschungspraktische Anleitung für eine praxeologische, nicht-verdinglichende Methodologie zu sein, die komplexe und sich komplex entfaltende seelische Phänomene zu erfassen weiß.
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2.1
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Erkenntnislogik der dokumentarischen Methode
Die dokumentarische Methode, die im Rahmen einer Erkenntnistheorie entstanden ist, beschäftigt sich eingehend mit der in der quantitativ orientierten Psychologie vernachlässigten methodologisch-metatheoretischen Grundlegung. Das heißt, sie arbeitet systematisch an der Weiterentwicklung von Grundbegriffen und Metatheorie in Auseinandersetzung mit praktischer Forschung. Die Mainstream-Psychologie ist dagegen, sofern sie überhaupt theoretisch aktiv ist, nahezu ausschließlich mit Gegenstandstheorie beschäftigt, d. h. mit Theorien über jene wissenschaftlichen Gegenstände, mit denen sie sich gerade beschäftigt. Im Normalbetrieb psychologischer Forschung, vielfach auch dort, wo sie qualitativ betrieben wird, wird zudem die conditio humana in der Regel nicht explizit reflektiert (für Ausnahmen s. Breuer 1996, 2000) – aber dadurch umso mehr implizit festgeschrieben. Dabei schlagen bestimmte Vorstellungen vom „Menschen“ bzw. Menschenbilder in die Forschungslogik durch, etwa jene, dass selbstverständlich von immer schon vereinzelten Individuen auszugehen sei (s. zu Menschenbildannahmen Breuer 2010). Gerade in der Sozialpsychologie, in der doch der Gegenstand vermeintlich über das Individuum hinausweisen müsste, ist es augenfällig, dass zumindest die Mainstream-Forschungslogik immer durch das Nadelöhr der Ein-Personen-Psychologie geführt wird (Slunecko 2008, S. 146–150; s. zu qualitativen Ansätzen in der Sozialpsychologie Mey und Ruppel 2018). Die Forschungslogik der dokumentarischen Methode lässt sich als vermittelnd zwischen den Forschungshaltungen des Objektivismus und Subjektivismus beschreiben (Bohnsack 2003a, 2014a): Objektivismus ist ein Oberbegriff für all jene Zugänge, die das Ziel ihrer Erkenntnis, ihren Gegenstand, gleichsam als ein Naturding konzipieren, das erkenntnislogisch außerhalb der erkennenden Wissenschaftler/ innen liegt. Objektivistische Zugänge sind in erster Linie auf überzeitliche, raumungebundene Strukturen, d. h. auf die nomothetische Erfassung menschlicher „Natur“ gerichtet; sie fragen, was die psychische Welt an sich ist. Subjektivistische Zugänge sind hingegen auf Motive, Intentionen, Meinungen und Einstellungen oder auch subjektive Theorien über das Handeln gerichtet, mithin auf das vom Individuum aus betrachtete Wozu und Warum. Aber auch dann, wenn die erkenntnislogische Differenz auf der Seite der subjektiven Wirklichkeit ansetzt und also die subjektive Verarbeitung zum Untersuchungsobjekt macht, wird insofern ein objektiver Anspruch verfolgt, als die wissenschaftlichen Erkenntnisse vom Standpunkt der Beobachtenden unabhängig sein wollen. Egal also, ob qualitativ oder quantitativ geforscht wird; die wissenschaftlichen Beobachtenden werden außerhalb der beobachteten Zusammenhänge impliziert und ihre Objektivität mit einer höheren, von den Untersuchten unabhängigen, systematischeren Rationalität und von daher einem Besserwissen gegenüber den Untersuchten begründet. In aller Regel müssen die Forschenden ihre Objektivität sogar noch aufwendiger unterstreichen, wenn sie sich mit subjektiver Verarbeitung beschäftigen (um zu vermeiden, dass „das Subjektive“ subjektiv betrachtet wird und damit die Differenz von Wissenschaftlichkeit und Alltag überhaupt kollabiert).
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Die erkenntnislogische Differenz der dokumentarischen Methode setzt anders an: Sie unterscheidet nicht zwischen subjektiv und objektiv, sondern zwischen der handlungspraktischen Herstellung von Wirklichkeit einerseits und einem begrifflich explizierten Wissen andererseits. Um erstere, d. h. die nicht explizite Ebene zu erfassen, richtet sich das Augenmerk auf das inkorporierte Erfahrungswissen, auf alltägliche Praktiken, mit Bourdieu gesprochen: auf den „Habitus als generative Formel“ (Bourdieu 1982, S. 729). Die Fokussierung der in der Praxis angeeigneten und diese Praxis ihrerseits strukturierenden Struktur, mithin des Wie der Herstellung sozialer Realität (Bohnsack 2003a, 2014b) schließt an die sog. „praxeologische“ Positionierung an, die auch Bourdieu (1976, S. 147) als Königsweg zwischen subjektivistischer und objektivistischer Vereinseitigung ortet. In der Sprache Mannheims gilt es, zwischen „atheoretischem“ bzw. „konjunktivem“ Wissen und begrifflich expliziertem, kommunikativem Wissen zu unterscheiden. Ersteres ist ein stillschweigendes, implizites Wissen, das erst durch Explikation für den sozialwissenschaftlichen Erkenntnisprozess fruchtbar wird. Wir haben es also nicht mit einer höheren Rationalität als jener der Untersuchten zu tun, sondern mit einem anderen Blickwinkel. Die Untersuchten wissen im Grunde gar nicht, was sie alles wissen, nicht zuletzt, weil die begriffliche Explikation ihres Wissens sie in ihrer Handlungspraxis unnötig aufhalten würde. Der Unterschied der beiden Ebenen in Bezug auf Sprache lässt sich am Begriff „Familie“ verdeutlichen (Bohnsack 2001, S. 330). Dieser ist uns sowohl als Allgemeinbegriff geläufig, der aufgrund von Rollenerwartungen, rechtlichen Definitionen oder religiösen Traditionen eine Verallgemeinerbarkeit über seine milieutypischen Grenzen hinweg entfaltet. Eine völlig andere Bedeutung erhält der Begriff „Familie“ für diejenigen, die den Alltag einer Familie teilen. Letztlich haben alle Begriffe eine öffentliche oder gesellschaftliche und zudem eine nicht-öffentliche oder milieuspezifische Bedeutung, wobei dieses milieuspezifische Wissen, das sich mit dem Alltag verbindet, kaum der begrifflich-theoretischen Explikation zugänglich ist. Diese beiden Wissensformen sind miteinander verwoben und können nur analytisch getrennt werden; sie finden sich in allen Typen von Wissen: dem alltagspraktischen ebenso wie dem wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Expert/innenwissen. Wenn aber alles Wissen von der Alltagspraxis des oder der Wissenden durchdrungen ist, dann impliziert das, der Perspektive Mannheims folgend, für jedes Wissen und jede Form der Sinnproduktion eine historische und sozialräumliche Verortung (u. a. Mannheim 1980 [1922–1925], S. 272–284). Die für Mannheim grundlegende Einbeziehung der Beobachter/innenposition führt also konsequent zur Annahme einer unhintergehbaren Standortverbundenheit von Wissen und Denken – und dies gilt für das Alltagswissen ebenso wie für das wissenschaftliche Wissen. Aus der Idee der Standortverbundenheit folgt wiederum eine Grundprämisse der dokumentarischen Methode: dass theoretische Abstraktionen durch das systematische Gegeneinanderhalten von empirischen Gegebenheiten geleistet werden müssen, wie es auch beim Bilden einer Typologie im Rahmen einer systematischen komparativen Analyse gehandhabt wird (s. unser Forschungsbeispiel in Abschn. 4 und zur Typenbildung Bohnsack 2013 sowie Przyborski und Wohlrab-Sahr 2017).
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Eng verknüpft mit dem Theorem der Standortverbundenheit ist eine weitere theoretische Besonderheit der dokumentarischen Methode: Das handlungspraktische Wissen (als nicht expliziertes, von der Erfahrung geprägtes und sie zugleich orientierendes Wissen) ist grundlegend als kollektives Wissen konzipiert. Mannheim spricht von „konjunktivem Wissen“, das in „konjunktiven“ – also gemeinsamen – „Erfahrungsräumen“ emergiert. Dieses Wissen wird als „Fond, der unser Weltbild ausmacht“ (Mannheim 1980 [1922–1925], S. 207) und als jedem individuellen Wissen vorausliegend verstanden (Mannheim 1980 [1922–1925], S. 253).
2.2
Theoretische und methodologische Grundbegriffe der dokumentarischen Methode
Der Schlüssel zur Interpretationspraxis der dokumentarischen Methode ist die Unterscheidung zweier Sinnebenen – des immanenten und des dokumentarischen Sinngehalts –, wie sie Mannheim (u. a. 1980 [1922–1925] sowie Bohnsack 2014a; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 283–314) vorgenommen hat. Diese Unterscheidung ist Ausgangspunkt der methodologischen Grundbegriffe und folgerichtig das strukturierende Prinzip der Auswertung. Immanente Sinngehalte lassen sich unabhängig von ihrem Entstehungszusammenhang auf ihre Richtigkeit hin überprüfen. Ein philosophisches System lässt sich u. a. aus einem anderen philosophischen System heraus verstehen und auf seine Richtigkeit und Gültigkeit beurteilen. Auch wenn wir ein Kunstwerk aufgrund benennbarer ästhetischer Merkmale in die Stilgeschichte einordnen, geschieht dies aus einem immanenten Verständnis heraus. Dasselbe ist der Fall, wenn wir einen Arzt holen, weil jemand sagt, dass er/sie krank ist und/oder entsprechende Symptome zeigt. Der Dokumentsinn nimmt hingegen den soziokulturellen Entstehungszusammenhang bzw. das, was sich davon manifestiert hat, in den Blick. Das wäre zum Beispiel die Frage der Genese eines philosophischen Systems aus „seiner Zeit heraus“. Auch die Frage, unter welchen biografischen und historischen Bedingungen ein (Kunst-) Werk entstanden ist, stellt auf den Dokumentsinn ab, ebenso die Frage, wie es wohl zu einer Verhaltensauffälligkeit kommt: Wir holen keinen Arzt, sondern fragen uns, ob eine zurückliegende oder gegebene Situation den Menschen, der sich selbst als krank wahrnimmt und/oder entsprechende Symptome zeigt, vielleicht überfordert hat. Im Alltag fangen wir dort an, uns mit dem Dokumentsinn zu beschäftigen, wo ein Phänomen nicht mehr situationsimmanent verstanden werden kann. Interessant dabei ist, dass auch schon im Alltag bei dieser Betrachtung der Phänomene ihr Geltungscharakter, d. h. ob sie wahr, richtig oder rechtens sind, seine Bedeutung verliert. Das heißt, wir fragen uns nicht (mehr), ob die verhaltensauffällige Person das Recht hat, sich so zu verhalten, ob sie nur simuliert oder ob es eine „echte“ Krankheit ist und dergleichen. Wir klammern den Geltungscharakter ein (zuerst: Husserl 1913; Mannheim 1980 [1922–1925], S. 88). Die Einklammerung von faktischer Wahrheit und normativer Richtigkeit ist ein methodologisches Prinzip der dokumentarischen Methode, nur so können wir Sinnkonstitution aus Rahmenbedingungen verstehen, die unseren zunächst fremd sind.
Dokumentarische Methode
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In Mannheims Worten ausgedrückt heißt das, dass „es bei einem jeden objektiv verstehbaren Gebilde eine Möglichkeit gibt, dieses als Funktionalität eines Erlebniszusammenhanges zu sehen“ (1980 [1922–1925], S. 78). Jede soziale Realität, sei sie geistiger, gegenständlicher oder bildhafter Art (vom Text über Behausung und technisches Artefakt bis zum Film), kann eben nicht nur „an sich“ verstanden werden, sondern auch im Hinblick auf den existenziellen Hintergrund bzw. Erlebnishintergrund, aus dem heraus sie entstanden ist. Wie kann man sich nun diesen Erlebniszusammenhang vorstellen? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir uns dem oben schon eingeführten konjunktiven Erfahrungsraum (u. a. Mannheim 1980 [1922–1925], S. 216) als grundlegendem Element der Mannheim’schen Handlungs- und Kommunikationstheorie zuwenden: „Ein jeder Kult, eine jede Zeremonie, ein jeder Dialog [wie auch jedes noch so alltägliche Ritual z. B. in einer Familie] ist ein Sinnzusammenhang, eine Totalität, in der der Einzelne seine Funktion und Rolle hat, das Ganze aber etwas ist, das in seiner Aktualisierbarkeit auf eine Mehrzahl der Individuen angewiesen ist und in diesem Sinne über die Einzelpsyche hinausragt. Ein Individuum kann sich die ganze Zeremonie zwar denken [. . .], [muss dies aber als Teilnehmende/r an der Zeremonie nicht, denn] als Kollektivvorstellung ist diese ja zunächst nicht etwas zu Denkendes, sondern ein durch verschiedene Individuen in ihrem Zusammenspiel zu Vollziehendes.“ (Mannheim 1980 [1922–1925], S. 232)
Dieses Beispiel richtet unser Augenmerk auf den praktischen Vollzug, der gerade im Ritual in seiner kollektiven Gegebenheit erkennbar wird. Die Handlungsvollzüge sind zwar durch eine gewisse Regelhaftigkeit gekennzeichnet, ihre Gesamtgestalt muss aber nicht von jedem/jeder Einzelnen umfassend gewusst werden. Dies lässt sich leicht vergegenwärtigen, wenn man an den Verlauf eines Essens im erweiterten Familienkreis denkt. Der Sinnzusammenhang „verteilt“ sich auf mehrere Individuen und der Verlauf gelingt durch ihr Zusammenspiel. Die dokumentarische Methode sieht diese kollektiv gegebene Sinnhaftigkeit, die aus einer Gemeinsamkeit existenzieller Hintergründe resultiert, gleichsam als Stoff, aus dem sich jedes Handeln formt. Die Interpretation begreift das empirische Material als Ausdruck bzw. Dokument eines sinnhaften Handelns im Zusammenhang mit den jeweiligen existenziellen Voraussetzungen. Es ist evident, dass Sprache nie vollständig aus einer derart konjunktiven Erfahrungsgemeinschaft herausgelöst werden kann. Kontextfreie Sprache ist lediglich ein Ideal, das interessanterweise gerade in wissenschaftlicher Begriffsbildung angestrebt wird (Mannheim 1980 [1922–1925], S. 217). Dennoch dient die Sprache immer, d. h. auch außerhalb der Wissenschaft, der Fixierung von Bedeutung, und sei es nur in einer ganz mit der Handlungspraxis verbundenen Weise, wie etwa bei der Namensgebung. Auch in der Sprache haben wir es immer mit einer konjunktiven, atheoretischen und einer verallgemeinerten abstrakt-theoretischen Ebene zu tun. Mannheim (1980 [1922–1925], S. 219) verdeutlich dies am Beispiel von Revolutionsreden, die „wenn sie nur gedruckt gelesen werden, oft als nichtssagend und unbedeutend erscheinen, während sie in der Versammlung, wo der konjunktive
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Erfahrungsraum noch vorhanden war und die Rede sozusagen nur hinweisende Funktion auf gemeinsam Erlebtes hatte, als ein adäquater Ausdruck erlebt wurden“. Für die Interpretation heißt das, dass die Gestaltung, das Wie der diskursiven Praxis einen Zugang für dem jeweiligen Erfahrungsraum fremde Interpret/innen bietet – und damit zum dokumentarischen Sinngehalt. Es wird also der „verkörperte“ Anteil in den Blick genommen. Im Hinblick auf Diskurse ist damit all das gemeint, was an erlebter Interaktions- bzw. Handlungspraxis, Körperlichkeit und Bildhaftigkeit in den Diskurs einfließt und in ihm zum Ausdruck gebracht wird. Das Augenmerk richtet sich hier neben Färbung, Rhythmus und Ausdrucksweise als wichtige Hinweise auf eine jeweilige Einbettung in bestimmte Kontexte (u. a. Gumperz und Cook-Gumperz 1981) insbesondere auf die Metaphorik, die sich im Format von Erzählungen und Beschreibungen artikuliert. Die erfolgreiche Weiterentwicklung der dokumentarischen Methode, sowohl auf interpretationstechnischer als auch auf methodologischer Ebene, verdankt sich nicht zuletzt der Abstraktheit der Idee der konjunktiven Erfahrung. Diese ist nicht in der konkreten Gruppe verankert; sie erfasst vielmehr eine von der konkreten Gruppe gelöste Kollektivität, indem sie all diejenigen miteinander verbindet, die an Handlungspraxen und damit an Wissens- und Bedeutungsstrukturen teilhaben, die in einem bestimmten Erfahrungsraum gegeben sind. Diese Kollektivität wird nicht als eine verstanden, die dem oder der Einzelnen als etwas Externes zwingend und einschränkend gegenübertritt, sondern als etwas, das Interaktion und alltägliche Praxis ermöglicht und gemeinsame Handlungsvollzüge ohne Umweg über den Subjektbegriff beschreibbar macht (Slunecko und Przyborski 2009). Jeder und jede durchläuft im Zuge der Entwicklung viele derartige Erfahrungsräume. Manche verlassen wir, wie sozialräumliche Bindungen oder bildungsmilieutypische Erfahrungsräume, dennoch bleiben sie ein Teil von uns; andere strukturieren manchmal ein Leben lang unsere alltäglichen Handlungsvollzüge, wie geschlechtsoder generationstypische Erfahrungsräume. Geschlechtstypische Erfahrungsräume konstituieren sich etwa über die Kombination der Handlungs- bzw. Interaktionspraxis geschlechtsspezifischer Sozialisation und das Erleben geschlechtstypischer (Fremd-) Zuschreibungen und Interpretationen. Bildungsmilieutypische Erfahrungsräume sind im gemeinsamen Erleben von Wissensvermittlung in den je unterschiedlichen öffentlichen Institutionen und den entsprechenden biografischen Ablaufmustern fundiert. Generationstypische Erfahrungsräume nehmen ihren Ausgang in der gemeinsamen Handlungspraxis, die zeitgeschichtliche Bedingungen und Entwicklungen bzw. Verläufe mit sich bringen. Das kann zum Beispiel die Erfahrung eines besonderen zeitgeschichtlichen Wandels wie der „Wende“ in Ostdeutschland oder der „Wiedervereinigung“ der beiden deutschen Staaten sein (Przyborski 1998). In einzelnen Interaktions- und Gesprächszusammenhängen treffen Personen aufeinander, die vielleicht einige Erfahrungsräume gemeinsam haben, andere dagegen nicht. Diejenigen, die sie miteinander teilen, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Interaktion erscheinen. Über das Geschlecht – das in vielen Studien zur Rekonstruktion sprachlicher Strukturen als einzige Kategorie gesetzt wird (Przyborski 2004, S. 21–22) – bestimmt sich nur einer von mehreren konjunktiven Erfahrungsräumen, der zudem von den anderen Erfahrungsräumen mitstrukturiert ist. Konkrete
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soziale Einheiten, wie Gruppen, Milieus oder Individuen, stellen immer Überlagerungen konjunktiver Erfahrungsräume dar, die im Zuge der Interpretation künstlich getrennt werden. In einer Gruppe artikulieren sich die jeweiligen kollektiven Erlebnisschichtungen.
3
Zur Forschungspraxis der dokumentarischen Methode
Die forschungspraktische Umsetzung der methodologischen Prinzipien soll hier in Bezug auf sprachliches Datenmaterial, das z. B. als Interview, Gruppendiskussion oder „natürliches“ Gespräch in Form eines Tondokuments vorliegt, dargestellt werden. Die Auswertung von Bildern und Filmen folgt derselben Forschungslogik. Da jedoch bei letzterer – im Gegensatz zu immer sequenziell sich vollziehenden Gesprächen – von einer prinzipiell simultan gegebenen Bedeutung ausgegangen wird, unterscheiden sich Interpretationstechniken im Einzelnen (dazu: Bohnsack 2009; Przyborski 2014; Przyborski und Slunecko 2011, 2012, 2013). In einem ersten Schritt wird ein thematischer Verlauf erstellt. Dabei werden die Themen, wie sie der Reihe nach auftauchen, aufgeschrieben und die entsprechenden Stellen des Tonträgers notiert. Besonders wichtig sind die Themenwechsel. Abgeschlossene Phasen der Behandlung eines Themas werden „Passagen“ genannt und bilden die kleinsten Einheiten für den nächsten Schritt: die systematische Interpretation. Eine vollständige Transkription und Auswertung des Materials ist nicht notwendig1 und forschungsökonomisch meistens auch nicht sinnvoll. Denn das Ziel der Auswertung besteht darin, die Reproduktionsgesetzlichkeit der erarbeiteten Handlungsorientierungen2 aufzuzeigen – und dazu genügen einzelne Passagen. Die Auswahl dieser Passagen ist daran orientiert, dieses Ziel zu erreichen. Dabei haben sich folgende formale und thematische Gesichtspunkte bewährt: • Anfangspassagen gewähren einen Einblick in die interaktive Bedeutungskonstitution, wie sie sich zwischen Forschenden und Erforschten vollzieht. • Passagen, die eine hohe interaktive und metaphorische Dichte in Relation zu anderen Passagen derselben Gruppendiskussion aufweisen, sind fokussierte Stellen. Bohnsack (2003b, S. 67) spricht in diesem Zusammenhang von „Fokussierungsmetaphern“. Existenzielle Gemeinsamkeiten kommen hier in besonders dichter Weise zum Ausdruck. • Über das Kriterium der Fokussierung werden die für die Untersuchten relevanten Themen ausgewählt. Darüber hinaus werden Passagen gewählt, die inhaltlich für das Forschungsthema wichtig sind. 1
Eine Ausnahme bilden narrative Interviews, die auch dokumentarisch ausgewertet werden können. Sie müssen vollständig transkribiert werden (Nohl 2006). 2 Wir werden diese beiden Begriffe – Reproduktionsgesetzlichkeit und Handlungsorientierung – im Folgenden materialiter entwickeln, weil sie so leichter zugänglich sind als über eine rein theoretische Erläuterung.
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Die ausgewählten Passagen werden nun einer Transkription (z. B. Dresing und Pehl 2013; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 162–178) unterzogen und schließlich interpretiert. Die ersten Interpretationen – sei es am Beginn eines Forschungsprojektes oder bei den ersten Schritten mit dieser Methode – können durchaus in einem vorläufigen Stadium belassen werden, um sich rascher weiteren Passagen zuwenden zu können. Das treibt die fallinterne und fallübergreifende komparative Analyse voran. Die zentralen Schritte der Interpretation sind die der formulierenden und reflektierenden Interpretation. Die formulierende Interpretation zielt auf eine knappe (Re-) Formulierung des immanenten bzw. des sogenannten kommunikativ-generalisierten Sinngehalts. Man fasst also zusammen, was kompetente Mitglieder einer Sprachgemeinschaft weitgehend unstrittig an dem Text verstehen. Zudem gilt es, die thematische Feingliederung des Texts nachzuzeichnen. Oft stellen sich dabei gerade jene Texte, die auf den ersten Blick chaotisch anmuten, hinsichtlich des thematischen Verlaufs als klar geordnet heraus. Äußerungen, deren immanenter Sinn den Interpret/ innen nicht zugänglich wird, sind meist hoch indexikal, d. h. tief in die Handlungspraxis der Untersuchten eingelassen und oft erst durch das Entschlüsseln von Kontextualisierungshinweisen verstehbar. Sie können als wörtliche Zitate in die formulierende Interpretation aufgenommen werden. Die reflektierende Interpretation zielt nun auf den dokumentarischen Sinngehalt. Rekonstruiert werden hier (Handlungs-)Orientierungen. Damit sind Sinnmuster gemeint, die zwar unterschiedliche, aber gleichwohl strukturidentische Handlungen hervorbringen. Es wird von daher auch von Prozessstrukturen gesprochen. Sie reproduzieren sich in homologer Weise auch auf unterschiedlichen Ebenen, z. B. im Wie der Darstellungen, in der je spezifischen Dynamik der Interaktion und im (metaphorischen) Gehalt der Erzählungen, Beschreibungen und Argumentationen. Personen, die über einen gemeinsamen Erfahrungsraum verfügen (s. Abschn. 2.2), verstehen einander unmittelbar (ohne einander explizit interpretieren zu müssen), haben einen selbstverständlichen Zugang zu den Handlungsorientierungen, die sich der Interpret bzw. die Interpretin erst erschließen muss. Eine Interpretationstechnik besteht in der Suche nach einzelnen Orientierungskomponenten, im Sinn einander begrenzender Horizonte. Im folgenden Beispiel wird auch deutlich, dass der Dokumentsinn nicht mit der thematischen Struktur in Eins fällt, sondern sich vielmehr deutlich davon unterscheidet: Im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Ausgrenzungs- und Kriminalisierungserfahrungen Jugendlicher (u. a. Bohnsack et al. 2001) unterhielt sich eine Gruppe junger deutscher Frauen über die „Araber und Türken“ in ihrem Viertel, besonders über das Geschlechterverhältnis und über familiale Strukturen. Das Anliegen, das sich dabei dokumentierte, war jedoch nicht Migration, sondern die Auseinandersetzung der Frauen mit Mutterschaft. Kinder erschienen als hohes Gut in diesen Kulturen, was begrüßt wurde. Mutterschaft und Kinder waren ein positiver Horizont, aber nicht um den Preis, im Arbeitsleben schlechtere Chancen zu haben, im Geschlechterverhältnis und in der Gesellschaft eine untergeordnete Rolle einnehmen zu müssen, wie es sich für deutsche Frauen mit Kindern und für Frauen in anderen Kulturen überhaupt für die jungen Frauen dieser Diskussionsgruppe darstellte. Der negative Gegenhorizont, der
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den positiven Horizont der Mutterschaft eingrenzte, war mithin die soziale Schlechterstellung. Schließlich kann der Blick darauf gerichtet werden, wie die Möglichkeit der Umsetzung dieser Horizonte von den Untersuchten wahrgenommen wird, auf das „Enaktierungspotential“ (Bohnsack 1989, S. 28). Im diskutierten Fall sah es damit eher schlecht aus. Die jungen Frauen sahen wenig Möglichkeit, ihren positiven Horizont von Mutterschaft in der gegebenen Gesellschaft zu verwirklichen. Wir haben es mit einem Orientierungsdilemma zu tun. Ein solches kann auch auf dem Fehlen eines positiven Horizonts und einem starken negativen Gegenhorizont beruhen. Eine zweite Technik ist die Sequenzanalyse. Die Analyse der Abfolge der Äußerungen nimmt zumindest drei formal unterschiedliche Interaktions-/Äußerungszüge in ihrem Bezug aufeinander in den Blick (Przyborski 2004). Auch die Frage nach unterschiedlichen Textsorten gilt es dabei zu beachten (u. a. Günthner und Knoblauch 1997): Argumentationen sind der Erfahrung ferner als Erzählungen und dienen stärker der öffentlichen Präsentation: Ein junger Mann türkischer Herkunft z. B. argumentierte in einer Gruppendiskussion, dass er nur „nach seiner Art heiraten“ würde, weil er es „richtig“ fände, wie „er“ lebt – sequenzanalytisch eine Proposition. Ein anderer Teilnehmer, ebenfalls türkischer Herkunft, hielt dagegen, man müsse sich in dieser heiklen Frage nach den Eltern richten – sequenzanalytisch eine Antithese, insofern hier eine (scheinbar) widersprechende Orientierungskomponente zum Ausdruck kommt. Dieser argumentativ artikulierte Widerspruch wurde fast 15 Minuten engagiert und konkurrierend aufrechterhalten. Die Erzählung einer Begebenheit im Heimatdorf des einen zeigte dann jedoch, dass beide von der „Art der Eltern“ (zu einer Ehepartnerin zu kommen) entfremdet sind. Die beiden jungen Männer waren sich hier nun einig, dass über diese Begebenheit (eine Begegnung an einer Wasserstelle mit jungen Frauen) ein Film hätte gedreht werden sollen – sequenzanalytisch betrachtet eine Synthese. Es wurde deutlich, dass ihnen die traditionelle Beziehungsstiftung auf Grundlage ähnlicher sozialer Herkunft anachronistisch erschien, aber auch die Beziehungsfindung im Sinn der romantischen Liebe auf der Basis individueller Identität war ihnen habituell fremd (Bohnsack et al. 2001; Przyborski 2004, S. 184–195) – eine homologe Erfahrung also trotz der diametralen antithetischen Argumentation. Ob der Entwurfscharakter, der im Argument liegt – hier „nach seiner eigenen Art“ heiraten zu wollen –, von sich in Erzählungen artikulierenden Erfahrungen gedeckt wird, muss bei der Interpretation des Dokumentsinns also berücksichtigt werden.3 In der eben grob skizzierten Passage wurde ein Orientierungsrahmen innerhalb einer Passage identifiziert. Forschungslogisch geht es in der Folge darum, zum einen im selben Diskurs weitere Orientierungsrahmen zu finden, und zum anderen, den ursprünglichen zu bestätigen, um so dessen „Reproduktionsgesetzlichkeit“ (Oevermann 2000, S. 97) innerhalb des Diskurses nachzuweisen. Oft geling dies erst, wenn
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In der Rekonstruktion der Diskursorganisation konnten empirisch bisher fünf Modi identifiziert werden: der antithetische, der parallele, der oppositionelle, der univoke und der divergente Diskursmodus (u. a. Bohnsack 1989, S. 413; Przyborski 2004).
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das Orientierungsmuster bereits auf einer sehr abstrakten Ebene ausgearbeitet ist. Dazu ist es in der Regel notwendig, andere Fälle heranzuziehen. Das heißt, man fährt nun damit fort, weitere Passagen (aus demselben Fall oder anderen Fällen) zu interpretieren und diese systematisch zu vergleichen. Dieser Schritt wird komparative Analyse genannt und hat die Ausarbeitung einer Typologie spezifischer Handlungsorientierungen zum Ziel. Dies wollen nun wir anhand eines Forschungsbeispiels demonstrieren, da er erfahrungsgemäß in einer rein abstrakten Beschreibung kaum nachzuvollziehen ist.
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Forschungsbeispiel
Die dokumentarische Methode entfaltet ihr Potenzial aufgrund ihres dynamischen Milieu- und Kulturverständnisses u. a. in der Migrationsforschung besonders gut. Kultur ist hier nämlich nicht eine unabhängige Variable, die vorab definiert werden muss, sondern etwas zu Erschließendes. Erst am Ende eines Projekts weiß man über Kristallisationskerne und Grenzen von Milieus Bescheid, erhält Zugang zu dem im Erleben verankerten Handlungswissen, kann handlungsrelevante Emotionalität, die vielleicht zunächst fremd erscheint, erklären und verstehen. Da uns dieser Bereich auch und gerade für die Psychologie relevant erscheint, stellen wir nun eines der zentralen Ergebnisse der Migrationsstudie dar, auf die wir schon zuvor Bezug genommen haben (u. a. Bohnsack et al. 2001; Nohl 2001). In dieser Studie wurden im Zeitraum von über vier Jahren mehr als 60 Gruppen Jugendlicher mit Migrationshintergrund auf der Basis von Gruppendiskussionen, teilnehmender Beobachtung und narrativen Interviews mit der dokumentarischen Methode untersucht. In einer dieser Gruppen sprachen junge türkische Männer z. B. von ihrem Problem mit „Eifersucht“, wenn ihre deutsche Freundin – in ihren Augen – zu leicht bekleidet auf die Straße ging: Sobald andere Männer ihre Freundin ansähen, könnten sie für nichts garantieren. Was da beschrieben wird, hat aber mit unserem Verständnis von Eifersucht nicht viel zu tun, denn es geht nicht um die Aufmerksamkeit der jungen Frau, die sie einem anderen entgegenbringt. Vielmehr geht es um den Habitus der männlichen Ehre, bei welchem es dem Mann obliegt, Übergriffen auf sein familiales Umfeld vorzubeugen oder sie zu ahnden – und solche Übergriffe können mit Blicken beginnen. Die jungen Männer türkischer Herkunft kannten und schätzten zwar die Kleidungsgewohnheiten ihrer deutschen Freundinnen; die familiale Sozialisation wurde aber handlungsleitend, sobald es zu der kritischen Situation kam, auch gegen den ausgesprochenen Willen. Durch den unter dem Titel „Eifersucht“ vorgetragenen Übersetzungsversuch für die Forscher/innen vermischten sich zwei Handlungszusammenhänge, zwei unterschiedliche Sphären. Auch in dem zuvor geschilderten Fall jener beiden Männer, die sich vergeblich auf der Suche nach einer Partnerin befinden, haben wir unvereinbare Handlungszusammenhänge im Bereich von Liebesbeziehungen beobachtet. Damit ist ein erster Schritt in Richtung einer Abstraktion dieses Sinnmusters über den einzelnen Fall hinausgegangen. In der konkreten Forschungspraxis bräuchte es mehrere Fälle, um eine Reproduktionsgesetzlichkeit zu zeigen. Dies ist erreicht, wenn ein Mehr an
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Fällen keine prinzipiell neuen Erkenntnisse bringt (vgl. das Prinzip der Sättigung in der Grounded-Theory-Methodologie; Glaser und Strauss 1967, Kap. III). Die Frage stellt sich, ob man diese Sphärentrennung zwischen der Familie bzw. türkischen Gemeinschaft auf der einen Seite und dem „modernen“, öffentlichen und zugleich deutschen Leben auf der anderen Seite auch über den Bereich von Liebesbeziehungen hinaus generalisieren kann – womit eine Reproduktionsgesetzlichkeit über Themen innerhalb der Fälle nachgewiesen werden könnte. Die jungen Männer, die sich über das Heiraten unterhalten haben, berichteten z. B. auch von der Bande, in der beide aktiv waren. Die Mitglieder dieser Bande stammten aus Familien, die die Gruppe als „türkische Türken“ kennzeichnete. Ihr Umgang mit dem deutschen öffentlichen Leben führte regelmäßig zu massiven Konflikten, sodass letztlich kaum Möglichkeiten zum legalen Gelderwerb bestanden. Die Bande existierte zum Zeitpunkt der Diskussion nicht mehr. Die meisten der „alten Kumpels“ waren entweder abgeschoben, im Gefängnis oder hatten sich von ihren Familien komplett abgewandt – d. h. es gab kein Balancieren zwischen den Sphären. Die beiden Diskutanten waren allerdings nur am Rand in der Bande dabei gewesen, „nich richtich“, waren „nur in die Disco mitgegangen“; aber auch in ihren Familien waren sie „nicht richtig“ dabei, da sie sich entfremdet fühlten. Das heißt, die beiden jungen Männer blickten sowohl auf ein Milieu mit Sphärentrennung, in dem es beim Aufeinanderprallen der Sphären zu Konflikten kam, als auch auf eigene Erfahrungen mit diesen beiden Sphären, die von Entfremdung und habitueller Verunsicherung geprägt waren. Diese beiden Formen der Sphärentrennung wurden mit „Exklusivität der inneren Sphäre“ und „Sphärendiffusion“ bezeichnet (Bohnsack 2013; Bohnsack et al. 2001); damit können wir einen ersten Ansatz von zwei Typen innerhalb einer Typik (jener der Sphärentrennung) abstrahieren. Der erste Typus war gekennzeichnet durch Intoleranz gegenüber der äußeren – d. h. der deutschen – Sphäre, Berührungen führten von daher häufig zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Der zweite Typus versuchte zwar die Lebenspraxis der Eltern und der türkischen Gemeinschaft zu überwinden, scheiterte aber immer wieder im Alltag. Zu diesem Typus zählte auch jene Gruppe, die zwar den individuellen, freien Ausdruck im Kleidungsstil ihrer Freundinnen schätzte, bei der der inkorporierte Kontrollmechanismus als Element des tradierten Habitus aber entgegen dem Willen der Jugendlichen handlungsleitend wurde. Auf dem Weg des systematischen internen und externen Fallvergleichs, wie er gerade skizziert wurde, ließen sich mithin bestimmte Typiken beschreiben, hier die Typik der Sphärentrennung.4 Für eine Spezifizierung dieser Typik gegenüber anderen Typiken, z. B. einer Entwicklungs-, Milieu- oder Generationstypik, gilt es nach entsprechenden Kontrastfällen zu suchen: Gibt es Unterschiede zwischen Jüngeren und Älteren, welche Merkmale bleiben konstant und welche ändern sich: z. B. artikulieren sich Konflikte und Dilemmata bis zum Ende der Jugendphase (Mitte/Ende 20) in gewalttätigen Auseinandersetzungen, später in verschiedenen Formen des Rück-
Zu dieser Typik zählten außer den genannten Typen noch die „Primordialität der inneren Sphäre“ und die „Suche nach einer dritten Sphäre“.
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zugs. Gewalt ist oft in einer aktionistischen Orientierung fundiert, die sich wiederum einer Entwicklungstypik (Przyborski und Slunecko 2009a) zuordnen lässt und mithin die Migrationstypik der Sphärentrennung überlagert. Wie kommen wir aber dazu zu behaupten, es handle sich um eine Migrationstypik? Dazu braucht es nun wieder den systematischen Vergleich. Nohl (2001) konnte zeigen, dass sich weder für autochtone türkische noch autochtone deutsche Jugendliche eine vergleichbare Form der Sphärentrennung rekonstruieren lässt. Eine Typologie besteht mithin aus mehreren Typiken, die einander überlagern und die durch den systematischen Fallvergleich herausgearbeitet werden. Je mehr Fälle in die komparative Analyse einbezogen werden, desto tiefer sind die theoretischen Abstraktionen im empirischen Material verankert.
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Aktueller Stellenwert und wichtige Einsatzfelder
Wie wir bereits zu Beginn zu zeigen versucht haben, liegt eine wichtige Aufgabe der dokumentarischen Methode darin, in der Psychologie bisher ausgeblendete Forschungsperspektiven ins Spiel zu bringen. Die praxeologische Grundidee – die Beschäftigung mit handlungsleitendem Wissen, wie wir sie im letzten Abschnitt an Forschungsbeispielen gezeigt haben – trennt von vornherein nicht zwischen Körper und Seele und auch nicht zwischen Emotion und Kognition und vermeidet so die verhängnisvolle Dualität, in der ein Großteil der zeitgenössischen Psychologie epistemologisch fein gemahlen wird. In herkömmlichen psychologischen Studien zu Psychosomatik z. B. wird durch eine reifizierende Vorgehensweise bei der Fragenkonstruktion eine dualistische Sichtweise von Körper und Seele immer wieder aufs Neue reproduziert. In einer rekonstruktiv-praxeologischen Studie sehen wir jedoch, wie seelische, körperliche oder eben auch körperseelische Realität von den Untersuchten hergestellt wird (Riegler und Przyborski 2009). Eine andere wichtige Aufgabe liegt im Angebot der dokumentarischen Methode, das Subjekt als Anfang und Ende psychologischen Denkens infrage zu stellen. Das Kollektivitätskonzept, wie es hier formuliert wurde, entfaltet unmittelbare Relevanz für das theoretische Verstehen psychischer Dynamik (Przyborski und Slunecko 2009b). Zu den klassischen Anwendungsfeldern der dokumentarischen Methode zählen die Kindheits- und Jugendforschung sowie die Kultur- und Migrationsforschung. In den 2000er-Jahren finden sich vermehrt Studien im Bereich der Medien-, Rezeptions- und Technikforschung, insbesondere zu Computer(programme)n und Programmiersprachen (Schäffer 2001; Stach 2001), sowie der Evaluationsforschung (u. a. Bohnsack und Nentwig-Gesemann 2010) und Marktforschung (Bohnsack und Przyborski 2007; Bohnsack 2007). In jüngerer Zeit wurde die dokumentarische Methode für die Analyse von Bildern und Filmen (Bohnsack 2008, 2009; Przyborski 2008) weiterentwickelt und damit für die Kommunikationswissenschaft und die Medienpsychologie nutzbar gemacht. Mittlerweile wird die dokumentarische Methode in der Bild-, Film- und Videointerpretation breiter rezipiert als in der Textinterpretation (Bohnsack et al. 2015a, b).
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Da die Ausarbeitung der dokumentarischen Methode in der Auseinandersetzung mit dem Gruppendiskussionsverfahren erfolgte, ist sie für diese Daten in herausragender Weise geeignet. Allerdings wurde dieses Verfahren schon bei der ersten Untersuchung (Bohnsack 1989) methodisch trianguliert und zwar mit teilnehmender Beobachtung und narrativen Interviews. Die beiden letzteren Verfahren verbindet also eine ebenso lange Tradition mit der dokumentarischen Methode wie die Gruppendiskussion. Im Zuge der immer breiteren Anwendung des Gruppendiskussionsverfahrens ergab sich auch eine Fülle weiterer Methodenkombinationen, u. a. mit der „Vignettenmethode“ (Kutscher 2006), mit quantitativen Verfahren (Krüger und Pfaff 2006) und mit der videogestützten teilnehmenden Beobachtung (Wagner-Willi 2006). Die Kindheitsforschung hat es notwendig gemacht, neben der Diskurspraxis in Gruppendiskussionen verstärkt auch die Spielpraxis zu berücksichtigen (NentwigGesemann 2006). Die Auswertung von Interviews (narrativen ebenso wie Leitfaden- und Paarinterviews) mit der dokumentarischen Methode, die methodisch zuvor nur im Rahmen der Triangulation behandelt wurde, tritt in den letzten Jahren aus diesem Schattendasein heraus (Nohl 2006). Ebenso finden wir die teilnehmende Beobachtung als alleinige Erhebungsform in Studien auf der Grundlage der dokumentarischen Methode; Vogd (2004) untersuchte damit z. B. ärztliche Entscheidungsprozesse im Krankenhaus. Die dokumentarische Methode wurde auch mit anderen theoretischen Traditionen als der Wissenssoziologie Mannheimscher Prägung in Verbindung gebracht u. a. von Vogd (2004, sowie Amling und Vogd 2017) mit der Systemtheorie, von Geimer et al. (2017) mit den Cultural Studies, von Weiß (2017) mit Modernisierungstheorien oder von Przyborski (2018) mit Medientheorien. Die dokumentarische Methode wird v. a. in Forschungswerkstätten und Lehrforschungsprojekten vermittelt, ebenso wie viele andere qualitative und rekonstruktive Verfahren (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 35–36). Damit sind der raschen Verbreitung bzw. einer autodidaktischen Aneignung ausschließlich über Lektüre gewisse Grenzen gesetzt. Dass eine Methode leichter persönlich vermittelt wird, ist ihr allerdings keineswegs anzulasten. Gerade dann, wenn eine Methodologie nicht allein aus der Logik abgeleitet werden will, sondern aus der Berührung mit der Forschungspraxis, und wenn sich die Vermittlung dieser Forschungspraxis nicht als Erlernen expliziter Regeln, sondern als Aneignung eines bestimmten – dokumentarisch-forscherischen – Modus operandi vollzieht, ist diese Form der Aneignung vielmehr höchst methodenadäquat. Neben der weiteren Auseinandersetzung mit Bild und Film stellt aus unserer Perspektive die Bearbeitung der Frage, was die dokumentarische Methode für die (Weiter-)Entwicklung psychologischer Grundlagentheorie – insbesondere in Hinsicht auf den Kollektivitätsbegriff und die Kritik am starken Subjektbegriff – bereithält, eines ihrer wichtigsten Zukunftsfelder dar.
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Tiefenhermeneutik Rolf Haubl und Jan Lohl
Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Tiefenhermeneutik – Entwicklung und Aktualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Theoretischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Elemente tiefenhermeneutischer Auswertung von qualitativen Forschungsmaterialien . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Der Beitrag führt in die Geschichte, Theorie und Methode der Tiefenhermeneutik ein, einem psychoanalytisch orientierten Verfahren der Interpretation von Texten. Standen bei dem Begründer der Methode, dem Frankfurter Psychoanalytiker und Sozialpsychologen Alfred Lorenzer, zunächst kulturelle Objektiviationen im Fokus, so arbeiten psychoanalytisch orientierte Sozialwissenschaftler/innen mit dieser Methode verstärkt seit Anfang der 1990er-Jahre, um qualitative Forschungsdaten auszuwerten. Im Unterschied zu nahezu allen anderen qualitativen Auswertungsmethoden nutzt die Tiefenhermeneutik die Subjektivität der Forschenden – ihre Affekte, Assoziationen, Konflikte, Beziehungen, Fantasien, Wünsche – auf eine methodischen reflektierte Weise als zentrales Erkenntnisinstrument.
R. Haubl (*) Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Lohl Institut für Fort- und Weiterbildung, Katholische Hochschule Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_57
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Schlüsselwörter
Forschungsbeziehung · Irritation · Psychoanalyse · Szenisches Verstehen · Tiefenhermeneutik · Unbewusstes · Wirkungsanalyse
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Einleitung
Tiefenhermeneutik ist eine psychoanalytisch orientierte Auswertungsmethode der qualitativen Sozialforschung, die manifeste und latente Bedeutungen von gesellschaftlichen Lebenspraxen und psychosozialen Erfahrungen rekonstruiert. Dies geschieht, indem kulturelle Bedeutungsträger (Literatur, Filme, Kunst, aber auch Architektur oder Werbung) und empirische Forschungsmaterialien (Interviews, Gruppendiskussionen, Beobachtungsprotokolle oder Dokumente wie Tagebücher) interpretiert werden. Die tiefenhermeneutische Interpretationsmethode geht auf den Frankfurter Sozialpsychologen und Psychoanalytiker Alfred Lorenzer zurück (1922–2002) und ist von ihm und seinen Nachfolger/innen wie – um nur die bedeutendsten zu nennen – Hans-Dieter König, Thomas Leithäuser und Birgit Volmerg, Christine Morgenroth und Ulrike Propkop entwickelt worden, indem die psychoanalytische Methode des szenischen Verstehens modifiziert, verwissenschaftlicht und aus der psychotherapeutischen Praxis in die Kultur- und Sozialforschung transferiert wurde. Durch diese Modifikation und den Transfer einer genuin psychoanalytischen Methode strebt die Tiefenhermeneutik eine wissenschaftliche Einsicht in unbewusste Prozesse dort an, wo diese eine sozialpsychologische, soziologische, politik- und kulturwissenschaftliche Relevanz besitzen. Tiefenhermeneutik ist freilich nicht identisch mit einer psychoanalytisch orientierten qualitativen Forschung, die ein breiteres Feld abdeckt. So gab es bereits vor der Entwicklung der Tiefenhermeneutik in den 1980er-Jahren differenzierte methodische Überlegungen zum Verhältnis von Psychoanalyse und Sozialforschung (Busch 2001), die nicht nur die Auswertung, sondern auch die Erhebungssituation betreffen (Horn et al. 1984). Für diese Überlegungen haben Lorenzers Arbeiten allenfalls eine randständige Bedeutung. So ist die Tiefenhermeneutik zwar eine anerkannte und verbreitete, aber nicht die einzige psychoanalytisch orientierte Forschungsmethode der qualitativen Sozialforschung. Zu nennen sind vor allem die Ethnopsychoanalyse (Nadig und Reichmayr 2000; Reichmayr 2003) und hier besonders die für eine qualitative Forschung bedeutsame Arbeit von George Devereux (1967) und die Ethnohermeneutik (Bosse 1994), die auf die Forschungsbeziehung als Erkenntnisquelle fokussiert. Erwähnt werden können auch die Arbeiten von Karola Brede (2012), die eine spezifische methodisch kontrollierte Form der Zusammenarbeit von Soziolog/innen und Psychoanalytiker/ innen vorschlägt, aber auch Arbeiten zur Relevanz von Übertragung und Gegenübertragung für die Sozialforschung (Horn et al. 1984, S. 27–32). Tiefenhermeneutik wird von uns jedoch nicht im Sinne einer summativen Bezeichnung der verschiedenen Anwendungen psychoanalytischer Methoden und Theorien in der qualitativen Forschung begriffen. Dies ist missverständlich und
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übersieht, dass Tiefenhermeneutik in einem engeren Sinn ein psychoanalytisch inspiriertes Verfahren zur Interpretation von Texten darstellt, welches sich in einer mittlerweile dreißigjährigen Geschichte systematisch aus der klinischen Psychoanalyse heraus und in die qualitative Forschung hinein emanzipiert hat. Im Folgenden skizzieren wir erstens kurz die Entwicklung der Tiefenhermeneutik und beschreiben zweitens ihre zentralen theoretischen Grundlagen. Drittens sollen die wichtigsten Arbeitsschritte einer tiefenhermeneutischen Analyse vorgestellt sowie viertens nach dem Stellenwert der Tiefenhermeneutik in der qualitativen Sozialforschung gefragt werden.
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Tiefenhermeneutik – Entwicklung und Aktualität
Der Begriff Tiefenhermeneutik geht auf den Sozialphilosophen Jürgen Habermas (1968) zurück, der die Psychoanalyse kommunikationstheoretisch als archäologisches Modell einer Hermeneutik des Unbewussten entwickelte. Habermas bezieht sich hierbei auch auf (unveröffentlichte) Manuskripte von Alfred Lorenzer, mit dem der Begriff Tiefenhermeneutik heute fest verbunden ist (Habermas 1968, S. 267, 295, 312). Alfred Lorenzer war ein Frankfurter Sozialpsychologe und Psychoanalytiker, der ausgehend von seiner Metatheorie der psychoanalytischen Erkenntnis (Lorenzer 1970a) eine Symbol- und Sozialisationstheorie entwarf (Lorenzer 1970b, 1972, 1984; vgl. Abschn. 3). In diesen Arbeiten fragt er nach dem wechselseitigen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Genauer besehen interessiert ihn, wie Gesellschaftliches in das Individuum gelangt, was Vergesellschaftung für es bedeutet und ob dabei ein politisches Subjekt bzw. eine emanzipative psychosoziale Praxis entstehen kann. Wesentlich für die Tiefenhermeneutik Lorenzer’scher Prägung – v. a. für ihre Hinwendung zu kulturellen Produkten – ist, dass Lorenzer die Subjektkonstitution nicht als eine Entwicklung begreift, die in der Kindheit abgeschlossen wird. Er versteht das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als einen lebenslangen Konstitutionsprozess, durch den sich Erwachsene das, was sie gesellschaftlich vorfinden, immer wieder neu in tertiären Sozialisationsprozessen1 subjektiv gebrochen aneignen. Gebrochen heißt: Ihre innere Struktur und psychische Dynamik wird durch Sozialisationsagenturen nicht ein für alle Mal hergestellt, sondern kann fortlaufend verändert werden. Zu den relevanten Sozialisationsagenturen gehören nicht nur soziale Beziehungen, sondern Kulturprodukte aller Art, wobei sich Lorenzer selbst vor allem für literarische Texte interessierte. Ihnen weist er normativ eine erhebliche politisch-psychologische Bedeutung zu: 1
Während als primäre Sozialisation die Entwicklungs- und Anpassungsprozesse von Kindern in ihren Familien verstanden werden, werden mit sekundärer Sozialisation solche zeitlich späteren Entwicklungsprozesse verstanden, bei denen Institutionen als Sozialisationsagenturen wirken. Dies sind vor allem Bildungseinrichtungen, wie Schulen und Kindergärten. Mit tertiärer Sozialisation in Lorenzers Verständnis sind weniger berufliche und organisationale Einflüsse auf Erwachsene gemeint, sondern der sozialisierende Effekt von Kulturprodukten und Medien aller Art.
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„Der Dichter bzw. Künstler muss [. . .] dem Unbewussten einen unübersehbaren Platz schaffen, indem er das vom allgemeinen Bewusstsein Verworfene, Ausgeschlossene oder doch Unbeachtete zu jenen sichtbaren, hörbaren, greifbaren Gebilden [den Kulturprodukten] gestaltet, an denen sich die Imagination der anderen entzünden kann. Das Unsagbare muss in eine Mitteilungsform eingebunden werden, die stummgewordene oder unerlöste Empfindungen spürbar macht.“ (Lorenzer 1981a, S. 24–25; Herv. d. A.)
Welche Wünsche und Gefühle, welche Fantasien und Vorstellungen werden durch die Rezeption von Kulturprodukten bewusst und welche bleiben unbewusst oder werden unbewusst gemacht? Aus Lorenzers Perspektive ist dies eine Frage danach, welche Erlebnisinhalte sprachlich symbolisierbar werden und welche nicht. Was sich der Versprachlichung entzieht, bleibt unbewusst, wird damit aber nicht wirkungslos. Methodologisch wirft dies die Frage auf, wie sich Unbewusstes, vor allem gesellschaftlich produziertes Unbewusstes – also sozial verpönte Bedürfnisse und Wünsche, un(v)erträgliche Vorstellungen und konfliktträchtige Fantasien sowie Abwehrmechanismen – empirisch erfassen lässt. Doch nur, wenn in Texten und anderen Kulturprodukten Spuren zu finden sind, die zu den unbewussten Erlebnisinhalten führen und deshalb auch aufzuspüren sind. Parallel zu den tiefenhermeneutischen Arbeiten Lorenzers (1978, 1981a, b, 1982, 1984, 1985, 1986, 2006) haben jüngere Wissenschaftler/innen aus seinem Umfeld die Tiefenhermeneutik einerseits systematisiert und präzisiert, andererseits zu einem Verfahren der qualitativen Sozialforschung weiterentwickelt (s. Abschn. 3). Dabei gewinnt die Analyse von Materialien, die für Forschungszwecke erzeugt werden, an Gewicht. An die Stelle der anfangs bevorzugten literarischen Texte treten nunmehr Texte wie z. B. transkribierte Interviews, die weniger bewusst gestaltet und folglich spontaner entstanden sind. Tatsächlich war es nicht Alfred Lorenzer, sondern zunächst deutsche Wissenschaftler/innen (z. B. Haubl 1993, 1999; König 1993, 2000, 2001; König et al. 2018; Leithäuser und Volmerg 1979, 1988; Morgenroth 1990, 2010a, b) und seit etwa 15 Jahren auch britische und dänische Wissenschaftler/innen, die ausgehend von Lorenzers Grundideen die Tiefenhermeneutik zu einer anerkannten Auswertungsmethode der qualitativen Sozialforschung weiterentwickelten (Bereswill et al. 2010; Frogett et al. 2014; Frogett und Hollway 2010; Hollway und Frogett 2012; Hollway und Jefferson 2000; Hollway und Volmerg 2010; Redman 2008; Salling Olesen 2012a, b; Salling Olesen und Weber 2012).2 Auf diese Entwicklung gehen wir in Abschn. 4 näher ein.
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Dass Lorenzers Arbeiten aus den 1970er- und 1980er-Jahren in internationalen Publikationen (erst) seit etwa 15 Jahren rezipiert werden, liegt vermutlich daran, dass sein Werk als sperrig und hermetisch gilt und daher nur schwer und bislang kaum ins Englische übersetzt wurde. Es sind einzelne Publikationen, die sich für einen internationalen Transfer von Lorenzers Arbeiten zur Tiefenhermeneutik einsetzten und sie einem breiteren wissenschaftlichen Publikum bekannt machten (Bereswill et al. 2010; Saling Olesen 2012a).
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Theoretischer Hintergrund
Der theoretische Hintergrund der Tiefenhermeneutik findet sich in den Arbeiten Alfred Lorenzers v. a. in erstens seiner psychoanalytischen Symbol- und Sprachtheorie, zweitens seiner Sozialisationstheorie sowie drittens seiner Theorie der psychoanalytischen Erkenntnisbildung.
3.1
Symboltheorie
In seinen Arbeiten zur Sozialisations- und Symboltheorie geht Lorenzer (1970a, b, 1972, 1981a) vom Primat der Interaktion aus: Von frühester Mutter-Kind-Dyade an ist das Subjekt in soziokulturelle Beziehungen eingebettet, die es konstituieren. Das trifft auch auf seine Triebnatur zu, die falsch begriffen wäre, wollte man sie als vorsozial behaupten. Triebe sind immer schon sozialisierte Natur, das heißt: Sie stimulieren die Interaktionen, aus denen sie in ihrer konkreten Verfasstheit gleichursprünglich resultieren. Wenn Lorenzer (1972) von „Interaktionsformen“ spricht, hat er genau diese Verschränkung von äußerer und innerer Realität im Blick. Die Erfahrungen, die das Subjekt in seinen (vergangenen) Interaktionen gewinnt, schreiben sich als „Interaktionsformen“ psychisch ein und leiten weitere (zukünftige) Interaktionen an, was zu einer Wiederholung der Erfahrungen oder aber zu neuen Erfahrungen führen kann. So gesehen, besteht die Innenwelt eines Subjektes aus untereinander verbundenen Interaktionsformen. Die Sozialisationstheorie und die Symboltheorie Lorenzers greifen ineinander, da die Zyklen von Interaktion – Interaktionsform – Interaktion (s. Abschn. 2) in verschiedenen Symbolsystemen mit je eigenen Leistungsprofilen ablaufen. Lorenzer (1981b, 1986) unterscheidet zwischen vorsymbolischen und symbolischen Interaktionsformen: Vorsymbolische Interaktionsformen bestehen aus sensomotorischen Mustern, in denen sich körpergebundene Interaktionserfahrungen niederschlagen; sie sind unbewusst. Bewusstsein entsteht über Symbolisierung. In Anlehnung an die Symboltheorie der Kulturphilosophie von Ernst Cassirer und seiner Schülerin Susan K. Langer (1965) unterscheidet Lorenzer zwischen sinnlich-symbolischen (präsentativen) und sprach-symbolischen (diskursiven) Interaktionsformen. Der Rückgriff auf diese Symboltheorie erfolgt aus verschiedenen Gründen: Zum einen sucht Lorenzer nach einer Theorie, die Symbolisierung als kreatives Vermögen fasst, das es dem Subjekt erlaubt, individuelle Bedeutungen zu generieren, die nicht vorab feststehen (weshalb er den psychoanalytischen Symbolbegriff mit seinen stereotypen Bedeutungsregistern verwirft). Zum anderen sucht Lorenzer nach einer psychoanalytischen Theorie, die Symbolisierung nicht von vornherein als Versprachlichung fasst, sondern bedenkt, dass jede Kultur auch nicht-sprachliche Symbolsysteme wie etwa Bilder oder Musik, Architektur oder Rituale und andere präsentative Symbolsysteme kennt.
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Sprachkritik
Lorenzer (1970a, b) verfolgt in seiner Symboltheorie einen sprachkritischen Ansatz. Die Einübung in Sprache (Syntax, Semantik, Pragmatik) im Sozialisationsverlauf ist immer die Einübung in die Sprache einer bestimmten – historisch-kulturell-gesellschaftlich bestimmten – Sprachgemeinschaft. Das Subjekt muss sich deren Regeln (Konventionen, Normen) unterwerfen, um zu verstehen und verstanden zu werden. Zu ihnen gehören auch die Tabus, über die sich die Sprachgemeinschaft stabilisiert. Oder soziologisch formuliert: über die Herrschaft gesichert wird. Konzipiert die Psychoanalyse die Verdrängung als zentrale Operation der Produktion von Unbewusstheit, dann ist Unbewusstheit – sprachkritisch gefasst – die Hemmung, signifikante Gefühle, Vorstellungen und Handlungsbereitschaften angemessen und das heißt: unzensiert zur Sprache zu bringen und zur Disposition zu stellen, weil sie innerhalb der Sprachgemeinschaft unter Androhung von Sanktionen nicht zur Sprache gebracht und zur Disposition gestellt werden dürfen. Die Produktion von Unbewusstheit erfolgt in Lorenzers Perspektive über eine „Sprachzerstörung“ (Lorenzer 1970a) in der zweifachen Bedeutung des Wortes: Die Sprache, die das Subjekt gebraucht bzw. gezwungen ist zu gebrauchen, zerstört sein Erleben, was am Gebrauch einer zerstörten Sprache ablesbar wird. Lorenzer spricht in diesem Zusammenhang von einem „privatsprachlichen“ Sprachgebrauch: Gemeint ist, dass das Subjekt seine Äußerungen mit Bedeutungen versieht, die von Anderen nicht verstanden werden. Mehr noch: die es selbst nicht versteht. Zugleich verweist seine private Sprache auf sein Bedürfnis, unzensiert aussprechen zu dürfen, was es in seinem Innersten bewegt. Privatsprachliche Bedeutungen sind die Folge von zwei ihrer Genese nach unterschiedlichen De-Symbolisierungsprozessen. Im einen Fall kann ein Erlebnisinhalt überhaupt nicht zur Sprache gebracht werden, weil er vorsprachlich ist und aufgrund gesellschaftlicher Tabus vorsprachlich bleiben muss. Im anderen Fall wird ein Erlebnisinhalt, der bereits sprach-symbolisch gefasst war, aufgrund von unbewältigten Traumata oder Konflikten nachträglich von seinen sprachlichen Repräsentanzen abgeschnitten. Resultiert im einen Fall eine beredete Sprachlosigkeit, so im anderen ein inhaltsleeres Sprechen, das lediglich Klischees reproduziert. De-Symbolisierungsprozesse gibt es nun für Lorenzer nicht nur individuell, sondern vor allem historisch-kulturell-gesellschaftlich. So kann Herrschaft als ein Komplex von Mechanismen verstanden werden, die verhindern, dass die Gesellschaftsmitglieder zur Sprache bringen, was sie erleben. Gravierender noch: Diese Mechanismen zwingen dazu, eine Sprache zu gebrauchen, die ihre Wahrnehmung und ihr Erleben entstellt. Dann können sie all das, was der herrschenden Realitätsdefinition widerspricht, nicht mehr wahrnehmen und erleben. Ziel einer sprachkritischen psychoanalytischen Praxis im Sinne Lorenzers ist es daher, de-symbolisierte Erlebnisinhalte zu re-symbolisieren. Das verlangt, den Prozess der De-Symbolisierung zu rekonstruieren. Zu diesem Zweck bedarf es eines Settings in der klinischen Psychoanalyse ebenso wie in der psychoanalytisch orientierten qualitativen Forschung, das einen zensurfreien Raum öffnet, in dem alle Akteur/innen anerkennen, dass sie über keinen Mastermind verfügen, der sie vor
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Selbsttäuschungen schützen würde. Vielmehr müssen sie sich unvoreingenommen auf den Weg machen, gemeinsam herauszufinden, was die Erlebnisinhalte bedeuten, die in der aktuellen Situation wie in der Erinnerung auftauchen. Das heißt auch, eine gemeinsame unkonventionelle Sprache zu suchen, die das „volle“ Erleben einzufangen vermag. Genau deshalb plädiert Lorenzer für eine Aufwertung sinnlich-symbolischer Interaktionsformen: Die Psychoanalyse ist von Anfang auf die Bedeutung des Sprechens konzentriert, weil das Sprechen narrative und poetische Qualitäten hat und damit – wie auf der Theaterbühnen, wenn auch unbewusst – Teil einer multimedialen Inszenierung ist, die es dementsprechend auch szenisch zu verstehen gilt.
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Elemente tiefenhermeneutischer Auswertung von qualitativen Forschungsmaterialien
Die im Folgenden vorgestellten Elemente bilden Kernaspekte tiefenhermeneutischen Arbeitens mit qualitativen Forschungsdaten. Die tiefenhermeneutische Arbeitsweise selbst ist jedoch keineswegs so einheitlich, wie das Rubrum Tiefenhermeneutik vermuten lässt. So unterscheiden sich die von Hans-Dieter König (2000) formulierten „Regeln“ der Anwendung der tiefenhermeneutischen Methode und die „five-step form“ der Tiefenhermeneutik, die Hollway und Volmerg (2010; Leithäuser et al. 1983; Morgenroth 1990) formulieren, zum Beispiel hinsichtlich der Frage, wie eine Interpretationsgruppe (s. Abschn. 4.2) mit dem Transkript während der Auswertung verfahren soll. Schlagen Hollway und Volmerg vor (2010), mit einer von den verantwortlichen Forschenden vorabgetroffenen kleineren Auswahl an Sequenzen zu arbeiten, so plädiert König dafür, mit gesamten Transkripten zu arbeiten und es der freien Assoziation (s. Fußnote 7) zu überlassen, welchen Sequenzen sich die Interpretationsgruppe zuwendet. Klein (2013, S. 272) hat zudem vorgeschlagen, über Transkripte hinaus den gesamten Forschungsprozess in die Auswertung einzubeziehen. Gemeinsam hingegen ist den unterschiedlichen methodischen und methodologischen Arbeiten zur Tiefenhermeneutik die Formulierung von einzuhaltenden Regeln oder Arbeitsschritten für den tiefenhermeneutischen Arbeitsprozess. So unabdingbar und wichtig dies methodisch und methodologisch ist, entsteht jedoch leicht das falsche Bild, dass die Praxis der tiefenhermeneutischen Erkenntnisbildung ein klar strukturierter und stets in bestimmte Schritte einteilbarer Prozess ist (König 2018a). Dies trifft so nicht zu: Die Praxis tiefenhermeneutischen Arbeitens ist zumindest temporär notwendig von einem unstrukturierten Vorgehen und eine radikal offenen Haltung getragen. Tiefenhermeneutik arbeitet mit freien Assoziationen und gleichschwebender Aufmerksamkeit (s. Abschn. 4.3, Fußnote 6), reflektiert subjektive – d. h. emotionale, dynamische, leibgebundene – Reaktionen der Forschenden auf Transkripte und die Inszenierung von Themen auf einer Beziehungs- und einer gruppendynamischen Ebene. Eine zu starre Strukturierung der Auswertungspraxis schließt genau die psychosozialen Räume, die für diese Form, qualitativ zu forschen, unabdingbar ist. Gerade ein unstrukturiertes Vorgehen ist Teil der Methode und daher die einzuhaltende Regel. Dies freilich erfordert es,
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den Auswertungsprozess zu dokumentieren und in Publikationen offen zu legen, um einem zentralen Gütekriterium qualitativer Forschung – der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit – gerecht werden zu können (Steinke 2000, S. 324–326).
4.1
Ziel tiefenhermeneutischer Auswertung: Rekonstruktion latenter Erlebnisinhalte
Lorenzer (1986) unterscheidet in seinen Überlegungen zu einer tiefenhermeneutischen Kulturanalyse treffend zwischen Untersuchungs- und Erkenntnisgegenstand. Im Rahmen von Forschungsfragen werden in Interpretationsgruppen Materialien aller Art untersucht, die deren Beantwortung versprechen. Der Einfachheit halber sei hier die Interpretation von transkribierten Interviews – dem Untersuchungsgegenstand – gewählt. Erkenntnisgegenstand in solchen Fällen sind Bedeutungen, die aufgrund soziokultureller Sanktionsdrohungen latent gehalten werden, sodass es zu vielfältigen Täuschungen und Selbsttäuschungen kommt, die eine angemessene Realitätsprüfung verhindern. Während die tiefenhermeneutische Untersuchung sich in Interpretationsgruppen also sprachlich gefassten Texten zuwendet, zielt ihr Erkenntnisinteresse auf einen nichtsprachlichen Sinn. So gilt, was Lorenzer über die Interpretation von literarischen Texten sagt, auch für transkribierte Interviews: „Es geht um die Anerkennung einer eigenständigen Sinnebene unterhalb der bedeutungsgenerierenden Sinnebene sprachlicher Symbolik. Während der manifeste Textsinn sich in der Ebene sozial anerkannter Bewusstseinsfiguren bewegt, drängt im latenten Textsinn eine sprachlos-wirksame Sinnebene [. . .] zum Bewusstsein.“ (Lorenzer 1986, S. 29)
Auf dieser sprachlos wirksamen latenten Sinnebene finden die gesellschaftlich tabuisierten und unbewussten bzw. unbewusst gemachte Interaktionsformen ihren Ausdruck. Derselbe Text kann demnach auf zwei Weisen sinnvoll sein (manifester und latenter Sinn). Verleitet die Metapher der „Tiefe“ dazu, den latenten Sinn als den „Tiefensinn“ (Lorenzer 1986, S. 32) des manifesten Sinns zu verstehen, so trifft doch eher zu, dass der latente Sinn ein eigenständiges sprachloses Sinnsystem ist, das sich bemerkbar macht, indem es den Gebrauch der Sprache stört. Beispiele für solche Störmanöver werden von Freud (1901) in der Psychopathologie des Alltagslebens als Fehlleistungen beschrieben (Versprecher, Verhörer, Verschreiber usw.) So schildert Freud (1901, S. 92) eine Situation, bei der ein Mann auf der Geburtstagsfeier des Chefs seine Kolleg/innen bittet, diesem nun gemeinsam mit einem Glas Sekt zum Geburtstag zu gratulieren. Statt „Lassen Sie uns auf das Wohl unseres Chefs anstoßen!“ sagt er jedoch „Lassen Sie uns auf das Wohl unseres Chefs aufstoßen!“ Die bewusste Absicht, dem Chef freundlich und höflich zum Geburtstag zu gratulieren (manifester Sinn), wird durchkreuzt von einer unbewussten Absicht, die dem manifesten Sinn zuwiderläuft. Möglicherweise hat der Mitarbeiter, so überlegt König (2006, S. 17), einen unbewussten Autoritätskonflikt mit seinem Vater auf den Chef übertragen und agiert diesen aus (latenter Sinn). Andererseits
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könnte die Fehlleistung, so König weiter, auch einen in der gesamten Organisation verpönten Affekt wie Wut oder Ärger über einen Chef zum Ausdruck bringen, der Kritik nicht duldet (latenter Sinn). Dieses Beispiel zeigt, dass sich latenter Sinn an der „Oberfläche“ findet und nicht in der „Tiefe“. Seine Wirksamkeit zeigt sich in Aussparungen auf der sprachlichen Symbolebene, in blinden Flecken, in Mehrdeutigkeiten und der Bildhaftigkeit eines Textes, in Metaphern, in der Atmosphäre eines Textes, aber eben auch als Sprachzerstörung: als abrupte Themenwechsel, Fehlleistungen, Lücken, als Brüchigkeit des Sprechens. Es sind diese Inkonsistenzen des Textes, die Christine Morgenroth (1990, S. 54) als „besondere Bedeutungsträger eines latenten Textsinns“ begreift. Was bedeutet dies nun für die qualitative Forschung? Wenn Forschende z. B. Forschungsinterviews durchführen, dann treten sie in eine Beziehung zu den Beforschten ein, die von Anfang an auf beiden Sinnebenen besteht (Tietel 2000; Wolf 1981). Soll heißen: Im transkribierten Interviewtext schlägt sich immer auch nieder, wie Forschende und Beforschte ihre Beziehung erleben. Manches ist bewusst, vieles unbewusst. Gerade die unbewussten Anteile der Forschungsbeziehung sind es aber, die einen Rahmen abstecken, in dem die Forschungsfrage verhandelt wird: was gesagt werden kann und was nicht. Deshalb kommt keine tiefenhermeneutische Analyse ohne Analyse der Forschungsbeziehung aus. So gesehen, ist jedes Forschungsinterview das spezifische Resultat einer Koproduktion von Forscher/in (Interviewer/in) und Beforschten (Interviewten), die durch die Forschungsfrage – streng genommen: durch die bewussten und unbewussten Bedeutungen, die sie für Forschende und Beforschte haben und die sie im Interview szenisch verhandeln – in Gang gesetzt und nach Maßgabe der Subjektivität der Co-Produzenten bearbeitet wird. Ein Beispiel dafür, wie sich in einer Forschungsbeziehung Unbewusstes inszeniert, gibt Christine Morgenroth (2010a). Sie schildert eine Interviewsituation aus einem Forschungsprojekt über die Therapie von suchtabhängigen Jugendlichen. Die Interviewerin berichtet in ihrem Feldprotokoll davon, dass die Interviewte im Interview „wortkarg, einsilbig“ gewesen sei und nur „sehr knappe Antworten auf klare Fragen gegeben habe“ (Morgenroth 2010a, S. 47). Das Interview bestehe, so hält die Interviewerin fest, nur aus grauenvoll „langen Pausen“ und quälenden „schwarzen Löchern“. Die Forscherin selbst erlebt sich als „grottenschlechte Interviewerin“ und wird von schweren Insuffizienzgefühlen gegenüber der jugendlichen Interviewten geplagt, weil sie diese im Interview mit ihren Fragen bedrängt habe (Morgenroth 2010a, S. 47). Es sind diese „schwarzen Löcher“ im Interview, die sich während der tiefenhermeneutischen Auswertung als bedeutungsvolle Zugänge zu einer latenten Sinnschicht des Interviews erweisen, da sich in ihnen eine unbewusste Szene aus der Biografie der Interviewten in der Forschungsbeziehung zu der Interviewerin reinszeniert (Morgenroth 2010a, S. 60): Die Interviewpartnerin war in ihrer Kindheit und Jugend schwerer Deprivation (Gleichgültigkeit und Vernachlässigung seitens der Eltern) sowie körperlicher und sexueller Gewalt ausgesetzt, die zu Ängsten und unerträglichen Gefühlen der Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und zu Wut geführt hatten. Diese Gefühle, so interpretierten die Forschenden, wehrte die Interviewte ab (De-Symbolisierung) und gestaltete stattdessen „sprechende Szenen“ wie Schulab-
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sentismus, selbstverletztendes Verhalten und eben die Drogenabhängigkeit (Morgenroth 2010a, S. 63). Die schwarzen Löcher in der Forschungsbeziehung stellen einen „direkten Zugang“ (Morgenroth 2010a, S. 63) zu einem sprachlosen, gleichwohl in der Forschungsbeziehung szenisch artikulierten Aspekt der Biografie der Interviewpartnerin dar: In den schwarzen Löchern der Forschungsbeziehung „entfaltet sich die Gewalt, die sie erfahren hat [. . .], mit der sie in ihrem Leben kämpft, wie bei einer Kaskade auch in jeder Stufe der Begegnung mit ihr“ (Morgenroth 2010a, S. 64). Um diese schwarzen Löcher in der Forschungsbeziehung als Träger latenter Bedeutungen aufzuspüren, bedient sich die Tiefenhermeneutik einerseits einer feinfühligen akribischen Auseinandersetzung mit den Forschungsmaterialien (s. Abschn. 4.3) und andererseits dem szenischem Verstehen (s. Abschn. 4.2, 4.4, 4.5, 4.6).
4.2
Auswertung in und mit Interpretationsgruppen
Tiefenhermeneutische Interpretationen können von einem Interpreten bzw. einer Interpretin allein durchgeführt werden. Es gibt aber gute Gründe, dies eher in Interpretationsgruppen zu tun. So pendelt eine tiefenhermeneutische Auswertung zwischen einer genauen regelgeleiteten Lektüre des Forschungsmaterials (s. unten Abschn. 4.3) und einer Beachtung des gruppendynamischen Prozesses, der in einer Interpretationsgruppe abläuft. Die Irritationen (s. unten Abschn. 4.5), die dabei (einschließlich der sie begleitenden Affekte und konflikthaften Verständnisschwierigkeiten) entstehen, sind zweifach: Interpret/innen irritiert der Text, aber auch die Art und Weise, wie sie selbst und die anderen Interpret_innen mit ihm umgehen. Mit Morgenroth (2010b; König 2008, S. 557, 564) lassen sich die Reaktionen der Interpret/innen mit aller Vorsicht, was die Übernahme klinischer Begriffe betrifft, als Gegen-Übertragung3 bezeichnen. Mit diesem Begriff sind die inneren Reaktionen der Forscher/innen auf unbewusste Bedeutungen in der Forschungsbeziehung und latente Sinnschichten im Text bezeichnet, wie sie in „Phantasien, Stimmungen, Verhaltensweisen, Einstellungen“ (Ehrmann 2002, S. 227) aber auch in Affekten, Denk- und Beziehungsmustern und Konflikten während der Auswertung, d. h. in der Interpretationsgruppe der Forschenden zeigen (Morgenroth 2010b, S. 277). Werden 3
Mit dem Begriff der Gegenübertragung wird ein unbewusster Aspekt der Interaktion zwischen Psychoanalytiker/in und den Patient/innen bezeichnet. Der Begriff beschreibt, dass Psychoanalytiker/innen unmittelbar und direkt auf die Übertragungen der Patient/innen reagieren (i. S. v. Zuschreibung von Rollen und Imagines, von Wünschen und Gefühlen aus der Kindheit der Patient/innen an den/die Psychoanalytiker/in). Devereux definieren die Gegenübertragung als die „Summe aller Verzerrungen, die im Wahrnehmungsbild des Psychoanalytikers von seinem Patienten und in seiner Reaktion auf ihn auftreten. Sie führen dazu, daß er seinem Patienten antwortet, als sei er eine von dessen frühkindlichen Imagines und sich in der analytischen Situation verhält, wie es seinen eigenen – gewöhnlich infantilen – unbewussten Bedürfnissen, Wünschen und Phantasien entspricht“ (Devereux 1967, S. 64).
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diese Reaktionen ernst genommen und mit Vorsicht reflektiert, können sie Aufschluss über eine latente Sinnschicht des Forschungsmaterials geben. Eine Interpretationsgruppe lässt sich so als ein Resonanzraum für die Wirkung latenter Bedeutungen verstehen, die im Material verborgen sind. Unter wissenschaftliche Ansprüche gestellt, ergibt sich daraus ein Darstellungsproblem: Da der Erkenntnisprozess in einer tiefenhermeneutischen Interpretationsgruppe systematisch die Reflexion der Subjektivität der Forschenden, ihre Beziehungen untereinander und die Dynamik der Interpretationsgruppe einbezieht, sind diese Phänomene offenzulegen. Denn nur dann, wenn „Tiefenhermeneuten [. . .] bereit sind, die Selbstanalyse ihrer eigenen Erlebnisstruktur zu enthüllen, über die vermittelt sie den [. . .] Text deuten und begreifen, erreicht das Verfahren eine Transparenz, die eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit gewährleistet und begründet Einspruchsmöglichkeiten bietet“ (Haubl 1993, S. 223; Steinke 2000). Für einen erkenntnisförderlichen Interpretationsprozess erscheint es obligatorisch, dass eine Interpretationsgruppe möglichst heterogen (aber nicht zu heterogen) zusammengesetzt ist. Denn gerade in einer pluralistischen Gesellschaft, wie es moderne Gesellschaften sind, ist nicht damit zu rechnen, dass alle Individuen dieselben Lebensentwürfe und Lebenspraxen bzw. dieselben Normalitätsannahmen teilen. Sind Interpretationsgruppen heterogen zusammengesetzt, kann es zu erkenntnisproduktiven Konflikten kommen, die darin bestehen, dass unterschiedliche Lesarten auf unterschiedliche Annahmen zurückzuführen sind. Als Erkenntnisgewinn wird dabei deutlich, dass Wert- und Normenkonflikte als Interpretationskonflikte in Erscheinung treten können. Hinzu kommt, dass Bewusstheit und Unbewusstheit unter den diversifizierten Interpret/innen ungleich verteilt sind: Was sich die einen kaum zu denken wagen, ist für andere eine Selbstverständlichkeit. Interpretationsgruppen sind freilich nur dann die via regia zur Beantwortung von Forschungsfragen, die bei ihrer Beantwortung mit unbewussten Bedeutungen rechnen, wenn sie – analog zum szenischen Interview – als Gruppen gestaltet sind, in denen auch frei assoziiert bzw. freimütig interagiert werden darf. Hierarchisch organisierte Gruppen verhindern dies (Allert et al. 2014; Reichertz 2013).
4.3
Regelgeleitete Lektüre
Die Arbeit mit Transkripten in einer Interpretationsgruppe stellt den Kern des tiefenhermeneutischen Auswertungsprozesses dar. Hierbei lassen sich unter tiefenhermeneutisch arbeitenden Wissenschaftler/innen jedoch verschiedene Formen finden. In Orientierung an König soll während der Lektüre4 des Transkripts eine Haltung 4
König fordert für die tiefenhermeneutische Arbeit mit Kulturprodukten wie Filmen, dass der Text „in der Umgangssprache so lebendig nacherzählt wird“, dass man ihn sich „bildhaft vorstellen kann“ (König 2000, S. 562). Für die Arbeit mit qualitativen Forschungsmaterialien hat es sich bewährt, die Sequenzen, denen sich die Interpretationsgruppe zuwenden will, szenisch zu lesen, d. h. laut und mit verteilten Rollen (Hollway und Volmerg 2010, S. 2).
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„gleichschwebender Aufmerksamkeit“ eingenommen werden. Andererseits hält man sich an „Freuds Regel der freien Assoziation und überlässt es den Einfällen auf welche Interaktionsszene [auf welche Sequenz des Transkripts.] sich die gleichschwebende Aufmerksamkeit richtet“ (König 2000, S. 563).5 Dieser Kern tiefenhermeneutischen Arbeitens, auf den wir weiter unten (Abschn. 4.4) näher eingehen, ist von Leithäuser et al. (1983) und weiterführend Morgenroth (1990, 2010a, b), Hollway und Volmerg (2010) sowie Salling Olesen und Weber (2012) in ein mehrstufiges Analyseverfahren für empirische Forschungsdaten eingeordnet worden. Dieses lehnt sich an die Verstehensoperationen an, die Lorenzer (1970a) für den psychoanalytischen Erkenntnisprozess unterscheidet: logisches, psychologisches und szenisches Verstehen. Zunächst richtet sich die Aufmerksamkeit auf den manifesten Text: Was genau wird in einem Interview gesagt (logisches Verstehen)? Hierbei geht es um „eine möglichst genaue Beschreibung dessen, was und worüber gesprochen wird“ (Morgenroth 1990, S. 41). Forschende wenden sich intensiv dem manifesten Text und Sinn zu und rekonstruieren ihn im Sinne einer sehr genauen Nacherzählung. Wichtig ist dieser erste Schritt, weil Interviews verschriftete gesprochene Alltagssprache sind. Viel weniger als bei einem geschriebenen Text liegt es hier eben nicht unmittelbar auf der Hand, was und worüber die Interviewten sprechen. „Sätze werden begonnen und dann abgebrochen, die Bezüge sind häufig nicht eindeutig, weil gar nicht verbal expliziert, Gedanken werden zunächst aufgegriffen, dann umdefiniert und am Ende doch nicht weiter verfolgt – und trotzdem fließt der Kommunikationsprozess weiter, verstehen sich die Teilnehmer untereinander.“ (Morgenroth 1990, S. 41)
Ziel ist es, die bearbeitet Interviewpassage in eigenen Wort wieder zu geben und zu beschreiben, was der/die Interviewe und der/die Interviewende mit dem Gesagten gemeint haben könnte. Festgehalten werden so auch Brüche und Inkonsistenzen des Textes, die durch den ersten Schritt der Analyse deutlich hervortreten. Zielt das logische Verstehen auf das wörtlich gesagte, so nimmt die zweite Form des Verstehens die Interaktion zwischen Forschenden und Beforschten sowie die emotionale und die affektive Ebene des Transkripts in den Blick: Wie wird gesprochen? Einerseits wird das Interviewtranskript darauf hin analysiert, wie der/die Interviewer/in und der/die Interviewee gemeinsam bewusst und unbewusst die For-
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Freie Assoziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit sind Kernbegriffe aus dem Vokabular der psychoanalytischen Behandlungstechnik, die häufig als methodische Grundregeln bezeichnet werden. Freie Assoziation meint, dass der/die Patient/in aufgefordert wird, „möglichst frei und ungehindert seinen Einfällen, Gedanken und Phantasien zu folgen bzw. diese frei zu äußern. ‚Frei‘ heißt in diesem Zusammenhang vor allem der Verzicht auf solche bewussten Wertungen und/oder Kritik auf Seiten des Analysanden, die im Alltagsdiskurs normalerweise zum Auslassen oder Verschweigen eines Einfalls führen würden. Mit der ‚gleichschwebenden Aufmerksamkeit‘ als der komplementären Aktivität auf Seiten des Analytikers, verweist die freie Assoziation dabei gleichzeitig auf den Kanon von Regeln, der – die Haltung des Analytikers betreffend – dessen Verzicht auf Wertungen und Kritik den Einfällen des Analysanden wie denen eigenen gegenüber beinhaltet“ (Hölzer 2010 [2002], S. 205–206).
Tiefenhermeneutik
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schungsbeziehung gestalten (Hollway und Volmerg 2010, S. 3). Andererseits richtet sich die Frage, wie wird gesprochen, auf die emotionale Tönung des Interviews. Hierbei geht es weniger um die Forschungsbeziehung, sondern um „the speakers relationship to the objects that he or she ist talking about“ (Hollway und Volmerg 2010, S. 3). Um latente Bedeutungen zu erfassen, die im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses der Tiefenhermeneutik stehen, reichen diese Operationen aber nicht aus. Lorenzer hat sie durch eine dritte Operation ergänzt: das szenische Verstehen. Dem szenischen Verstehen traut er zu, die Barriere zu überwinden, die unbewusste Erlebnisinhalte von bewussten trennt. Szenisches Verstehen ist ein klinischer Begriff, unter dem Lorenzer (1970a, S. 79) den Erkenntnisprozess notiert, mit dem Psychoanalytiker/ innen die Schwelle zum Verstehen des Unbewussten ihrer Patient/innen überschreiten. „Das szenische Verstehen vermag“, so König (2000, S. 560), „verdrängte Lebensentwürfe bewusst zu machen, weil der Analytiker die Mitteilung des Analysanden über die sich zwischen ihnen szenisch entfaltende Beziehungssituation erschließt, wie sie sich im Zusammenspiel von Übertragung und Gegenübertragung entfaltet.“ Bezogen auf die Analyse von Text wird szenisches Verstehen verbunden mit der Frage, warum so gesprochen wird, wie gesprochen wird. Eine reine Analyse des (manifesten) Textes ist jedoch für szenisches Verstehen nicht ausreichend. Es wird die Subjektivität der Forschenden in Analogie zum szenischen Verstehen in der psychoanalytischen Klinik fokussiert und eine Reflexion der Wirkung des Textes in die Auswertung einbezogen (Salling Olesen und Weber 2012, Abs. 55).
4.4
Wirkungsanalyse
Ein entscheidender Schritt der tiefenhermeneutischen Auswertung besteht darin, den zu interpretierenden Text sinnlich und emotional nachzuerleben. Denn die Tiefenhermeneutik rekonstruiert die im Text enthaltenen latenten Sinnschichten über die Wirkung, die dieser während der Lektüre – durch eine Person oder eine Interpretationsgruppe (s. Abschn. 4.2) – entfaltet. Tiefenhermeneutik ist eine „Wirkungsanalyse“ (Busch 2001, S. 35). Als solche fragt sie: Was löst der Text in mir aus? Welchen Einfluss hat der Text auf mich? Welche mehr oder weniger konflikthaften Beziehungen stößt er in der Interpretationsgruppe an? Es geht um ein „Sich-Einlassen auf die Wirkung dessen, was man verstehen möchte“ (Lorenzer 1986, S. 77). Entlang freier Assoziationen formulieren die Interpret/innen sukzessive Lesarten, die sie – bis auf Weiteres – für gültig erachten. Ein Beispiel für eine nacherlebende Anteilnahme findet sich ebenfalls bei Morgenroth: In dem bereits erwähnten Projekt schildert sie eine Situation aus einer Interpretationsgruppe, die ein Interview mit einer suchtkranken Jugendlichen auswerteten und dabei immer wieder von einer hoffnungslosen Traurigkeit ob der schweren Geschichte des Jugendlichen überwältigt wurden. Die Interpret/innen assoziierten wiederholt „Rettungsboote und Rettungsringe“, die sie dem Jugendlichen „zuwerfen wollten und an die er sich in seiner Verzweiflung klammern konnte“
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(Morgenroth 2010a, S. 56). Über diese Assoziationen zu dem Interview, so ist Morgenroth zu verstehen, gelingt eine nacherlebende Anteilnahme an der Geschichte der interviewten Jugendlichen. Diese ermöglichte es der Interpretationsgruppe, erste Lesarten zu entwickeln, die sich im Kontext der Analyse des manifesten Textes als rekonstruktiver Zugang zu der Biografie der Interviewten erweist: „Tatsächlich blieb seine verzweifelte Suche nach Rettern durch alle Interviews hindurch konstant, ebenso wie seine Enttäuschungserlebnisse mit diesen Rettern“ (Morgenroth 2010a, S. 56). Die Interpret/innen finden so mit ihrer Assoziation Worte und Bilder (Rettungsbote und -ringe), die „nicht als eine Wahrheit über den Fall misszuverstehen“ sind, sondern „bestenfalls als Wegweiser“ zu nicht oder de-symbolisierten Anteilen der Lebensgeschichte des Interviewpartners (Morgenroth 2010a, S. 55–56).
4.5
Irritationen zulassen und aufklären
Für Lorenzer führt der Weg von den manifesten zu den latenten Bedeutungen über Irritationen und deren Aufklärung. Irritationen resultieren aus dem Widerspruch zwischen den Vorannahmen der Interpret/innen und dem Material, das sie auswerten. Um die Frage, was eine Irritation ist zu erhellen, sei noch einmal eine „Freud’sche Fehlleistung“ bemüht, wie sie etwa in dem bekannten Beispiel eines Prokuristen vorliegt, der seinen Rechenschaftsbericht mit den Worten beginnt: „Dann aber sind Tatsachen zum Vorschwein gekommen . . .“ (Freud 1901, S. 65). Die Irritation besteht in einer Abweichung von der Annahme, dass der Sprecher sich an die Sprachregeln seiner Sprachgemeinschaft hält. Diese Abweichung kann der Sprecher gewollt begehen. Ein Freud´scher Versprecher liegt jedoch dann vor, wenn er sie nicht nur nicht bemerkt, sondern, darauf hingewiesen, auch leugnet. Und kann er sie nicht länger leugnen mit der Bemerkung abtut, sie „nicht gewollt“ zu haben. An dieser Stelle greift die tiefenhermeneutische Interpretationsregel, die nicht zwischen „gewollt“ und „ungewollt“ unterscheidet, sondern zwischen „bewusst intendiert“ und „unbewusst intendiert“. Dem Sprecher wird unterstellt, dass er sich über seine Intentionen täuscht: Er wollte eine bedeutsame Aussage machen, vor der er jedoch gleichzeitig zurückgeschreckt ist, weil er dann Sanktionen befürchtet. Im Konflikt zwischen dem Anspruch, die Wahrheit zu sagen und der Angst vor drohenden Sanktionen wählte der Sprecher eine Äußerung, die beidem – dem Wahrheitsanspruch und der Angst – gleichzeitig gerecht zu werden versucht. Dieser Konflikt schlägt sich als verbaler Kompromiss nieder, der aus den zwei regulären Worten „Vorschein“ und „Schwein“ gebildet ist. Diese Kompromissbildung erlaubt ihm, anzudeuten, dass er über eine „Schweinerei“ berichten möchte, ohne dies tatsächlich tun zu müssen. Unbewusst intendiert er eine wahre Aussage, die er, wird es kritisch, leicht als bewusst nicht-intendiert ausgeben kann, wobei es ihm hilft, dass der Neologismus „Vorschwein“ wie ein reguläres deutsches Wort klingt. Denn dadurch fällt es auch den Zuhörerenden schwer zu bemerken, was wortwörtlich geäußert worden ist. Der Neologismus wird schlichtweg überhört. Und wer ihn nicht
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überhört, steht nun selbst vor der Aufgabe, zur Sprache zu bringen, was Sache ist, sich dabei aber dem Vorwurf auszusetzen, nicht der Sprecher, sondern der/die Zuhörende habe ein Interesse daran, den bedeutungslosen Versprecher zum eigenen Vorteil zu nutzen. Nicht alle Irritationen kommen allerdings wie bei Freud’schen Versprechern als syntaktische, semantische und pragmatische Abweichungen von sprachlichen Vorannahmen zum Ausdruck, auch wenn eine überzeugende Rekonstruktion verlangt, sie am Text zu belegen. Irritationen treten ebenso auf, wenn die eigenen Vorannahmen darüber, was soziokulturell als „normal“ gilt, auf Äußerungen treffen, die erkennen lassen, das davon abweichende Gefühle, Vorstellungen und Handlungsbereitschaften für normal gehalten werden. Ein Beispiel für diese Form der Irritation findet sich in einer Sekundäranalyse von Gruppendiskussionen mit Jugendlichen aus den 1950er-Jahren. Einer der Diskutanten spricht davon, dass er als Deutscher in einem „amerikanischen KZ“ war und dort „von Juden gelyncht“ wurde (Lohl 2014, S. 208). Die soziokulturelle Vorannahme des Forschers bestand darin, dass es Konzentrationslager in Deutschland während der NS-Zeit gab, in der Menschen in deutschen Uniformen Juden ermordeten und nicht Juden Deutsche in einem amerikanischen KZ lynchten. Aus der Unterscheidung der historisch spezifischen Vorannahme des Forschers und der Formulierung im Transkript ergab sich bereits beim Lesen ein spürbare Irritation, die sich während der Interpretation erkenntnisproduktiv wenden ließ: Der manifeste Bedeutungsgehalt dieser Passage besteht darin, eine Differenz von Juden und Deutschen zu betonen. Diese Differenz auf der manifesten Bedeutungsebene, so ließ sich rekonstruieren, wird durch eine latente Bedeutungsebene unterlaufen, auf der die diskutierenden Jugendlichen die Vorstellungen von Juden und NS-Täterschaft zu einer einzigen Vorstellung einer ‚jüdischen NS-Täterschaft‘ verdichtet. „Es ist diese unbewusste Identität [. . .], die in der Rede vom ‚amerikanischen KZ‘ [. . .] in den manifesten Text einbricht“ (Lohl 2014, S. 213; Herv. d. A.). In Irritationen treffen während des Forschungsprozesses unterschiedliche Lebensentwürfe und Lebenspraxen aufeinander. Dieses Aufeinandertreffen wird über deren Vergleich erkenntnisproduktiv. Indem Interpret/innen textvermittelt auf Gefühle, Vorstellungen und Handlungsbereitschaften treffen, die sie nicht routiniert normalisieren können, sodass sie ihnen fremd bleiben, erhöht sich auch ihr Bewusstsein für die Kontingenz dessen, was sie selbst für wahr und richtig halten. Es sei denn, sie müssen diese Kontingenzerfahrung abwehren, weil sie es nicht ertragen, derart relativiert zu werden. Um Irritationen theoretisch zu sortieren, lassen sich drei Verstehensoperationen zuordnen, die in der Tiefenhermeneutik unterschieden werden: „Beim logischen Verstehen als Widersprüche, Ungereimtheiten oder Lücken; beim psychologischen Verstehen als komische, verwirrende oder unangebrachte Gefühle und Handlungsimpulse; beim szenischen Verstehen als Eindruck in eine merkwürdige Inszenierung oder ein seltsames Drama verstrickt zu sein, aus dem man sich nicht so einfach verabschieden kann.“ (Klein 2013, S. 272; Herv. d. A.)
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Für die Forschungsarbeit bedeutet dies, dass die Aufmerksamkeit der Forschenden für Irritationen sich nicht nur auf das Material (draußen) richtet, sondern gleichsam immer auch auf die eigene Person. Irritationen werden nicht (immer) so, „wie mit einer Lupe“ gefunden, sondern durch Introspektion, den sensiblen Blick auf die psychische Wirkung des Textes, auf seine Resonanz in den Forschenden selbst. Diese Resonanz ernst zu nehmen und sie nicht als Wahrheit über den Text zu verstehen, sondern als eine Art Wegweiser zu einer Einsicht in eine latente Sinnschicht, ist der bedeutendste, wenngleich am schwierigsten zu erlernende Schritt tiefenhermeneutischen Arbeitens.6
4.6
Inszenierungen verstehen
Der von Irritationen ausgehende Erkenntnisprozess kommt freilich nur in Gang, wenn Interpret/innen über eine hinreichende Sensibilität für Abweichungen verfügen, mithin den zu interpretierenden Text in gleichschwebender Aufmerksamkeit rezipieren Diese Aufmerksamkeit hat zwei Richtungen, aus denen die Irritationen kommen: Aufmerksamkeit der Interpret/innen für den Text und deren Aufmerksamkeit für die eigene Person beim Lesen des Textes. Dieser Prozess einer doppelten Sensibilität ist für alle Daten, die für die Beantwortung einer Forschungsfrage erhoben werden, dieselbe. Werden qualitative Interviews gewählt, dann kann man ihm entgegenkommen, indem man die Interviews von vornherein als „szenische Interviews“ (Wolf 1981) anlegt. Damit ist eine Interviewform gemeint, die in mancher Hinsicht psychoanalytischen Erstinterviews gleicht. Auch wenn die Forschungsfrage bestimmte Themenkomplexe vorgibt, werden sie nicht linear abgearbeitet. Das Interview bietet vergleichsweise wenig Struktur, weshalb Interviewte gefordert sind, ihre Erzählung selbst zu strukturieren. Zudem bietet diese Interviewform genug Raum, um nicht nur zu sprechen, sondern „sprechende Szenen“ (vgl. das Beispiel in Abschn. 4.1) in der Forschungsbeziehung (mit-)zu gestalten. Symboltheoretisch betrachtet gewinnen damit präsentative Interaktionsformen gegenüber diskursiven Interaktionsformen an Relevanz. Unter den verschiedenen Verstehensoperationen bietet das szenische Verstehen einen privilegierten Zugang zu den Inszenierungen, die im szenischen Interview stattfinden. Anzumerken ist dabei, dass sich nicht allein die Interviewten in Szene setzen, sondern auch die Interviewer/innen. Inszenierungen sind stets deren gemeinsame Kreation.
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Wie verhält es sich mit den Voraussetzungen für tiefenhermeneutisches Arbeiten? Tiefenhermeneutik ist ein Verfahren der Textanalyse, das sich erlernen lässt und das praktisch gelernt werden muss. Eine psychoanalytische (klinische) Ausbildung qualifiziert für diese Praxis nicht mehr oder weniger – Selbsterfahrung sicherlich schon und eine Ausbildung in qualitativen Forschungsmethoden und -praxen ist unerlässlich. Die vermutlich am weitesten verbreitete Form des Erlernens tiefenhermeneutischen Arbeitens ist – wie bei anderen Auswertungsverfahren auch – die Mitarbeit in einer bestehenden Interpretations- oder Forschungsgruppe.
Tiefenhermeneutik
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Szenisches Verstehen nutzt den Sachverhalt, dass Sprechen immer auch Handeln ist, mit dem Menschen einander beeinflussen. Es folgt der Frage, wer versucht mit welchen Mitteln was beim Gegenüber zu erreichen (oder zu verhindern). Anders formuliert und auf die Forschungssituation bezogen: Wer versucht, wen in welche Rollen zu drängen? In welche Rolle werden die Interviewer/innen von den Interviewten und die Interviewten von den Interviewer/innen gedrängt? Wie gehen beide Seiten damit um? Von welchen – unausgesprochenen – Fantasien lassen sie sich dabei leiten? Welche Szene entsteht und was hat diese Szene mit der Forschungsfrage zu tun?
5
Ausblick: Stand und Perspektiven
Tiefenhermeneutik ist ein anerkanntes Auswertungsverfahren der qualitativen Forschung – in einschlägigen (deutschsprachigen) Handbüchern und auf entsprechenden wissenschaftlichen Kongressen vertreten. Es gibt überregionale und zum Teil internationale Forschungswerkstätten, die tiefenhermeneutisch arbeiten (www.tiefen hermeneutik.org; www.internationalresearchgroupforpsychosocietalanalysis.com). Mit der Tiefenhermeneutik wurde seit ihrer methodologischen und methodischen Begründung in unterschiedlichen Anwendungsfeldern und wissenschaftlichen Disziplinen gearbeitet. Die folgende Darstellung ist unvollständig und durch eigene Forschungs- und Erkenntnisinteressen geprägt. Sie wäre zu ergänzen. a) Politische Psychologie und Sozialpsychologie (z. B. Heinzel 1996; Klein 2003; König 2008; Leithäuser et al. 1983) b) Rechtsextremismus- und Antisemitismusforschung (z. B. König 2006, 2018b; Lohl 2014, 2017a, b; Menschik-Bendele und Ottomeyer 1998; Salzborn 2010) c) Arbeits- und Organisationsforschung (z. B. Berg 2018; Dynbbroe 2012; EggertSchmidt Noerr 1991; Lacher 2018; Leithäuser und Volmerg 1988; Morgenroth 1990, 2012; Tietel 2000; Weber 2012) d) Historiografie, Generationen- und Gedächtnisforschung (z. B. Lohl 2014; Lohl und Winter 2018; Marks 2007; Rothe 2009 Warnken 2018); e) Erziehungswissenschaften und Kindheitsforschung (z. B. Belgrad und Fingerhut 1998; Dörr und Würker 2008; Haubl 2010; Hollway und Frogett 2012; König 2014, 2018) f) Kultur- und Medienwissenschaften (z. B. Haubl 1992 und 1995; König 1998; Prokop 2008, 2009; Stach 2006; Uhlig 2018; Würker 2007) g) Therapie- und Beratungsforschung (z. B. Burgermeister 2018; Lohl 2013, 2015; Morgenroth 2010a) In den vergangenen Jahren sind im Anschluss an die Bedeutung des szenischen Verstehens für eine psychoanalytisch orientierte Sozialforschung Publikationen vorgelegt worden, die diese Verstehensform mit anderen rekonstruktiven Verfahren der Sozialforschung, etwa der objektiven Hermeneutik oder der dokumentarischen Methode, zu verbinden suchen (Bereswill 2003; Kerschgens 2007; Schwarz 2010).
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Eine Begründung, diese Verbindung voranzutreiben, findet sich bereits bei Freud: Erinnert sei daran, dass er eindringlich für einen disziplinären Transfer der psychoanalytischen Methode in sozial- und kulturwissenschaftliche Bereiche geworben hat. Allerdings betont er, dass sich andere Disziplinen bei einem solchen Transfer darauf verstehen müssten, „das ihnen zur Verfügung gestellte neue Forschungsmittel selbst zu handhaben“ (Freud 1926, S. 283, Herv. d. A.). Freud macht deutlich, dass nicht die Psychoanalyse oder die Psychoanalytiker/innen sich zu den verschiedensten Themen zu äußern hätten, dass vielmehr die psychoanalytischen Forschungsmittel von den Vertreter/innen der jeweils anderen Disziplin – hier Sozialwissenschaftler/ innen – angeeignet werden müssten. Aus dieser Perspektive wäre das tiefenhermeneutische Auswertungsverfahren stärker als bislang von seinem klinischen Vorbild zu lösen und mit genuin sozialund kulturwissenschaftlichen Theorien und Methoden zu konfrontieren (Kvale 2001). Die Irritationen der je eigenen wissenschaftlichen Vorannahmen, die dies zur Folge haben kann, wären vermutlich erkenntnisproduktiv.
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Objektive Hermeneutik Detlef Garz und Uwe Raven
Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Zur Methodologie als Begründung der Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Objektive Hermeneutik als Kunstlehre wissenschaftlich-methodischen Arbeitens . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
580 582 589 597 598
Zusammenfassung
Die Darstellung der von Ulrich Oevermann im Zeitraum von über vierzig Jahren entwickelten objektiven Hermeneutik erfolgt in zwei Schritten. Zunächst geht es um methodologische Überlegungen, die dazu dienen, die Methode zu fundieren. Dazu werden die begrifflichen Zusammenhänge von Erfahrung und Erkenntnis, Rekonstruktion und Sequenzialität und von sinnstrukturierter Wirklichkeit und objektivem Sinn entfaltet. Im zweiten Teil der Ausführungen wird die objektive Hermeneutik als Kunstlehre wissenschaftlich-methodischen Arbeitens skizziert. Es geht dabei sowohl um die Akteur/innen als auch vor allem um die konkreten Vorgehensweisen und leitenden Prinzipien der Rekonstruktionsarbeit. Eine kurze Schlussbemerkung widmet sich den potenziellen Einsatzstellen der objektiven Hermeneutik.
An einigen Stellen dieses Artikels greifen wir auf Überlegungen zurück, die schon an anderen Stellen veröffentlicht wurden (Garz 2009; Garz und Raven 2015; Raven 2016). D. Garz (*) · U. Raven Johannes Gutenberg Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_60
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580
D. Garz und U. Raven
Schlüsselwörter
Rekonstruktive Sozialforschung Sequenzialität Regelgeleitetheit Lesartenbildung Sinnstruktur Strukturgesetzlichkeit
1
Einleitung
Historisch betrachtet resultiert die Entwicklung der objektiven Hermeneutik aus einem Forschungsprojekt des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, das in den Jahren von 1968 bis 1977 unter dem Namen Elternhaus und Schule durchgeführt wurde und herausfinden sollte, was den Erfolg oder Misserfolg von Kindern in der Schule herbeiführt bzw. bestimmt. Es ging dementsprechend darum, die Prozesse der Sozialisation dort anzuschauen, wo sie real stattfinden, also in Schulen und vor allem in Familien. Es wurden Daten in situ generiert – so z. B. in den Wohnungen durch Tonbandmitschnitte der familialen Interaktion – deren Komplexität bis dato angewandte quantitative Auswertungsverfahren zum Scheitern verurteilte. Es stellte sich die Kardinalfrage: Wie wertet man jetzt diese unglaubliche Menge von verschrifteten Tonbandaufnahmen aus? – und zwar „nicht nach vorgefassten Kategorien und Variablen“ (Oevermann 2017), sondern ergebnisoffen. Für Oevermann und seine Mitarbeiter/innen bestand die Antwort auf diese Problemstellung darin, ein neues, auf die komplexen Vorgaben aus den Familienbeobachtungen ausgerichtetes Verfahren zu entwickeln. Dieses Verfahren ist heute unter dem Begriff der objektiven Hermeneutik bekannt und versteht sich als Analyseverfahren, das auf jegliche Ausprägungen einer sozialen Praxis Anwendung finden kann. So auch z. B., wenn es um die Rekonstruktion Krisen erzeugender, psychopathologischer Handlungsmuster im Falle einer Angststörung geht. Dieses von Ulrich Oevermann über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren (Oevermann 2016) weiterentwickelte Verfahren ist als eine Methodologie der „Erfahrungswissenschaften von der sinnstrukturierten Welt“ (Oevermann 2013, S. 71) schlechthin zu verstehen. Sie erschließt Lebenspraxis in all ihren Ausdrucksformen, d. h. „alle sozialen Gebilde [seien es Einzelpersonen oder Personengruppen], die selbst Entscheidungen über ihr Schicksal treffen müssen“ (Oevermann 2013, S. 77); wobei unter dem Begriff der objektiven Hermeneutik wiederum drei Konzepte schlüssig zusammengefasst werden: 1. eine sozialwissenschaftliche Theorienbildung (diese kann hier nicht ausgeführt werden; s. hierzu Garz und Raven 2015); 2. eine entsprechende Methodologie/Methodik als Begründung der Methode1 sowie 3. eine „Kunstlehre“ wissenschaftlich-methodischen Arbeitens.
1
Oevermann betont ausdrücklich, dass er den von ihm entwickelten Ansatz nicht unter die Rubrik der qualitativen Sozialforschung einordnen will. Zum einen scheint ihm die Gegenüberstellung von quantitativer und qualitativer Forschung nicht haltbar. Noch wichtiger ist für ihn jedoch zum anderen die Unterscheidung, ob Wissenschaften ihre Forschung unter vorgegebene Standards (z. B. Kodierungen) subsummieren oder, wie die objektive Hermeneutik, von Rekonstruktionen ausgehen (Oevermann 2013, S. 69–70). Insofern unterläuft auch der Begriff der Interpretation bzw.
Objektive Hermeneutik
581
Im Sinne eines die Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften übergreifenden Paradigmas, in dem die „verwendeten Methoden jeweils vom Gegenstand her begründet werden können“ (Oevermann 2013, S. 77), bedeutet dies, dass dasjenige, das eine Praxis ausmacht, also konstituiert, sowohl theoretisch bestimmt als auch methodologisch unterfüttert und forschungspraktisch angeleitet erschlossen wird. Im Mittelpunkt dieser Analyse stehen latente Sinnstrukturen, „also jene abstrakten [. . .] Konfigurationen und Zusammenhänge [. . .], die in ihrem objektiven Sinn durch bedeutungsgenerierende Regeln erzeugt werden und unabhängig von unserer je subjektiven Interpretation objektiv gelten“ (Oevermann 2004a, S. 102).2 Theorie und Methode bilden im Sinne eines bootstrapping, d. h. einer sich wechselseitig bindenden Verschnürung, die beiden Seiten einer Medaille. Insofern Praxis als Gegenstand der Theoriebildung durch ein System von Regeln konstituiert wird, ist es erforderlich, diese Regeln in ihrem Ablauf, also sequenzanalytisch, zu rekonstruieren. Dies kann nicht anders geschehen als durch die Inanspruchnahme einer intuitiven Regelkompetenz, über die wir als Erwachsene immer schon verfügen und die wir auf der Ebene der Forschung „durch [unsere] methodisch explizite Auslegung [. . .] realisieren“ (Oevermann 2004b, S. 202). Es sind also genau diejenigen Regeln, die Praxis erzeugen, die wir auch zu ihrer Entschlüsselung in Anspruch nehmen. Die Sequenzanalyse schmiegt sich unmittelbar an die Lebenswirklichkeit an, so wie diese in einem Protokoll dieser Wirklichkeit zum Ausdruck kommt (Oevermann 2004b, S. 203).3
der interpretativen Sozialforschung das Anliegen der objektiven Hermeneutik, da auch hier noch „ein Moment der Beliebigkeit im Vorgehen des Interpreten“ (Oevermann 2013, S. 97) enthalten ist. Die objektive Hermeneutik dagegen interpretiert nicht, sondern sie bestimmt präzise (Oevermann 2013, S. 95). Wenn im folgenden Text von Interpretation bzw. Interpretieren die Rede ist, geschieht dies vor dem Hintergrund dieses zugespitzt formulierten Anspruchs. Interpretation ist demgemäß immer als Rekonstruktion zu sehen, die Sachverhalte präzise – nur dem „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“ (Habermas 1971, S. 137) verpflichtet – bestimmt. 2 Um einem immer wiederkehrenden, wissenschaftstheoretisch motivierten Missverständnis an dieser Stelle früh zu begegnen: „Die Methodologie der objektiven Hermeneutik führt das zunächst befremdliche Epitheton objektiv nicht, weil sie im Wege einer unverschämten Selbsternennung sich für objektiv im Sinne der Vermeidung einer subjektiv bedingten Irrtumsbehaftetheit hielte, sondern weil sie bewußt auf eine eigenlogische empirische Realität von durch Regeln erzeugten objektiven Bedeutungsstrukturen bzw. – sofern es sich um komplexe Sinngebilde jenseits einzelner Äußerungen oder Äußerungselemente handelt – latenten Sinnstrukturen gerichtet ist und sich damit bewußt von einer Hermeneutik des Nachvollzugs subjektiv gemeinten Sinns humaner Lebensäußerungen absetzen will“ (Oevermann 2003a, S. 1). 3 Realität kann immer nur über Protokolle erschlossen werden, wenn kein Protokoll vorliegt, kann keine Rekonstruktion erfolgen. Insofern lässt sich die objektive Hermeneutik in ihrem wissenschaftstheoretischen Status als methodologischer Realismus (Oevermann 2013, S. 73–79) bezeichnen. Zum Begriff methodologischer Realismus Garz und Raven 2015, S. 168–169).
582
D. Garz und U. Raven
2
Zur Methodologie als Begründung der Methode
2.1
Konstitution von Erfahrung und Erkenntnis
Wir machen immer dann neue Erfahrungen und stoßen auf Erkenntnisse, wenn wir uns in einer Krise befinden, wenn wir also durch Umstände gezwungen sind, bisher geltende Routinen im Wissen und Handeln infrage zu stellen und das Krisenhafte bewältigende Antworten zu finden. Diese Überlegung stellt die Keimzelle sowohl der Theorie als auch der Methodologie der objektiven Hermeneutik dar. Dabei wird vor allem anhand des Begriffs der Prädizierung (das Bemühen, etwas zum Ausdruck zu bringen, es zu bestimmen, zu benennen) und den damit einhergehenden Phasen deutlich, dass jedwede Operation des (erkenntnisgenerierenden) Verstehens zugleich auf Sprache angewiesen ist. Die für die Einzigartigkeit der humanen Lebensform wesentliche Konstitution von Erfahrung (= ein Ereignis aufmerksam erlebt zu haben) und Erkenntnis (= ein Ereignis benannt und gedanklich verfügbar zu haben) durchläuft einen dreiphasigen Prozess, der mit dem Wahrnehmen eines krisenhaften Ereignisses beginnt und mit der vorläufig abgeschlossenen Verarbeitung des Ereignisses in Form einer Routine endet. Gedankenexperimentell lässt sich dies anhand eines einfachen Beispiels verdeutlichen. Es ist Nacht und S (Subjekt) schläft tief und fest. Ein plötzlich auftretendes lautes Geräusch, ein Knall, schreckt S auf. An Schlaf ist nicht mehr zu denken, weil die Ursache des Geräuschs, das Ereignis X, nicht unmittelbar bestimmt werden kann. In der ersten Verwirrtheit kann das Geräusch weder klar verortet noch einem klaren Ursache-Wirkungs- bzw. Grund-Folge-Zusammenhang zugeordnet werden. War es z. B. die Fehlzündung eines vorbeifahrenden Autos oder gar ein Schuss? Soll die unterbrochene Nachtruhe wiederhergestellt werden, muss S der Sache auf den Grund gehen. Es stellt sich heraus, dass der Wind die offen stehende Wohnzimmertür zugeschlagen hat. Mit der Bestimmung von X als zwar ärgerlicher, aber harmloser Ursache für das Aufschrecken aus dem Schlaf kann S wieder beruhigt zu Bett gehen und die unterbrochene Nachtruhe fortsetzen. Wäre allerdings nicht der Wind, sondern ein Einbrecher für die zugeschlagene Tür verantwortlich, müsste von einem Grund-Folge-Zusammenhang gesprochen werden, wie er für alle sozialen Ereignisse konstitutiv ist. – In der folgenden Argumentation ist das Subjekt S – im Sinne des US-amerikanischen Sozialpsychologen und Philosophen George Herbert Mead – als eine im sozialisatorischen Wechselspiel von „I“ (spontane, affektive Komponente der Persönlichkeit) und „Me“ (die von der Gesellschaft geprägte Seite der Persönlichkeit) entstehende, autonom handlungsfähige Person zu verstehen (Mead 1973 [1934]).4 4
Unter dem I, dem einen Pol bei der dialektischen Entstehung des Neuen, versteht George Herbert Mead die spontane, vorsoziale und kreative Instanz der Persönlichkeit (So sein, wie kein/e andere/r). Den anderen Pol sieht er im Me, das durch die Übernahme der organisierten Haltungen anderer und den durchlebten Erfahrungen des I entstanden ist. Das Me ist insofern als der von der Gesellschaft, der Sozialität, erzeugte Anteil der Persönlichkeit anzusehen (So sein, wie alle anderen) (Mead 1973 [1934]).
Objektive Hermeneutik
583
Wie kann der im Gedankenexperiment geschilderte Vorgang krisentheoretisch erklärt werden?5 Solange das Subjekt einen glatten (routinisierten) Handlungsverlauf durchlebt, weil die zu behandelnden Dinge bekannt und benannt (prädiziert) sind, befindet es sich gewissermaßen in einer Vorphase des Auftretens eines krisenhaften Ereignisses. Im Umkehrschluss heißt dies, „eine Krise tritt immer dann auf, wenn ein glatter Handlungsverlauf unterbrochen wird“ (Wagner 2004, S. 22). „Solange aber eine Krisenkonstellation nicht vorliegt und statt dessen die Praxis sich entlang ihrer eingelebten Routinen vollzieht, schlummert die Spontaneitätsinstanz des I, der eigentliche Lebendigkeits- und Subjektkern des menschlichen Lebens, und hat keinen Anlaß, in die Sicherung des Lebens einzugreifen. Es vertraut gewissermaßen auf die Rationalität der eingespielten Routinen und fühlt sich entlastet.“ (Oevermann 1999, S. 49)
Kommt es zu einer solchen Unterbrechung, bedeutet dies, etwas Unbekanntes – ein Gegenstand X – erzeugt einen Spannungszustand, der erst aufgelöst wird, wenn das Unbekannte durch Prädizierung zum Bekannten wird. Wenn in einer primären Phase die Erfahrung des Auftretens eines Handlungsproblems eingetreten ist, reagiert die sogenannte Spontaneitäts- und Kreativitätsinstanz des I mit ersten Prädizierungen auf das X. Es sind dies Spontanreaktionen des Lebendigkeitskerns des Subjekts, die sich, trotz der Flüchtigkeit ihrer Erzeugung, in images (spontan sich einstellende innere Bilder, Wagner 2004, S. 117–119) niederschlagen, die wiederum als Protokolle in der sekundären Phase für eine weitere Verarbeitung zur Verfügung stehen. In dieser sekundären Phase des Erkenntnisgewinns findet eine entscheidungsvorbereitende, reflektierende Abstraktion dieser spontanen Bilder statt, indem die Vielzahl der im Me des Subjekts repräsentierten Perspektiven (d. h. die durch Sozialisation internalisierten Standpunkte anderer) herangezogen werden, um Neues zu generieren. Dieses Neue, das die Krise bewältigen soll, emergiert dann, wird sprachlich und begrifflich gefasst und vom konkret agierenden I in Handlung umgesetzt. In der tertiären Phase des Krisenmodells, der Phase der Erkenntnissicherung, wird überprüft, ob das emergierte Neue sich tatsächlich in der Krisenbewältigung bewährt hat. Erst dann kann davon gesprochen werden, dass eine Transformation von (krisenbewältigendem) Neuen in (routinebewältigendes) Altes stattgefunden hat, die dem Me sodann eine weitere Perspektive für zukünftige Krisenbewältigungen zur Verfügung stellt. Den Prozess der Konstitution von Erfahrung und Erkenntnis zusammenfassend kann gesagt werden, dass es in der sekundären Phase dieses – in der Echtzeit lebenspraktischer Krisenbewältigung – sehr schnell ablaufenden Prozesses vor allem darum geht, eine sprachliche bzw. begriffliche Bearbeitung eines schon in der primären Phase in Form von images emergiertem Neuen zu leisten und eine Entscheidung für dieses Neue herbeizuführen. Die tertiäre Phase dient dann schlussendlich der Prüfung der krisenbewältigenden Sachhaltigkeit der neuen Erkenntnis im Hinblick auf ihre Eignung als Routine. Die Begründung, warum die Krise bzw. das Krisenhafte als Keimzelle sowohl der Theorie als auch der Methodologie der objektiven Hermeneutik zu gelten hat, ist also 5
Die folgenden Ausführungen basieren auf den entsprechenden krisentheoretischen Untersuchungen Ulrich Oevermanns (2000c, 2001, 2004a, 2013, 2016; s. auch Wagner 2001, S. 133–208).
584
D. Garz und U. Raven
einerseits darin zu sehen, dass menschliches Handeln eine sinnlogische Verkettung von Grund-Folge- Zusammenhängen darstellt, die wir als dokumentierte Erfahrung rekonstruieren können. Andererseits ist die Schlüssigkeit dieser Begründung aber auch auf den Gedanken der Sequenzialität und der Dreistelligkeit des Handlungsvollzugs (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) angewiesen. Wenn nämlich eine Person eine Entscheidung in der Gegenwart zu treffen hat, gründet diese in der Auswahl einer in der Vergangenheit eröffneten Möglichkeit sowie der Schließung von anderen potenziell vorhandenen Optionen. Der aus dieser Entscheidung resultierende Spielraum ist dann wiederum der in der Zukunft liegende Ausgangspunkt weiterer, noch unbestimmter Grund-Folge-Zusammenhänge, deren tatsächlicher Vollzug letztlich in der Lebenspraxis, z. B. im biografischen Dokument des Lebenslaufs einer Person, kumuliert zur Darstellung kommt.
2.2
Rekonstruktion von Konstruktionen
Im Mittelpunkt der objektiven Hermeneutik als wissenschaftlicher Methode, die in Abschn. 3 erläutert wird, steht das rekonstruktive, einen Fall erschließende Verstehen. Grundsätzlich gilt die triviale Feststellung, dass das, was rekonstruiert werden soll, zuvor – bewusst oder unbewusst – konstruiert worden sein muss, das bedeutet zugleich, dass Rekonstruktionen sich zwingend auf Vergangenes beziehen.6 Im sozialen oder auch kulturalen – im Gegensatz zum naturalen – Bereich geschieht diese Konstruktion im konkreten Handeln in der realen Welt. Dabei basieren diese Konstruktionsleistungen handelnder bzw. denkender Subjekte auf Regelsystemen bzw. Kompetenzstrukturen, die in der humanen Sozialisation entwickelt wurden. Zwar werden auch höhere Tiergattungen in dem Sinne sozialisiert, dass sie lernen, ihren biogrammatisch festgelegten gattungsspezifischen Verhaltensmustern zu folgen und diese in engen Grenzen ausbuchstabieren zu können. Ihnen fehlen jedoch der ausgeprägte kognitive Apparat und vor allem das Symbolsystem der Sprache, um ihren Verhaltensweisen und den Dingen der realen Welt selbst Sinn bzw. Bedeutungen zuzuordnen. Der Sprachbegabung des Menschen ist es letztlich zu verdanken, dass er sein Leben einerseits aus der Enge der biologischen Determination in die Offenheit der soziogrammatischen Gestaltungsfreiheit überführen konnte – und zwar sowohl phylo- als auch ontogenetisch. Und andererseits, dass er in die Lage versetzt wurde, sich des mit seinen Handlungen generierten subjektiven und objektiven Sinns auch im Nachhinein vergegenwärtigen zu können.
Cappai (2008) benennt als Grundzüge des ‚Rekonstruktiven Paradigmas‘, „dass Sozialität bereits vor jedem wissenschaftlichen Zugriff ihre eigentümliche Struktur und ihren typischen Verlauf besitzt“ (Cappai 2008, S. 142); dass regelgeleitetes Handeln das Hauptcharakteristikum des Paradigmas ist (Cappai 2008, S. 143) sowie dass rekonstruktive Forschungen „nicht bei dem Nachvollzug von individuellen bzw. kollektiven Motiven stehen bleiben“ (Cappai 2008, S. 143); es gilt vielmehr, „die sozialen und kulturellen Voraussetzungen herauszuarbeiten, unter denen Handeln stattfindet“ (Cappai 2008, S. 143). 6
Objektive Hermeneutik
2.3
585
Sequenzialität und Sinnstrukturiertheit
Die lebenspraktischen Konstruktionsleistungen handelnder und denkender Subjekte weisen zum einen den Charakter der Sequenzialität auf, zum anderen sind sie sinnstrukturiert. Im Anschluss an den auf George Herbert Mead zurückgehenden Begriff des social act7 versteht Ulrich Oevermann regelerzeugtes soziales Handeln als einen sequenziellen Ablauf (Sequenzialisierung), der „analog zu einem Algorithmus im Sinne einer rekursiven Funktion“ (Oevermann 2000a, S. 64) verläuft.8 Die Aktion einer Person A (etwa ein Hilfsangebot) und die Reaktion einer Person B (die Annahme oder Zurückweisung der Hilfe) ergeben etwas Drittes (etwa den Willen zur Autonomie), das weder auf Aktion noch Reaktion allein zurückgeführt werden kann. Dieses Dritte, also die Resultante von Aktion und Reaktion, offenbart erst den Sinn der Einheit einer Handlungssequenz (Abb. 1). Indem dieses Dritte erneut eine Aktion (z. B. die lautstarke Aufforderung, sich doch helfen zu lassen) sowie wiederum eine Reaktion (z. B. die trotzige Abwehr oder ein Weglaufen) hervorruft, emergiert im Verlauf mehrerer Sequenzen eine Sinnstruktur (z. B. das überprotektive, abhängigkeitserhaltende Erziehungskonzept einer Mutter). So gesehen ist der Vollzug einer Lebenspraxis als eine fortlaufende Verkettung von sinnstrukturierten Handlungen zu verstehen, wobei dann der Begriff der Einzelhandlung insofern eine Verkürzung darstellt, als diese Handlung zugleich an jeder Sequenzstelle immer auch ein Teil der Vergangenheit und der Zukunft umfasst. Anhand des nachfolgend dargestellten Modells der Einheit einer Handlung wird dies ebenso deutlich, wie die prinzipielle Krisenhaftigkeit, die jeder Handlung zugrunde liegt, ist doch der Vollzug von Wirklichkeit immer auch verbunden mit dem Zwang zur Auswahl aus in ihrer Attraktivität u. U. gleichwertig gelagerten Optionen („Wer die Wahl hat, hat die Qual“). Wenn also immer wieder an jeder Sequenzstelle (0) eine Auswahl aus der in Sequenzstelle ( 1) eröffneten Handlungsmöglichkeiten erfolgt, und damit ein Spielraum für zukünftige Entscheidungen (Sequenzstelle +1) eröffnet wird, verweist dies auf den zweiten Zentralbegriff, den der Sinnstrukturiertheit menschlicher Lebenspraxis, oder anders gesagt, auf das jeweils einzigartige generative Muster, mit dem das handelnde Subjekt seine Entscheidungen in den immer wieder neu, eben sequenziell auftauchenden Spielräumen trifft. Genau diesem Struktur-Muster ist
7
Im amerikanischen Pragmatismus wird nicht wie im Cartesianismus die Bewusstseinsleistung des Subjekts, sondern die Handlung als Ausgangspunkt der Sinngebung betrachtet. Dieser grundsätzlichen pragmatistischen Kritik folgend, verortet Mead die Entstehung von Sinn (meaning) im sozialen Akt (Wagner 2004, S. 63–73). 8 „Jedes scheinbare Einzel-Handeln ist sequentiell im Sinne wohlgeformter, regelhafter Verknüpfung an ein vorausgehendes Handeln angeschlossen worden und eröffnet seinerseits einen Spielraum für wohlgeformte, regelgemäße Anschlüsse. An jeder Sequenzstelle eines Handlungsverlaufs wird also einerseits aus den Anschlußmöglichkeiten, die regelgemäß durch die vorausgehenden Sequenzstellen eröffnet wurden, eine schließende Auswahl getroffen und andererseits ein Spielraum zukünftiger Anschlußmöglichkeiten eröffnet“ (Oevermann 2000a, S. 64).
586
D. Garz und U. Raven
Sequenzstelle ( – 1)
Sequenzstelle ( 0 )
Sequenzstelle ( + 1)
(Vergangenheit)
(Gegenwart)
(Zukunft)
Vollzug von Wirklichkeit
Eröffnet Möglichkeiten
= Auswahl einer und Schließung der anderen Möglichkeiten
Vollzug von Wirklichkeit
Eröffnet Möglichkeiten
= Auswahl einer und Schließung der anderen Möglichkeiten
Abb. 1 Einheit der Handlung (zugleich Modell der Logik der Sequenzanalyse)
das Verfahren der Sequenzanalyse auf der Spur, wenn sie jene Gesetzmäßigkeit – Oevermann verwendet hierfür den Begriff der Fallstruktur (Oevermann 2000a, S. 65) –, die aus dem dokumentierten Material (den Ausdrucksgestalten lebenspraktischer Entscheidungen) – Sequenz für Sequenz – herauspräpariert werden kann, zum Gegenstand ihres Forschungsinteresses macht.
2.4
Vom Sinn und der sinnstrukturierten Wirklichkeit zum objektiven Sinn
Menschliche Lebenspraxis steht als Gegenstand der disziplinaren Orientierung im Mittelpunkt sowohl der Sozial- als auch der Kultur- und Geisteswissenschaften. Deren gemeinsamer Fokus liegt eben nicht in den Gegenständen der Natur, auch wenn diese selbstverständlich in sie hineinwirken, sondern in den Gegenständen der Kultur als Gegenpol zur Natur. Das erkenntnisleitende Interesse der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften liegt im durch Menschen erzeugten Sinn, d. h. den mit Bedeutung versehenen Äußerungen und Handlungen, die in einer Lebenspraxis entstehen und vergehen, wobei diese wiederum sehr unterschiedlichen Bereichen entstammen können: So rekonstruiert die Archäologie Spuren aus der Vergangenheit (Oevermann 2003a), die Kriminologie rekonstruiert Tat- bzw. Tatortspuren (Hahn 2015; Oevermann et al. 1985), die Entwicklungspsychologie rekonstruiert Spuren menschlicher Bildung (Oevermann 2000b), und die Biografieforschung schließlich rekonstruiert (auto-)biografische Spuren, die in mündlicher oder schriftlicher Form vorliegen (theoretisch Oevermann 2009a; material u. a. Oevermann 1990, 2009b). Insofern lässt sich sagen, dass die Gemeinsamkeit dieser unterschiedlichen erfahrungswissenschaftlichen Disziplinen darin liegt, dass die zu untersuchenden Gegenstände sinnstrukturiert sind. Allerdings muss dann eine weitere Einteilung vorgenommen werden, die u. a. durch die Verwendung des Sinnbegriffs in der deutschen Sprache erzwungen wird. Sinn wird in ihr einmal nämlich bewertend, normativ, beispielsweise in der Bedeutung von der Sinn des Lebens oder auch das macht doch keinen Sinn verwandt. In der empirischen Forschung, zum Beispiel bei der Beschäftigung mit
Objektive Hermeneutik
587
Biografien, finden wir in den Protokollen der Lebenspraxis auch genau solche Äußerungen. Zum anderen, und das geht jeder empirischen Forschung voraus, verwenden wir den Begriff deskriptiv-analytisch, wenn wir auf die Bedeutung der von Menschen in irgendeiner Weise erzeugten sprachlichen oder durch andere Handlungen hervorgebrachten Gegenstände (Objektivationen, d. h. dasjenige, das sich niedergeschlagen bzw. das seinen Ausdruck in einer Lebenspraxis in welcher Gestalt auch immer gefunden hat) zurückgreifen. Ohne Ausnahme liegt allen Ausdrucksgestalten einer Lebenspraxis ein Sinn zugrunde – auch wenn wir diesen aus einer normativen Perspektive, z. B. im Fall der Ausländerfeindlichkeit, zurückweisen oder, wie im Fall der abstrakten Kunst, um ihn streiten. Erst nach diesen Klärungen können wir innerhalb der deskriptiv-analytischen Verwendung eine weitere Unterscheidung vornehmen, die nun allerdings für das Verständnis des Ansatzes von Ulrich Oevermann unverzichtbar ist; nämlich die zwischen subjektivem und objektivem Sinn: Während viele (die meisten) erfahrungswissenschaftlichen Richtungen der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften davon ausgehen, dass in ihrem Zentrum der subjektive Sinn steht, also dasjenige, was methodisch einer „nachvollziehenden Perspektivenübernahme“ (Oevermann 2000c, S. 6) des subjektiv Gemeinten entspricht, verweist Oevermann darauf, dass erst der objektive Sinn eines Geschehens erschlossen werden muss, bevor man, nachgängig und falls gewünscht oder erforderlich, auf den subjektiven Sinn eingehen kann. Sinn gilt wiederum dann als objektiv, wenn er „durch angebbare Regel[n] erzeugt worden ist“ (Oevermann 2013, S. 71), so dass „objektiv nachweisbare Sinnzusammenhänge“ (Oevermann 2003b, S. 187) entstehen. Diese können nun, unabhängig von subjektiver Zustimmung oder Ablehnung, methodengeleitet „im Sinne des Rekonstruierens von objektiven Sinnstrukturen“ (Oevermann 2000c, S. 6) systematisch erfasst werden. Abb. 2 drei fasst unsere Argumentation noch einmal zusammen. An dieser Stelle soll, um eventuell entstehenden Irritationen bezüglich des „Gegenstand[s] der Sinnauslegung in der objektiven Hermeneutik“ (Oevermann 2001, S. 28) vorzubeugen, noch ein klärender Hinweis auf das Verhältnis der Begriffe Sinn bzw. Sinnstrukturen und Bedeutung bzw. Bedeutungsstrukturen gegeben werden: „Von objektiven Bedeutungsstrukturen spricht Oevermann in Bezug auf einzelne Äußerungen und Handlungen, unter objektiven bzw. latenten Sinnstrukturen versteht er hingegen Sequenzen von Handlungen oder Äußerungen“ (Oevermann 2001, S. 28). Auf welcher Basis generiert aber nun das Subjekt seine Lebenspraxis, wie bewältigt es die im Verlauf seines Lebens in immer neuen Qualitäten auf es zukommenden Krisen? Wie muss man sich das Potenzial vorstellen, mit dessen Hilfe im Raum der Möglichkeiten Wirklichkeit vollzogen wird, mit dem also „praktische Vernunft“ (Oevermann 2013, S. 80) bzw. materiale Rationalität9 erzeugt wird und lebenspraktische Entscheidungen getroffen werden? 9
Oevermann unterscheidet materiale von formaler Rationalität. Im Gegensatz zur methodisch kontrolliert durch Abstraktionsleistungen erzeugten formalen Rationalität entsteht materiale Rationalität unmittelbar in der lebenspraktischen Operation selbst: „Materiale Rationalität ist immer die Lösung eines Handlungsproblems auf gewissermaßen nicht mechanisch-deduktive Weise, (es ist) der Entwurf von neuen Problemlösungen“ (Oevermann 1981, S. 8).
D. Garz und U. Raven
Naturwissenschaften
Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften
Naturgesetzlich bestimmte Zusammenhänge
Durch Regeln bestimmte (Sinn-)Zusammenhänge
Sinn als normative Kategorie
Bewertung: „Sinn des Lebens“
Ebene III
Ebene II
Ebene I
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Sinn als deskriptive Kategorie Analyse: Bedeutung menschlicher Objektivationen
jSubjektiver Sinn: „nachvollziehende Perspektivenübernahme“ des subjektiv Gemeinten
Objektiver Sinn: „durch angebbare Regel(n) erzeugt“; Rekonstruktion des objektiv Gesagten
Abb. 2 Ebenen des Sinnbegriffs
Wie angesprochen basieren menschliche Konstruktionsleistungen auf einer Regelgeleitetheit, die sich einerseits in universellen epistemischen Strukturen und Kompetenzen und andererseits in historisch geltenden Normen und Regeln manifestiert. Dem Begriff der universellen Regelgeleitetheit liegt dabei ein auf Chomsky (1969) und Searle (1971) zurückgehendes Verständnis des Regelbegriffs zugrunde. Sowohl Chomskys universalgrammatisches Konstrukt der generativen Regel als auch Searles universalpragmatische Konstruktion der konstitutiven Regel weisen auf die rekursive algorithmische Erzeugung immer neuer sozialer Tatsachen hin.10 Ulrich Oevermann fasst die in diesem Sinne regelgeleitet aktiven Potenziale unter dem Begriff Erzeugungsparameter zusammen. Dieser Begriff umfasst sowohl universale Strukturen wie Sprache, Kognition und Moral als auch historisch und räumlich geltende konkrete (algorithmisch wirksame, Möglichkeiten eröffnende) Normen, Regeln und Wertemuster. Der Komplementärbegriff Auswahlparameter hingegen fasst alle Dispositionen 10
Generative Regeln im Sinne Chomskys ermöglichen es, mit Hilfe einer endlichen Zahl von Regeln eine unendliche Zahl von Ergebnissen zu produzieren. Searle unterscheidet konstitutive und regulative Regeln: regulative Regeln stellen dar, wie man sich z. B. bei Tisch benimmt, konstitutive Regeln bestimmen die Art und Weise, wie z. B. ein Fußballspiel stattfinden soll. Das Regelwerk des Fußballs „konstituiert“ diese Sportart. Wenn 22 Personen einfach nur auf einem Spielfeld herumlaufen, ist dies noch kein Fußballspiel. Alle Spiele – ob in der Kreisklasse oder in der Bundesliga – folgen diesen Regeln mit einer immer wieder neuen Dramaturgie.
Objektive Hermeneutik
589
Erzeugungsparameter: 1. universelle Strukturen der bedeutungserzeugende, sprachlichen, kognitiven und algorithmisch operierende moralischen Kompetenzen Regeln 2. algorithmisch wirkender Anteil historisch geltender Normen, Regeln und Wertemuster (Algorithmen oder konstitutive Regeln im Sinne einer Bedingung der Möglichkeit von Praxis)
Auswahlparameter: bedeutungserzeugendes, (subjektgebundenes) Ensemble von Dispositionsfaktoren
1. (soziologisch) subjektiv angeeignete Werte und Normen, Erwartungen, Einstellungen, Meinungen, Ideologien, Deutungsmuster, Habitusformationen 2. (psychologisch) Motive, Motivationsstrukturen, Bedürfnisse, Zielsetzungen, etc. ( dafür verantwortlich, welche der durch algorithmische Regeln eröffneten Möglichkeiten tatsächlich gewählt werden)
Abb. 3 Objektive, regelerzeugte Bedeutung (Zusammenspiel von Erzeugungs- und Auswahlparameter)
zusammen, mit denen die jeweilige Lebenspraxis aus den von den Regeln des Erzeugungsparameters eröffneten Möglichkeiten eine tatsächliche Auswahl trifft und damit materiale Rationalität bzw. praktische Vernunft erzeugt. Abb. 3 verdeutlicht den komplementären Charakter der beiden Parameter humaner Entscheidungsfindung und deren Zusammenspiel in ihrer krisenbewältigenden Funktion. Im je konkreten Krisenfall handelt das voll sozialisierte Subjekt auf der Basis aller im Erzeugungsparameter repräsentierten Regeln, die rekursiv algorithmisch wohlgeformte Möglichkeiten der Problembearbeitung eröffnen (Sprache, Kognition, Moral). Bei der Konkretion der Handlung spielen dann die im Auswahlparameter repräsentierten persönlichen Dispositionen eine die Selektion (die Bildungsgeschichte einer Lebenspraxis) herbeiführende Rolle. Es sind dies die subjektiv angeeigneten bzw. die durch die subjektive Aneignung modulierten Maximen, Normen und Wertemuster, also „die verschiedenen Disziplinen zugerechneten traditionellen Variablen, etwa motivationale Variablen oder Persönlichkeitsmerkmale der Psychologie, Variablen materieller Lebenschancen der Ökonomie, Variablen für die Wertorientierungen der Soziologie“ (Oevermann 2013, S. 94), die sich höchst einflussreich auf die individuelle Qualität der (problembewältigenden) Handlung auswirken (Oevermann 2000a, S. 65).
3
Objektive Hermeneutik als Kunstlehre wissenschaftlichmethodischen Arbeitens
Nach der bisher erfolgten grundlagentheoretischen Einbettung und der methodologischen Begründung der objektiven Hermeneutik als „Erfahrungswissenschaft von der sinnstrukturierten Welt“ kommen im folgenden Abschnitt die tragenden Ele-
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D. Garz und U. Raven
mente der Forschungspraxis, das how to do der rekonstruktiven Hermeneutik, zur Sprache. „Objektive Sinnstrukturen sind als solche abstrakt, weil man sie nicht wahrnehmen kann. Man kann sie weder sehen, hören, riechen, schmecken noch ertasten, sondern man kann sie nur lesen“ (Oevermann 2014a, S. 39). Wie muss man sich nun dieses Lesen und Rekonstruieren objektiver Sinnstrukturen in der objektiv-hermeneutischen Praxis vorstellen? Wie sieht der methodische Zugriff aus, mit dem die objektive Hermeneutik Lebenspraxis erschließt oder, in den Worten Oevermanns, mit dem sie die Sinnstrukturiertheit von Welt, d. h. das, was die Praxis konstruiert hat, nun methodisch rekonstruiert?
3.1
Goldstandard Interpretationsgemeinschaft
Grundsätzlich kann die Rekonstruktionsarbeit an der jeweils gegebenen protokollierten Ausdrucksgestalt (z. B. der aufgezeichnete gesprochene Text eines narrativen Interviews) durch eine Einzelperson geleistet werden. Empfehlenswert ist jedoch, diese Arbeit in einer Gruppe durchzuführen. Damit wird einerseits sichergestellt, dass eine Vielfalt an Deutungsalternativen (Lesarten) in die Diskussion eingebracht werden kann (Kampf um den Text). Andererseits wird hiermit – sehr früh im Arbeitsprozess – eine intersubjektive Ergebnissicherung grundgelegt (Allert et al. 2014). Als Verfahren ist diese Rekonstruktionsarbeit im Sinne einer Kunstlehre gänzlich untechnisch, da sie „nicht mehr in Anspruch [nimmt], als das intuitive Regelwissen des Alltagsmenschen auch umfaßt“ (Oevermann 1983, S. 135–136). Oevermann benennt allerdings drei Voraussetzungen, die für eine Teilhabe am Rekonstruktionsprozess gegeben sein müssen. Es muss gewährleistet sein, dass 1. nicht Subjekte teilnehmen, deren Sozialisationsprozess noch nicht abgeschlossen ist (also Kinder), 2. nicht neurotisch oder ideologisch verblendete Personen teilnehmen (es ist also notwendig, Interpret/innen zu finden, die nicht so neurotisch sind, dass darunter die Befähigung zur intuitiv angemessenen Primärerfassung stark leidet), 3. gewährleistet ist, dass der im Alltag herrschende und den Prozess der Rekonstruktionsarbeit behindernde Handlungsdruck aufgelöst wird (Oevermann et al. 1979, S. 392–393). In den folgenden Abschnitten werden die Vorgehensweisen der objektiven Hermeneutik sowie die damit einhergehenden Überlegungen und Vorkehrungen im Hinblick auf die Auswertung (die Maßgaben und Maßnahmen) der Protokolle dargestellt, um die komplexe prozessuale Forschungspragmatik der Rekonstruktionsarbeit auszuleuchten und zum Ausdruck zu bringen (für eine ähnliche, aber umfangreichere Darstellung unter Hinzufügung mehrerer Beispiele s. Wernet 2009).
Objektive Hermeneutik
3.2
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Konkrete Vorgehensweise und leitende Prinzipien
3.2.1
Festlegung der Fragestellung im Hinblick auf das Forschungsinteresse Am Anfang des Rekonstruktionsprozesses steht die Formulierung einer konkreten Fragestellung (Forschungsfrage), entsprechend der das Protokoll analysiert, d. h. in seiner Sinnstrukturiertheit erschlossen werden soll. Ohne diese (Erkenntnis leitende) Vorgabe kann keine sinnvolle (bzw. effiziente) Rekonstruktion erfolgen; sie würde sich im Gegenteil im Vagen verlieren bzw. von einer Idee zur nächsten hangeln, da an jeden Text prinzipiell unendlich viele potenziell Erkenntnis aufschließende Fragen herangetragen werden können. So können, um ein Beispiel zu nennen, in der Forschungspraxis die Inhalte eines (narrativen) Interviews von Interesse sein, etwa wenn die Familienkonstellation eines verhaltensauffälligen Schülers untersucht werden soll, um die der Störung zugrunde liegende Motivation zu diagnostizieren. Aber auch die Interviewsituation selbst oder die Interviewführung können einer (rekonstruktiven) Interpretation unterzogen werden, wenn sie – z. B. im Kontext qualitätssichernder Supervision oder einer auf die Forschungspraxis abzielenden Untersuchung – zum Gegenstand der forschungsleitenden Fragestellung bestimmt werden. 3.2.2 Feststellung des Texttyps Vor der folgenden analytischen Auseinandersetzung mit der protokollierten lebenspraktischen Ausdrucksgestalt muss dann noch eine Bestimmung des Texttyps erfolgen, um die Interaktionsrahmung bzw. Interaktionseinbettung des Dokuments erschließen zu können. Handelt es sich also bei dem zu analysierenden Protokoll z. B. um ein Interview, eine Videoaufzeichnung, einen Brief, ein Poster, ein Bild, eine Fotografie oder auch eine Akte aus einem Archiv? Aufgrund der vollzogenen Rahmung lässt sich die Frage beantworten, welche Interaktionspragmatik für die jeweilige Textgattung gilt. Um Beispiele zu nennen • für das Interview: Was bedeutet es, ein Interview zu führen und warum wird es überhaupt geführt? Welche Verteilung der Redebeiträge ist zu erwarten? Ist für die Bearbeitung der Forschungsfrage ein Einzelinterview (z. B. im Rahmen der Biografieforschung) oder ein Gruppeninterview (zur Feststellung von Gruppenphänomenen) angemessen? Generell ist die Frage zu stellen, ob das Interview im je spezifischen Fall die angemessene Form der Datenerhebung ist. • für Briefe: Was heißt es, einen Brief zu schreiben? Warum wird diese Form des schriftlichen Ausdrucks gewählt? Wann und warum werden Briefe geschrieben? Und noch konkreter: Weshalb werden Briefe mit einem Datum versehen? Oder lässt sich – und wenn ja wie – erlebte Emotionalität in brieflicher Form für Dritte angemessen zum Ausdruck bringen? • für Fotos: Aus welchem Grund werden Fotos erstellt? Handelt es sich um geplante oder einfach so entstandene Bilder (Schnappschüsse)? (Beck 2003; Kraimer 2014).
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D. Garz und U. Raven
Solche rahmenden Überlegungen müssen selbstverständlich nur einmal – eben zu Beginn des Forschungsprojekts – durchgeführt werden.
3.2.3 Sequenzielle Vorgehensweise (Prinzip der Sequenzialität) Mit der streng sequenziellen Vorgehensweise schmiegt sich die Auswertung der Materialien an die Ablaufgestalt der Lebenspraxis an (Abb. 1). Die Logik der Rekonstruktion folgt hierbei der Logik der Selektion, mit der handelnde Subjekte ihre Entscheidungen treffen. Gemäß dieser Logik kann das Prinzip der Sequenzialität als Herzstück des objektiv-hermeneutischen Rekonstruktionsverfahrens bezeichnet werden. Dieses Prinzip rekurriert dabei auf die elementare Feststellung, dass alle Erscheinungsformen menschlicher Praxis durch eine regelgenerierte Sequenziertheit strukturiert sind, die nicht eine bloße zeitliche Abfolge darstellen.11 Dieser Sequenziertheit entsprechend wird der protokollierte Text Zug um Zug, Satz für Satz, Bedeutungseinheit für Bedeutungseinheit erschlossen, ohne dass Sequenzen, die später generiert wurden und entsprechend später im Protokoll auftauchen, herangezogen werden. Damit soll im Gegensatz zu den klassischen Hermeneutiken – etwa derjenigen Gadamers – das Vorwissen, also etwa auch Äußerungen, die an späterer Stelle im Text folgen, aber eventuell bereits bekannt sind, systematisch ausgeblendet werden, um eine Zirkelhaftigkeit der Interpretation begründet ausschließen zu können. Technisch formuliert impliziert diese Haltung der künstlichen Naivität, dass ein Wissen über den inneren Kontext des Protokolls, das bereits zur Verfügung stehen kann, beispielsweise, wenn der Interviewer oder die Interviewerin an der rekonstruktiven Interpretation teilnimmt, niemals zur Analyse herangezogen werden darf. Der fallunspezifische äußere Kontext hingegen, also alles, was zwar in den Rahmen des Dokuments gehört, ihn affiziert, aber nicht in ihm ausgedrückt wird, kann und soll maximal ausgeschöpft werden, da hiermit lediglich eine vom Text unabhängige Erhöhung des zur Interpretation eingesetzten Wissens erreicht wird.12 So kann z. B. in einschlägigen Veröffentlichungen (Lexika, Statistiken, Handbüchern, Internet-Quellen usw.) recherchiert werden, um zu Angaben über interessierende Sachverhalte zu gelangen. So kann etwa interessieren, ob ein bestimmtes Heiratsalter in einer bestimmten historischen Periode in einer bestimmten Gesellschaftsschicht üblich, spät oder früh war; oder – um ein anderes, aus einer Seminarveranstaltung Oevermanns stammendes Beispiel zu nennen – wie die Erbfolge bei Bauern in der hessischen Rhön im späten 19. Jahrhundert geregelt war; oder welche unterschied-
11
Oevermann bestimmt die Logik der sequenzanalytischen Rekonstruktion in Analogie zur Ablaufstruktur humaner Lebenspraxis. Denn er sieht „den tatsächlichen Ablauf als eine Sequenz von Selektionen [. . .], die jeweils an jeder Sequenzstelle, d. h. einer Stelle des Anschließens weiterer Einzelakte oder -äußerungen unter nach gültigen Regeln möglichen Anschlüssen getroffen worden sind. Die Kette solcher Selektionsknoten ergibt die konkrete Struktur des Gebildes“ (Oevermann 1991, S. 270). 12 Angesprochen ist hier die „Forschungspsychologie der Produktion von Einfällen von Lesarten“ (Oevermann 2004, S. 127).
Objektive Hermeneutik
593
lichen Auflagen z. B. bei der Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland vor und nach dem 9. November 1938 für jüdische Bürger/innen zu erfüllen waren.
3.2.4 Extensive Sinnauslegung (Prinzip der Extensivität) In einem gerade nicht auf frühe Einigung abzielenden Argumentationsprozess innerhalb der Gruppe der am Rekonstruktionsprozess Beteiligtenwerden alle mit dem vorliegenden Dokument kompatiblen Deutungen – in der Sprache der objektiven Hermeneutik: alle Lesarten – eines Sachverhalts gedankenexperimentell generiert. Als einziges Ausschlusskriterium gilt hierbei die Nichtübereinstimmung einer Lesart mit dem vorliegenden Protokoll; allerdings dürfen auch vermeintlich eher unwahrscheinliche Lesarten nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Das Formulieren von Lesarten soll nun am Beispiel einer Interaktionseröffnung und der allgemeinen Fragestellung: Um welchen sozialen Zusammenhang handelt es sich hier? In welchem Kontext ist dies eine regeladäquate, also vernünftige Äußerung? erläutert werden (Caesar-Wolf und Roethe 1983). X.: „Na, was macht Deine Kette, wie weit bist Du denn?“
Welche mit dem Dokument kompatiblen Lesarten können bezüglich der notierten Sinneinheit generiert werden? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind hier als mögliche Varianten zu nennen: 1. Ein Goldschmied fragt seinen Lehrling nach dem Stand der Arbeit. 2. Die Organisatorin einer Menschenkette fragt den für einen bestimmten Abschnitt Verantwortlichen. 3. Die Kindergärtnerin/der Lehrer fragt ein Kind aus der Gruppe/Klasse nach der zu bewältigenden Aufgabe, eine Perlenkette zu basteln. 4. Die Lehrerin fragt nach dem Stand der von einem Schüler zu bearbeitenden Kettenrechnung. 5. Zwei Managerinnen unterhalten sich über den Ausbau ihrer Filialen. 6. Ein Feldwebel fragt einen Untergebenen nach dem Zustand der zu säubernden Panzerkette. Dem hier gezeigten Prinzip der extensiven Lesartenbildung und dem zugleich im Diskurs der Gruppe geforderten, geradezu streitsüchtigen Verteidigen derselben steht allerdings das Prinzip der Sparsamkeit gewissermaßen als Kontrollinstanz gegenüber. Es sind nämlich nur solche Lesarten zugelassen, „die ohne weitere Zusatzannahmen [. . .] von dem zu interpretierenden Text erzwungen sind“ (Wernet 2009, S. 35). Dem bisher zur extensiven Sinnauslegung Ausgeführten sind noch einige weitere, die Auslegungspraxis charakterisierende Überlegungen hinzuzufügen: 1. Die Rekonstruktion der Strukturgesetzlichkeit, d. h. der Gesetzmäßigkeit von Selektionen einer Lebenspraxis, erfordert es, den Prozess des Eröffnens und
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Schließens von Fortsetzungsmöglichkeiten zu untersuchen. Den Gedanken der Dreistelligkeit einer Handlung (Abb. 1) aufgreifend, kann es für die Deutung einer Textstelle (0 = das Gegenwärtige) hilfreich bzw. notwendig sein, den Raum der (in 1 = das Vergangene) zuvor gegebenen Wahlmöglichkeiten (gedankenexperimentell) auszuleuchten, also die Frage zu stellen: Was hat dazu geführt, dass der/die Handelnde diese Wahl getroffen hat und warum hat er/sie andere Wahlmöglichkeiten verworfen? Entsprechend ist es für den Fortgang des Rekonstruktionsprozesses oftmals von Vorteil, über den Fortgang einer Handlung zu mutmaßen, etwa nach dem Motto: Welche der durch die (in 0) getroffene Entscheidung eröffneten Möglichkeiten wird der/die Handelnde (+1 = das Zukünftige) ergreifen? 2. Die ursprüngliche und erstmalige Interaktionsaufnahme, die explizite Herstellung von Sozialität im Sinne des Wahrnehmens und Akzentuierens aus dem Interaktionsstrom heraus und damit einhergehend auch des selektiven Agierens innerhalb des Interaktionsstroms, bedarf bei der Rekonstruktionsarbeit einer hervorgehobenen Beachtung. Wie und auf welche Weise wir uns zu Beginn eines sozialen Austauschs – eines social give-and-take (J. M. Baldwin) – präsentieren, präfiguriert den weiteren Interaktionsablauf in der Regel auf nachhaltige Weise. Die Art und Weise sowie die inhaltliche Ausgestaltung der Interaktionseröffnung, das nämlich, was wir alltagssprachlich den ersten Eindruck nennen, „läßt sich nur mit großen Anstrengungen wieder tilgen bzw. korrigieren“ (Oevermann 2000a, S. 76); wollten wir diesen Eindruck wieder ändern, wären umfangreiche soziale Reparaturleistungen vonnöten. 3. Der Umfang beziehungsweise die Länge des jeweils rekonstruktiv zu interpretierenden Text-Ausschnitts (das gilt auch für die Gesamtlänge des zu interpretierenden Protokolls) lässt sich nicht theoretisch a priori festlegen. Gesucht wird jeweils nach einer Sinneinheit, die bei schriftlichen Dokumenten in der Regel nicht länger als ein Satz ist, häufig jedoch – je nach Komplexität und Satzlänge – nur einen Teil davon umfasst; gelegentlich konzentriert sich die Interpretation sogar auf eine Pause im Redefluss oder auf ein einzelnes Wort. Letzteres geschieht häufig zu Beginn einer Interpretationseinheit, z. B. um zu klären, was es bedeutet, wenn ein Satz mit einem zusammenfassenden bzw. Zäsur setzenden also beginnt, oder wenn ja bzw. nein als Einwortsätze verwendet werden etc. Als hilfreich hat sich hier der Rückgriff auf Veröffentlichungen zur Sprachpragmatik erwiesen, die gewissermaßen ein Lexikon zur alltäglichen Redeverwendung zur Verfügung stellen (Weinrich 1993). 4. An dieser Stelle ist der Hinweis wichtig, dass auch nicht-sprachliche Texte mithilfe der objektiven Hermeneutik interpretiert werden können, obwohl hier häufig keine Sequenzen im Sinne des unmittelbaren Zug-um-Zug-Ablaufs vorliegen. Beispielsweise kann sich das Vorgehen an einem ikonischen Pfad und Zentrum (Loer 1994) im Sinne einer „schrittweise[n] Auslegung der bildimmanenten Zusammenhänge“ (Oevermann 2000a, S. 107) orientieren (s. auch Ackermann 1994; Englisch 1991; Haupert 1994; zusammenfassend und weiterführend Beck 2003; Kraimer 2014). Lenssen und Aufenanger (1986, S. 123–204) haben versucht, dieses Problem bei der Interpretation von Filmen unter Zugrundelegung
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umfangreicher Partituren, also einer besonderen Form der Notation, zu lösen (s. dazu theoretisch Oevermann 2000a, S. 107–116; material Oevermann 2014a, b).
3.2.5 Weitere zentrale Prinzipien der Rekonstruktionsarbeit Weiterhin ist auf zwei Prinzipien zu verweisen, denen bei der Arbeit am Text eine grundlegende Bedeutung zukommt. Es handelt sich zum einen um das Totalitätsprinzip, zum anderen um das Wörtlichkeitsprinzip. Das erste Prinzip beinhaltet die Forderung, dass der ausgewählte Teil des Protokolls in seiner Gesamtheit zu interpretieren ist: „Für den zur Sequenzanalyse ausgewählten Protokollabschnitt gilt grundsätzlich, daß darin alles, das heißt jede noch so kleine und unscheinbare Partikel, in die Sequenzanalyse einbezogen und als sinnlogisch motiviert bestimmt werden muß“ (Oevermann 2000a, S. 100). Nichts innerhalb des Dokuments darf als unwichtig, einzig dem Zufall geschuldet, also als sinnlos, aus der Analyse ausgeschlossen werden. Diesem Prinzip steht, das Gesagte in gewisser Weise einschränkend, das Wörtlichkeitsprinzip gegenüber, das besagt, „nur das in die Rekonstruktion von sinnlogischen Motivierungen einfließen zu lassen, was auch tatsächlich im zu analysierenden Text bzw. Protokoll lesbar [. . .] markiert und deshalb vom Text erzwungen ist“ (Oevermann 2000a, S. 103). Zusammenfassen lassen sich die beiden sich gegenläufig verschränkenden Prinzipien unter dem Schlagwort: Interpretiere (aus deiner Auswahl) alles und folge dabei wiederum exakt dem Inhalt des Dokument. Diesen Abschnitt zur konkreten Vorgehensweise rekonstruktiver Interpretation abschließend, lassen sich jetzt Angaben zur Datenbasis formulieren. 1. Bei der Datenerhebung wird darauf geachtet, dass nach dem Prinzip des maximalen Kontrasts eine Variabilität an Fällen erhoben wird. 2. Die Forschungspraxis hat gezeigt, dass die zu interpretierende Datenmenge vergleichsweise niedrig ausfallen kann. So reichen in der Regel zwölf bis vierzehn Fälle aus, um eine Fragestellung angemessen bearbeiten zu können (Oevermann 2000a, S. 97–100). 3. Bei der Interpretation reichen in aller Regel „vier kurze Segmente von maximal zwei Seiten“ (Oevermann 2000a, S. 97) aus, um eine Fallstrukturhypothese zu formulieren.
3.3
Die Strukturhypothese und die Generalisierbarkeit von Fallrekonstruktionen
Die extensive Sinnauslegung wird im gegebenen Fall von der Interpretationsgemeinschaft solange durchgeführt, bis eine am Protokoll gewonnene Hypothese im Hinblick auf die eingangs formulierte Forschungsfrage möglich ist. Faktisch kommt zu diesem Zeitpunkt ein begründeter, sequenziell vollzogener Ausschluss jener Lesarten, die nicht länger mit dem Protokoll kompatibel sind, zum Ausdruck; wobei das Ausscheiden möglicher Lesarten erst nach gründlicher Diskussion (und keinesfalls durch Mehrheitsbeschluss) erfolgen kann.
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Dabei gilt es zu beachten, dass „Lesarten, die zwar im Prinzip mit einem gegebenen Protokoll kompatibel sind, dabei aber nur das Kriterium erfüllen, dass sie die Fallstruktur treffen können, aber nicht müssen [. . .] letztlich Methodenmüll [sind. . .]. Davon sind die Lesarten bzw. Interpretationsketten scharf abzugrenzen, die im zu analysierenden Protokoll nachweisbar markiert sind und sich zwingend daraus ableiten lassen, so dass für sie das Kriterium erfüllt ist, dass sie entweder nicht der Fall sein können oder – noch viel besser – der Fall sein müssen.“ (Oevermann 2013, S. 78)
Als Ergebnis der in Abschn. 3.2 beschriebenen rekonstruktiven Vorgehensweise lässt sich festhalten, dass durch eine „Verkettung von Sequenzelementen“ eine „fallspezifische Struktur sich konturiert hat, so daß eine erste Fallstrukturhypothese formulierbar ist“ (Oevermann 2000a, S. 71). Wenn diese erste Hypothese sich im Zuge der Analyse weiterer Textstellen gut bewährt, sie also als gesichert gelten kann, ist von einer je spezifischen Fallstrukturgesetzlichkeit zu sprechen. Und diese Fallstrukturgesetzlichkeit ist letztlich nichts anderes als die Bildungsgesetzlichkeit eines jeweiligen Falles, z. B. einer hilfebedürftigen Person oder einer Familie.13 Am weiter oben bereits eingeführten Beispiel der Kette lässt sich verdeutlichen, wie sich die beschriebene Ausschlusslogik in der Forschungspraxis darstellt. Nachdem die angesprochene Person auf die Frage „Na, was macht Deine Kette, wie weit bist Du denn?“, nicht reagierte, setzt X erneut ein. „Was willst Du da als Dein Muster legen?“
Eine Analyse dieser Frage lässt nun deutlich werden, dass sich die vorgeschlagenen Lesarten 5 (Filialenausbau) und 6 (Panzerkette) nicht halten lassen; sie sind unverträglich mit dem tatsächlichen Fortgang der Kommunikation. Die Lesarten 2 (Menschenkette) und 4 (Kettenrechnung) werden unwahrscheinlich, können aber mit einigem Interpretationsaufwand noch eine gewisse Plausibilität für sich in Anspruch nehmen (z. B. soll die Menschenkette das patriotische Muster SchwarzRot-Gold aufweisen). Die Lesarten 1 (Stand der Arbeit) und 3 (Perlenkette) sind noch vollkommen mit dem Inhalt des Protokolls vereinbar. Das Bilden und die Falsifikation von Lesarten am Dokument wirken also im Sinne einer kumulativen Ausschlusslogik, die sukzessive dazu führt, dass nach einer Interpretation von vergleichsweise wenigen Sinneinheiten die Formulierung einer Strukturhypothese im Hinblick auf die Spezifik des Falls (die Geschichte seiner Bildung und Besonderung) möglich ist. Konkret bedeutet dies, dass die Analyse beendet werden kann, sobald die Erschließung weiterer Sinneinheiten keinen Zuwachs zur Formulierung der Strukturhypothese mehr beiträgt, das Protokoll also maximal im Hinblick auf die Fragestellung ausgeschöpft wurde.
Oevermann spricht von „Bildung als einer Geschichte der beständigen Transformation ihrer jeweiligen Fallstruktur. [. . .], sowie von „eine[r] autonomiebildende[n] innere[n] Bildungsgesetzlichkeit, aus der die jeweilige Authentizität einer Lebensgeschichte resultiert“ (Oevermann 2009a, S. 48).
13
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Im Sinne der dargelegten Theorie und Praxis objektiv-hermeneutischer Analysen handelt es sich bei Strukturhypothesen um „realistische, nicht konstruierte, sondern rekonstruierte Modelle, die empirisch real operieren“ (Oevermann 2000a, S. 122). Im Hinblick auf ihre Allgemeingültigkeit sind die Ergebnisse der sequenzanalytischen Rekonstruktionsarbeit Struktur-Generalisierungen und nicht empirische Generalisierungen wie im Falle frequenzanalytischer (quantitativer) Forschungsprozesse (Oevermann 2000a, S. 126).
4
Ausblick: Stand und Perspektiven
Die Arbeitsschwerpunkte bzw. die Rezeption der objektiven Hermeneutik, die bisher überwiegend im deutschen Sprachraum erfolgt,14 beziehen sich in einem psychologisch relevanten Kontext in jüngerer Zeit überwiegend auf die Bereiche Supervision, Diagnostik, Beratung, Therapie und Coaching (Leber und Oevermann 1984; Klenner 2013, 2016; Oevermann 1993; Scherf 2009, 2010; Trescher 2013, 2017),15 Schul-, Hochschul- und Unterrichtsforschung (Jahn 2013, 2016, 2017; Kunze 2016, 2017; Mbaye 2017), biografische und sozialisatorische Entwicklung (Hildenbrand 2011, 2013; Kirsch 2010; Oevermann 1990, 2009b; Ritter und Zizek 2014; Schallberger 2003), Kriminologie (Hoffmann und Musolff 2000; Ley 2011; Musolff 2002; Oevermann 1984; Oevermann et al. 1985, 1996) sowie Familie bzw. Familienhilfe (Heinzmann 2005; Helsper et al. 2009; Hummrich 2011; Konrad 2017; Zizek 2016; zur Geschichte vgl. Becker-Lenz et. al 2016). Aufgrund der Anlage des objektiv-hermeneutischen Verfahrens eignet sich die Methode nicht nur für die Grundlagenforschung bzw. eine auf Erzeugung formaler Rationalität ausgerichtete Forschungspraxis, sondern auch für den Einsatz in allen Praxisfeldern professionalisierter Intervention (Garz und Raven 2015, S. 107–135). So kann sie in der psychologischen, der pädagogischen bzw. sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Praxis im Sinne einer Krisenintervention nicht nur als ein – den konkreten Einzelfall – aufschließendes diagnostisches Instrument eingesetzt werden, sondern auch – wie im Falle der Supervision – als Instrument der Qualitätssicherung interventiver Praxis. Letzteres deshalb, weil das rekonstruktive Verfahren dem eigenen Anspruch nach wie kein anderes professionalisierten Praktiker/innen dabei helfen kann, sich über ihr „naturwüchsiges Fallverstehen [und damit ihr interventives Handeln] Rechenschaft abzulegen und daraus eine
14 Für Ausnahmen s. z. B. für Finnland (Rostila 2017a, b), für Südkorea (Lee 2004; Park 2007; Ryu 2015); für die USA (Jansen 2011; Jindra und Jindra 2003). 15 In diesem Zusammenhang ist auch auf die Ausbildung für Erzieher/innen an der Fachschule für Sozialpädagogik im Rahmen der „Erziehungshilfe gemeinnützige GmbH“ in Siegburg hinzuweisen (http://www.fs-ipd.de/start/), die im Rahmen von Fallrekonstruktionen sehr ausführlich mit der Methode der objektiven Hermeneutik arbeitet. Siehe auch das Fallarchiv an der Universität Kassel (http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/category/methoden/objektive-hermeneutik/).
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D. Garz und U. Raven
Rechtfertigung für ein scheinbar unwissenschaftliches, weil mit hohen intuitiven Anteilen bzw. Anteilen einer Kunstlehre behaftetes Vorgehen zu beziehen“ (Oevermann 2000a, S. 155). Darüber hinaus misst Oevermann der Nutzung des Verfahrens in der Aus- und Weiterbildung professionalisierungsbedürftiger Berufe – das sind alle Berufe, die sich der stellvertretenden Krisenbewältigung widmen – eine besondere Bedeutung zu. In der Ausbildung der Sozialarbeit – etwa in Fall- bzw. Forschungswerkstätten (Kraimer und Wyssen-Kaufmann 2012; Riemann 2011) kann man auf diese Weise eine besondere Fallsensibilisierung erlangen, denn „die detaillierte Analyse von Protokollen der Interventionspraxis ist besonders geeignet, auf typische Fallen aufmerksam zu werden, Dinge zu bemerken, die man sonst leicht übersehen kann“ (Oevermann 2008, S. 11). Grundsätzlich sieht er in der Einübung in die Kunstlehre im Rahmen von Lehrveranstaltungen an Universitäten und Hochschulen eine Vorbereitung auf die spätere Praxis im Sinne des Erwerbs eines beruflichen bzw. professionellen Habitus zur Diagnose und Intervention.
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D. Garz und U. Raven
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Biografische Fallrekonstruktionen Heidrun Schulze
Inhalt 1 2 3 4
Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der biografischen Methode zur Fallrekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahren und Auswertungsschritte der biografischen Fallrekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . Aktuelle Diskussionen: Narrations-, diskurs- und situationsanalytische Rekonstruktion und Dekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Eine biografische Perspektive in der Forschung zu psychologisch relevanten Fragestellungen scheint zunächst naheliegend, auch Einzelfallstudien haben eine lange Tradition. Gleichzeitig sind in der disziplinären Erkenntnisgewinnung Denkansätze der Universalisierung psychischen Geschehens wie kognitivistisch orientierte Handlungstheorien dominant, die sich an einer naturwissenschaftlich ausgerichteten Psychologie orientieren und ahistorische und asoziale Subjekte kreieren. Die sozialwissenschaftliche Biografieforschung mit ihrer Vergesellschaftsperspektive auf das Konstrukt „Biografie“ verfolgt das Ziel, prozessuale, historisierende wie kontextualisierende Fallstudien methodologisch und methodisch zu bearbeiten. Mit dem Zugang der biografischen Fallrekonstruktion werden die subjektiven Erfahrungen und deren erinnernde Zuwendung in Form biografischer Erzählungen in ihrer biografischen Genese und ihren Konstruktionen in der Gegenwart analysiert. Die biografische Fallrekonstruktion nach Rosenthal unterscheidet hier zwischen dem „erzählten Leben“ (Gegenwartsperspektive) und dem „erlebten Leben“ (Vergangenheitsperspektive). In dem Beitrag werden H. Schulze (*) Hochschule RheinMain, Wiesbaden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_48
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H. Schulze
die Geschichte der „biografischen Perspektive“ in der psychologischen Forschung und die Grundannahmen sowie die Auswertungspraxis exemplarisch an einer Fallskizze dargestellt und perspektivische Erweiterungen zu den Analysepositionen Diskurs, Figuration, Situation diskutiert. Schlüsselwörter
Psychologische Wissensbildung · Rekonstruktive Biografieforschung · Prozessorientierte historisierende gesamtbiografische Analyse · Sequenzanalyse · Genotypus · Diskurs · Figuration · Situationsanalyse
1
Entstehungsgeschichte
1.1
Geschichte und Gegenwart der Biografie in der Psychologie
Sigmund Freuds einzigartige, extensive Beschäftigung mit einzelnen Lebensgeschichten und die durch ihn begründete Psychoanalyse änderten den Blick auf das Thema Biografie. Deutlich wurde, dass nicht nur jede/r, wie die „Großen“ der Geschichte, eine Biografie, „sondern dass jeder ein besonderes Lebensdrama hat“ (Fuchs-Heinritz 2000, S. 84). Schon bei Freud zeigt sich die Spannung zwischen einer einzelfallorientierten, biografischen Methode und dem Ziel, verallgemeinerbare intrapsychische Strukturen herauszuarbeiten. Konstitutiv für diese Spannung ist, damals wie heute, eine auf Gesetzhaftigkeit oder Prozesshaftigkeit beruhende Erkenntnishaltung menschlichen Denkens und Handelns. Im Zentrum steht die Bedeutung der konkreten Erfahrung einer Person in einem spezifischen Kontext (Fischer-Rosenthal 1995; Keupp 1993). Die Zurückhaltung gegenüber biografischen Einzelfallstudien als Instrument der psychologischen Wissensgenerierung kommentierte Hans Thomae 1996 in einem Interview: „Allerdings ist, während in der Soziologie die biografische Methode einen großen Aufschwung erlebte, die Luft für diesen Ansatz in der Psychologie immer rauer geworden“ (Straub 2004, Abs. 56). Thomae wendete sich der biografischen Methode schon in den Nachkriegsjahren zu (1952, 1987). Er grenzte sich von Universalisierungsstrategien und deren inhärenter „Substanzialisierung des psychischen Geschehens“ (Straub 2004, Abs. 24) ebenso ab wie von kognitivistisch orientierten, auf rationalen Wahlen beruhenden Handlungstheorien. Zwar richtete sich sein Fokus statt auf Lebensphasen, Kategorien und kausalanalytische Fragestellungen auf Prozesse und Verläufe (Thomae 1995), um psychische Phänomene in ihrem historischen Charakter zu begreifen und sie nicht auf simplifizierende Konstrukte zu reduzieren (Straub 1989); sein biografisches Forschungskonzept verblieb jedoch bei Datengewinnung und -auswertung an einer quantitativen Auswertungslogik der Persönlichkeitspsychologie und an einem statischen Persönlichkeitsbegriff orientiert. Kaiser (2005) bezeichnet Thomaes Forschungslogik daher als eine Art „Hybridstrategie“, die Jüttemann (1999) später als „genetische Persönlichkeitspsychologie“ mehr prozessorientiert konzeptualisierte.
Biografische Fallrekonstruktionen
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Mit der Einführung der biografischen Methode in der Psychologie waren also subjekttheoretische Grundannahmen verbunden, die sich von naturwissenschaftlichen, auf Universalität zielenden und subjekteliminierenden Ansätzen unterschieden. Beansprucht wurde, soziale Prozesse in ihrer Komplexität zu betrachten und situative Besonderheiten nicht als „Störungsquelle“ bei der Erkenntnisbildung zu neutralisieren oder auszuschalten. Rückblickend ist das Thema „Häufigkeit oder Prozess“ schon bei Kurt Lewin zu erkennen: Bereits Anfang der 1930er-Jahre wies er mit seinem „Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie“ auf die erkenntnistheoretische Unterscheidung zwischen „beschreibender“ und „konditional-genetischer“ Begriffsbildung, also zwischen Phänotypus (hervorgebracht durch Gesetzlichkeit und Regelmäßigkeit und als Gegensatz zum individuellen Fall) und Genotypus (hervorgebracht durch die volle Erfassung der Dynamik des Einzelfalls) hin. Lewin warf der in ihrer Systematik an die Klassifizierung aristotelischer Begriffsbildung gebundenen Psychologie eine „Geringschätzung des Alltäglichen“ vor (Lewin 1931, S. 445). Deren Untersuchungsinteresse liege vor allem auf „einfachen Elementen“, die allem Verhalten gemeinsam seien, und gerade nicht in der individuellen Eigenheit eines einzelnen Falls, ihm aber ging es um die Dynamik konkreter psychischer Prozesse. Lewin arbeitete die unterschiedlichen Zugänge zur sozialen Welt heraus, einerseits das Streben der aristotelischen Philosophie nach kategorialer Allgemeingültigkeit, andererseits die Erkenntnisbildung durch die Analyse einzelfallorientierter Prozesse in Anlehnung an die dynamische Physik; Letzteres übertrug er auf die Psychologie. Seine Ausführungen haben eine grundlagentheoretische Bedeutung in der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen, und damit rekonstruktiven einzelfall- und prozessorientierten, Biografieforschung eingenommen; und dies, obgleich er weder die Kategorie der „Biografie“ noch den Prozess zwischen Individuum und Gesellschaft als Konstitutionsbedingung mitdachte. Seine Kritik an der Geringschätzung des Alltäglichen in der psychologischen Forschung stellt angesichts der Auseinandersetzung von Psychologie als Naturwissenschaft versus Psychologie als Subjektwissenschaft (exemplarisch hierzu die Aufdeckung von Prozessen des Alltags ausgehend vom biografisch-historischen Subjektstandpunkt in der Kritischen Psychologie bei Holzkamp 1995) heute noch einen Streitpunkt dar. Keupp (1993) hat hierzu der Sozialpsychologie eine anhaltende Fortsetzung der Abstinenz gegenüber sich verändernden Vergesellschaftungsprozessen attestiert. Argumentativ hat es Holzkamp (1995) durch die Explikation der Vorannahmen der Erkenntnisgewinnung der traditionellen Psychologie auf den Punkt gebracht: Die Erkenntnisverfahren seien an eine konstruierte Standardsituation wie „das Experiment“ oder in Analogie zum Experiment an ein von der Alltagswirklichkeit getrenntes „therapeutisches Setting“ gebunden. Das Ergebnis sei eine „Verdoppelung“ der Realität. Denn die eigentliche empirische Forschung finde entweder in einer „experimentellen“ oder in einer „therapeutischen Realität“ statt, in der „eine alltägliche Realität mindere Dignität und Aussagekraft“ habe (Holzkamp 1995, S. 828); dies führe zur „vorsätzlichen Blindheit der Psychologie“ (Holzkamp
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1995, S. 828) gegenüber der konkreten Lebenspraxis von Subjekten. Auch Kaiser (2005) kritisiert, dass der Mensch von der (natur-)wissenschaftlichen Psychologie entgegen der alltäglichen Erfahrung als ein „a-historisches und a-soziales Wesen“ gesehen werde. Aber nicht nur in der Psychologie, sondern auch in der Sozialwissenschaft werde der Mensch, so Norbert Elias (1972), erst getrennt gedacht und dann wieder in Beziehung gesetzt.
1.2
Historischer Hintergrund biografischer Fallstudien
Das Konzept der sozialwissenschaftlichen Biografieforschung versucht die Frage, wie sich Vergesellschaftungsprozesse auf Individuen auswirken, mit dem sozialwissenschaftlichen Konstrukt von „Biografie“ methodologisch und methodisch zu bearbeiten. Biografie ist biografietheoretisch nicht identisch mit einem chronologischen Lebensverlauf und auch keine individualpsychologische Kategorie. Stattdessen wird Biografie gefasst als ein sprachliches Produkt in Gestalt der narrativen Zuwendung zur eigenen Lebensgeschichte und als ein soziales Konstrukt, in dem Individuum und Gesellschaft in unauflöslicher Interdependenz interagieren. Biografie bildet so einen lebendigen Erfahrungs- und Handlungsort zwischen gesellschaftlich Vorgefundenem und handelnd konstituierten Prozessen (Jüttemann und Thomae 1987, 1998). Hintergrund der Entstehung der Biografieforschung war die Reflexion gesellschaftlicher Veränderungsprozesse Anfang des 20. Jahrhunderts in Amerika. An der Universität Chicago richtete sich in den 1920er-Jahren das Forschungsinteresse auf Alltagswelten und subjektive Sichtweisen in Verbindung mit den Bedingungsrahmen sozialer Prozesse. Hatte Lewin in der psychologischen Erkenntnisbildung die „Geringschätzung des Alltäglichen“ kritisiert, so stand im Zentrum des Interesses der Chicago School genau die Frage, wie Menschen, aktiv als Subjekte und nicht als Forschungsobjekte, ihre Alltagswelt erleben, deuten und gestalten. Für die systematische Berücksichtigung von Subjektivität wurden biografische Dokumente herangezogen. Gleichzeitig existierten in Amerika wie Deutschland eine dominante statistisch und variablenorientierte Forschung sowie eine makrotheoretisch ausgerichtete Theoriebildung in der Soziologie, und angesichts der Konkurrenz zum behavioralen Positivismus traten einzelfallbasierte Untersuchungen wieder zunehmend in den Hintergrund, teils wurde dem theoretischen Potenzial biografischer Studien misstraut, teils fehlten methodologische Begründungen (Kelle 1994). Die 1970er-Jahre brachten in der Soziologie eine Rückbesinnung auf die Forschungstradition der Chicago School und legten einen zentralen, aber nicht explizierten Grundgedanken neu auf: weg von der Vorstellung von einem Individuum, das sich traditionellen Vorgaben konform entwickelt und hin zu einem Verständnis moderner Gesellschaft, die sich sozialgeschichtlich z. B. durch Industrialisierung, Migration, Verstädterung und Individualisierung verändert und ohne individuelle Initiative und Entscheidungsfähigkeit nicht funktioniert. Die biografische Methode mit ihrem Kerngedanken, man könne über die subjektive Perspektive von Menschen und Gruppen soziale Prozesse erklären, und „jegliche
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Sozialforschung, die die Perspektive von Individuen und Teilgruppen berücksichtigt, ist insofern der Grundstruktur der modernen Gesellschaft angemessen“ (Fuchs-Heinritz 2000, S. 103). Zu Beginn der Biografieforschung in Psychologie und Soziologie in Deutschland lassen sich eine wesentliche Gemeinsamkeit und ein grundsätzlicher Unterschied feststellen: Gemeinsam ist ihnen die veränderte Einstellung zum spezifischen Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft. Thomaes psychologische Biografieforschung interessierte sich entgegen einer reduktionistischen und experimentell ausgerichteten Psychologie für das „Individuum in der Welt“, wobei die „Welt“ als eine Kumulation sozialer Phänomene und damit als ein objektivistisches Wirklichkeitskonstrukt konzeptualisiert wurde. Martin Kohli hingegen, der 1978 den ersten Sammelband der soziologischen Biografieforschung herausgab, versuchte entsprechend der Denkweise des interpretativen Paradigmas nachzuvollziehen, wie handelnde Subjekte ihre Welt, in der sie leben, vom eigenen, lebenslagenspezifischen Standpunkt aus konstruieren, da wirkliche Lebensverhältnisse durch verallgemeinernde Abstraktionen nicht adäquat erfasst werden können (Kohli 1978, S. 24). Zielte die psychologische Biografieforschung anfangs individuumzentriert auf eine prozesshafte und ganzheitliche Lebenslaufperspektive, so fokussierte die interpretative Sozialforschung gesellschaftsbezogen den Zugang Einzelner zur sozialen Wirklichkeit und die Herstellung sozialer Wirklichkeit. Für die Soziologie bedeutete dies eine grundlegend veränderte Denkweise, da hier Individuen nicht als von Gesellschaftsstrukturen „geleitet“ angesehen wurden.
2
Von der biografischen Methode zur Fallrekonstruktion
Die biografische Methode bei Thomae zielte auf die Erforschung psychologischer Phänomene während des gesamten Lebenslaufs und in der Gesamtheit der Person, jedoch bestand noch keine methodologische Konzeption, wie Biografie aufzufassen und methodisch kontrolliert empirisch zu untersuchen sei. Zudem griff Thomae bei der Auswertung auf ein fixiertes Kategoriensystem nomothetischer Psychologie zurück, um „Kontrollierbarkeit wie die Wiederholbarkeit einer biografischen Studie“ (Thomae 1995, S. 252) sicherzustellen; er folgte damit weiterhin dem Mythos einer (bezogen auf Forschende wie Forschungssubjekte) subjektlosen Wissenschaft (Mruck und Mey 1998). Für Wiedemann (1986) hingegen war Biografieforschung der „Königsweg der Klinischen Psychologie“, da die gegenstandsgebundene Theoriebildung als „Domäne der Biografieforschung“ (Wiedemann 1986, S. 301–302) einen ätiologischen Reduktionismus öffne hin zu biografischen Verläufen und damit zu lebensgeschichtlichen Veränderungsprozessen. Über sein Konzept der Biografik als Erforschung biografischer Verläufe geht das Interesse der sozialwissenschaftlichen Biografieforschung (z. B. Kraimer 2004; Oevermann 1988; Riemann 2010; Schütze 1983) mit der von Rosenthal theoretisch zugrunde gelegten Methodologie und Methode der biografischen Fallrekonstruktion jedoch weit hinaus.
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Auf der Basis grundlagentheoretischer Annahmen über die wechselseitigen Konstitutionsbedingungen von Individuum und Gesellschaft (Fischer-Rosenthal 1995; Keupp 2001; Mead 1973 [1934]; Straub 1989) sind mit der biografischen Fallrekonstruktion grundlegende Vorannahmen einer interpretativen und biografischen Sozialforschung verknüpft. Es handelt sich zunächst um ein methodisch kontrolliertes Vorgehen, bei dem angesichts eines zu untersuchenden Phänomens eine spezifische rekonstruktive Fragestellung entwickelt wird. Diese geht davon aus, dass psychische und soziale Phänomene immer an Erfahrungen gebunden sind, die wiederum eine individuell bestimmte, biografische Bedeutung haben. Subjektive Erfahrungen wie auch gesellschaftliche Veränderungsprozesse sind in ihrer biografischen Genese und ihren Konstruktionen in der Gegenwart zu analysieren. Wichtig ist, die Perspektive der Handelnden wie auch die konkreten Handlungsabläufe kennenzulernen (Rosenthal 2005, S. 165). Rosenthal (1995, 2002a) unterscheidet hier zwischen dem „erzählten Leben“ (Gegenwartsperspektive) und dem „erlebten Leben“ (Vergangenheitsperspektive); beide Perspektiven sind im Auswertungsprozess heuristisch zu trennen und in der Analyse der Fallstruktur wieder zusammenzubringen. Für ihre strukturalgestalttheoretische Konzeptualisierung der biografischen Fallrekonstruktion verband Rosenthal (u. a. 1987, 2002a; Rosenthal und Fischer-Rosenthal 2000) die strukturale Hermeneutik Oevermanns (u. a. Oevermann 1980, 1983) mit der von Schütze (u. a. Schütze 1983, 1994) entwickelten Textanalyse und der thematischen Feldanalyse Wolfram Fischers (1982, 1986). Die Forschungsmethodologie von Rosenthal ist zudem stark durch die phänomenologische Diskussion über Aron Gurwitschs Gestalttheorie (Gurwitsch 1929) geprägt, auf deren Grundlage die Dialektik von Erleben, Erinnern, Erzählen theoretisiert (Rosenthal 1995, 2002a) und forschungspraktisch entwickelt wurde: Sprechen über sich und die Welt wird in diesem Verfahren als dialektisches Verhältnis aufgefasst, als wechselseitiges Durchdringen von Ereignen, Erinnern und Erzählen in der Gegenwart, wonach im Rückblick auf die Vergangenheit eine jeweils spezifische Vergangenheit geschaffen wird (McAdams 1993; Rosenthal 2002a, 2010). Lebenserzählungen sind demnach zwar an die Erlebnisse eines Subjekts gebunden, Erzählungen entstehen nicht ohne Grund und ohne biografische, und damit geschichtliche, Bedeutung, jedoch besteht eine prinzipielle Differenz bzw. fallspezifische Interdependenz zwischen Erzählungen und den erlebten Ereignissen. Zentral im Forschungsprozess ist die Frage nach den Lebenserinnerungs- und Erzählprozess strukturierenden Einflüssen und Mechanismen, aus denen sich im Zuge der interpretativen Analyse des Erzeugungsprozesses eine Fallstruktur herauskristallisiert. Grundlage bildet die Annahme, dass während des biografischen Erzählens eine reflexive Zuwendung und Verständigung über sich selbst, eine Selbstvergewisserung, Verortung und Orientierung über die soziale Wirklichkeit geschieht, die sich zum einen auf einen Prozess biografischer Strukturierung bezieht, zum anderen diesen zugleich in der Zuwendung eigensinnig re-strukturiert. Insofern kann das biografische Erzählen nicht nur als „Datenerhebungsinstrument“ aufgefasst werden, da es immer auch ein Reflexionsmedium für die Erzählenden eröffnet. Fallrekonstruktionen sind aber nicht immer gleich biografische Fallrekonstruktionen. Als „Fall“ kann zunächst eine Untersuchungseinheit bestimmt werden,
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z. B. eine Person, Familie, Gruppe oder Organisation (Hildenbrand 1990, 1999; Kraimer 2000; Oevermann 1993). Die grundlegende theoretische Übereinstimmung zwischen biografischer Fallrekonstruktion und der Rekonstruktion anderer sozialer Einheiten ist durch das sequenzielle Analyseverfahren charakterisiert, bei dem die im sequenziellen Ablauf sich reproduzierende oder transformierende und damit generalisierbare Fallstruktur herausgearbeitet oder (Fall-)Strukturhypothesen formuliert werden. „Sie [die Sequenzanalyse] folgt der menschlichen Entwicklungslogik und der Logik der Sprache gleichermaßen. Charakteristisch ist das ‚Anschmiegen‘ der Methode der Sequenzanalyse an den Erfahrungsgegenstand. Damit unterscheidet sich dieses ‚lebendige‘ Verfahren radikal von allen anderen (statischen) Ansätzen und kann für sich in Anspruch nehmen, den realen sequenziellen Prozess abzubilden.“ (Kraimer 2008, S. 8)
Für die Analyse von Interaktionszusammenhängen als Untersuchungsgegenstand haben sich verschiedene Erhebungs- und Auswertungsverfahren entwickelt: Mittels prozesshaft organisierter Materialien wie Interview, Familiengespräch, Teaminteraktion, Gruppendiskussion, Therapie- und Beratungsgespräche, intergenerationeller (Erwachsenen-Kind-)Interaktion kommen Verfahren wie die Biografie-, Narrations-, Kommunikations-, Interaktions-, Diskurs- und Ethnografieanalyse wie auch Video-, Bild- und Dokumentenanalyse zur Anwendung. Gemein ist ihnen allen, dass sie auf zwei grundlegenden methodischen Abläufen, dem rekonstruktiven (nicht subsumtionslogischen) und dem sequenziellen (verlaufsorientierten) Vorgehen, basieren. Im Fokus steht die Genese des Falls, einzelne Elemente werden nicht aus dem Prozess herausgegriffen und einzeln interpretiert (Fischer-Rosenthal und Rosenthal 1997; Hildenbrand 1995; Oevermann et al. 1979; Rosenthal 2001, 2005; Schütze 1976). Eine Fallrekonstruktion beginnt allerdings schon mit der Datenerhebung, bei einer biografischen Fallrekonstruktion konkret durch die Protokollierung von der ersten Kontaktaufnahme an und mit der narrativen Gesprächsführung innerhalb eines narrativen Interviews (eingeführt von u. a. Schütze 1983, 1987; weiterentwickelt durch u. a. Rosenthal 2002b, für das Forschungsfeld der Psychologie diskutiert von Legewie 1987 und Straub 1989; für die Sozialpsychologie von Wengraf 2001; auf den Kontext von Traumatisierung übertragen von Loch 2002; auf Beratung und Therapie von Loch und Schulze 2002; Schulze 2008; Schulze und Loch 2010). Eine Weiterentwicklung findet gegenwärtig durch die Verknüpfung mit dem linguistisch inspirierten, im Sozialen Konstruktionismus (Gergen 2002 [1999]) eingebetteten und Gedanken Foucaults (u. a. 1976, 1988 [1963]) aufgreifenden „Narrative Therapy“-Ansatz (u. a. White und Epston 2009 [1989]; White 2009 [2005]) statt, bei dem durch die sog. narrativen Fragen insbesondere die eigene Bedeutungszuschreibung der interviewten Gesprächspartner/innen in den Mittelpunkt gestellt werden, mit der die Interpretationshoheit zumindest zu dezentrieren versucht und ein dialogisches Verstehen angestrebt wird (Schulze 2014). Anknüpfend an Vygotskijs (2002 [1934]) tätigkeitsorientierte Entwicklungspsychologie wird ein sensibilisierendes Konzept für intentionale und tätigketisorientierte Fragen sowie für die interpretatorische Aufmerksamkeit erschlossen.
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3
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Verfahren und Auswertungsschritte der biografischen Fallrekonstruktion
Im Folgenden wird das Auswertungsverfahren von Rosenthal mit den zugehörigen forschungspraktischen Arbeitsschritten dargestellt. Mit seinem offenen Zugang in Form der biografisch-narrativen Datenerhebung und den anfänglich forschungsfragenunabhängigen handwerklichen Analyseschritten ist es feldunabhängig anzuwenden. Nach der Herausarbeitung der prozessualen Strukturgesetzlichkeit des Falls können spezifische Fragen unterschiedlicher disziplinärer Provenienzen an das Material herangetragen werden. Als exemplarisches Datenmaterial dient ein biografisch-narratives Interview mit einem Patienten aus einer psychosomatischen Rehabilitationsklinik (Oeste 2005).
3.1
Analyse der biografischen Daten (Ereignisdaten)
Hier geht es zunächst um die beiden Auswertungsschritte „erzähltes Leben“ und „erlebtes Leben“ (engl. life story und life history), denen Rosenthals Annahme zugrunde liegt, Erzählungen würden aus einer bestimmten Perspektive in der Gegenwart erzählt, das Erleben der Gegenwart werde aber auch aus den Erfahrungen der Vergangenheit beeinflusst. Für den ersten Auswertungsschritt werden die biografischen Daten einer Lebensgeschichte (z. B. Ausbildung, Krankheiten, Gesellschaftsereignisse) aus allen vorhandenen Datenquellen (z. B. Interviews, Arztberichte, behördliche Akten) in chronologischer Reihenfolge aufgelistet. Die anschließende sequenzielle Analyse der objektiven oder biografischen Daten lehnt sich an das von Oevermann vorgeschlagene Vorgehen an (Oevermann et al. 1980). Obgleich biografische Daten im Interview nicht immer erwähnt werden, müssen sie anhand zu erwartender sozialisatorischer und kontextspezifischer Abläufe oder historischer Ereignisse mit aufgelistet werden, um für Nicht-Thematisiertes aufmerksam zu bleiben. Im zweiten Auswertungsschritt werden zu jedem dieser Daten in sequenzieller Abfolge Hypothesen über die biografische Bedeutung dieser Ereignisse zum lebensgeschichtlichen Zeitpunkt und in der entsprechenden Lebensphase, also im potenziellen Erleben gebildet, ohne Wissen über nachfolgende Daten oder Selbstaussagen der Biograf/innen einzubeziehen (Oevermann 1980; Rosenthal 2005; Rosenthal und Fischer-Rosenthal 2000); die Hypothesenbildung beschränkt sich auf die kontrollierte und systematische Nutzung von historischem, entwicklungspsychologischem oder anderem, für den Gegenstand relevanten Wissen. Die Hypothesenbildung orientiert sich an der Frage, welche biografischen Bedeutungen ein spezifisches Erlebnis in einem bestimmten Lebensalter vor dem Hintergrund der bisher erlebten Erfahrungen und in der jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Rahmung gehabt haben könnte. Hierdurch wird ein Möglichkeitsraum biografischer Handlungen im Sinne der Transformation und Reproduktion eröffnet, um einer vorschnellen Determiniertheit der Lebensgeschichte vorzubeugen. Die Hypothesen aus vorangegangenen Daten werden auf ihre Plausibilität hin überprüft und nach der Auslegung
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Tab. 1 Biografische Daten zum Fallbeispiel 1964 1970 1974 1978 1980 1982 1989 a
Geburt von Gero Franka als zweitem Sohn einer katholischen Familie in einem katholisch geprägten Dorf der DDR an der Grenze zur BRD Einschulung und Jungpionier Thälmannpionier Jugendweihe Schulaustritt, Beginn der Lehre zum Elektromaschinenbauer Militärdienstverweigerung, Ausreisebeantragung Ausreise mit offiziellen Ausreisepapieren
Name maskiert
des letzten bekannten Datums zusammengefasst. Ziel ist eine Strukturhypothese über das gelebte Leben, die den dritten Auswertungsschritt vorbereitet: die Rekonstruktion der Fallgeschichte, wobei die gebildeten Hypothesen mit den Selbstaussagen der Befragten kontrastiert bzw. systematisch berücksichtigt werden. Die Analyse beginnt mit dem ersten Datum, die Hypothesen beziehen sich auf die Bedeutung für die Biograf/innen zur damaligen Zeit. Die Logik der Hypothesenbildung basiert auf Hypothese und Gegenhypothese, die im weiteren Verlauf plausibilisiert oder falsifiziert werden. So ließe sich zum ersten Datum im Fall Gero Frank in Tab. 1 beispielsweise fragen: Welchen Einfluss könnten geografische Lage oder Religiosität der Familie gehabt haben? Welche staatlichen Sozialisationseinflüsse können angenommen werden? Nach der Hypothesenbildung können Folgehypothesen über die Potenzialität des weiteren Lebensverlaufs und damit die biografischen Bewältigungsaufgaben aufgestellt werden.
3.2
Text- und thematische Feldanalyse
Der Auswertungsschritt der Text- und thematischen Feldanalyse dient der heuristischen Unterscheidung zwischen der Gegenwartsperspektive während des Erzählprozesses und der konkreten Erfahrung in der Vergangenheit. Forschungslogisch und methodisch soll damit der Homologieschluss von Erzählung und Ereignis aufgehoben werden. Analysiert wird die Genese der Präsentation während der Erzählzeit. Hierzu wird eine Art „Inhaltsverzeichnis“ nach Textsorten, Sprecher/ innenwechsel und Themenwechseln erstellt und sequenziell analysiert,1 um die Strukturbildung der Lebenserzählung während des Erzählaktes herauszuarbeiten. Das Transkript wird nach Wechseln von Inhalt, Textsorten (entsprechend der linguistischen Unterscheidung von Erzählung, Bericht, Beschreibung und Argumentation nach Kallmeyer und Schütze 1976) und Sprechenden unterteilt; (vgl. Tab. 2). Anschließend werden zu jeder Sequenz Hypothesen entlang folgender Fragen aufgestellt: Warum werden diese Inhalte an dieser Stelle präsentiert, warum in dieser Textsorte und warum in dieser Ausführlichkeit bzw. Kürze? Auch bei diesem 1
Zu den Kategorien der Sequenzierung, s. Rosenthal (1995, S. 240–241).
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Tab. 2 Interview-Sequenzen zum Fallbeispiel Z 8-25
Globalevaluation/ fremderzählte Geschichte
Z 26-32
Argumentation
Z 32-44
Belegerzählung Abschlussevaluation
Z 45-52
Argumentation
fang chronologisch an/, zweites Kind der Eltern/ Mutter Mädchen gewünscht/war enttäuscht/Hebamme sagt, dass es eine Totgeburt sei/Mutter katholisch/ Schuldgefühle/Arzt sagt, lebt nich/hab ich dann angefangen zu schreien/war als Baby unansehnlich/mit Geschwüren und Flecken orthopädische Kur vor 14 Jahren/psychologische Betreuung gewählt/gedacht viel hilft viel/hat sich als „goldrichtig“ erwiesen/daraufhin Symptome weg Szene aus seinem Wiegenalter wird bewusst/Babykorb auf dem Tisch/Bruder will hineinsehen/rausgefallen/ heftigst geschrien/ bewusst geworden, dass die Mutter diese Schreie immer durch Schläge unterbunden hat erste Erfahrung, an die ich mich jetzt mittlerweile erinnern kann also ich hab mich nich geliebt gefühlt/Zuflucht nur bei meiner Uroma gehabt/Spruch geprägt der arme Junge is das fünfte Rad am Wagen/gestorben ich war 5 Jahre
abduktiven Schlussfolgerungsverfahren wird das Wissen um nachfolgende Sequenzen ausgeklammert; die entlang bereits interpretierter Sequenzen gebildeten Lesarten werden auf der Basis der neuen Hypothesen überprüft und gegebenenfalls plausibilisiert bzw. verworfen, um herauszufinden, „welche Mechanismen die Auswahl sowie die temporale und thematische Verknüpfung der Geschichten steuern“ (Rosenthal 1995, S. 218). Ziel ist, das manifeste Präsentationsinteresse in der gegenwärtigen Situation (wie will der/die Biograf/in sich verstanden wissen?) sowie die in den Erzählungen von Geschichten eingewobenen Sinnbotschaften der Biograf/innen zu rekonstruieren. Letztere finden sich wie ein „roter Faden“ in jeder Sequenz, sie enthalten Verweise auf ein mögliches thematisches Feld, das sehr verkürzt als Sinnzusammenhang bezeichnet werden kann, in den die Erlebnisse während des Erzählens eingebettet werden. Neben manifesten werden hier auch nicht thematisierte bzw. nicht thematisierbare, aber in den Erzählungen zusätzlich kopräsente Themen deutlich, die vermieden werden bzw. nicht in das gegenwärtige Präsentationsinteresse hineinpassen. Die aus Text- und thematischer Feldanalyse gewonnenen Annahmen ermöglichen, die Bedeutsamkeit von Erlebnissen in der Gegenwart zu verstehen, und dienen wie die Hypothesen der biografischen Datenanalyse als Kontrastfolie für die nachfolgende Fallrekonstruktion. Konkret zum Fallbeispiel könnte gefragt werden: warum beginnt Gero Frank 2004 gegenüber einer westdeutschen Interviewerin (Studentin) seine Lebensgeschichte mit dieser Eingangssequenz zu seiner Geburt? Eine solche Frage sensibilisiert für lebensgeschichtliche wie auch historische, politische, kulturelle und strukturelle Bedeutsamkeiten. Denn jede lebensgeschichtliche Erzählung ist ein-
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613
zigartig und kollektiv zugleich, da sie auf Erlebnisse, Erfahrungen oder Konstruktionen hindeutet, die immer durch zurückliegende kollektivgeschichtliche Entwicklungen oder Erwartungen, Zuschreibungen und Tabuisierungen, damit durch gegenwärtige gesellschaftliche und institutionelle Kontexte beeinflusst sind (Loch 2007; Schulze 2006, 2007, 2009). Bei der Analyse von Gero Franks Lebenserzählung muss beachtet werden, dass das Interview nach dem „Mauerfall“ (und damit einer Neuordnung gesellschaftlicher Verhältnisse) im „Westen“ stattfand, also im Kontext westlicher Diskurse und Zuschreibungen an die DDR und deren Bürger/innen. Die erzählte Vergangenheit jedoch bezieht sich auf eine durch staatliche Totalität bestimmte soziale Realität, die durch restriktive Kontrolle politischer und lebensweltlicher Diskurse geprägt war. Beide Ebenen sind im Moment des Erzählens der Lebensgeschichte untrennbar als sinnproduzierende Verflechtung von sich gegenseitig beeinflussenden und verändernden vergangenen und gegenwärtigen Machtdiskursen als figurative Narration enthalten, die im Lebensprozess durch die Biograf/innen fortwährend im Kontext fließender Machtbalancen verändert werden (können) (Schulze 2009). Ziel der thematischen Feldanalyse ist, die Struktur der Lebenserzählung zu extrahieren. Fragen hierzu sind et al.: Welche gegenwärtig bewusste und intentional gesteuerte biografischen Globalevaluation präsentiert die erzählende Person? Welche sich durch latent wirkende Mechanismen der Vergangenheit und Gegenwart herstellende biografische Gesamtsicht kristallisiert sich heraus? Der Fokus liegt hier nicht (wie bei den biografischen Daten) auf den Ereignissen, sondern darauf, welche Themen wie angesprochen und mit welchen sprachlichen Mitteln realisiert werden. Diese Präsentationen können als „Strategien der Identitätskonstruktion“ (LuciusHoene und Deppermann 2002, S. 134) angesehen werden. Im fallrekonstruktiven Verständnis wird davon ausgegangen, dass die gewählten Eingangsthemen auf in der Gegenwart dominante Lebensthemen verweisen. Sie bilden die Gegenwartsperspektive (Fischer 1978), mit der sich Menschen in der Gegenwart des Erzählens ihrem Leben zuwenden.
3.3
Feinanalyse der Eingangssequenz
Zur Rekonstruktion der Fallgeschichte werden an mehreren Interviewpassagen Feinanalysen vorgenommen. Dieses Vorgehen orientiert sich an der strukturalen, nach Gesetzmäßigkeit im Einzelfall suchenden, Hermeneutik. Kriterien für die Auswahl von Textstellen sind 1. Interviewpassagen, die Hinweise auf latente Bedeutungsinhalte haben, 2. Textpassagen (auch aus Begleitbeobachtungen in Form von Memos), die im Sinne einer erfahrungswissenbegründeten oder positionsgebundenen „affektiven Sensibilität“ zu Irritationen bei den Forschenden geführt haben und die als analytisches Entdeckungspotenzial genutzt werden können, auch für die interaktiven Wechselwirkungen von Forscher/innen und den Akteur/innen im Forschungsfeld (Müller und Witek 2015) und 3. das Überprüfen und Verifizieren, aber auch Relationieren (Clarke 2012 [2005]) von im Prozess der Auswertung bereits
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H. Schulze
entwickelten Hypothesen. Insbesondere die Eingangssequenz wird untersucht, da ein empirisches Wissen darüber besteht, dass die beim Erzähleinstieg ausgewählten Themen bereits Hinweise auf die Fallstruktur geben (über die extensive Auslegung der Eingangssequenz: Hildenbrand 1990; Oevermann 1983, 1988).
3.4
Rekonstruktion der Fallgeschichte
Bei der Rekonstruktion der Fallgeschichte wird die Bedeutung von Erlebnissen in der Vergangenheit für Biograf/innen und deren Genese in der Lebensgeschichte rekonstruiert. Hierzu werden die Hypothesen der textunabhängigen biografischen Datenanalyse und die Strukturhypothesen aus der thematischen Feldanalyse anhand des Interviewtextes mit den Aussagen der Biograf/innen verglichen. Diese Ergebnisse enthalten die jeweilige Gegenwartsperspektive der Biograf/innen, deren Kenntnis das Annähern an ihre Vergangenheitsperspektive und darüber die Rekonstruktion des Erlebens in der Vergangenheit unterstützt. So wird ein quellenkritischer Blick auf die Interviews möglich, da eine Annäherung an die vergangenen Erlebnisse möglich wird, ohne die grundsätzliche Differenz zwischen Erzählen und Erleben aufzuheben. Zur Rekonstruktion der Fallgeschichte werden an mehreren Interviewpassagen Feinanalysen vorgenommen.
3.5
Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Lebensgeschichte
Mit der abschließenden Kontrastierung von erzählter und erlebter Lebensgeschichte, also dem Vergleich der Erlebens- mit der Erzählebene, wird aufgezeigt, in welchem Bedeutungszusammenhang die Präsentation zur Lebenserfahrung der Biograf/innen steht und umgekehrt, in welcher Weise das Erleben die Präsentation bestimmt (Rosenthal 1995). Der Begriff der „Kontrastierung“ meint nicht etwa die „Entlarvung“ eines verheimlichten Inhaltes, sondern das heuristische Potenzial der latent wirkenden Steuerungsmechanismen, die auf die sprachlich präsentierte Biografie (als Gesamtheit von erzählter und erlebter Lebensgeschichte) strukturbildend wirken (Rosenthal 2006). Ziel ist, die Funktion der spezifischen Darstellung in der Gegenwart (Gegenwartsperspektive) mit Blick auf das erlebte Leben (Vergangenheitsperspektive) in ihren sich wechselseitig beeinflussenden Wirkungen zu entschlüsseln (zur kritischen Auseinandersetzung mit einem verfehlten Dichotomieverständnis: ausführlich Apitzsch 2003). Gefragt wird: Welche Vergangenheitserfahrung legt eine solche Präsentation der Lebensgeschichte nahe? Am Fall Gero Frank: Wie hängt seine Darstellung mit der vergangenen alltäglichen Lebenserfahrung in der DDR und nach 1989 in der BRD bis zur institutionellen Erfahrung und Situation zur Zeit des Interviews (stationäre Behandlung in einer psychosomatischen Rehabilitationsklinik) zusammen?
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3.6
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Typenbildung
Bei der Typenbildung wird die, durch Kontrastierung von erzähltem und erlebtem Leben generierte, spezifische, sich auf den Einzelfall beziehende Fallstruktur im Hinblick auf die Forschungsfrage und mit Fokus auf der Strukturgeneralisierung kontextualisiert. Ausgangspunkt der typenbasierten Theoriebildung ist die Annahme, dass jeder einzelne Fall immer sowohl Allgemeines (Teil der sozialen Wirklichkeit) als auch Besonderes (individuelle Transformationen) enthält. Im Unterschied zu einer deskriptiven Typologie (Zuordnung zu einem Typus nach äußeren Merkmalen wie Jahrgang, Milieu, Krankheitsart/-verlauf) wird in rekonstruktiven Verfahren der Typus mittels weiterer Abstrahierung der rekonstruierten Fallstruktur gebildet (ausführlich Miethe 2009). Während die Fallstruktur in der Logik des Falls bleibt, wird im Typus eine Gesetzmäßigkeit in so abstrakter Form gefasst, dass verschiedene Fälle erfasst werden können, „die trotz unterschiedlicher Ausprägungen einer gemeinsamen Logik folgen“ (Wohlrab-Sahr 1994, S. 274). Die Zuordnung eines Falls zu einem Typus ist demzufolge erst nach einer kompletten Fallrekonstruktion möglich, da ein Typus „weder von gleichen Elementen noch von gleichen äußeren Gegebenheiten abzuleiten“ (Rosenthal 1995, S. 13) ist. Da jeder einzelne Fall im Allgemeinen (Kontext historischer und sozioökonomischer Strukturen) entsteht, ist er auch Teil des Allgemeinen und verallgemeinernd zu theoretisieren. Bei einer genetischen Typenbildung werden die die Fallstruktur konstituierenden Momente „in Absonderung von den situationsspezifischen, d. h. fallspezifischen Besonderheiten“ (Rosenthal 2005, S. 75) rekonstruiert. Nach der Rekonstruktion der Regeln im Einzelfall und durch den Vergleich mit kontrastierenden Fallstrukturen anderer Einzelfälle des Samples erfolgt eine Typisierung, die durch den Abstraktionsgrad in ihrer Bedeutung über den konkreten Einzelfall hinausweist. Denn Lewin (1967 [1927]) folgend bedarf es für die Wirksamkeit dieser Regeln keiner weiteren Fälle, da diese unabhängig davon sind, wie häufig sich ähnliche Regelsysteme auffinden lassen. Im Sinne des theoretischen Samplings nach Glaser und Strauss (1967, Kap. 3) würde nach der Rekonstruktion der Fallstruktur (bei Gero Frank: „psychosomatische Erkrankung durch Wirkungszusammenhänge innerfamilialer und staatlicher Gewalt im DDR-Regime in Wechselwirkung psychotherapeutisch induzierter biografischer Reinterpretation in Westdeutschland“) ein Kontrastfall gesucht, in dem Herkunftsfamilie und Widerstand in der DDR nicht fallkonstituierend sind (minimaler Vergleich), oder aber ein Fall aus den alten Bundesländern (maximaler Vergleich). Ziel des Samplings ist die Bildung unterschiedlicher Typen im Hinblick auf eine Fragestellung. Entsprechend der Fragestellung des untersuchten Falls könnte die Fallstruktur des Biografen Gero Frank einen Typus „Anpassung durch therapiekonforme biografische Reinterpretation als Reproduktion biografischer Strategien“ repräsentieren. Die grundsätzliche Frage lautet: Wie hängen lebensgeschichtliche und damit immer auch psychische Prozesse mit gesellschaftlichen Prozessen zusammen? Je nach Spezifizierung der Frage würde ein und derselbe Fall einen anderen Typus repräsentieren.
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Aktuelle Diskussionen: Narrations-, diskurs- und situationsanalytische Rekonstruktion und Dekonstruktion
Biografische Fallrekonstruktionen führen in ihrem methodischen Auswertungsprozess zur Ausbildung einer Fremdheitshaltung, um psychologische Fragestellungen nicht vorschnell unter theoretische Selbstverständlichkeitskategorien wie auch implizite Normalitäts- und Abweichungskonstrukte aus Sicht der Forschenden zu subsumieren. Damit ist schon während der Erhebung der Verbaldaten der Anspruch verbunden, die Erzählungen der Interviewten für subjektive erfahrungsnahe und selbstdeutende Narrative zu öffnen, sodass nicht nur biologische, medizinische, psychologische Kategorisierungen (re)produziert werden, womit wir gewöhnlich gewisse Phänomene der Welt fühlen, beschreiben und deuten, die eine Kontrolle darüber erzeugen, was wahr und sagbar ist und was ausgeschlossen wird und als nicht wahr gilt (Villa 2003). Den theoretischen Ausgangspunkt bildet eine sinn- und bedeutungsstrukturierte soziale Wirklichkeit, in der sich das „Leben“ und der „Text“ über das Leben in einer sinnstrukturierten Abfolge bilden bzw. gebildet werden, das Leben in der Vergangenheit erlebt und aus der Gegenwart u. a. in Form von Geschichtenerzählen und oftmals im Rückgriff auf diskursive Praxen mit Bedeutung belegt wird. Beides ist in der sequenziellen Gestalt zu interpretieren und heuristisch aufeinander zu beziehen. Die methodologisch unterstellte Differenz oder Interdependenz (Schulze 2006) zwischen erlebtem und erzähltem Leben hebt dabei den Homologieschluss von Erzählung und Ereignis auf; Erzählungen werden in der jeweiligen Funktion, als biografische Arbeit vor dem Hintergrund des erlebten Lebens, entschlüsselt. Ausgehend von einer lebenslangen Sozialisation des Individuums im Wechselverhältnis zwischen Sozialem und Individuellem knüpft die biografische Fallrekonstruktion an modernitätstheoretische und zeitdiagnostische Überlegungen hinsichtlich notwendiger biografischer Selbstvergewisserung des eigenen Gewordenseins und des aktuellen „Soseins“ in Zeiten von Enttraditionalisierung und Individualisierung an. Dies geschieht in einem ständigen synchronen Aneignungsprozess immer in der Auseinandersetzung mit sich und der Welt. Eine Biografie ist demnach nicht einfach da, der reflexive Bezug zur eigenen Biografie ist uns vielmehr aufgegeben, um Lebensbewältigung im Tätigsein und in der Reflexion auszubilden (Freire 2000 [1968]) und zu stabilisieren oder auch in bestimmten krisenhaften Situationen wiederzugewinnen. Mit der prozessualen und gesamtbiografischen Analyseperspektive liegt der Fokus auf Werdens- und Veränderungsprozessen und nicht auf determinierenden Konflikten oder Bedingungen; einzelne biografische Ereignisse werden nicht atomisiert als problem- oder krankheitsverursachend betrachtet. Dies entspricht den Forderungen von Mey (2000a, Abs. 32), der für die (Entwicklungs-)Psychologie ein methodisches Vorgehen vorschlägt, bei dem der Prozessgedanke zentral ist, statt wie derzeit üblich „Phänomene [. . .] in einzelne Variablen [zu] ‚zerleg[en]‘ und damit letztlich Entwicklung aus den Beschreibungen der Entwicklungspsychologie [zu] eliminier[en]“. Trotz dieser benannten Stärken wurden in jüngster Zeit auch Kritik und daraus resultierend Modifikationen des Verfahrens bekannt. So wird kritisiert, dass diesem
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Verfahren implizite theoretische Vorannahmen innewohnen, die im Ergebnis zu einer starken Dominanz frühkindlicher und familiengeschichtlicher Erfahrungen führen. Dies resultiert zum einen aus einer oftmals stark auf psychoanalytischen Deutungen basierenden Interpretation der biografischen Daten. Zum anderen ergibt sich diese Dominanz auch aus der strikt sequenziellen Interpretation der biografischen Daten, bei der die ersten Daten besonders ausführlich interpretiert werden, womit auch der Deutungsrahmen für die Interpretation der folgenden Daten vorgeben wird. Da die ersten Daten immer familiengeschichtlicher Natur sind bzw. die ersten Lebensjahre betreffen, dominieren diese unweigerlich nachfolgende Interpretationen. Wirkliche Emergenz oder Falsifikation bisheriger Strukturhypothesen bleibt zwar theoretisch möglich, findet in Praxis der Biografieforschung aber selten statt (dazu ausführlich Miethe 2014). Als Lösung für dieses Problem schlägt Miethe (2010, 2014) das Verfahren der theorieorientieren Fallrekonstruktion vor, das eine Modifikation des Verfahrens nach Rosenthal (1995) darstellt. Der impliziten theoretischen Fokussierung auf die ersten Lebensjahre und die Familiengeschichte stellt Miethe eine explizite theoretische Fokussierung der Interpretation der biografischen Daten entgegen, indem sie bei der deren Analyse eine nach theoretischen Gesichtspunkten getroffene Gewichtung der Daten vornimmt. Der sequenzielle Charakter der Interpretation bleibt auch in diesem Verfahren prinzipiell erhalten, allerdings werden nicht unbedingt die ersten biografischen Daten besonders ausführlich interpretiert, sondern vor allem die Daten, die, nach theoretischem Vorwissen, für die jeweilige Fragestellung von besonderer Relevanz sind. (Im Ergebnis zeigen die solcherart interpretierten Einzelfälle (z. B. die Falldarstellungen in Miethe et al. 2015) eine sehr viel geringere Dominanz frühkindlicher und familiengeschichtlicher Prägungen auf, als dies im Verfahren nach Rosenthal der Fall ist). Die rekonstruktive Biografieforschung stellt für die Disziplin der Psychologie eine Methode der Wissensgenerierung dar, in der psychologische Fragestellungen vom Standpunkt der Erfahrung des Subjekts in einer sich verändernden Gesellschaft unter Berücksichtigung der Sozialität des Psychischen empirisch entsprochen wird. Entgegen der sozialwissenschaftlichen Tradition wird damit die klassische Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft aufgehoben, der Blick wird auf die prozessuale Verflechtung von Soziodynamik und Psychodynamik gerichtet. Diese Grundannahme biografieanalytisch auszubuchsabieren, heißt dann beispielsweise im Feld psychischer bzw. psychodynamischer Repräsentationen und psychologischer Fragestellungen die narrative Darstellung der personalen Erfahrung mittels einer relationalen Verknüpfung von Biografie, Diskurs, Situation analytisch zu betrachten, also sowohl eine narrations-, diskurs- und situationsanalytische Dekonstruktions- und Rekonstruktionsperspektive einzunehmen (Schulze 2007, 2011). Der Begriff Situation rekurriert hier zum einen auf (a) die Situation der Erhebung, m.a.W. den Ort der Produktion biografischer Erzählungen, und (b) auf eine offene analytische Haltung gegenüber einem breiten Spektrum von Einflussgrößen gegenüber einer untersuchten Situation, wie sie Clarke (2012 [2005]) als Situationsanalyse mit ihren multiperspektivischem kartografischem Mapping von sog. Positions-Maps vorgelegt hat, um den unterschied-
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lichen Positionierungen der Akteur/innen in einer durch Komplexität konstituierten Forschungssituation Rechnung zu tragen. Hierzu zählen auch die kartografische Abbildung von Diskursen und die Analyse von Positionen, aus denen Diskurse eröffnet werden, deren Berücksichtigung ihre Positionsgebundenheit zur analytischen Schärfe beiträgt. So ist die situative Selbsterzählung, wie insbesondere der Beispielfall in diesem Beitrag zeigt, charakterisiert von Verinnerlichungen bzw. der Übernahme professionell induzierter Wissenshierarchien über intrapsychische Modellbildungen (Psychoanalyse) oder universelle Störungskategorien (Psychiatrie, Klinische Psychologie, Traumatisierung) und den davon durchdrungenen narrativen Identitätsverortungen. Diskurse von Medizin, Psychotherapie, Traumatisierung, ElternKind-Beziehung, Mutterschaft, politische Motiviertheit werden aus verschiedenen Positionierungen der Akteur/innen produziert und reproduziert. Im Fallbeispiel Gero Frank ist die Lebenserzählung ein Produkt eines wirkmächtigen Therapiediskurses: Mit der Erzählung über die Geburt wurde die Mutter-Kind-Beziehung in den Mittelpunkt gestellt und für den gesamten biografischen Verlauf als ursächlich konstruiert (der Biograf erzählt darin seine Geburtsszene, in der er seine diskursivierte Selbstsicht, „meine Traumatisierung durch meine Mutter“, als Vergesellschaftung im Therapiediskurs symbolisiert). Dadurch werden andere Themen durch eine Dominanzgeschichte „unterdrückt“, wiederum andere nicht mehr erzählbar gemacht. Durch verschiedene Wissenskomplexe sedimentierte „Wahrheiten“ werden unhinterfragt zirkuliert und aus spezifischen sozialen und lebensgeschichtlichen Positionierungen heraus übernommen. Das „Fremdwerden der eigenen Biografie“, wie es von Riemann (1987) so treffend in seiner Studie im Kontext Psychiatrie herausgearbeitet wurde, kann zu einer reduktionistischen und entpolitisierten Abspaltung von Menschen gegenüber ihrer eigenen Befindlichkeit und zum sozialen Entstehen eines komplexen Lebensprozesses führen (Schulze 2011). Eine Verquickung von Biografie und Diskurs erfordert, beide Wirklichkeitsdimensionen zu analysieren, die lebensgeschichtliche wie die diskursivierte Präsentation, in ihrer jeweils situativen Verflochtenheit gesellschaftlicher und institutioneller Verständigungsverhältnisse wie auch in der biografischen Funktion der Erzählung vor dem Hintergrund des erlebten Lebens. Wie auch in diesem Beispiel von Gero Frank, konkret in der sozialen Welt der medizinisch-psychotherapeutischen Behandlung, sind biografische Präsentationen unter der systematischen Berücksichtigung von (Selbst-)Normierungsprozessen durch mächtige therapeutische Abstraktionsdiskurse als Praxis moderner Vergesellschaftungspraxis zu verstehen, an denen sich Menschen in ihrem Subjektivierungsprozess (Foucault 1993 [1988]) als legitimierten Identitätskonstruktionen orientieren, die sie verinnerlichen oder zu denen sie, in der Grundannahme von personaler Agency, auch Gegendiskurse entwerfen (Butler 1995 [1993]) und Identitätsangebote auch widerständig abwehren. Denn so die biografietheoretische Annahme: Inwieweit Subjekte sich durch Diskurse vereinnahmen lassen, sie aktiv übernehmen oder
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eigens gestalten, ist immer empirisch am Einzelfall zu rekonstruieren. „Subjekte“ sind immer „sowohl Produzent/innen wie auch Rezipient/innen von Diskursen“ (Pohn-Weidinger 2013, S. 31). Mittels Diskursen positionieren sich Personen im sozialen Raum und fühlen sich durch die Blicke anderer positioniert. Diskurse können auch zur Neu-Positionierung genutzt werden. Damit ist auch gesagt, dass biografische Rekonstruktionen wissenssoziologisch nicht von einem strukturell statischem „Außen“ von einer Art anonymer subjektloser Akteur/innen ohne Zielgerichtetheit in naiver Aufnahme des Foucault’schen Konzeptes von Macht und Diskursen ausgehen (u. a. Foucault 1993 [1988]), sondern von fließenden Diskursformationen, die in unterschiedlichen historischen Situationen und unterschiedlichen situativen und darin immer beweglichen Machtbalancen biografische Selbstzuwendungen, Selbstbewertungen von Subjekten und deren Bewertung von „Anderen“ durchdringen. In der derzeitigen methodologischen wie forschungspraktischen Diskussion um „biografische Fallrekonstruktionen“ ist zunehmend die Frage virulent, welche methodischen Modifikationen nötig sind, um die Verwobenheit von Biografie und Diskurs und damit relationale Machtverhältnisse empirisch untersuchen zu können (Lutz et al. 2018; Tuider und Spies 2017) und wie sich zwischen den zunächst sich getrennt entwickelten wissenschaftlichen Zugängen der narrations-, diskurs- und situationsanalytischen Rekonstruktions- und Dekonstruktionsperspektive sich wechselseitig Anschlüsse finden lassen. Bogner und Rosenthal (2017a) verknüpfen im Kontext dieser „Erkenntnissuche“ die Biografieforschung nicht nur mit der Foucault’schen Diskurstheorie (1974 [1966]) und der empirischen wissenssoziologischen Diskursforschung (Keller 2005), sondern legen eine detaillierte Theoretisierung über den Gewinn einer zusätzlichen figurationstheoretischen Perspektivierung in ihren empirischen Forschungen vor. Durch die reflexive Integration oder auch Triangulation dieser drei Forschungsperspektiven gehen sie davon aus, dass durch die Verknüpfung der drei Forschungsund Theorieperspektiven eine erweiterte Wahrnehmung dafür geschaffen wird, einzelne Menschen im Rahmen der Biografieforschung mehr in ihren Verflechtungen mit anderen Menschen, Gruppierungen sowie Institutionen und den auf sie einwirkenden oder selbst produzierenden Diskursen zu sehen und daraufhin in figurationssoziologischen Untersuchungen die einzelnen Individuen in ihren „subjektiven“ Perspektiven wie spezifischen Verhaltens- und Handlungszusammenhängen in den Blick zu nehmen (Bogner und Rosenthal 2017a). Forschungsanalytsich besteht Anspruch wie auch Herausforderung, empirisch den Fragen nachzugehen, in welchen historisch-biografischen Konstellationen und sozialen Figurationen Menschen sich jenen wirksamen hegemonialen Diskursen widersetzen, oder auch, welche Konstellationen zur Entwicklung neuer oder zur Transformation alter Diskurse beitragen bzw. eine kritische Auseinandersetzung hervorrufen (Bogner und Rosenthal 2017a). Von Erkenntnisinteresse könnte demnach sein, in welchen spezifischen historisch-politischen Situationen oder gesellschaftlichen Wandels bestimmte Diskurse eine besonders starke Wirkung auf Individuen haben, ohne dass es ihnen
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reflexiv zugänglich ist. Von einem Ursache-Wirkungsmechanismus im Sinne einer Determiniertheit durch gesellschaftshistorisch vorherrschende diskursive Praktiken wird dabei allerdings nicht ausgegangen. Bei der Analyse biografischer Präsentationen erfahren wir so auf der einen Seite etwas über die „Wirkmächtigkeit von Diskursen und damit über die ungleichen, asymmetrischen Machtbalancen“ (Bogner und Rosenthal 2017b, S. 213), in denen Menschen leben und gelebt haben. An ihnen lässt sich rekonstruieren, welche Gruppen und Gruppierungen mit der „Wahrheitsmacht“ und damit Diskurshoheit das Sagen haben, und welche Invididuen und Gruppierungen „sich diesen Diskursen unterwerfen (müssen), obwohl sie nicht kompatibel mit ihren Erfahrungen und ihren kollektiven Gedächtnissen sind“ (Bogner und Rosenthal 2017b, S. 213). Einen kritischen Blick auf die aktuelle Biografieforschung äußert Stehr (2015): Er betont die Notwendigkeit, die gesellschaftlichen und situativen Bedingungen der Konstruktion von Biografien herauszuarbeiten. Denn die Konstruktion von Biografien könne auch als herrschaftliche Subjektivierungszumutung bezeichnet werden. Damit nimmt er die biografiekonstituierenden Situationen in den Blick, die die Forschung in der sozialen Interaktion zwischen Interviewenden und Interviewten in unterschiedlichen narrativen Umgebungen (Gubrium und Holstein 2008) erzeugt. Nicht ausreichend berücksichtigt werde aus seiner Sicht et al., dass biografischnarrative Interviews soziale Interaktionssituationen darstellen, deren Bedingungen und Kontexte maßgeblich die biografischen Erzählungen motivieren (dazu auch Mey 2000b), rahmen und formen, und dass biografisch-narrative Interviews Bestandteile gesellschaftlicher (Problem-)Diskurse darstellen. Erst die Analyse der sozialen und situativen Organisation des Erzählprozesses macht ein Verstehen möglich und lässt biografische Forschung zu einer gesellschaftskritischen Forschung werden, die gesellschaftliche Ungleichheits- und Ausschließungsverhältnisse und die mit ihnen einhergehenden Normalitätskonzepte und Normalisierungspraktiken nicht unreflektiert affirmiert. Biografieforschung kritisch zu überarbeiten, bedeutet, so meine Argumentation, Biografie, Diskurs, Figuration und Situation in einer relationalen Analyse, ähnlich dem Mapping, wie es Clarke (2012 [2005]) in der poststrukturalistsichen Erweiterung der Grounded-Theory-Methodologie vorschlägt, auszuweiten. „Situation“ bedeutet dann immer auch, das biografische Interview als eine Interaktion zu verstehen, die es mikroprozessual, d. h. interaktionsanalytisch ins Visier zu nehmen gilt. Denn der soziale Ort der Produktion von Erzählungen wird in seinem interaktiven Herstellungsprozess und in Interaktionsordnungen (Goffman 1971 [1967]) tatsächlich oft ausgeblendet. Sprechhandlungen sind immer an vergangene wie auch an gegenwärtige Gesellschaftskontexte gebunden, sie gehen jedoch nicht vollständig darin auf. Auch Sprechhandlungen können in Anlehnung an das Elias’sche Figurationskonzept (1987) als „figurative Phänomene“ aufgefasst werden (Schulze 2007, S. 45), die sich nicht einseitig als gegenwarts- oder vergangenheitskonstituiert auflösen lassen, sondern nur in ihrem Ineinanderverwobensein. Es handelt sich immer um eine Verflechtung von „Geschichte und Situation“. Pointiert gesagt: „Geschichten werden in Situationen erzählt, aber Situationen haben auch ihre Geschichte(n)“
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(Dausien und Kelle 2005, S. 209). Hierzu gehören auch die Forschungssiutation und ihre Akteur/innen, mit deren jeweiligen Positionierungen. Insbesondere Letztere sind als Forschungsgegenstand in den Blick zu nehmen.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Biografische Fallrekonstruktionen sind eine mögliche Antwort auf das Elias’sche (1985) Postulat, dass angesichts psychologischer wie sozialwissenschaftlicher Fragestellungen „die“ Psychologie und „die“ Soziologie nicht als zwei unabhängige Forschungsfelder betrachtet werden können (Rosenthal 2012). Grundlage hierzu bilden historisierende, transgenerationelle diskurs-, figurations-, situations- und interaktonsanalytische Methodologie und Methoden, wie sie aktuell in der fallrekonstruktiven Biografieforschung gegenstandsangemessen aufgegriffen theoretisiert und empirisch umgesetzt werden. Die jeweiligen, nicht zu nivellierenden, Zugänge zum Subjekt und zur Gesellschaft können wechselseitig voneinander lernen, wenn sich die Forschenden selbst als forschende Subjekte und ihren point of view (Lebenslagen, Interessen, Biografizität) reflektieren, von dem aus sie komplexe Lebensprozesse anderer Subjekte wahrnehmen, interpretieren und ihnen Bedeutung zuschreiben (oder übersehen). Damit würde der Forschungsprozess selbst zum „Fall“, der immer auch sozial und intersubjektiv konstituiert ist und entsprechend strukturiert wird: entweder als Suche nach Bedeutung oder als Festlegung von Bedeutung durch disziplinäre Interpretationsdominanzen (Mruck und Mey 1998). Eine Erweiterung und Integration subjektreflexiver Metaperspektiven durch die Psychologie kann der Gefahr einer Festlegung biografischer Eindeutigkeit durch „Einfrieren sozialer Strukturgesetzlichkeit“ entgegenwirken, um empirische Komplexität zu fassen. Wenn wir die Begrenztheit von Analyse aufgrund der Situiertheit anerkennen (Clarke 2012 [2005]), indem wir aber gleichzeitig der Komplexität der Situation Rechnung tragen, gelingt es uns vielleicht, um mit Haraway (1996) zu sprechen, „eine Verantwortlichkeit dafür zu entwickeln, zu welchem Zweck wir zu sehen lernen“ (Haraway 1996, S. 227; s. auch Clarke 2012 [2005], S. 80–82). Der Anspruch einer kritischen biografisch-rekonstruktiven Forschung zu psychologischen Fragestellungen ist immer von einer genuinen Sozialitätsannahme getragen, bei der die Wissensgenerierung und Konzeptbildungen über „das Psychische“ auf die Demaskierung verborgener wissensgestützter Mystifizierungen internaler Zuschreibungen, Determinierungen und Essentialisierungen mit den daran gekoppelten Machtwirkungen zielt (Foucault 1978; Hanses 2006; Schulze 2011). Prozesshaftigkeit von Entwicklung und dem „Werden in Gesellschaften“ ernst zu nehmen bedeutet auch, nach neuen Beschreibungsformen zu suchen, die Personen nicht auf statische und verallgemeinernde Modellbildungen über „Persönlichkeitsannahmen“ – seien sie auch noch so „positiv“ – gesellschaftsunabhänig konstruieren. Psychologische Forschung, die sich zu Recht auf das Subjekt in seinem Werden und Gewor-
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densein konzentriert, muss sich gerade deswegen danach befragen, inwieweit sie die kulturspezifische westliche Vorstellung von Persönlichkeitseigenschaften als Besitz eines „internalen“ Phänomens im Sinne des humanistischen Ideals perpetuiert und durch die Forschungsfragen selbst einen Beitrag zur politisch aktuell bevorzugten Individualisierung und Responsibilisierung der Subjekte beiträgt – oder ob sie mittels multipelspektivischer Forschung und transdisziplinärer Ausrichtung Gegendiskurse schafft.
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Narrative Analysen Gabriele Lucius-Hoene
Inhalt 1 2 3 4
Entstehungsgeschichte und disziplinäre Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . Methoden der Erzählanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel: Methodisches Vorgehen bei der Rekonstruktion narrativer Identität in Erzählinterviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Viele Traditionen in der Psychologie haben seit langem auf Narrative als erzählte persönliche Erfahrungen zurückgegriffen. Aber erst mit der narrativen Wende findet die Psychologie Anschluss an die Beachtung der speziellen sprachlichen und sozialen Herstellungsbedingungen, der epistemologischen Grundlagen und der vielfältigen Erkenntnispotenziale von mündlichen Erzählungen, die z. B. in Interviews hervorgebracht werden. Narrative Analysen können je nach Erkenntnisinteresse vor allem auf inhaltliche, strukturelle oder performative Aspekte des Erzählens abheben. Unter Beachtung soziolinguistischer Perspektiven können Konzepte wie narrative Identität und narrative Bewältigung empirisch untermauert werden. Schlüsselwörter
Strukturelle Erzählanalyse · Interaktionsanalyse · Narrative Identität · Positioning · Wiedererzählen
G. Lucius-Hoene (*) Institut für Psychologie, Universität Freiburg, Freiburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_49
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G. Lucius-Hoene
1
Entstehungsgeschichte und disziplinäre Einordnung
1.1
Die narrative Wende
In den Disziplinen, die sich mit dem Menschen beschäftigen, hat in der Folge der „narrativen Wende“ (Polkinghorne 1988) das Narrative als neues Forschungsparadigma eine erstaunliche, fachübergreifende Wertschätzung und Expansion erfahren (Clandinin 2007; Czarniawska 2004). Viele Fächer entdeckten, dass ihre Wissensbestände, ihre Geschichte oder ihre Daten narrative Strukturen aufwiesen. Dem großen Interesse am Narrativen als der Form, in der Menschen die Erfahrung der Zeitlichkeit ihrer Existenz in Sprache umsetzen und mitteilbar machen, stehen jedoch vergleichsweise wenige systematisierte Auswertungsansätze für narrative Daten gegenüber (zu Grundlagen, Entwicklung und Wirkungsgeschichte des Narrativen in der Psychologie: Echterhoff und Straub 2003, 2004).
1.2
Narrative als Daten in der Psychologie
Narrative haben als empirische Grundlage in der Psychologie immer schon eine Tradition, allen voran die Fallgeschichten der Psychotherapie, der Psychoanalyse, der Klinischen und der Entwicklungspsychologie sowie die Lebensgeschichten der psychologischen Biografik und der Persönlichkeitspsychologie (Polkinghorne 1988, S. 101–105). Bei ihrer Nutzung kamen jedoch spezifische Narrative in ihren Herstellungsbedingungen und epistemologischen Voraussetzungen nicht zum Tragen. Eine eigenständige Beschäftigung mit dem durch die Narrativität eröffneten Erkenntnispotenzial lässt sich in der Psychologie erst relativ spät und auch erst über die Vermittlung durch die Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften konstatieren, etwa mit dem ersten Sammelband „Narrative Psychologie“ von Theodore Sarbin (1986), sowie vor allem mit den Arbeiten von Bruner (1986, 1990) und Polkinghorne (1988). Sie bereiteten den Boden für eine erkenntnistheoretische Fundierung und forschungspraktische Umsetzung des neuen Paradigmas in der Psychologie. In den 1990er-Jahren nahm mit einer Ausweitung der narrativen Perspektive auch das erkenntnistheoretisch motivierte Interesse an Erzählungen als Daten innerhalb und außerhalb der Psychologie zu, das sich zunächst vor allem um Lebensgeschichten und Fragen der Biografiekonstitution rankte. McAdams (1993) begründete eine narrativ basierte Persönlichkeitstheorie, die die Bedeutung von kanonischen und kulturell überlieferten Erzählungen und Mythen in den Mittelpunkt stellte. Gleichzeitig entwickelten sich narrative Analysekonzepte im Rahmen einer „narrativen Psychotherapie“ (zum Überblick: Angus und McLeod 2004), die methodisch und methodologisch sehr heterogen und oft für je spezifische Fragestellungen aus der Psychotherapieforschung konzipiert waren. Viele psychologische Thematiken wurden auf der Basis von narrativen Daten bearbeitet, oft mit wenig ausgearbeiteten Methodiken. Neue Impulse kamen durch die psychologisch und soziolinguistisch fundierten Umsetzungen des Konzepts der „narrativen Identität“ (s. Abschn. 3.2.3)
Narrative Analysen
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in ein empirisches Programm, die Ausarbeitung der discursive psychology (Edwards und Potter 1992; Wiggins 2017) und die Perspektiven des dialogical oder des relational self (s. Abschn. 3.1.3). Diese Entwicklungen wurden auch angeregt durch gesellschaftliche Trends wie das steigende Interesse an literarischen und autobiografischen Darstellungen und Familiengeschichten, die Verhandlung von Identitäten bei sozialen Minoritäten und Gruppen in besonders prekären Lebenslagen, die Suche nach Selbstverstehen in psychotherapeutischen Kontexten und nicht zuletzt den Boom an Selbstdarstellungs- und Bekenntnisformen in den Medien, die die Narrationsforschung immer wieder mit neuen Phänomenen und Funktionen des Erzählens konfrontierten und befruchteten (Langellier und Peterson 2004, S. 2). Im deutschen Sprachraum kamen bis heute aktuelle Anstöße vor allem über den soziologisch und soziolinguistisch fundierten narrationsanalytischen Ansatz von Kallmeyer und Schütze (1977) in die Psychologie (Abschn. 3.2.1), was sich auch als Interesse am narrativen Interview und der Konzipierung weiterer, offener Interviewverfahren manifestierte (Mey und Mruck 2011), die einer angemessenen Analysemethodik bedurften. Als eine erste psychologische Pionierarbeit zu analytischen Möglichkeiten bei Erzählinterviews lässt sich Wiedemann (1986) einordnen. Kraus (1996) legte eine Konzeptualisierung des „erzählten Selbst“ mit einer differenzierten Methodik vor, die Anknüpfung an andere in der Psychologie verhandelte Identitätskonzepte bietet. Weitere Auswertungsprogramme wie die psychoanalytisch fundierte Erzählanalyse JAKOB (Abschn. 3.2.2) oder die narrations- und konversationsanalytisch fundierte Methodik der Rekonstruktion narrativer Identität in Interviews (Abschn. 4) folgten.
2
Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen
Von ihren epistemologischen und methodologischen Grundlagen her betrachtet sind erzählanalytische Verfahren „a veritable garden of cross-disciplinary hybrids“ (Riessman 2008, S. 14). So ist eine Fokussierung auf den Beitrag der Psychologie ein schwieriges und eher künstliches Unterfangen, da sie sich vielfach die Methoden anderer Disziplinen zu eigen macht und auf ihre Fragestellungen anwendet. Die für die Psychologie häufigste narrative Datenquelle sind mündliche Erzählungen von Selbsterlebtem, in denen Menschen ihre Erfahrungen in einer strukturierten Folge von Sätzen versprachlichen, die den Wandel in der Zeit abbilden. Die Sätze sind aus dem Strom des Darstellbaren ausgewählt und werden durch temporale oder kausale Verknüpfungen organisiert und in eine gestalthafte Struktur gebracht. Das Erzählte wird gleichzeitig kommentiert und evaluiert; es vermittelt äußere Geschehens- und Handlungs- wie innere Erlebensaspekte. Evaluationen können sowohl aus der Erzählsituation („Erzählzeit“) als auch aus der erzählten Geschichte („erzählte Zeit“) stammen. Eine weitere Ebene des Erzählens spannt sich bei der Betrachtung seiner kommunikativen Bedingungen und Funktionen in der Erzählzeit auf: die Erzählung wird auf die Situation und die vermuteten Hörer/innenbedürfnisse
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G. Lucius-Hoene
zugeschnitten und auch ausgehandelt, sie vermittelt über ihre Evaluationen und Modalisierungen eine Botschaft und moralische Standpunkte und entfaltet kommunikative Wirksamkeit (Lucius-Hoene und Deppermann 2004a, Kap. 2; Quasthoff 2001). Eine grundlegende Voraussetzung der extensiven Analyse von Narrationen ist ihre elektronische Aufzeichnung und Transkription nach festgelegten Regeln: Für die Fixierung der interaktiven und performativen Aspekte des Erzählens werden Transkriptionen benötigt, die eine genaue, unkorrigierte Wiedergabe der gesprochenen Worte mit Überlappungen, Akzenten, prosodischen Merkmalen, Pausen, Stimmqualitäten etc. ermöglichen. Hier bietet z. B. das GAT (Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem, Selting et al. 2009) ein ausdifferenziertes Regelwerk. Psychologisch relevante analytische Ebenen des Erzählens sind vor allem: • Thematik und Emplotment als die Umsetzung der Ereignisse in eine Folge von Erzählsätzen mit ihren erzählstrukturellen Aspekten (Abschn. 3.1.1 und 3.1.2) und ihrer Bearbeitung der Zeiterfahrung (Brockmeier 2000, 2015; Brockmeier und Carbaugh 2001; Linde 1993); • interaktive, situative und performative Aspekte des Erzählens (Abschn. 3.1.2); • Nutzung von kulturell vorgegebenen Erzählvorlagen mit ihrem identitätskonstitutiven und gesellschaftlich-politischen Potenzial (Abschn. 4.4). In der Psychologie genutzte oder erzeugte Erzählungen lassen sich unter verschiedenen, für die jeweilige Analyse relevanten Aspekten differenzieren (zu Dimensionen von Narrativen, s. auch Ochs und Capps 2001, S. 18–112): • Medialer Modus: mündliche (Interviews, Therapiesitzungen etc.) vs. schriftliche Texte (Tagebücher, Autobiografien, Therapieberichte etc.); • Autor/innenschaft: selbsterlebte Geschichten vs. Erzählungen über andere (z. B. Fallgeschichten, Familiengeschichten) oder kollektive Geschichten (von sozialen Gruppen, Bewegungen oder Institutionen); monologische Geschichten vs. kokonstruierte Geschichten; • Erzählanlass: Erzählungen aus spontanen alltäglichen Kontexten vs. Erzählungen, die zu wissenschaftlichen Zwecken unter methodischen Vorgaben elizitiert wurden; • kommunikativer Kontext: Art der Beziehung zwischen Erzählenden und Hörenden sowie Rollenvorgaben, Charakteristika der Situation (alltäglich-informell vs. institutionell); • Einbettung: singuläre, vom interaktiven Umgebungskontext abgegrenzte Erzählungen, vs. kurze, in die umgebende Konversation dialogisch und thematisch eingebundene narrative Sequenzen (small stories); • forschungsmethodische Vorgaben der Erzählsituation: Gestaltungsräume und Restriktionen für Erzähler/in und Hörer/in durch Design, Fragestellung und Interviewmethodik; • autobiografischer Umfang: kurze Erlebnisepisoden vs. längere biografische Etappen oder gesamtbiografische Erzählungen;
Narrative Analysen
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• subjektive/interaktive Bedeutung des thematischen Fokus: Art der Beziehung der Erzähler/in (und/oder des/der Hörenden) zum Thema der Erzählung: biografische Salienz, Expert/innenschaft, emotionale Nähe oder Distanz, soziale Brisanz; • Verwendungskontext: Aufforderungscharakter und Verwendungszweck der Erzählung, Konsequenzen der Erzählaufgabe für den Erzähler/die Erzählerin etc. Da die jeweiligen kommunikativen Entstehungs- und Verwendungskontexte einen unmittelbaren Einfluss auf die narrativen Thematisierungen und Praktiken der Erzähler/innen haben können (Gubrium und Holstein 2009), müssen sie systematisch in der Analyse in Rechnung gestellt und in ihrer Relevanz diskutiert werden. Dies wirft für die Erzählanalyse auch das Problem des Umgangs mit textexternen Kontexten und Wissensbeständen auf, die nicht von den Gesprächsbeteiligten explizit relevant gemacht werden (Deppermann 2008, Kap. 6). Die grundlegendste epistemologische Prämisse besteht in der vielfach begründeten Erkenntnis, dass Erzählungen die Welt der Ereignisse und auch die psychische Wirklichkeit ihrer Erzählpersonen nicht abbilden, sondern konstruieren (LuciusHoene und Deppermann 2004a). Dies berührt auch die Frage nach der Beziehung zwischen Erzählung und zugrunde liegenden Gedächtnisinhalten (Neisser und Fivush 1994). Viele empirische Studien, die mit Narrationen arbeiten und die Erzählende vor allem als „Zeitzeugen“ oder „Informationsvermittler“ für bestimmte Ereignisse befragen, behandeln das Erzählte jedoch implizit als Abbild des Erlebten oder gar des Geschehenen, was epistemologisch aufgrund des selektiven und konstruktiven Charakters von Wahrnehmen, Erinnern und Versprachlichen unhaltbar ist. Wie sich im konkreten Text Erinnern und Erzählen vor allem bei problematischen biografischen Erfahrungen zueinander verhalten, bleibt eine wichtige theoretische und empirische Fragestellung, die in unterschiedlichen Ansätzen mit jeweils spezifischen Konsequenzen für die Analysepraxis thematisiert wurde (z. B. Rosenthal 1995; Seitz 2004; Tschuggnall 2004).
3
Methoden der Erzählanalyse
Narrative Analyse als eigenständiger Ansatz baut auf den epistemologischen, linguistischen, strukturellen und kommunikativen Besonderheiten von Erzählungen auf. Ein qualitatives Analysekonzept lässt sich auch nur dann als narrationsanalytisch bezeichnen, wenn es entsprechende Besonderheiten zum Ausgangspunkt des Ansatzes macht. Erzählen muss als eine spezifische Form der Sachverhaltsdarstellung, nämlich der Versprachlichung von zeitlichem Wandel, verstanden werden. Damit grenzt es sich zu anderen Textsorten wie Beschreiben und Argumentieren ab, die in konkrete Erzählungen eingewoben sein können, jeweils aber andere kommunikative Funktionen übernehmen (Lucius-Hoene und Deppermann 2004a, Kap. 6–7). Umgehensweisen mit Erzählungen innerhalb der Psychologie, die zwar Narrationen nutzen, die spezifischen Erkenntnis- und Konstitutionsbedingungen des Erzählens aber kaum beachten, sollten deswegen nicht als narrative Analysen im engeren Sinne bezeichnet werden. Dies gilt etwa für inhaltsanalytische Verfahren, Kodieransätze
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G. Lucius-Hoene
wie die Grounded-Theory-Methodologie (GTM), die die Daten unabhängig von ihrer Textstruktur „aufbrechen“, oder thematisch-interpretative Herangehensweisen ohne Einbeziehung narrationsstruktureller Aspekte (zur Verbindung von GTM und Narrativität s. Mey und Ruppel 2016). In den letzten Jahren ist die Zahl der Publikationen, die spezifische oder integrierende Verfahren vorstellen, ständig gewachsen (Andrews et al. 2013; Bethmann 2019; Kruse 2014).
3.1
Narrationsanalytische Zugangsebenen
Erzählanalytische Vorgehensweisen unterscheiden sich danach, ob ein Analyseansatz sich (nur) auf das „Was“ des Erzählten (the told) oder auch auf das „Wie“ des Erzählens (the telling) bezieht (Mishler 1995) und in welchem Ausmaß er kontextuelle Faktoren beachtet. In Anlehnung an Riessman (2008) lassen sich somit drei verschiedene Textauffassungen differenzieren, bei denen jede der darauffolgenden Methoden auch die Zugangsweisen der jeweils vorhergehenden nutzt, aber weitere Dimensionen und theoretische wie methodologische Grundlagen hinzufügt.
3.1.1 Thematische Analyse Eine der am meisten verbreiteten Umgangsweisen mit Erzählungen konzentriert sich auf die Erfassung und interpretative Bearbeitung der Inhalte des Erzählten in Bezug auf die jeweilige Forschungsfragestellung (Riessman 2008, S. 53–76). Sie ist häufig die Methode der Wahl, wenn vor allem ein Beitrag zur Gegenstandstheorie eines Phänomenbereichs geleistet werden soll. Diese Ansätze werden der Narrativität gerecht, indem sie die Grenzen von Interpretationseinheiten an den narrativen Strukturen orientieren und Erzählungen als komplexe Sinneinheiten behandeln. Thematische Analysen können mit unterschiedlichen hermeneutischen und textanalytischen Verfahren an jeglicher Art von Narrationen durchgeführt werden. Sie können mit anderen Verfahren der Beachtung besonderer textueller Aspekte wie z. B. Metapherngebrauch (Buchholz 1993) angereichert werden und fallübergreifende Themenstrukturen erarbeiten. Ein solcher „holistischer“ Ansatz wird z. B. von Lieblich et al. (1998) vertreten oder zeichnet viele Studien zu illness narratives aus. 3.1.2 Strukturelle Analyse Die strukturelle Analyse erweitert den Blick vom Inhalt des Erzählten auf die sprachliche Verfasstheit der Erzählung selbst. Sie bezieht ihre Methoden vor allem aus der literarischen Erzähltextanalyse (z. B. Fludernik 2006; Genette 1994; Martinez und Scheffel 1999) und aus der Soziolinguistik (Labov und Waletzky 1967; s. auch Gülich und Hausendorf 2000) und widmet sich dem „Wie“ des Erzählens, der Art und Weise, wie die Erzählung als komplexes Ganzes durch die Verknüpfungen und Beziehungen der Teilkomponenten hergestellt wird. Anhand von überwiegend formalen Merkmalsebenen wird eine Zerlegung komplexer Erzählungen in ihre Untergliederungen vorgenommen; sie deckt die Konstruktionsprinzipien der Erzählung auf und bestimmt die Funktion der Segmente für die Gesamtdarstellung. Dies
Narrative Analysen
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geschieht etwa durch die Bestimmung unterschiedlicher Erzählstränge und ihre Verflochtenheit, des Umgangs mit Zeit und Zeitebenen, der Art des emplotment (also der Umsetzung des Ereignisses in eine sequenzielle Struktur), durch thematische oder biografische Segmentierungen, die Markierung von Höhe- oder Wendepunkten, die Textsortenbestimmung, d. h. die Identifizierung von narrativen, beschreibenden oder argumentativen Teilen des Interviews oder die Abfolge von unterschiedlichen Graden und Arten von Narrativität (Lucius-Hoene und Deppermann, 2004a, S. 141–175). Der einflussreichste Ansatz zur Aufdeckung struktureller Aspekte des Erzählens wurde von den beiden Soziolinguisten Labov und Waletzky als „Normalform des Erzählens“ anhand von Narrativen erarbeitet, die sie auf die Frage nach einem lebensbedrohlichen Erlebnis erhielten (Labov und Waletzky 1967). Sie deckten eine charakteristische, wenn auch nicht immer in ihrer Vollform realisierte Binnenstruktur dieser episodischen, d. h. auf ein einzelnes Erlebnis bezogenen Erzählungen auf. Auf das initiale „Abstract“, das als Ankündigung der wesentlichen „Botschaft“ der folgenden Darstellung fungieren kann, folgt die „Orientierung“, in der in Ort, Zeit, beteiligte Personen und Umstände eingeführt wird; es wird also gewissermaßen die Szene für das kommende Geschehen bereitet. In der „Komplikation“ wird dann das Geschehen in Erzählsätzen abgebildet, die die Ereignisaufschichtung aus Sicht des/der Erzählenden wiedergeben und zum dramatischen Höhepunkt führen, der das Ereignis erzählwürdig macht. Vor dem „Resultat“, das die Komplikation auflöst, steht meist eine „Evaluation“, die die Bedeutung des Geschehens für die erzählende Person erläutert. Den Abschluss bildet häufig eine „Coda“, die in die Gegenwart des Erzählens zurückführt und eine evaluative Zusammenfassung oder Moral der Geschichte transportieren kann. Labov und Waletzkys Analysekonzept blieb trotz späterer kritischer Relativierungen und Erweiterungen (s. die ausführlichen Diskussionen zu Aktualität, Grenzen und Weiterentwicklungen des Konzepts in Bamberg 1997a) in seinem Stellenwert und analytischen Nutzen unbestritten. Auch innerhalb von umfangreichen autobiografischen „Gesamterzählungen“ (s. Abschn. 2), die sich meist aus verschiedenen narrativen Sequenzen und anderen Textsorten zusammensetzen, lassen sich solche normalformentsprechenden episodischen Erzählungen finden, die oft als Schlüsselerzählungen Erlebnisse besonderer biografischer Bedeutung verdichten. Gegenüber der thematischen Analyse erbringt die strukturelle Betrachtungsweise einen Zugang zum Herstellungsprozess und zu strategischen Aspekten der Erzählung. Sie legt z. B. dar, wie thematische Prioritäten gesetzt, Sequenzen und biografische Etappen angeordnet, miteinander in Beziehung gebracht und hierarchisiert, Themen ein- und ausgeblendet werden. Als Beispiele für die Bedeutung und Nutzung struktureller Erzählaspekte können die Arbeiten der von Fritz Schütze begründeten narrationsanalytischen Schule (s. Abschn. 3.2.1) dienen.
3.1.3 Analyse von Interaktion und Performanz Schon in der strukturellen Analyse deutet sich an, dass Erzählungen nicht nur eine referenzielle Funktion haben, d. h. die Darstellung eines Geschehens liefern, sondern auch eine performative Funktion besitzen, d. h. als situierte und inszenierte
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Handlungen, als sprachliche Handlungsmuster oder diskursive Praktiken zu verstehen sind (Wortham 2001). Diese letzte Erweiterung der Betrachtung bezieht nun den gesamten Kontext des Erzählens in die Analyse ein, also vor allem die Interaktion der beteiligten Personen – Erzähler/in und Hörer/in und ihre Beziehung, sowie Situation und Herstellungs-/Verwendungskontext des Erzählens (Quasthoff und Becker 2005). Das Erzählen wird als Darstellung und als interaktive Herstellung sozialer Realität betrachtet. Besonders beim episodischen Erzählen werden sein Charakter und seine Funktion als dramatische Inszenierung herausgearbeitet (Langellier und Peterson 2004), mit denen ein Ereignis der Vergangenheit durch sprachliche Mittel in der Gegenwart hergestellt und eine unmittelbare interaktive Wirkung in der Erzählsituation entfaltet wird, indem Hörende quasi zu Zeug/innen und Kompliz/ innen der Sichtweise auf das Geschehen gemacht werden (Lucius-Hoene und Deppermann 2004a, Kap. 4.3; Riessman 2008, S. 105–140). Die herangezogenen disziplinären Erweiterungen zum Erzählen als sprachlichem Handlungsmuster und Performanz kommen vor allem aus der interaktionalen Soziolinguistik, Kontextualisierungstheorie und linguistischen Anthropologie und nutzen Methoden der Konversationsanalyse und der discursive psychology (Edwards und Potter 1992; Wiggins 2017). Wesentliche Einflüsse gehen von einer Adaptation der russischen Literaturschule um Bachtin mit ihren Konzeptionen von Dialogizität, Vielstimmigkeit und Intertextualität (Bell und Gardiner 1998) sowie von Goffmans Beiträgen zu ritualisierten und dramatischen Aspekten der Kommunikation aus (zum Überblick: Auer 1999). Einfluss nehmen auch Theorien zum relational self (Gergen 2009) oder dialogical self (Bertau 2015; Hermans und Kempen 1993) und Theorien der dialogischen Konstitution von Bedeutung (Linell 2009; Zielke 2007, S. 116–126). Interaktions- und performanzorientierte Entwicklungen folgen vielfach aus der Analyse von sogenannten konversationellen, d. h. spontanen Alltagserzählungen (Gülich 2009; Ochs und Capps 2001; Tannen 2007) und von small stories (Georgakopoulou 2007), deren Erkenntnisse aber ebenso an den Daten von Forschungsinterviews fruchtbar gemacht werden können, wenn man ihren speziellen Entstehungskontext berücksichtigt. Forschende, die interaktional-performative Ansätze der Analyse verwenden, sehen sich mit ihren Interpretationen unterschiedlich stark an das konkret Gesprochene gebunden. Während konversationsanalytische Vorgaben auch im Hinblick auf funktionelle, interaktive und performative Aspekte der Erzählung strikt auf der expliziten Ausweisung und Relevanzmachung im Text bestehen), ziehen diskurstheoretische Interpretationsansätze breites Kontextwissen und diskursive Erfahrungen etwa zu den personalen, situativen, kulturellen oder politischen Umständen des Erzählens heran. Sie können damit zu sehr weitreichenden und erhellenden, möglicherweise aber auch sehr umstrittenen Interpretationen kommen, wenn die Perspektiven der Interpret/innen mit deren eigenen Kontexten und Diskursen oder auch politischen und emanzipatorischen Zielen Teil der Analyse werden (Riessman 2008, S. 108–116). Interaktiv-performative Ansätze haben in Ethnografie und Soziolinguistik, aber auch in der Psychologie eine weite Verbreitung gefunden. Entsprechende empirische Beispiele finden sich in vielen Arbeiten zur narrativen Identität (s. Abschn. 3.2.3).
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3.2
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Ausgewählte Ansätze
Um die Breite des Spektrums von Herangehensweisen zu illustrieren, sollen im Folgenden drei ausgewählte erzählanalytische Ansätze unterschiedlicher Provenienz mit ihren theoretischen und methodologischen Grundlagen dargestellt werden, die innerhalb der Psychologie breiter rezipiert wurden oder in ihrem Rahmen entstanden sind.
3.2.1 Narrationsanalyse nach Schütze Das im deutschen Sprachraum einflussreichste narrationsanalytische Verfahren ist die von dem Soziologen Fritz Schütze (1976) für sein „narratives Interview“ ausgearbeitete Vorgehensweise, die weit über die Soziologie hinaus Bedeutung erlangt und vor allem die deutschsprachige Biografieforschung geprägt hat. Erhebungs- und Auswertungsverfahren sind hier methodologisch und methodisch eng miteinander verknüpft. Die handlungs- und interaktionstheoretisch begründete Erhebungstechnik des Interviews zielt auf die Generierung von autobiografischen Stegreif-Narrationen ab und bietet eine entsprechend handlungstheoretisch fundierte Analysestrategie an. Das Konzept beruht unter anderem auf der heftig umstrittenen Grundannahme der Homologie von erlebten Orientierungsstrukturen des faktischen Handelns und Erleidens einerseits und den Strukturen der Darstellung dieser Orientierungen im Erzählen andererseits (Schütze 1987; s. auch Przyborski und Wohlrab-Sahr 2008, S. 221–223): die in narrativen Interviews mit entsprechender Methodik hervorgerufene Erzählung wird als die „dem faktischen Handeln und Erleiden [. . .] am nächsten“ (Schütze 1987, S. 14) stehende Darstellung betrachtet. Schützes Vorgehensweise der Rekonstruktion der Orientierungsstrukturen vollzieht nach einer formalen und inhaltlich-strukturellen Analyse eine analytische Abstraktion, die auf das Erkennen der einer Erzählung zugrunde liegenden Prozessstrukturen des Lebensablaufs zielt (Schütze 1981), bezieht die Eigentheorien und Wissensbestände der Erzählenden ein und baut schließlich auf der Kontrastierung mit anderen Interviews ein theoretisches Modell auf. Schützes Konzeption wurde vor allem in der Soziologie aufgegriffen und teilweise auch weiterentwickelt und mit anderen Analyseverfahren kombiniert (FischerRosenthal und Rosenthal 1997; Küsters 2006). Das von Schütze zusammen mit dem Konversationsanalytiker Werner Kallmeyer entwickelte Konzept des Erzählens als Form der Sachverhaltsdarstellung neben Beschreiben und Argumentieren, die Konzepte der „Zugzwänge“ des Erzählens (Kallmeyer und Schütze 1977), der „Prozeßstrukturen des Lebenslaufs“ (Schütze 1981) und der „kognitiven Figuren“ des autobiografischen Stegreiferzählens (Schütze 1984) sind in die Grundlagen vieler erzählanalytischer Vorgehensweisen eingegangen. 3.2.2 Erzählanalyse JAKOB Die Erzählanalyse JAKOB (Boothe 1994; Boothe und von Wyl 2004) verbindet eine elaborierte, auf literaturwissenschaftliche und soziolinguistische Wissensbestände zurückgreifende erzähltheoretische Fundierung mit einer psychoanalytischen Orientierung. Sie versteht die Erzählung als Zugang zur psychischen Realität der Erzäh-
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lenden, da sie das Erlebte in vierfacher Weise modelliert: als Aktualisierung des Vergangenen in der Gegenwart, als soziale Integration, als Reorganisation und als Wunscherfüllung. Nach einer linguistischen, computergestützten Analyse, die strukturelle Aspekte narrativer Episoden anhand von morphologischen, syntaktischen und semantischen Merkmalen zu Kategorien ordnet, werden das dramaturgische Repertoire der erzählenden Person und deren narrative Selbstrepräsentation rekonstruiert. Aus dem narrativen Szenario lassen sich auf einer psychodynamischen Basis Konflikt- und Abwehrbewegungen, Wünsche, Ängste und Beziehungen, Übertragungs- und Kollaborationsphänomene herausarbeiten. Bevorzugtes Material sind psychotherapeutische Sitzungen und Traumdarstellungen; das Verfahren kann aber auch fruchtbare Ergebnisse bei der Übertragung auf Interviews und literarische Texte wie z. B. Märchen aufweisen. Die Datenmaterialien der JAKOB-Projekte sind archiviert und zum großen Teil öffentlich zugänglich; das analytische Prozedere wird in ausführlicher, manualisierter Form vermittelt.
3.2.3 Narrative Identität als empirisches Schlüsselkonstrukt Das in der Philosophie begründete Postulat der narrativen Verfasstheit von Selbst und Identität (Meuter 1995; Ricoeur 2005) wurde von erzählanalytischer Seite aufgegriffen und als empirisches Konstrukt konzeptualisiert. Narrative Identität wurde als Ausgangspunkt oder Heuristik unter den verschiedensten Perspektiven (Holler und Klepper 2013; Ritivoi 2005, S. 231) für empirische Forschung in ihren epistemischen, methodologischen und methodischen Implikationen befragt und mit oder ohne Durchgang durch die identitätstheoretischen Debatten zu postmodernen Identitäts- und Subjekttheorien (Kraus 2002; Straub und Zielke 2005) zum Kristallisationspunkt empirischer Ansätze. Als Bezugspunkt einer textanalytischen Methodik versteht sich narrative Identität im Sinne interaktionistischer und sozialkonstruktiver Ansätze als lebenslang und unablässig zu bearbeitende, in sozialen Interaktionen aller Art hergestellte und ausgehandelte symbolische Struktur jenseits von ontologischen Konzeptionalisierungen. Dies knüpft unmittelbar an identitätskonzeptionelle Vorstellungen an, wie sie im Rahmen der Konversationsanalyse und discursive psychology als identity-in-talk (Antaki und Widdicombe 1998; de Fina et al. 2006; de Fina und Georgakopoulou 2012; Tracy 2002), also als situierte, interaktive und hörer/innenorientierte Konstruktion im Hier und Jetzt alltäglichen Sprechens entwickelt wurde. Narrative Identität vereint die diachrone, in eine Handlungsstruktur gebrachte Organisation der Erfahrung mit den alltäglichen Praktiken der sprachlichen Identitätsdarund -herstellung. Erzählen wird also nicht nur als Darstellungs-, sondern als sozialer und situierter Herstellungsprozess oder Konstruktion von Identität in ihrer temporalen Dimension verstanden (z. B. Bamberg 2004; Holstein und Gubrium 2000; Wortham 2001). Auswertungskonzepte dieses Ansatzes fokussieren dementsprechend vor allem auf interaktionelle und performative Aspekte des Erzählens. Fragen nach der adäquaten Rekonstruktion von „narrativer Identität“ oder dem „narrativen Selbst“ werden derzeit vor allem in der Debatte um big und small stories ausgetragen: Auf der einen Seite favorisiert Freeman (2006) repräsentativ für einen großen Teil der analytischen Praxis im Umgang mit Interviews privilegierte Gelegenheiten besonderer autobiografischer Selbstreflexion, wie etwa lebensgeschicht-
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lich orientierte Interviews, als Königsweg zur Erarbeitung gehaltvoller und biografisch fundierter Identitätskonzeptionen. Dem gegenüber treten Bamberg und Georgakopoulou (2008) mit dem analytischen Konzept des positioning (s. Abschn. 4.4) für das Primat der interaktionalen und situierten Identitätskonstruktion in den permanenten Herstellungen und Aushandlungen von small stories des Alltags ein. Sie plädieren dafür, dass erst aus ihnen über die diskursiv-interpretativen Repertoires der Erzählenden, die der Verwurzelung des Selbst im interaktiven Engagement entspringen, die biografischen Identitätskonstruktionen größerer Reichweite (wie etwa in Interviews) abgeleitet werden sollten (Bamberg 2011; Bamberg und Georgakopoulou 2008). Narrative Identität lässt sich für viele erzählanalytische Ansätze als umbrella concept verstehen, auch wenn sie sich durch ihre disziplinären Zugehörigkeiten, Interessen und Datenlagen unterscheiden und divergierende analytische Verfahren entwickelt haben. Das Konzept ermöglicht eine unmittelbare Passung zwischen den epistemologischen und gegenstandstheoretischen Grundlagen des Ansatzes und seiner methodischen Umsetzung in eine Analysepraxis.
4
Beispiel: Methodisches Vorgehen bei der Rekonstruktion narrativer Identität in Erzählinterviews
In diesem Abschnitt soll eine auf dem Konzept der situierten narrativen Identität fußende Analysemethodik etwas genauer ausgeführt werden, die viele Vorgehensweisen der bisher dargestellten Ansätze aufgreift (Lucius-Hoene und Deppermann 2004a). Im Vordergrund steht das Herausarbeiten der diskursiven Praktiken der interagierenden Personen in der Erzählsituation mit ihrem aktuellen Herstellungsund Verhandlungscharakter von Identitätsaspekten.
4.1
Narrationen als Datenbasis
Für die Planung und Durchführung von Interviews, die sich für die erzählanalytische Bearbeitung anbieten, stehen umfangreiche Methodentexte zur Verfügung. Prinzipiell lassen sich Verfahrensweisen der unten beschriebenen Erzähltextanalyse, die auf narrative Identitätsarbeit zielt, auf alle Interviewformen anwenden, in denen Narrationen generiert wurden, aber auch auf narrative Passagen in Konversationen aller Art übertragen. Entscheidend ist die Analyse der interaktionstheoretischen Besonderheiten von Entstehungskontext und Verwendungszusammenhang.
4.2
Makrostrukturelle Analyse von Erzählungen
Die strukturelle, sequenzielle Analyse des Transkripts als erster Arbeitsschritt dient der Aufdeckung seiner Konstruktionsdynamik. Sie gliedert den Text in Unterabschnitte auf, indem sie z. B. nach formalen und thematischen Strängen und Ein-
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schnitten der Bearbeitung von Zeit und Plot sucht, interaktiv organisierte Aktivitäten identifiziert, Textsortenabfolgen und ihre funktionale Verflochtenheit oder Grade der Narrativität bestimmt (s. Abschn. 3.2.2; Lucius-Hoene und Deppermann 2004a, Kap. 6–7). Damit lassen sich auch Sequenzen identifizieren, die sich unter der jeweiligen Forschungsfragestellung thematisch und interaktionsdynamisch bevorzugt für feinanalytische Herangehensweisen eignen wie z. B. re-inszenierende Schlüsselerzählungen, Textstellen mit hoher performativer Ausgestaltung, Evaluationen und Argumentationen oder Stellen, an denen Identitätsarbeit in besonderer Weise zum Ausdruck kommt wie z. B. oft bei Eröffnungspassagen eines Interviews, in denen sich komplexe Aushandlungsprozesse und Positionierungen von der Einstiegsfrage bis zur ersten Selbstpräsentation des/der Erzählenden abspielen.
4.3
Feinanalyse: Sprachlich-kommunikative Strategien
Die Feinanalyse erarbeitet sequenziell die narrativen Praktiken auf mikrosprachlicher Ebene. Sie wird angeleitet durch Frageheuristiken und Techniken aus der Konversations- und Gesprächsanalyse (Deppermann 2008, Kap. 6; Lucius-Hoene und Deppermann 2004a, Kap. 12). Gefragt wird beispielsweise: Was wird dargestellt? Wie wird dargestellt? Warum wird jetzt das dargestellt? Die Interaktion zwischen Erzähler/in und Zuhörer/in wird beachtet und Variations- und Auslassverfahren oder die Kontrastierung des Gesagten im Möglichkeitsraum wird genutzt. Analytisch interessieren vor allem folgende Textaspekte: • Agentivität (agency): Wer/was treibt die Handlung in der Erzählung voran? Diese Frage lässt sich besonders anhand der grammatikalischen Realisierung (semantische Rollen, Primus 2012) im Text beantworten, indem herausgearbeitet wird, wem die erzählende Person die treibende Kraft des Geschehens zuweist und ob sie sich als handelnde oder erleidende, als zulassende oder als veranlassende Instanz sieht. Damit offenbart sich ihre Haltung zur Frage der eigenen Handlungsmächtigkeit, zu Verantwortlichkeit und moralischer Positionierung, ihre Sichtweise auf Autonomie und Heteronomie der Lebenssituation und des Weltbildes sowie zu erlebten Kontrollmöglichkeiten (Deppermann 2015; Helfferich 2012; Lucius-Hoene 2012); • Kategorisierungen zeigen, wie Erzählende ihre Welt und die Personen in ihr mit spezifischen Beschreibungselementen und kategoriengebundenen Aktivitäten konstruieren (Stokoe 2012). Gewählte Kategorisierungen zeigen die Werthaltungen der Erzählenden und rechtfertigen deren Handlungsorientierungen; • Perspektive zielt auf die Sichtweise, die Erzählende im Text auf das Geschehen einnehmen, wie sie sich z. B. zum Erzählten emotional und moralisch positionieren (Graumann und Kallmeyer 2002); • Stimmen anderer Personen können im Text explizit oder implizit aufscheinen und Gegenstand von Verhandlung, Abgrenzung und Rechtfertigungsaktivitäten werden; • stance indicators (Tracy 2002, S. 172–184) und footing (Goffman 1981) weisen auf, in welcher epistemischen Position Erzählende sich gegenüber ihrer Darstel-
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lung sehen, mit welcher Sicherheit sie Faktizität, Wissen und Autor/innenschaft für die Beanspruchung von Realitätshaltigkeit reklamieren und herstellen (Potter 1996) oder Vagheit und Unsicherheit vermitteln; Reinszenierungen vollziehen vor allem durch den Gebrauch von szenischem Präsens und Redewiedergabe die Erweiterung vom telling zum showing des Erzählens, entwickeln damit eine große Wirkung auf Zuhörende, sich mit der Perspektive des/der Erzählenden zu identifizieren und markieren häufig Schlüsselerfahrungen; interaktive Aushandlungsstrategien zwischen Erzähler/in und Hörer/in oder Interviewer/in; Stilisierungsverfahren und Modalisierungen (Günthner 2002) gestalten die Erzählung stilistisch aus und vermitteln die Geltung, die die sprechende Person dem Gesagten zuweist (wie z. B. durch eine ironische oder komikerzeugende Brechung); Art und Ausmaß der Hörer/innenorientierung vermitteln, wie die erzählenden Personen implizit und explizit auf Zuhörer/innen eingehen; der Gebrauch von kulturellen narrativen Vorlagen zeigt, an welchen kulturellen Deutungsmustern die Erzählenden sich orientieren. Hierzu gehört auch, ob und wie sie auf die jeweiligen master narratives, d. h. die herrschenden Geschichtenversionen, oder die counter-narratives, ihre subkulturellen Gegendarstellungen Bezug nehmen.
4.4
Positionierung im Erzählen
Als fruchtbare analytische Metaperspektive der Konstruktion von Identität, die besonders die oben aufgeführten Textaspekte der Feinanalyse heranzieht, erweist sich das Konzept der Positionierung (Deppermann 2013; Harré und van Langenhove 1999). Positionierung beschreibt zum einen diejenigen Aspekte der ständig ablaufenden diskursiven Aktivitäten, mit denen Personen sich in Interaktionen selbst herund darstellen durch die Attribute, Eigenschaften, Motive oder Rollen, die sie für sich diskursiv relevant machen (Selbstpositionierung). Damit weisen sie zum anderen gleichzeitig und komplementär ihren Interaktionspartner/innen eine Position zu (Fremdpositionierung), die ihrerseits auf diese Positionierung mit Akzeptanz, Zurückweisung oder Aushandlung reagieren. Identitätsarbeit lässt sich damit als beständige diskursive Aushandlung der Selbst- und Fremdpositionierungen in Interaktionen rekonstruieren. Für die Analyse können je nach Kontext und Fragestellung praktisch alle sprachlichen Realisierungen bis hin zum Partikelgebrauch positionierungsrelevant sein (Günthner und Bücker 2009). Erzählen vervielfacht durch seine verschiedenen Zeitebenen auch die Positionierungsmöglichkeiten (Bamberg 1997b; Deppermann 2013; Lucius-Hoene und Deppermann 2004b): als Positionierungen der Personen der erzählten Welt (also durch die Art und Weise, wie die Handlungsträger/innen der erzählten Geschichte sich wechselseitig positionieren), als Positionierungen der Erzählenden durch die Art ihrer narrativen Performanz, durch die Interaktionen zwischen Erzähler/in und Hö-
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rer/in in der Situation des Erzählens, und auch durch die Art und Weise, wie Erzählende von kulturellen Geschichtenmustern und Diskursen Gebrauch machen oder sich distanzieren. Gleichzeitig erlauben die unterschiedlichen aktualisierten Zeitebenen, sich zum früheren, erzählten Ich zu verhalten. Über die feinanalytische Herausarbeitung der Positionierungsaktivitäten lässt sich minutiös rekonstruieren, wie Erzähler/innen sich und ihre Welt sehen, wie sie ihre sozialen Beziehungen in der erzählten und der Erzählzeit organisieren, wie sie sich zu ihrem eigenen zeitlichen Wandel verhalten und wie sie die zeitlich organisierten Prozesse ihres Lebens verstehen. Damit lassen sich die lokal aktualisierten Facetten der individuellen narrativen Identität in ihrem Variantenreichtum und ihren inneren Spannungen auf der temporalen, sozialen und selbstreflexiven Ebene rekonstruieren, und das face work (Goffman 1955), d. h. die Bemühungen um soziale Anerkennung, kann aufgezeigt werden.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Systematische narrative Analysen bieten einen äußerst fruchtbaren Zugang zu den subjektiven Erfahrungen, den Welt- und Zeitkonstruktionen der Erzähler/innen. Sie können damit viele Fragestellungen der Psychologie aufgreifen, die in der Erzählung in ihrem biografischen und sozialen Kontext bearbeitet werden. Die Beachtung der interaktiven Aushandlung und Herstellung eröffnet zudem die Möglichkeit, sprachliche Identitätsarbeit gewissermaßen in statu nascendi nachvollziehen zu können. Besonders das analytische Rahmenkonzept des positioning lässt sich für vielfältige psychologische Fragestellungen nutzen. Eine besonders interessante Perspektive für psychologische Fragestellungen eröffnet die Analyse von Erzählungen unter ihrem Bewältigungsaspekt von traumatischen, konflikthaften und identitätsbedrohenden Erfahrungen (Boothe 2011; Crossley 2000; Lucius-Hoene 2009; Neimeyer 2001; Scheidt et al. 2015). Mit der Frage, worin das Bewältigungspotenzial des Erzählens besteht, lassen sich wichtige Bezüge sowohl zur Coping-Forschung (Lucius-Hoene 2002) als auch zu den Grundlagen der „narrativen Psychotherapie“ (Angus und McLeod 2004) und einer narrativ orientierten Medizin (Charon 2006) herstellen. Persistierende Fragen der Identitätstheorie und Biografieforschung, etwa nach der Kohärenz und Kontinuität „postmoderner“ Identität, die häufig eher präskriptiv und spekulativ diskutiert werden (Kraus 2007; Mey 2007; Straub und Zielke 2005), können auf eine empirische Basis gestellt werden. Eine weitere Stärke des erzählanalytischen Zugangs ist seine interdisziplinäre Breite und Anschlussfähigkeit. Ein hervorragendes Beispiel bietet die Kooperation zwischen Linguistik, Psychologie und Medizin mit der Bearbeitung von Krankheitserfahrungen (Brünner und Gülich 2020; Gygax und Locher 2015; Heydén und Brockmeier 2008; Heydén et al. 2014) und Schilderungen von Schmerz- oder epileptischen Anfällen (Gülich und Schöndienst 1999; Overlach 2008). Narrationsorientierte Ansätze können zudem Bezüge zu vielen gesellschaftlichen und kultu-
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rellen Diskursen und Sinnstiftungen am Rande und außerhalb der Wissenschaften knüpfen und auch in ein Laienpublikum hineinwirken oder aus ihm schöpfen. Viele empirische Arbeiten auf der Basis von narrativen Analysen bleiben in methodologischer und methodischer Hinsicht sehr vage und unscharf. Hier sind in Publikationen dringend Standards der Methodendarstellung, vor allem bezüglich Erhebung und Aufarbeitung des Korpus sowie der Auswertungsverfahren mit ihren epistemischen Grundlagen erforderlich. Auch eine Schärfung und empirische Fundierung der Konzepte, vor allem der gegenstandstheoretischen Behauptungen zum Erzählen, die häufig die Ebenen von Narrativität oder narrativer Identität als Methode, als diskursive Praxis und als ontologische Struktur verwischen, wären wünschenswert. Erkenntnistheoretisch und methodisch interessante Fragestellungen, die zunehmend in das Blickfeld geraten, beziehen sich auf den Vergleich von Geschichten, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in verschiedenen Kontexten wiederholt oder aus der Perspektive unterschiedlicher Personen erzählt werden (Chafe 1998; Norrick 1998; Schumann et al. 2015). Sie lassen Rückschlüsse auf den Einfluss des Kontexts, der zeitlichen Verarbeitung oder der unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen auf die Wiedergabe eines Ereignisses zu. Die Frage des Verhältnisses narrativer Erfahrung zu anderen Formen des Selbsterlebens und der Zusammenhang zwischen Erzähltem und Erinnertem bedürfen weiterer methodischer und empirischer Klärung, ebenso die Beziehung zwischen narrativer Performanz und psychischen Prozessen. Wünschenswert sind auch Mixed-Method-Designs, die erzählanalytisch gewonnene Ergebnisse mit psychologischen Parametern aus anderen Daten- und Erhebungsquellen zusammenbringen.
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Konversationsanalyse und diskursive Psychologie Arnulf Deppermann
Inhalt 1 Entstehung und disziplinäre Einordnung der Konversationsanalyse und der diskursiven Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische und methodologische Grundannahmen der Konversationsanalyse und der diskursiven Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Methodisches Vorgehen der Konversationsanalyse und der diskursiven Psychologie . . . . 4 Grundlegende Strukturen der verbalen Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Beiträge zu klassischen psychologischen Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Der Beitrag stellt zunächst die drei grundlegenden methodischen Verfahren der Konversationsanalyse und der mittlerweile deren Vorgehen folgenden diskursiven Psychologie dar: die Transkription, die detaillierte Sequenzanalyse am Einzelfall und die (komparative) Analyse von Datenkollektionen. Nach einer Übersicht über grundlegende Befunde zur Organisation von Interaktionen wird auf drei psychologische Untersuchungsbereiche eingegangen: Die Konstitution von Identität in Gesprächen, die Rolle von Kognitionen in der sozialen Interaktion und die Erforschung von Psychotherapiegesprächen. Schlüsselwörter
Konversationsanalyse Diskursive Psychologie Identität Kognition Soziale Interaktion
A. Deppermann (*) Institut für Deutsche Sprache, Mannheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_50
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A. Deppermann
Entstehung und disziplinäre Einordnung der Konversationsanalyse und der diskursiven Psychologie
Dieser Text behandelt die Konversationsanalyse (KA) als eine breit etablierte Methodologie zur Untersuchung von sozialen Interaktionen und die diskursive Psychologie (DP), welche sich spezifisch damit befasst, wie psychologische Phänomene in der sozialen Interaktion zum Ausdruck gebracht und thematisiert werden. Zwar war die KA ursprünglich nur eine von mehreren Quellen für die Entstehung der DP, doch hat sich die DP in den letzten Jahren methodologisch zunehmend der KA angeglichen, sodass sie heutzutage als eine Art „KA psychologischer Phänomene“ betrachtet werden kann und deshalb hier gemeinsam mit der KA dargestellt wird. Die KA wurde von Harvey Sacks in den frühen 1960er-Jahren begründet (Sacks 1992; Silverman 1998). Sacks war an der University of California, Berkeley und Irvine, tätig. Er war ein Schüler des Mikrosoziologen Erving Goffman, mit dem ihn das Interesse an der Untersuchung sozialer Interaktionen als nach eigenen Regeln organisierten Ereignissen verband. Intellektuell knüpfte Sacks jedoch mehr an die Ethnomethodologie Harold Garfinkel (1967; Heritage 1984; vom Lehn 2012) an, die sich für die Methoden interessiert, die Gesellschaftsmitglieder benutzen, um handelnd soziale Ordnung herzustellen und soziale Handlungen zu verstehen. Die Ethnomethodologie nahm ihrerseits wesentliche Impulse von der Sozialphänomenologie Alfred Schütz’ (1981 [1932]) auf, der die Konstitution der sozialen Welt darin begründet sah, wie Akteure ihrem Erleben und Handeln Sinn verleihen. Während Schütz wie der Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, diese Leistungen in allgemeinen Strukturen der Tätigkeit des Bewusstseins des Subjekts suchte, wandte sich die Ethnomethodologie beobachtbaren Handlungen von Akteuren (z. B. beim Dokumentieren und Kategorisieren von Ereignissen) zu, und sie versuchte, grundlegende Erwartungen und Regeln des sozialen Handels durch die Untersuchung der Reaktion auf deren Durchbrechung in sog. breaching experiments (Krisenexperimenten) zu identifizieren (Garfinkel 1967). Die KA radikalisiert diese Empirisierung des Forschungsgegenstands, indem sie das Programm einer „naturalistischen Soziologie“ propagiert, d. h. einer ausschließlich auf Audio- und Videodaten gestützten Untersuchung des Verhaltens von Gesellschaftsmitgliedern in natürlichen Situationen (Sacks 1984). Wie der Name „Konversationsanalyse“ anzeigt, stand zunächst die Untersuchung der ordinary conversation, d. h. alltäglicher, nicht-zweckgerichteter Interaktionen (v. a. Telefongespräche) zwischen Bekannten und Freunden im Vordergrund. Schon Sacks’ frühe Untersuchungen befassten sich aber auch mit institutionellen Daten (z. B. telefonische Suizidberatung, Gruppentherapie). Dieser Forschungsstrang ist in den letzten Jahrzehnten immer bedeutsamer geworden (Drew und Heritage 1992; Heritage und Clayman 2010). Folglich ist es angemessener, den generellen Gegenstand der KA als talk-in-interaction zu bezeichnen (Schegloff 1991). Damit ist auch schon gesagt, dass die KA sich im Unterschied etwa zu Goffmans primärem Interesse an der nonverbalen Interaktion (1974) und zu den ethnomethodologisch inspirierten Workplace Studies (Knoblauch und Heath 1999) für verbal dominierte
Konversationsanalyse und diskursive Psychologie
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Interaktionen interessiert. In den letzten Jahren ist allerdings die videogestützte Untersuchung der multimodalen Interaktion, die neben der verbalen Interaktion auch Blick, Gestik, Mimik, Körperpositur und -bewegungen, die Benutzung von Objekten im Kontext der Interaktion und andere kommunikativ relevante visuelle Verhaltensformen einbezieht, immer wichtiger geworden (Goodwin 2000; Schmitt 2007). Seit Mitte der 1990er-Jahre hat sich aus der KA als bedeutende Forschungsrichtung die sog. „Interaktionale Linguistik“ (Selting und Couper-Kuhlen 2000) entwickelt. Sie befasst sich damit, wie in der Interaktion sprachliche Formen verwendet und mit ihnen interaktive Strukturen hergestellt werden. In diesem Forschungskontext ist auch die Prosodie zu einem zentralen, über das Verbale hinausgehenden Forschungsgegenstand geworden (Couper-Kuhlen und Ford 2004). In Deutschland wurde die KA durch die Schriften von Kallmeyer und Schütze (1976) sowie Jörg Bergmann (1981) bekannt. Kallmeyer und Schütze befassten sich mit unterschiedlichen Ordnungsebenen der Interaktionskonstitution, so z. B. mit den Verfahren der Sachverhaltsdarstellung im Kontext von Beschreibungen und Erzählungen (Kallmeyer und Schütze 1977) und mit der Handlungsorganisation von Beratungsgesprächen (Kallmeyer 1985). Bergmanns Studien bezogen sich auf klassische Gegenstände der KA wie die Organisation des Sprecher/innenwechsels im Kontext von Pausen und Schweigen (1982), erweiterten sich aber bald zur Perspektive auf kommunikative Gattungen wie Klatsch (1987). Das Konzept der „kommunikativen Gattungen“ (Günthner und Knoblauch 1994), das Bergmann zusammen mit dem Wissenssoziologen und Schütz-Schüler Thomas Luckmann entwickelte und das neben der KA auch vor allem auf die Ethnografie der Kommunikation (Saville-Troike 1989) zurückgriff, ist vielleicht der wichtigste genuin deutsche Beitrag zur KA. In Deutschland wird, etwa im Unterschied zu Skandinavien und Japan, nur sehr selten „rein“ konversationsanalytisch geforscht. Die unterschiedlichen Spielarten der deutschen „Gesprächsanalyse“ kombinieren die KA vor allem mit der Kontextualisierungstheorie (Gumperz 1982) und mit Goffmans Konzepten der rituellen Ordnung der Interaktion (Goffman 1971) oder der Interaktionsbeteiligung (Goffman 1981), greifen in unterschiedlicher Weise aber auch auf andere Konzepte aus Pragmatik, Ethnografie und Soziolinguistik zurück (Auer 2013). Während die KA ihren Ursprung in der Soziologie hatte, ist sie in Deutschland wie in vielen anderen Ländern mittlerweile mehr in der Linguistik beheimatet (Deppermann 2007). Die discursive psychology (DP) entstand seit Mitte der 1980er-Jahre in England, ausgehend von der wissenssoziologischen Diskursanalyse (Potter und Wetherell 1987). Ihre Grundidee besteht darin, psychologische Phänomene nicht mehr als innerpsychische, kognitive oder emotionale Phänomene zu verstehen, sondern als Phänomene des Diskurses zu untersuchen. Ein entscheidender Ausgangspunkt war dabei die konstruktivistische Auffassung des Philosophen Wittgenstein, der zufolge sich die Bedeutung und die intersubjektive Realität psychischer Phänomene nach der Verwendung der Ausdrücke, mit denen diese bezeichnet werden, richten. Neben sprachphilosophischen Quellen integrierte die DP zunächst v. a. Ansätze aus der Diskursanalyse, der Rhetorik, der Wissenschaftssoziologie und der Ethnomethodologie (Edwards und Potter 1992). Im Unterschied zur KA arbeitete die DP anfänglich
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A. Deppermann
vor allem mit schriftlichen Quellen und Mediendaten; heutzutage benutzt sie die gleichen Datentypen wie die KA, d. h. Audio- und Videoaufnahmen von institutionellen und Alltagsinteraktionen. Während die KA vor allem an der formalen Organisation des Handelns in Interaktionen interessiert ist, beschäftigt sich die DP besonders mit der Konstruktion von Darstellungen, Begründungen von Handlungen und der diskursiven Thematisierung psychischer Phänomene. Dabei geht die DP weniger detailgenau als die KA vor, die Beachtung interaktiver Reaktionen und Konsequenzen (s. Abschn. 3) spielt methodologisch eine weit geringere Rolle als in der KA, während gedankenexperimentellen Verfahren und der Berufung auf soziale Wissensbestände eine größere Rolle zukommt. In den letzten 15 Jahren hat sich die DP allerdings zunehmend der KA angenähert (Wooffitt 2005), sodass viele der neueren Veröffentlichungen als eine Spielart der KA verstanden werden können, die sich spezifisch damit beschäftigen, wie psychische Phänomene wie Intentionen, Emotionen oder Erinnerungen in der Interaktion thematisiert und welche sozialen Handlungen damit vollzogen werden.
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Theoretische und methodologische Grundannahmen der Konversationsanalyse und der diskursiven Psychologie
Unsere Alltagswelt besteht zu einem großen Teil aus verbalen Interaktionen. In ihnen werden die für unser Erleben und unsere Handlungen relevanten Deutungen der sozialen Welt zum Ausdruck gebracht, verhandelt und modifiziert. In Interaktionen wird die soziale Ordnung dessen, was für uns der Fall ist, was wahr und richtig ist, wie wir zueinander stehen, wer wir selbst sind und wie wir miteinander umgehen, hergestellt. Interaktionen zeichnen sich durch folgende Grundeigenschaften aus (s.a. Deppermann 2015a): • Sequenzialität: Interaktionen bestehen aus einer Abfolge von aufeinander folgenden Beiträgen (Schegloff 2007a). Soziale Ordnung besteht daher in einer prozessualen Vollzugswirklichkeit (Bergmann 1981), soziale Strukturen werden also durch die Systematik der Abfolge von Ereignissen konstituiert und sind entsprechend zu beschreiben. • Interaktivität: Jeder folgende Beitrag ist sowohl kontextbezogen, d. h., er ist zugeschnitten auf einen vorangehenden Beitrag, dessen Verständnis er zugleich dokumentiert, und er schafft einen neuen Kontext, der die Vorgabe für Anschlusshandeln ist und hinsichtlich dessen Erwartungen (Projektionen) erzeugt (Heritage 1984, S. 242). Soziale Wirklichkeit entsteht daher intersubjektiv, in Prozessen wechselseitigen Deutens und Verstehens (Deppermann 2008a). • Pragmatizität: In den Sequenzen von Handlungen, aus denen Interaktionen bestehen, werden sowohl kollektive Gesprächszwecke (z. B. ein Problem klären, sich verabreden, einen Witz erzählen) als auch individuelle Ziele der Gesprächsteilnehmenden (z. B. eine für sich günstige Lösung erzielen, jemanden überzeugen, als ein guter Unterhalter anerkannt werden) bearbeitet (Kallmeyer 2005).
Konversationsanalyse und diskursive Psychologie
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• Konstitutivität: Das Gesprächsverhalten der Interaktionsteilnehmer/innen wird weder von psychologischen noch von soziologischen Variablen und Regeln determiniert, sondern die Teilnehmenden produzieren ihre Gesprächsbeiträge in Bezug auf die jeweiligen Gesprächskontexte, -aufgaben und -zwecke. Dabei verdeutlichen sie, welche psychologischen und sozialen Sachverhalte (z. B. Identitäten, Rollen, soziale Beziehungen, institutionelle Tatsachen) für die Interaktion in welcher Weise relevant und für deren Ablauf folgenreich sind (Schegloff 1991). • Methodizität: Die Interaktionsteilnehmer/innen benutzen mehr oder weniger konventionelle Interaktionspraktiken, die zum Vollzug spezifischer Aktivitäten eingesetzt werden (Schegloff 1997). Interaktionspraktiken bestehen aus (z. B. sprachlichen) Formen, die für bestimmte Funktionen bzw. zur Bearbeitung bestimmter Aufgaben im Gespräch in bestimmten Kontexten eingesetzt werden können. Ihre Anwendung kann mehr (z. B. bei Begrüßungen) oder weniger (z. B. bei rhetorischen Praktiken) durch kontextgebundene Erwartungen geregelt sein. • Materialität: Da Interaktionen (zumeist) mündlich stattfinden, sind sie flüchtig, und wenn sie face-to-face stattfinden, sind sie multimodal. Die medialen Bedingungen der Gesprächsbeteiligung ( face-to-face, Telefon, Chat, TV usw.) und die je nach medialer Bedingung einsetzbaren materialen, körperlichen Ressourcen bestimmen die Aufgaben und Möglichkeiten des Handelns und der inter- und intrasubjektiven Koordination von Verhalten in der Interaktion (Deppermann und Schmitt 2007). Die KA ist ein induktiver, datengetriebener Forschungsansatz. Sie lehnt es ab, a priori Hypothesen aufzustellen. Sie fordert dagegen, Forschungsfragestellungen und zentrale theoretische Begriffe aus der Analyse von Interaktionsdaten selbst zu entwickeln. Dabei greift sie auf den Bestand an vorliegenden Forschungen und empirisch fundierten Begriffsprägungen zur Organisation von Interaktionen zurück. Zentral ist der Anspruch, analytische Begriffe und Befunde in den Daten zu verankern, d. h., in einer rekonstruktiven Analyse zu zeigen, dass und wie die wissenschaftlichen Begriffe als Explikationen der Eigenschaften und Funktionen des lokalen Gesprächshandelns aufgefasst werden können. Im Mittelpunkt steht dabei für die KA die Einnahme einer „Teilnehmendenperspektive“. Dies bedeutet (entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis) nicht, über Motive und Intentionen der Interaktionsteilnehmenden zu spekulieren, sondern es beinhaltet die Anforderung zu zeigen, dass sich diese in ihrem Handeln an einer bestimmten interaktiven Aufgabe orientieren. Bei der Analyse muss also nachgewiesen werden, dass ein aus Sicht der Forscher/innen relevantes Problem im Gespräch auch von den Teilnehmenden in einer erkennbaren Weise systematisch bearbeitet wird oder dass ein Kontextsachverhalt (wie eine bestimmte soziale Zugehörigkeit) von ihnen im Gespräch erkennbar relevant gemacht und folgenreich zur Geltung gebracht wird (Schegloff 1997). Grundsatz der analytischen Mentalität der KA ist Sacks’ Maxime: „order at all points“ (Sacks 1984, S. 22). Sie beinhaltet, dass jedes auch noch so zufällig, rätselhaft oder unsinnig erscheinende Detail einer Interaktion als sinnhaft motiviert, d. h. als methodisch produziertes Phänomen mit einer (zu entdeckenden) Funktion
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A. Deppermann
und Bedeutung für die Gesprächsteilnehmenden zu behandeln und entsprechend systematisch zu rekonstruieren ist (vergleichbar den Prämissen der objektiven Hermeneutik, Bergmann 1985). Die KA folgt damit einer problemtheoretischen und funktionalen Sicht von Interaktion, d. h., jedes Interaktionsphänomen wird als Ausdruck einer Orientierung an der Bearbeitung bzw. Lösung von Interaktionsaufgaben und -problemen verstanden (Kallmeyer 2005). Diese können selbstverständlich neue Probleme und Aufgaben nach sich ziehen, für die wiederum Routinen der Problemlösung bereitstehen können. Die KA hat die Aufgabe, die funktionale Motivation, das entsprechende Potenzial zur Problemlösung und zur Schaffung neuer Probleme und die Art und Weise, wie Interaktionsteilnehmende die entsprechende Praktik einsetzen und verstehen, aufzuweisen. Dabei ist aber stets der Interaktionsprozess, d. h. sowohl der vorangehende wie der folgende Interaktionskontext, das entscheidende methodologische Kriterium. Die KA ist von ihren methodologischen Prämissen her antimentalistisch, d. h. der Rekurs auf Intentionen und – in geringerem Maße – auf Wissen der Teilnehmenden gilt nicht als adäquate Erklärung für beobachtbares Interaktionshandeln, da Mentalitätszuschreibungen ontologisch als psychologische Sachverhalte nicht abzusichern sind und da ihr reines Gegebensein sie noch nicht zu für den konkreten Interaktionsprozess wirksamen Faktoren macht. Außerdem geht es der KA nicht um die Rekonstruktion von psychologischen Motiven und Determinanten für Interaktionen, sondern um die Analyse der Regeln, Praktiken und Erwartungsstrukturen, die in Bezug auf Interaktionen als eigenständige Ebene sozialer Wirklichkeit selbst gelten. Im Gegensatz etwa zur kritischen Diskursanalyse, zur objektiven Hermeneutik oder zu psychoanalytischen Ansätzen enthält sich die KA jeder Bewertung, ob die von den Gesprächsteilnehmenden vollzogenen Handlungen moralisch gut, sinnvoll, zweckmäßig, gesund oder krank usw. sind (Prinzip der „ethnomethodologischen Indifferenz“, Garfinkel und Sacks 1976).
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Methodisches Vorgehen der Konversationsanalyse und der diskursiven Psychologie
Die KA arbeitet ausschließlich mit „natürlichen Daten“, d. h. mit Audio- und (zunehmend) Videoaufnahmen von nicht eigens für Forschungszwecke arrangierten sozialen Interaktionen. Ursprünglich ging es der KA dabei gar nicht um die Untersuchung von Gesprächsstrukturen als solchen. Ton- und Videoaufzeichnungen wurden vielmehr zu Methoden der Wahl, da nur mit ihnen die „passiv registrierende“ Dokumentation des sozialen Handelns in seiner originären Form als flüchtiger Vollzugswirklichkeit möglich ist (Bergmann 1985). Im Unterschied zu allen anderen, in der qualitativen Psychologie und Soziologie gängigen, „rekonstruktiven“ Daten (Bergmann 1985) wie Fragebögen, Interviews oder Feldnotizen bewahren nämlich Audio- und Videoaufnahmen die prozessualen Details des sozialen Geschehens. Im Gegensatz zu anderen Datenerzeugungsmethoden sind sie nicht durch sekundäre Sinnbildungsprozesse der selektiven Erinnerung, der Codierung und der Interpretation der Interviewten bzw. Forschenden überformt, aufgrund derer Merk-
Konversationsanalyse und diskursive Psychologie
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male der interessierenden Situation unauflöslich mit den durch die Dokumentation entstehenden Merkmalen konfundiert sind. Audio- und Videodaten, die aus einem Interaktionsfeld (z. B. einer oder mehreren Arztpraxen, von einer peer group) stammen, sind Bestandteile eines „Korpus“. Zu einem Korpus gehören darüber hinaus Metadaten (Sprecherdaten und Informationen zu Aufnahmeumständen, -technik und rechtlichen Aspekten der Autorisierung der Daten für Forschungs- und Lehrzwecke) und Transkripte. Das Analyseziel besteht in der detailgenauen sequenzanalytischen Untersuchung von alltäglichen und institutionellen Interaktionen. Dazu ist es nötig, die Aufnahmen nach Konventionen zu transkribieren, die sicherstellen, dass die Besonderheiten der gesprochenen Sprache (wie Abbrüche, Korrekturen, nicht-lexikalische Laute, Intonation) und der Verlauf der Interaktion (wie Sprecher/innenwechsel, Überlappungen, Pausen) genau notiert werden. Die ursprüngliche KA-Notation stammt von Sacks’ Schülerin Gail Jefferson (in: Atkinson und Heritage 1984; umfassender: Bolden und Hepburn 2017). Im deutschen Sprachraum haben sich die Konventionen des Gesprächsanalytischen Transkriptionssystems (GAT2) durchgesetzt, die eine verfeinerte und systematischere Prosodienotation erlauben (Selting et al. 2009; s. Deppermann und Schütte 2008). Der folgende Ausschnitt aus einem WG-Gespräch zeigt ein Beispiel einer Transkription nach GAT2: Quelle: IDS-Mannheim, FOLK_E_00055_SE_01_ T_09:0503–0516 (WG-Tischgespräch)
Im Unterschied zu einer alltagsweltlichen Mitschrift ist dieses Transkript in sog. Intonationsphrasen gegliedert, die jeweils eine Zeile einnehmen oder manchmal auch darüber hinaus reichen (z. B. in Zeile 01). Das Transkript enthält die genaue Abfolge der Sprecher. Dazu gehört auch die genaue Erfassung von Überlappungen von Beiträgen (Zeilen 04–05 und 10–11). Die Erstreckung der parallel gesprochenen Passagen wird in übereinander stehenden eckigen Klammern angegeben. Der Wortlaut wird, soweit das mit den Mitteln des Standardalphabets möglich ist, präzise
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A. Deppermann
wiedergegeben. Erfasst werden z. B. Tilgungen und Verschleifungen (Zeilen 03, 04, 06, 07: „jetz“, 01: „könnt“, 08: „en“), dialektale Lautung (Zeile 02: „sag“), Abbrüche und Selbstkorrekturen (Zeile 03, 11), nicht-lexikalische Laute (Zeile 05: „hm“), hörbares Einatmen (Zeile 07: h), Pausen (gemessen in Zehntelsekunden, wie in Zeile 04: „0.5“), Dehnungen (Doppelpunkt), Akzente (Großschreibung – in der Regel mindestens ein Fokusakzent pro Intonationsphrase), Intonation am Ende der Intonationseinheiten (Satzzeichen) und Notationen von Tempo (z. B. all für „schnell gesprochen“ in Zeile 02, acc für „beschleunigend“ in Zeile 02), Lautstärke (z. B. p für „leise“, dim für „leiser werdend“) und Stimmqualität (z. B. knarrend). Hörbare, nicht-verbale Ereignisse werden entweder lautnah wiedergegeben oder in doppelten runden Klammern beschrieben, wie in Zeilen 09–10 „((lacht))“. Die KA basiert ihre Erkenntnisse stets auf Analysen der originalen Audio- bzw. Videodaten und ihrer Transkription, kodierte bzw. aggregierte Daten werden nicht analysiert. Die Analyse wird durch zwei komplementäre Strategien bewerkstelligt: die detaillierte Sequenzanalyse am Einzelfall und die Arbeit mit Kollektionen (Deppermann 2008b, Kap. 6). Die detaillierte Sequenzanalyse folgt dem unique adequacyKriterium (Psathas 1995), d. h. der Anforderung, dass jedes Detail einer untersuchten Interaktionssequenz in die Untersuchung einbezogen und lückenlos gezeigt werden muss, wie die genaue Abfolge der einzelnen Aktivitäten als systematischer, schrittweise aufeinander bezogener Prozess der Sinnbildung und Bearbeitung interaktiver Aufgaben verstanden werden kann. Die Strenge der Analyse liegt also gerade darin, dass Forschende die Daten nicht einfach vorab definierten Kategorien zuordnen und dabei Nichtpassendes passend machen oder ignorieren. Stattdessen ist zu zeigen, wie jedes – und zwar auch zunächst unverständlich oder unmotiviert erscheinende – Detail des Handelns (wie z. B. eine Pause, eine unpassend erscheinende Wortwahl, eine Selbstreformulierung) systematisch auf den sich entfaltenden Gesprächsprozess reagiert und zu ihm in bestimmter sinnhafter Weise beiträgt. Entscheidendes Kriterium für die Erstellung und für die Validität der Analyse ist dabei zum einen der Aufweis, wie eine bestimmte Aktivität in Bezug auf einen gegebenen Gesprächskontext lokal, d. h. in Bezug auf den unmittelbar vorangehenden Beitrag, produziert wird, auf welche seiner Aspekte sie bezogen ist, wie sie diese interpretiert, wie sie selbst durch den vorangegangenen Kontext bereits vorbereitet und projiziert wurde, d. h. erwartbar geworden ist. Zum anderen ist zu zeigen, welche Funktion die Aktivität für den weiteren Gesprächsverlauf hat. Entscheidend sind dabei vor allem die unmittelbar folgenden Reaktionen der Rezipient/innen in den nächsten Gesprächsbeträgen (next turn proof procedure, Sacks et al. 1974), mit denen diese ihr Verständnis des vorhergegangenen Beitrags zu erkennen geben, sowie die daran anschließenden Reaktionen der Produzent/innen der interessierenden Aktivität in der sog. „dritten Position“ (third position, Schegloff 1992). Dort nämlich ist zum Ausdruck zu bringen bzw. der Sprecher/die Sprecherin kann stets so verstanden werden, wie er/sie das Verständnis der Ko-Interaktant/innen des eigenen vorangegangenen Beitrags selbst versteht und ob er/sie dieses teilt (Deppermann 2008a). Nun wird auch deutlich, worin die „Teilnehmendenperspektive“ der KA besteht: Sie wendet die zentralen Konstitutionseigenschaften der Interaktion (s. Abschn. 2: Sequenzialität, Interaktivität etc.) methodologisch, d. h. sie benutzt
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die grundlegenden Prinzipien des lokal situierten Produzierens und Verstehens von Beiträgen zur Interaktion als Grundlage für die Entwicklung und Legitimation ihrer analytischen Methodik. Diese muss stets dem Kriterium genügen, die Systematik der Interaktion, so wie sie für die Beteiligten beobachtbar produktions- und verstehensrelevant ist, explizit zu machen. Die detaillierte Sequenzanalyse erstreckt sich auf Einzelfälle aus Kollektionen von Interaktionsausschnitten. Kollektionen werden phänomen- und fragestellungsbezogen gebildet. Das Ziel besteht in der Identifikation und Analyse von Interaktionspraktiken (Heritage 2010; Selting 2016). Praktiken bestehen darin, dass bestimmte multimodale Ressourcen in bestimmten Kontexten zum Vollzug bestimmter Handlungen bzw. zur Bearbeitung einer bestimmten Interaktionsaufgabe eingesetzt werden. Typischerweise gibt es zwei alternative Ansatzpunkte zur Untersuchung von Praktiken mit Hilfe von Kollektionen. 1. Es ist von Interesse, wie eine bestimmte Aufgabe bzw. ein Problem konversationell bearbeitet wird (= funktionaler Ausgangspunkt, z. B. Erteilung einer Diagnose im Arzt-Patient-Gespräch; Bearbeitung von Dissens im Streitgespräch), und es wird nach den dafür relevanten Praktiken, den verwendeten multimodalen Ressourcen und ihren jeweiligen Einsatzbedingungen, Folgen, Chancen und Risiken gesucht. Wichtig ist dabei die Analyse des Variationsspektrums, d. h. den unterschiedlichen Möglichkeiten der Problembearbeitung (je nach Kontextmerkmalen) und den grundlegenden, gemeinsamen Strukturen des Interaktionsproblems. 2. Im Fokus kann ebenso der konversationelle Einsatz einer bestimmten multimodalen Ressource stehen. Ausgangspunkt ist hier ein formales Phänomen, z. B. die Verwendung einer sprachlichen Form wie jaja oder eine Aktivität wie Blickabwendung von dem Gesprächspartner/der Gesprächspartnerin. Es wird nach seinen Einsatzbedingungen und Funktionen gefragt, eventuell für unterschiedliche Interaktionsaufgaben und in Abhängigkeit von Realisierungen der Form oder Aktivität. Eine Kollektion beginnt mit der Sammlung aller zunächst potenziell relevant erscheinenden Kandidaten innerhalb eines Datenkorpus (Deppermann 2008b, Kap. 6.5). Im Verlauf detaillierter Sequenzanalysen einzelner Fälle werden sukzessive materialgestützte Hypothesen über die wesentlichen Strukturen einer Interaktionspraktik, d. h. über den Zusammenhang ihrer formalen und funktionalen Eigenschaften und ihrer Einsatzbereiche in der Interaktion aufgestellt, geprüft und verfeinert. Maßgeblich dafür sind komparative Analyseverfahren, wie z. B. der Vergleich mit marginalen Fällen bzw. benachbarten Praktiken, mit abweichenden Realisierungen (deviant cases), die Aufschluss geben über zugrunde liegende Erwartungen und die Reaktion auf deren Verletzung, und die systematische Testung von Annahmen durch die Suche nach Fällen, die bestimmte Merkmale (nicht) aufweisen. Der Prozess der Kollektionsanalyse oszilliert, ähnlich den komparativen Verfahren und dem theoretical sampling der Grounded-Theory-Methodologie (Glaser und Strauss 1967, Kap. III), beständig zwischen Einzelfall und Kollektion, wodurch
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A. Deppermann
die Kollektion mittels Tilgungen, Erweiterungen und Untergliederungen nach und nach bereinigt und systematisiert wird, bis sie sich stabilisiert und eine Struktur der Praktik resultiert, die durch die Detailanalyse weiterer Fälle nicht mehr modifiziert wird. Die resultierende Kollektion repräsentiert also schließlich empirisch die Struktur der Praktik, d. h. ihre Varianten, Einsatzkontexte, Folgen usw. Typisch für diesen Prozess des Arbeitens mit Kollektionen ist daher nicht nur der sukzessive Gewinn von Erkenntnissen über Interaktionspraktiken im Verein mit der sukzessiven Bestimmung der dafür relevanten Daten, sondern oft auch die Veränderung und Eingrenzung der Untersuchungsfrage in einer vorab nicht vorherzusehenden Weise. Die auf die Interaktionsrealität passende Fragestellung ist so „from the data themselves“ (Schegloff und Sacks 1973, S. 290) entwickelt, d. h., die Formulierung der in den Daten zu untersuchenden Probleme und Aufgaben und der dafür angemessenen Begriffe reflektiert selbst schon einen beträchtlichen Teil der Gegenstandserkenntnis, welche nicht durch apriorische theoretische Spekulation zu gewinnen ist. Im Unterschied zu vielen anderen Ansätzen der qualitativen Sozialforschung steht die KA dem Einbezug von „Kontextwissen“ (über ethnografische, soziale, politische, biografische u. a. Rahmenbedingungen der Interaktion) in der Analyse sehr skeptisch gegenüber. Annahmen über Kontextbedingungen verführen zu interpretativen Kurzschlüssen, d. h. zu vorschnellen vermeintlichen Erklärungen des Interaktionshandelns aus Kontextbedingungen anstelle des detaillierten Aufweises, wie dieses Handeln produziert wird und auf welche Relevanzen sich die Interaktionsteilnehmenden dabei beobachtbar beziehen. Wenn sozialstrukturelle Kontexte wie soziale Identitäten, institutionelle Rollen, hierarchische Beziehungen etc. für die Interaktion wichtig scheinen, dann ist zu zeigen, wie Interaktionsteilnehmende einander verdeutlichen, dass diese Größen für sie relevant sind und dass sie ihr Handeln an ihnen ausrichten (Schegloff 1997). Allerdings gibt es innerhalb der KA unterschiedliche Auffassungen, wie autonom die Organisation von Interaktionen als eigene Ebene der sozialen Organisation gegenüber makrosozialen und kulturellen Ebenen ist (Levinson 2005; Schegloff 2005), wie manifest und explizit Kontextfaktoren in der Interaktion aufscheinen müssen, um als relevante Orientierungen für Interaktionsteilnehmende gelten zu können (Schegloff 1997; Wetherell 1998), wie viel auf kulturelles Wissen gestützte und nicht „aus den Daten“ bezogene Interpretation unabdingbar in Konversationsanalysen eingeht und in welcher Weise ethnografisches Hintergrundwissen (v. a. bei der Untersuchung von fremden Kulturen und Lebenswelten) unabdingbar für die KA ist (Deppermann 2000, 2013a).
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Grundlegende Strukturen der verbalen Interaktion
Die grundlegende Einheit von Gesprächen ist der Turn (Gesprächsbeitrag), der seinerseits aus einer oder mehreren aufeinander folgenden turn constructional units (Beitragskonstruktionseinheiten) aufgebaut ist (Levinson 1990, S. 295–300; Sacks et al. 1974). Beitragskonstruktionseinheiten sind gestalthafte Einheiten, die durch das Zusammenspiel prosodischer, syntaktischer, semantischer und pragmatischer
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Merkmale gebildet werden und mit deren Abschluss signalisiert wird, ob ein Sprecher/innenwechsel erfolgen soll (Selting und Couper-Kuhlen 2000). Die Regeln für die Organisation des Sprecher/innenwechsels an transition relevance places, die in alltagsweltlicher, nicht-institutioneller Interaktion gelten, wurden im wohl bekanntesten Artikel der KA beschrieben (Sacks et al. 1974). Sie erklären nicht nur, warum die Sprecher/innenwahl in Gesprächen überwiegend recht reibungslos abläuft, sondern auch, warum und wie es zu Überlappungen und Pausen, zur Produktion von Turnergänzungen oder zu Abbrüchen in bestimmten Interaktionskontexten kommt. Hier wie in vielen anderen KA-Untersuchungen werden somit Phänomene, die zunächst regellos erscheinen und intuitiv nicht zugänglich sind, als systematische Formen der Bearbeitung grundlegender Regel- und Erwartungsstrukturen in der Interaktion verständlich gemacht. Bereits im 2. Abschnitt wurde Sequenzialität als eine Grundeigenschaft von Interaktionen benannt: Das Verhältnis des zeitlichen Benachbartseins (nextness, Schegloff 2007a, S. 14–16) ist in seiner Bedeutung für Interaktionen kaum zu überschätzen, bildet doch ein jeweils gegebener Gesprächsbeitrag den primären Kontext für den nächsten Beitrag und meist auch spezifische Erwartungen, denen dieser Rechnung zu tragen hat und deren Verständnis er qua default dokumentiert. Auf diese Weise ist das Verhältnis der nextness die zentrale Ressource der Interaktionsorganisation, es ist sowohl für die erwartungsbasierte Produktion von folgenden – als auch für die lokale Interpretation der vorangehenden – Handlungen grundlegend. Diese Erkenntnis unterscheidet die KA fundamental von allen kontextfreien Ansätzen der Handlungsanalyse (wie der Sprechakttheorie, z. B. Searle 1971) und der Inhaltsanalyse: Nicht Handlungen, sondern Handlungssequenzen bilden den grundlegenden Gegenstand der Betrachtung! Besonders offensichtlich ist die Systematik der nextness den sog. „Nachbarschaftspaaren“ (adjacency pairs, Schegloff 2007a, S. 13–27) eingeschrieben. Dies sind elementare Handlungssequenzen, die aus einer ersten Handlung (z. B. einer Frage) eines Sprechers/einer Sprecherin bestehen, welche eine zweite als unmittelbar folgende Handlung eines anderen Sprechers/einer anderen Sprecherin konditionell relevant macht (z. B. eine Antwort). Wie die zweite Handlung ausfällt bzw. ihr Ausbleiben wird in Abhängigkeit von der Art der ersten Handlung interpretiert, so wie umgekehrt die zweite eine implizite Deutung der ersten beinhaltet. Vielfach wird nicht nur ein bestimmter Typ von Folgehandlung erwartbar gemacht („projiziert“, Auer 2005), sondern die erste Handlung etabliert eine Präferenz für eine bestimmte Form der Realisierung der zweiten, im Gegensatz zu anderen, dispräferierten Reaktionsmöglichkeiten (Levinson 1990, S. 331–341; Schegloff 2007a, S. 58–96). So präferiert z. B. eine Einladung als erste Handlung ihre Annahme als Reaktion, eine Ablehnung wäre zwar auch konditionell relevant, aber dispräferiert. Präferenzen sind nicht als individuelle, psychologische Vorlieben zu verstehen, sondern als soziale Erwartungsnormen (Heritage 1995), die dementsprechend zumindest prototypischer Weise damit einhergehen, dass die präferierte Alternative knapp, direkt und ohne weitere Begründung produziert wird, während die dispräferierte meist mit Begründung, oft indirekt und verklausuliert, verzögert, mit Selbstkorrekturen und Abbrüchen durchsetzt produziert wird (Pomerantz 1984).
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A. Deppermann
Die KA hat sich weiterhin ausführlich mit der Organisation von Interaktionen im Ganzen befasst. So wurden sowohl die Eröffnung von Interaktionen (klassischerweise Telefongespräche, Schegloff 1968; neuerdings aber auch multimodale Interaktionen, Mondada und Schmitt 2010) als auch deren Beendigung (Schegloff und Sacks 1973) sowie der Übergang zwischen einzelnen Aktivitätssequenzen und Themen untersucht. Dabei geht es der KA stets darum, die Routinepraktiken zu identifizieren, mit denen Gesellschaftsmitglieder rekurrente Interaktionsaufgaben und -probleme bearbeiten und die sie von der Notwendigkeit entlasten, für jede Interaktion immer wieder neue Lösungen finden zu müssen, die dann entsprechend prekär, da hinsichtlich ihrer Aufnahme und Interpretation durch die Partner/innen ungewiss, wären. Der Fokus der KA richtet sich also im Unterschied zu anderen qualitativen, z. B. psychoanalytischen, marxistischen, objektiv hermeneutischen oder kritisch-diskursanalytischen Verfahren nicht in erster Linie auf Krisen und Konflikte, sondern auf die funktionierende und intersubjektiv zugrunde gelegte Ordnung des Interagierens. Krisen und Zusammenbrüche (z. B. in Form von Missverständnissen) sind dann weniger um ihrer selbst willen oder in kritisch-aufklärerischer, (sozial-) therapeutischer Hinsicht interessant, sondern weil sie über die im funktionierenden Fall stumm und unsichtbar bleibenden Normalitätserwartungen und die Relevanz unscheinbarer Praktiken Aufschluss geben, die erst im Fall ihres Versagens bzw. Fehlens deutlich werden. Dies heißt nun keineswegs, dass mangelnde Aufmerksamkeit, schlechtes Hören, Missverständnisse, Dissens, Koordinations- und Sprachproduktionsprobleme, strategisches oder provokatorisches Handeln und andere Fälle, in denen die Ordnung der Routine versagt, außerordentlich selten sind. Im Gegenteil, die Robustheit der alltäglichen wie auch institutionellen Interaktion besteht gerade darin, dass für wiederkehrende Probleme auch ebenso routiniert einsetzbare Reparaturverfahren zur Verfügung stehen, die verfügbar sind und dazu führen, dass Probleme schnell gelöst und als solche meist gar nicht bewusst wahrgenommen werden (Schegloff et al. 1977; Egbert 2009). Die Durchsetzung konversationsanalytischer Transkripte mit Abbrüchen, Wortsuchen, Reparaturen und anderen „unordentlichen“ Phänomenen, die viele, die sich erstmals mit Transkripten befassen, schockiert und ein Verfremdungserlebnis des Alltäglichen hervorruft, zeigt also weniger, wie chaotisch unsere Interaktionen eigentlich sind, sondern ganz im Gegenteil, wie robust, und dass es trotz aller Widrigkeiten und unvorhersehbarer Einflüsse gelingt, situationsbezogen Sinn herzustellen und Handlungen zu koordinieren. Bereits eingangs wurde darauf hingewiesen, dass die KA viele Beiträge zur Untersuchung institutioneller Interaktionen erbracht hat. Umfassende Studien gibt es vor allem zu Expert/innen-Lai/innen-Interaktionen in den Bereichen Arzt-PatientGespräche (Heritage und Maynard 2006; Spranz-Fogasy 2014), Interaktionen vor Gericht (Atkinson und Drew 1979), Beratungsgespräche (Nothdurft et al. 1994), Bewerbungsgespräche (Birkner 2001), Medieninterviews (Clayman und Heritage 2002), Dolmetschen in verschiedenen institutionellen Situationen (Wadensjö 1992; Martini 2008) oder psychotherapeutische Interaktionen (s. Abschn. 5). Institutionelle Interaktionen schränken die in alltäglichen Konversationen geltenden Optionen für interaktives Handeln spezifisch ein und haben zugleich spezialisierte Lösungen
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für die jeweils für sie charakteristischen, in ihnen zu bearbeitenden Interaktionsaufgaben entwickelt (z. B. eine Anamnese erheben, eine Diagnose stellen, eine Verschreibung erklären im Arzt-Patient-Gespräch). Aufgrund ihrer Aufgabenbezogenheit und weil sie oft unter bestimmten rechtlichen, ökonomischen, zeitlichen oder medialen Bedingungen geführt werden, sind sie durch Asymmetrien zwischen den Beteiligten gekennzeichnet. Asymmetrien können in vielen Punkten bestehen: im Fachwissen, im Gebrauch und Verständnis von Fachvokabular und bei den Inferenzmöglichkeiten im Gespräch, in der emotionalen und existenziellen Betroffenheit durch das in der Interaktion behandelte Problem, im Wissen über institutionelle Verfahren und rechtliche Rahmen, bei den Gesprächssteuerungsrechten, in der Verfügung über Sanktionsmöglichkeiten und ökonomische Macht sowie hinsichtlich der Rechte und Pflichten zu bestimmten Arten von Gesprächsbeiträgen. Die KA ist dabei ebenso daran interessiert, die Möglichkeiten und Probleme der Bearbeitung spezieller institutioneller Aufgaben in der Interaktion zu rekonstruieren als auch das „intuitive“ professionelle Wissen von institutionellen Agenten, wie es sich in ihrem situierten Handeln zeigt; ebenso Handlungsspielräume und Zwänge der Klient/innen der Institution. Seltener, aber in wachsendem Maße finden sich auch Untersuchungen, die sich in der Tradition der workplace studies mit vollprofessionellen Interaktionen innerhalb von Organisationen oder zwischen Expert/innen befassen. Die KA hat sich in ihren Untersuchungen vornehmlich formalen und „oberflächennahen“ Ebenen der Interaktionsorganisation gewidmet. Da sie es ablehnt, mit mächtigen theoretischen Vorannahmen an die Analyse zu gehen, vermeintlichem Wissen über ethnografische, kulturelle und soziale Tatsachen als Determinanten für Interaktionsverhalten grundsätzlich misstraut und dem Hintergrundwissen der Forschenden einen methodisch eher problematischen Stellenwert einräumt, hat sie sich weniger mit den stärker inhaltlich und interpretativ konstituierten Dimensionen von Interaktionen befasst. Die diskursive Psychologie (DP) setzt dagegen ihren Schwerpunkt in der Erforschung der rhetorischen Verfahren und der interpretativen Strategien, mit denen die Faktizität von Ereignissen konstruiert und die Wahrheit und Glaubwürdigkeit von Darstellungen abgesichert und umkämpft wird (Edwards und Potter 1992, 2005; Deppermann 1997; siehe Abschn. 5.2). Die DP hat gezeigt, dass und wie scheinbar bloß deskriptive Darstellungen von Ereignissen und Handlungen so verfasst werden, dass dabei systematisch Schlussfolgerungen hinsichtlich der Bewertung von Handlungen und Fragen von Motiven, Schuld, Verantwortlichkeit, Interessengeleitetheit und Objektivität bzw. Neutralität der Sprecher/innen und anderer Personen (v. a. Gegner/innen) implizit nahegelegt werden (s.a. Potter 1996; Wooffitt 1992). Die DP befasst sich auch damit, wie Interaktionsteilnehmende Wirklichkeit rhetorisch selektiv konstruieren, und welche Rolle dabei dem Kontrast zu anderen möglichen, aber nicht gewählten Kategorisierungen und Beschreibungen für das rhetorische Potenzial und die Handlungsrelevanz ihrer Darstellung zukommt (Edwards 1997). Sie trifft sich dabei durchaus mit manchen konversationsanalytischen Untersuchungen, wie auf Orte (Schegloff 1972) und Personen (Enfield und Stivers 2007; Schegloff 1996) Bezug genommen wird, sowie mit den von Sacks „neben“ und teilweise auch im Kontext der KA unter dem Titel der membership
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A. Deppermann
categorization analysis durchgeführten Analysen (s. Abschn. 5.1). Die interaktive Konstruktion von Darstellungen wurde in der KA vor allem in Bezug auf die situations-, sequenz- und sprecher/innenrollengebundenen Funktionen von Reformulierungen ( formulations, Heritage und Watson 1979; Drew 2003) untersucht. Dabei geht es darum, wie eine erste Version eines Sachverhalts, die ein vorangehender Sprecher/eine vorangehende Sprecherin formuliert hatte, nachfolgend paraphrasiert, zusammengefasst oder in Bezug auf Schlussfolgerungen ausgedeutet wird (Deppermann und Helmer 2013). In den letzten Jahren hat die Untersuchung der multimodalen Interaktion in der KA zunehmend an Bedeutung gewonnen (Deppermann 2013d; Streeck et al. 2011). Hat sich die KA anfangs fast ausschließlich auf die Verwendung von Sprache konzentriert, steht nun zunehmend das leibliche Handeln in der sozialen Interaktion im Vordergrund. Voraussetzung hierfür ist die Verwendung videografischer Erhebungs- und Auswertungsmethoden (Heath et al. 2010; Tuma et al. 2013). In Abkehr von einem logozentrischen Verständnis von Kommunikation als Austausch verbal encodierter Gedanken bzw. Informationen werden neben der Sprache (und methodisch grundsätzlich geleichberechtigt) der Einsatz von Gestik (Streeck 2009; Stukenbrock 2015); Blick (Rossano 2013); Mimik (Peräkylä und Ruusuvuori 2012), Körperpositur und Objekten (Nevile et al. 2014) in der Interaktion untersucht. Neben die in der KA stets im Vordergrund stehende Dimension der Sequenzialität rückt nun die Simultaneität des Einsatzes dieser unterschiedlichen multimodalen Ressourcen zur Organisation von Interaktionen, zum Ausdruck von Emotionen oder zum Vollzug von Handlungen in den Fokus. An die Stelle des Modells „Sprecher/in-Hörer/ in“‘ tritt das Konzept der „Interaktionsbeteiligten“ (participation frameworks, Goffman 1981; Goodwin und Goodwin 2004). Es trägt der Einsicht Rechnung, dass Interaktionsteilnehmer/innen unablässig durch die Art und Weise, in der sie multimodal an einer Interaktion beteiligt sind, auf Sprecher/innenbeiträge einwirken und bedeutungsvoll handeln, auch wenn sie keine verbalen Äußerungen produzieren (Deppermann und Schmitt 2007). Mit der Entdeckung der leiblichen Dimension der Interaktion wird zugleich deutlich, welch immense Bedeutung Raum (Hausendorf et al. 2012; Mondada 2007) und Bewegung bzw. Mobilität (Haddington et al. 2013) für die soziale Interaktion haben, die sie einerseits prägen, andererseits aber in ihr als Ressource für das Handeln der Teilnehmer/innen genutzt werden. Mit der Wendung zur multimodalen, videobasierten Interaktionsanalyse wurden in den letzten Jahren zunehmend Interaktionssituationen erschlossen, die sich dadurch auszeichnen, dass nicht (nur) das Gespräch, sondern das gemeinsame gegenständliche Handeln im Zentrum der (auch, aber nicht nur, verbalen) Interaktion steht, wie z. B. Tourist/innenführungen, Fahrschulstunden oder chirurgische Operationen. Neben Fragen der Koordination von Handeln in Raum und Objektwelt mit der (verbalen) Interaktion sind dabei Mehrparteieninteraktionen (jenseits der klassischen Dyade) ins Zentrum des Interesses gerückt (z. B. Goodwin und Goodwin 2004; Mondada 2013, 2015). Eine für die Kognitions- und Arbeitspsychologie interessante neue Perspektive besteht in der Untersuchung von multiactivity (Haddington et al. 2014). Hier werden Phänomene der gleichzeitigen oder alternierenden Bearbeitung unterschiedlicher Handlungsaufgaben, die psychologisch als Multitasking gefasst
Konversationsanalyse und diskursive Psychologie
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werden, in realen Kontexten der Arbeitswelt (z. B. Rettungseinsätze, Schulunterricht, medizinische Befunderhebung), aber auch im privaten Kontext (beim gemeinsamen Autofahren oder interaktiven Videospielen) untersucht.
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Beiträge zu klassischen psychologischen Fragestellungen
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Identitäten in der sozialen Interaktion
Neben der sequenziellen Organisation von Interaktionen befasste sich Sacks vor allem mit Fragen der membership categorization analysis (MCA, Sacks 1992). Die MCA untersucht die Systematik der Verwendung und Interpretation von sozialen Kategorisierungen durch Gesellschaftsmitglieder. Die MCA wurde lange Zeit kaum von der Konversationsanalyse betrieben, sondern von Ethnomethodolog/innen (z. B. Jayyusi 1984; Hester und Eglin 1997). Seit Mitte der 1990er-Jahre werden derartige Fragen vor allem von diskursiven Psycholog/innen unter dem Titel identities in talk bearbeitet (Antaki und Widdicombe 1998; Benwell und Stokoe 2006, Kap. 2–3), wobei auch die MCA zunehmend Beachtung findet (z. B. Schegloff 2007b; Stokoe 2012). Hier geht es bspw. darum, wer aufgrund welcher Kriterien als Mitglied einer Kategorie behandelt wird, welche Rechte und Pflichten Kategorienmitgliedern zugeschrieben werden, wie Kategorisierungen eingesetzt werden, um Handlungen zu erklären und zu rechtfertigen, wie aus Handlungen Schlussfolgerungen über Kategorienmitgliedschaft gezogen werden usw. In diesen Forschungen wird die Relevanz sozialer Identitäten für die Gesellschaftsmitglieder selbst anhand ihrer Verwendung in der Interaktion erforscht. Im Unterschied zur sozialpsychologischen Theorie der sozialen Identität (Tajfel 1981) werden Gruppenmitgliedschaften nicht als statische, bedingende Faktoren für soziales Handeln verstanden, sondern als symbolische Größen, die Interaktionsteilnehmende selbst interpretieren und für die Konstitution ihrer Handlungen in Anspruch nehmen. Dabei zeigt sich, dass Identitäten keineswegs Handeln determinieren. Die Relevanz einzelner Identitätsaspekte variiert situativ und wird interaktiv ausgehandelt. Je nachdem, zu welcher Kategorie der Sprecher/ die Sprecherin selbst gehört, kann er/sie unterschiedliche Autorität in Bezug auf die Zuschreibung und Interpretation bestimmter (z. B. subkultureller) Identitätskategorien beanspruchen (Widdicombe und Wooffitt 1995). Die Frage nach der authentischen Inanspruchnahme von Identitätskategorien kann daher ein Feld für Konflikte und symbolische Machtkämpfe werden. Darüber hinaus besteht die Inanspruchnahme und Verhandlung von Identität in Interaktionen auch in Handlungen des doing being X, d. h. der performativen Darstellung und Zuweisung bestimmter Identitäten durch entsprechende kategoriengebundene Handlungen, ohne dass dies in Form expliziter Selbst- oder Fremdkategorisierung geschehen muss. Als umfassender Begriff für konversationelle Identitätspraktiken erlaubt es der Begriff der Positionierung (Bamberg 1997; Davies und Harré 1990; Deppermann 2015b; Lucius-Hoene und Deppermann 2004a, b), die Formen zu untersuchen, mit denen Identitäten in der Interaktion kategorial, deskriptiv und performativ relevant gemacht und verhandelt werden. Soziale Kategorisierung ist ein essenzieller Bestandteil von
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A. Deppermann
Positionierungspraktiken. Diese reichen aber weiter und umfassen z. B. auch den Ausdruck und die Zuschreibung von agency (Handlungsmacht und Autonomie; Lucius-Hoene 2013), moralische Stellungnahmen (stance taking) oder Identitätskonstitution im Erzählen, bei der früheres und heutiges Selbst in ein oft spannungsreiches Verhältnis (z. B. der Reifung, Selbstironie, Läuterung etc.) zueinander gesetzt werden (Deppermann 2013b) Der Blick auf Interaktionen als Schauplatz der Entfaltung und Verhandlung von Identitäten steht in mehrfacher Weise zu den in psychologischen Ansätzen gängigen Identitätsvorstellungen im Gegensatz: • Anstelle eines integrativ übersituativen Identitätskonzepts werden die dynamischen, situativ fluktuierenden Prozesse der Identitätszuschreibung untersucht. • Der Fokus verschiebt sich von entweder sozialstrukturell verbürgten „objektiven“ Identitäten (wie in der Theorie der sozialen Identität) bzw. von reflexiv verfügbaren und explizit selbst zugeschriebenen Identitäten (wie in der Selbstkonzeptforschung und weiten Teilen der qualitativen Interviewforschung) hin zu performativen, im Handeln in Anspruch genommenen und enaktierten Identitäten. • Es wird nicht (wie in der Selbstkonzeptforschung, aber auch in manchen Konzeptionen des qualitativen Interviews) eine mehr oder weniger (vermeintlich) stabile biografische Selbstsicht abgefragt und Identität in der isolierten Person lokalisiert, sondern Identität wird als in der Interaktion verhandelte Größe und als ihr kollektives, manchmal auch umstrittenes Produkt untersucht. • Es interessiert nicht wie in der sozialwissenschaftlichen Biografieforschung die Langzeit- und Prozessperspektive des Werdens der Person, sondern die funktionale Konstitution von Identität im Hier und Jetzt in Bezug auf bestimmte Gesprächsaufgaben und Gesprächspartner/innen in flüchtigen Interaktionen. Diese veränderten Akzentsetzungen in der Sicht von Identität werden maßgeblich im Konzept der small stories (Bamberg und Georgakopoulou 2008; Georgakopoulou 2007) erfasst, welches konversationsanalytische, diskursiv-psychologische und narratologische Ansätze der Identitätsanalyse zusammenführt. Eine vergleichbare Identitätskonzeption vertreten Lucius-Hoene und Deppermann (2004a) für die Analyse „klassischer“ narrativer Interviews, die nicht mehr primär als Basis der Rekonstruktion biografischer Prozessstrukturen, sondern als besonders reichhaltige Situationen der Identitätskonstitution durch das narrative Management verschiedener zeitlicher und interpersoneller Ebenen durch den Erzähler/die Erzählerin analysiert werden. Eine wesentliche Rolle nimmt dabei die Analyse der Interviewinteraktion ein (Deppermann 2013c). Das Interview wird konversationsanalytisch als soziale Interaktionssituation verstanden. Damit rücken Prozesse der Ko-Konstruktion von Sinn durch Interviewer/in und Befragte in den Vordergrund. Ihre Handlungen werden stets vor dem Hintergrund der Gesprächsbeiträge der Interviewer/innen und der Optionen und Restriktionen, Erwartungen und Bewertungen, die durch ihre Fragen und Rückmeldungen vermittelt werden, analysiert. Die Ebene des gemeinsamen Handelns im Interview betrifft ebenso die Dimension der Identitätskonstitution durch Selbst- und Fremdpositionierung der Gesprächspartner. Aus konversationsanalytischer Sicht gehört deshalb über die Darstellung des früheren, erzählten Selbst auf
Konversationsanalyse und diskursive Psychologie
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der Ebene der Geschichte hinaus die Analyse der performativen Positionierung des aktuellen Selbst gegenüber dem/der Interviewer/in (z. B. als Expert/in, Komplize/ Komplizin, Hilfesuchende/r) zum Verständnis der in situ konstituierten Identität.
5.2
Kognition in der sozialen Interaktion
Die DP wendet sich gegen die in der Psychologie gängige Auffassung, dass verbale Darstellungen in Form von Kategorisierungen, Berichten oder Erzählungen (z. B. von Handlungen in Interviews, Selbstzuschreibung von Identitätsmerkmalen in Fragebögen) ein mehr oder weniger transparentes Fenster auf dahinterliegende psychologische Sachverhalte (wie Emotionen, Kognitionen, Identitäten, Einstellungen) seien (Edwards 1997; Potter und Edwards 2013). Anstatt also aus verbalen Daten auf Psychisches zu schließen und anstatt Annahmen über Psychisches zu benutzen, um Interaktionshandeln zu erklären, untersucht die DP, wie mit mentalen Prädikaten und mit verbalen Darstellungen, in denen Psychisches thematisiert wird (z. B. mentale Termini wie ich denke, ich weiß nicht; Berichte über Absichten oder Erinnerungen), soziale Handlungen vollzogen werden. Die Frage ist für die DP also nicht, wie und welche psychische Realitäten (z. B. autobiografische Erinnerungen) verbal abgebildet werden und ob diese Abbildungen valide sind, sondern welches rhetorisch-diskursfunktionale Potenzial Darstellungen mentaler Phänomene und ganz allgemein die Begrifflichkeiten für Mentales in der Interaktion besitzen und wie Mentales sozial, in der Interaktion interpretiert und konstruiert wird (Potter und Edwards 2013). Edwards (1997) argumentiert z. B., dass die Formulierung von scripts und die Unterstellung von common ground nicht einfach kognitive Gegebenheiten widerspiegeln, sondern dass es sich um rhetorische Verfahren handelt, mit denen die Normalität und Gewissheit der eingenommenen Positionen und Bewertungen argumentativ abgesichert und gewissermaßen sozial verpflichtend gemacht wird. Die DP nimmt in Bezug auf das Verhältnis von Kognition und Interaktion eine strikt konstruktivistische, anti-essenzialistische Sicht kognitiver Größen ein. Sie hält es aus methodologischen Erwägungen grundsätzlich für nicht statthaft, ja vielleicht gar für zirkulär und scheinhaft, aus Interaktionshandeln auf kognitive Gegebenheiten zu schließen. Die DP ist also zumindest methodologisch, wenn nicht gar ontologisch antimentalistisch. Einige KA-Forschende sind dagegen sehr wohl bereit, bestimmte Interaktionsphänomene als konventionellen Ausdruck mentaler Zustände wie Verwirrung (Drew 2005), neu gewonnenes Verständnis (Heritage 2005) oder von Planungen und Absichten (Drew 1995) zu analysieren (s. dazu auch die Diskussion in te Molder und Potter 2005). Das Interesse der KA hat sich dabei in den vergangenen Jahren vor allem auf die Verhandlung von Wissensansprüchen und -zuschreibungen in der Interaktion gerichtet (Deppermann 2018; Heritage 2013). Untersucht wurde, wie Wissen vs. Nichtwissen im Gespräch angezeigt werden, welche Rolle Wissensasymmetrien für die Konstruktion und Interpretation von Gesprächsbeiträgen spielen und welche moralischen Rechte, Pflichten und Erwartungen für den Besitz und die Kommunikation von Wissen gelten. Im Unterschied zu einer kognitionswissenschaftlichen
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A. Deppermann
Perspektive steht also nicht im Vordergrund, wie Wissen die Konzeptualisierung von Kommunikaten und die Sprachproduktion bedingt. Es geht vielmehr um die sozialen Prozesse der Anzeige und Nutzung von Wissen im Diskurs (z. B. für die Absicherung von Bewertungen, Identitätsansprüchen oder gesprächssteuernde Aktivitäten) und die Vermittlung und Aushandlung von (legitimem) Wissen in der Interaktion.
5.3
Psychotherapiegespräche
Die Methodik der KA ist besonders geeignet, dem oftmals beklagten Defizit an Prozessforschung im Unterschied zur vorherrschenden Outcome-Forschung abzuhelfen und die interaktiven Prozesse in Therapien in einer schulenunabhängigen Weise auf der Grundlage einer allgemeinen Methodologie zur Untersuchung verbaler Interaktionen zu beschreiben (Perkäkylä 2013). Die Beschreibungsgenauigkeit der KA ist dabei den traditionellen Formen der Prozessdokumentation durch Notizen, Gedächtnisprotokolle oder die Kodierung von Videoaufnahmen überlegen, da hier der sequenzielle Prozess der Interaktion zwischen Therapeut/in und Patient/in in Bezug auf ihre verbale, aber auch nonverbale Koordination Moment für Moment nachgezeichnet werden kann und so die sprachliche und körperliche Enaktierung von Beziehungsmustern zu untersuchen ist (Streeck 2004). Die KA kann aus psychologischer Sicht genutzt werden, um den Gehalt psychotherapietheoretischer Konstrukte wie „Interpretation“, „aktives Zuhören“, „Widerstand“ in Bezug auf die faktischen Abläufe von Therapiegesprächen auf den Prüfstand zu stellen, da zumeist unklar ist, wie ihre sprachlich-kommunikative Realisierung in konkreten Therapiegesprächskontexten aussieht, wann sie produziert werden und welche Reaktionen sie hervorrufen. So wurde z. B. untersucht, wie Therapeut/innen gezielt Wortersetzungen benutzen, um Patient/innen auf den latenten emotionalen Gehalt ihrer Erzählungen zu fokussieren, oder wie sie durch Reformulierungen der Patient/innenäußerungen deren psychologisch bzw. therapeutisch relevanten Aspekte fokussieren, den Patient/innen als das von ihnen Gemeinte widerspiegeln und damit die Grundlage für die weitere Interaktion strategisch im Sinne der Katalysierung therapeutisch intendierter Effekte modifizieren (Peräkylä et al. 2008).
6
Ausblick: Stand und Perspektiven
Soziale Interaktionen sind der Stoff, aus dem ein Großteil unseres Alltagslebens gestrickt ist und der unser Schicksal maßgeblich bestimmt. In der Psychologie werden sie aber kaum einmal in ihrer natürlichen, alltagsweltlichen Phänomenologie untersucht. Dies verwundert nicht, kommt es doch bei der Analyse von Interaktion als Interaktion auf genau das an, was die experimental-psychologische Methodenlehre gerade zu eliminieren sucht: Alltagsnähe (vs. Bedingungskontrolle), Kontextabhängigkeit (vs. Standardisierung), prinzipielle Unabschließbarkeit der Handlungsoptionen (vs. geschlossene Variablensets) und prozessrelative Interpretation (vs. kontextfreie Kodierung). KA und DP sind Ansätze, deren Methodologie auf genau diese
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Eigenschaften des Untersuchungsgegenstands „soziale Interaktion“ zugeschnitten ist. Ihr Datenverständnis fordert eine methodologische Disziplin des genauen Hinhörens und -sehens. Kultiviert wird damit eine strikt phänomenologische Orientierung auf den Fall, die gerade auch klinisch relevant ist. Ihr Ansatz, sich theoretisch unvoreingenommen der rigorosen Prüfung aller Hypothesen an den Details des Interaktionsprozesses zu stellen und die wissenschaftlichen Kategorien im Handeln und damit im Selbstverständnis der Interaktionteilnehmenden selbst zu verankern, beinhaltet ein großes Potenzial für eine breite Palette von Fragestellungen aus Sozial-, Kognitions-, Entwicklungs- und Sprachpsychologie und speziell für die psychologische Biografie- und Therapieforschung. Viele Psycholog/innen dürften es als einen Mangel empfinden, dass KA und DP großen Aufwand in die detailgenaue Beschreibung von Interaktionspraktiken und in die Analyse ihrer Funktionen investieren, Fragen der Erklärung und Vorhersage – warum benutzt wer wann welche Praktiken? – dagegen weitgehend ausklammern. Dies ist eine Folge des ethnomethodologisch inspirierten Erkenntnisinteresses, das seine Grenze dort findet, wo für das Interaktionshandeln andere Größen als die an ihm selbst ausweisbaren Orientierungen der Teilnehmenden mit maßgeblich sind. Erste Ansätze zur Integration von KA und quantitativen Untersuchungen liegen vor, in denen Eigenschaften der Interaktion mit Kontextvariablen korreliert werden (Stivers 2015). Die Verknüpfung gestaltet sich aber schwierig, will man damit nicht zugleich die methodologischen Vorteile von KA und DP durch Desequenzialisierung und deduktive Kodierung wieder zunichte machen. Dennoch bestehen hier Perspektiven für die Entwicklung von Mixed-Method-Ansätzen, ein Vorhaben, das allerdings unter Vertreter/innen der KA und DP sehr umstritten ist. Auch Forschende anderer qualitativer Couleur, insbesondere aus der kritischen Diskursanalyse, der objektiven Hermeneutik, der Ethnografie und den Gender Studies haben Vorbehalte gegen KA und DP, da sie zu wenig Kontext (nämlich nur den gesprächsinternen) einbezögen, die Einbettung in größere sozialstrukturelle oder auch psychobiografische Zusammenhänge vernachlässigten und deshalb tendenziell naiv und positivistisch an der Oberfläche der Daten klebten (Flader und von Trotha 1988). In vielen Fällen ist zu zeigen, dass diese Kritik gegenstandslos ist, da im Gegenteil die Berufung auf gesprächsexterne Kontexte leicht vorschnell geschieht, zu voreingenommenen Scheinerklärungen führt und stattdessen versäumen lässt, die interaktionseigenen Motivationen kommunikativer Phänomene zu erkennen. Es lässt sich aber nicht leugnen, dass für gewisse Phänomene und Fragestellungen der strikt interaktionsanalytische Forschungsrahmen der KA und DP bspw. um interaktionstranszendente ethnografische Daten und Wissensbestände erweitert werden muss (Deppermann 2000, 2013a), und dass trotz aller Meriten der rhetorisch-funktionalen Sicht auf Kognitionen die Position der DP, auf Kognitionszuschreibungen in der Analyse verzichten zu können, letzten Endes aporetisch ist (Deppermann 2012). In der Verknüpfung mit quantitativen Studien, der Ethnografisierung und dem Einbezug und der Relationierung interaktiver zu kognitiven Größen liegen also, neben der zunehmenden Erforschung multimodaler Interaktionen, wichtige Potenziale für die künftige Weiterentwicklung von KA und DP.
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Diskursanalyse Lars Allolio-Näcke
Inhalt 1 Entstehungsgeschichte und aktuelle Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische und methodologische Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Anwendungsgebiete in der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Der Beitrag stellt die sozialwissenschaftliche Methode der Diskursanalyse und ihre Anwendung in der Psychologie vor. Die aus dem französischen Poststrukturalismus stammende Diskursanalyse gelangte erst sehr spät in den Kanon qualitativer Sozialforschung. Insbesondere im angelsächsischen Bereich erfreut sie sich seit den 1990er-Jahren großer Beliebtheit als psychologische Forschungsmethode. Mit ihrer Hilfe kann man nicht nur individualpsychologische Gegenstände wie Motivation, Emotion, Bewusstsein auf ihren Konstruktionscharakter hin untersuchen; vielmehr kann man die Konstruktion der psychologischen Subjekte selbst in den Blick nehmen. Grundlage hierfür sind Texte jeglicher Art (Zeitungsartikel, Bücher, Interviews, Gespräche). Schlüsselwörter
Michel Foucault · Diskurs · Dispositiv · Diskursanalyse · Subjektivität
L. Allolio-Näcke (*) Zentralinstitut „Anthropologie der Religion(en)“, Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, Erlangen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_51
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L. Allolio-Näcke
1
Entstehungsgeschichte und aktuelle Relevanz
1.1
Philosophischer Hintergrund
Das Entstehen der Diskursanalyse (DA) ist an die überwiegend im französischen Sprachraum entstandenen „Paradigmen“ Strukturalismus und Poststrukturalismus gebunden. Der Strukturalismus trägt insofern zur Entwicklung der DA bei, als er den formalen, gegen die klassische hermeneutische Tradition gerichteten Rahmen liefert: Texte folgen (grammatischen) Regelmäßigkeiten, die nicht vollständig auf das intentionale, sprechende/schreibende Subjekt zurückgeführt werden können; Texte gehorchen einer eigenen, subjektunabhängigen Logik. Diese Regelmäßigkeiten werden im Strukturalismus als statische Prinzipien betrachtet, die unabhängig vom Kontext der Textproduktion gedacht werden. Mit diesem „rigiden“ System unzufrieden, richten die Poststrukturalist/innen ihr Augenmerk auf den Entstehungskontext des Textes sowie dessen historische (Weiter-)Verwendung. Betrachtet also der Strukturalismus Texte als geschlossene, einer Eigenlogik folgende Gebilde, so bettet der Poststrukturalismus sie in einen Kontext ein, d. h. Texte bilden diskursive Formationen und erst über deren Verknüpfung mit Kontext, Geschichte und Subjektivität über bestimmte Regeln und Mechanismen lassen sich die Logik wie die Wirkweise des Einzeltextes bestimmen. Will man verstehen, warum sich entgegen dem bis dahin in Frankreich vorherrschenden Denken ein das Subjekt verneinendes (Strukturalismus) bzw. es infrage stellendes (Poststrukturalismus) Paradigma entwickelte, muss der Begriff des Subjekts, für das Text nur eine Chiffre ist, erläutert werden. Das Subjekt wurde bis dato in den vorherrschenden Philosophien als Substanz oder als (Bedeutungs-)Einheit aufgefasst, hatte somit bereits Sinn an sich, z. B. als vernunftbegabtes Wesen, und verlieh aufgrund dieser Bestimmung der Welt Sinn. Subjekt und Sinn stellten eine untrennbare Einheit dar, die sich insbesondere in politischen oder Handlungstheorien wiederfand. Jedoch handeln Menschen oft, ohne dass sie begründen können, warum sie so gehandelt haben, und Menschen handeln sogar – von einer übergeordneten Ebene betrachtet – gegen ihre Interessen. Genau hierauf reagiert der Poststrukturalismus und kritisiert das Subjekt als Substanz oder vorgängige Bedeutungseinheit zugunsten der Vorstellung vom Subjekt als Effekt von Differenzen oder Wissen-Macht-Strukturen. Nimmt man diesen Perspektivwechsel ernst, dann ist das Subjekt in seinem historischen Handeln nicht absolut autonom, denn es wird als Subjekt erst geschaffen und hat nicht bereits qua Existenz Sinn bzw. darf nicht als Bedeutungseinheit und Handlungszentrum aufgefasst werden. Dies bedeutet jedoch keine Zurückweisung eines verantwortlich handelnden Subjekts, wie es oft interpretiert wurde. Verabschiedet wird lediglich eine substanzontologische Vorstellung des Subjekts, die Form und Inhalt gleichsetzt (Allolio-Näcke 2007, S. 55–92) bzw. dialektisch aufzuheben versucht (Butler 2003, S. 58). Das Subjekt aber ist „keine Substanz. Es ist eine Form, und diese Form ist weder vor allem noch immer mit sich selbst identisch“ (Foucault 1985, S. 18). Insofern kann Foucaults Denken nicht dem (sozialen) Konstruktivismus zugeordnet werden, wie es gern getan wird, wenn
Diskursanalyse
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„eindeutig ein Nebeneinander von Diskurs und Wirklichkeit“ bzw. ein „Dualismus zwischen Diskurs und Wirklichkeit“ postuliert wird (Jäger 2006, S. 91–92; ähnlich Keller 2006, S. 126; Willig 2001, S. 119). Es kommt Judith Butler (2003) zu, den Foucault’schen Ansatz dahingehend erläutert zu haben, dass es sich bei Diskurs und Wirklichkeit nicht um zwei getrennte Modi handelt, sondern beide ineinanderfallen: Diskurs ist für Foucault nicht Wirklichkeit, sondern handfeste Realität. Eine solche nicht-substanzontologische, nicht-dialektische Subjektphilosophie entlastet nicht nur von der Idee, der einzelne Mensch sei für seine und die Existenz seiner Mitmenschen – und damit auch für Missstände – verantwortlich, sondern erlaubt auch zu verstehen, warum der Sozialismus die Menschen nicht befreite, sondern sich kapitalistische Formen entwickelten, die sie immer subtiler ausbeuten, ohne sie – wie im Frühkapitalismus – zu verschleißen. Eine solche Philosophie stellt politischen Widerstand auf neue Füße.
1.2
Zentrale Schriften und Ideen
In der Rezeption dieser Ideen in den Geistes- und Sozialwissenschaften lässt sich eine eindeutige Präferenz der Schriften Michel Foucaults und Jaques Derridas feststellen, auch wenn sich ähnliche Analysen z. B. bei Roland Barthes (1974, 1981, 2010) finden. Wurden Derridas Ideen weitgehend von den Sprachwissenschaften unter dem Label Dekonstruktion aufgegriffen, so konzentrierte sich der sozialwissenschaftliche Diskurs auf die Ideen Foucaults unter dem Label Diskursanalyse. Diese Präferenzentwicklung lässt sich damit erklären, dass Derridas bevorzugtes Medium der Text (Zeichen, Text, Schrift) war, während Michel Foucault seine Thesen zur diskursiven Verfasstheit der Wirklichkeit auf soziale Phänomene, sprich Institutionen (z. B. Gefängnisse, Schulen, Kasernen) und Praktiken (z. B. Strafen, Gesundheitspolitik) applizierte, womit er die Grundlage für kultur- und sozialwissenschaftliche Gesellschafts- und Machtanalysen legte. Für die Psychologie ist maßgeblich der letzte Ansatz relevant, weshalb ich mich im Weiteren auf diesen konzentriere. In der „Archäologie des Wissens“ (1973) ging Foucault der Hypostasierung des Subjekts nach. Er suchte mittels seiner als Archäologie bezeichneten Methodologie nachzuzeichnen, wie die Menschen „in einen Prozess der Erkenntnis eines Objektbereichs eintreten und dabei sich selbst gleichzeitig als Subjekt mit einem festen und determinierenden Status konstituieren“ (Foucault 1996, S. 52). Foucault verstand die Wissenschaften als Konstituenten einer bestimmten Rationalität und einer bestimmten Vernunft, die dazu beitragen, das Subjekt als Objekt zu erschaffen (Foucault 1994a, S. 275). Hiernach ist wissenschaftliche Praxis „eine bestimmte Art, Diskurse zu regeln und zu konstruieren, die einen bestimmten Objektbereich definieren und zugleich den Platz des idealen Subjekts festlegen, das diese Objekte erkennen soll und kann“ (Foucault 1996, S. 71). Diese Einsicht führte ihn dazu, genau diese wissenschaftlichen Erkenntnisse in ihrer Relativität wahrzunehmen und deren Veränderbarkeit durch „Erfahrung“ zu postulieren (Foucault 1996, S. 24): „Nicht, was die Menschen sind, sondern was sie sein könnten,
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wie sie anders leben, handeln, denken, ihre sozialen Beziehungen gestalten könnten“ (Marti 1988, S. 2), war sein Thema. Ausgehend von den archäologischen Analysen gelangte Foucault zur Analytik der Macht. Denn „die Anwendungen, die Produktion, die Akkumulation des Wissens sind nicht zu trennen von den Mechanismen der Macht [. . .]. Bereits die Frankfurter Schule stellte fest, dass die Formulierung der großen Wissenssysteme auch Unterwerfungseffekte hatte und Herrschaftsfunktionen ausübte“ (Foucault 1996, S. 111). Foucaults Programmatik wurde infolge der 1968er Bewegung schnell in den Geistes- und Sozialwissenschaften aufgenommen. Statt aber den Begriff der Archäologie aufzugreifen, wurden „Diskurs“ bzw. „Diskursanalyse“ zu Schlagwörtern der Stunde. Dabei störte es wenig, dass Foucaults Erläuterungen zur methodischen Vorgehensweise in der „Archäologie“ nur vage blieben, sie war der ausschließliche Referenzrahmen (Diaz-Bone 2006a, Abs. 68) und wurde als oft zitierte „Werkzeugkiste“ benutzt. „Die Ordnung des Diskurses“ (Foucault 2003), die viel konkreter hinsichtlich der Methodologie und Methode ist, wurde hingegen kaum rezipiert. Diese theoretische Unterbestimmtheit, die auch offen zugegeben wird (Diaz-Bone 2006b, Abs. 12, 18), lässt sich in allen Formen der DA finden. Insofern muss man sagen, dass es an sich keine Foucault’sche DA gibt, sondern sich aus diesen Ideen zahlreiche verschiedene Ansätze entwickelt haben, die mehr oder weniger stark auf Foucault zurückgreifen. Dies hat zu einer unüberschaubaren Fülle an Konkretisierungen geführt, für die mit Recht die Fragen aufgeworfen werden können, „ob es sich bei der Diskursanalyse um eine Methode sensu strictu [. . .] handelt“ (Köhnen 2007, S. 425) und inwieweit hierbei noch von Foucault’scher DA gesprochen werden kann.
1.3
Aktuelle Ansätze für die und in der Psychologie
In der Psychologie ist die DA bis in die 1990er-Jahre kaum rezipiert worden. Deutschsprachige relevante Umsetzungen finden sich vor allem verbunden mit den Namen Jürgen Link und Siegfried Jäger in der Literaturwissenschaft. Jürgen Link hat als erster die DA aufgegriffen und nach Deutschland importiert: Mit seiner Habilitationsschrift legte er 1975 einen ersten Entwurf vor, den er im Zusammenhang mit der Bochumer Diskurswerkstatt bis heute zur sogenannten „Interdiskursanalyse“ (Link 1983, 1997, 1999) weiter ausgebaut hat. Dass er Foucaults „Werkzeugkiste“ ausgeschlachtet habe (Diaz-Bone 2006b, Abs. 10), kann wörtlich genommen werden, da die Interdiskursanalyse eine stark im Strukturalismus verankerte Variante ist. Die Interdiskursanalyse setzt auf dem Dreiklang „Diskurs“ (Spezialdiskurse – Interdiskurse – Elementardiskurse), „Kollektivsymbolik“ und „Normalismus“ auf. Dabei stellen die kollektiv verankerten Symbole Scharniere oder „Siebe“ dar, durch die Wissen von einem auf einen anderen Diskurs übergeht. Wenn Wissen aus Spezialdiskursen (z. B. Biologie, Medizin, Psychologie) in Interdiskurse (z. B. Populärwissenschaft, -philosophie, -geschichte oder Literatur) oder Elementardiskurse (z. B. Liebe, Familie) übergeht, bildet dieses Wissen normative Wirkung aus (Diaz-Bone 2006b, Abs. 22–27).
Diskursanalyse
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Inspiriert durch die Linksche DA und im Wesentlichen verbunden mit dem Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) hat der Historiker und Germanist Siegfried Jäger die „Kritische Diskursanalyse“ (2009) vorgelegt: Jägers DA ist weniger strukturalistisch als pragmatisch orientiert und richtet das analytische Augenmerk nicht auf die Form, sondern auf inhaltliche Themen, wie z. B. Rechtsextremismus, Migration etc. Hinzu kommen zwei weitere Inspirationsquellen: das Buch von Utz Maas „Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand“ (1984) – hier übernimmt Jäger die Argumentationsanalyse – sowie die Leontjew’sche Tätigkeitspsychologie (Leontjew 1982), die in der 6. Auflage zurecht als „additive Synthetisierung“ vollständig gestrichen wurde (Jäger 2012, S. 69, 112; s. Allolio-Näcke 2010). Auch Jäger verwendet das Foucaultsche Œuvre als „Werkzeugkiste“. Link (2006) und Jäger (2006) haben sich einander sukzessive angenähert: Ersterer verweist auf die Methodenschritte der Feinanalyse Jägers, letzterer greift auf Links Interdiskurstheorie zurück und übernimmt dessen Kategorien (Jäger 2012, 53–63). Diese speziell deutsche Variante ist zuweilen in der Psychologie aufgegriffen worden (Allolio-Näcke 2007), hat sich jedoch nicht durchgesetzt, da das Subjekt als kritisches Element der Analyse „angehängt“ oder nur als Forscher/innensubjekt thematisiert wird. Dass jedoch über diese Diskurse auch Subjektivitäten bestimmt werden, blieb bis zur Neuauflage der „Kritischen Diskursanalyse“ 2012 unterreflektiert. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die DA für die Psychologie erst über den Umweg des englischsprachigen Raumes fruchtbar gemacht wurde. Potenziell für die Psychologie anwendbare Varianten der DA haben der Soziologie Reiner Keller unter dem Titel „Wissenssoziologische Diskursanalyse“ (2006, 2008; 2011 erschien eine 3. Auflage) und Rainer Diaz-Bone (2002) vorgelegt. Kellers Ansatz kennzeichnet, dass er den wissenssoziologischen Ansatz von Berger und Luckmann (1980) ebenso wie sozialwissenschaftliche Hermeneutik und interpretative Sozialforschung mit der DA zu kombinieren sucht. Als Analysekonzepte oder Heuristiken dienen ihm die Ideen der Wissenssoziologie. Methodisch hat Keller kein eigenes Instrumentarium entwickelt, sondern nutzt die bereits vorhanden Methoden der qualitativen Sozialforschung, nämlich die Grounded-Theory-Methodologie (Strauss und Corbin 1996 [1990]) mit dem Theoretical Sampling und den Prinzipien der minimalem bzw. maximalen Kontrastierung. Diaz-Bones Ansatz bezeichne ich als Synthetische Diskursanalyse. Synthetisch deshalb, weil es mir scheint, Diaz-Bone versuche, 1. eine näher an Foucaults Diskurstheorie liegende Operationalisierung zu gewinnen und 2. eine Integration der verschiedenen Ansätze und Ideen, um eventuell zu einer einzigen DA zu gelangen. Der wichtigste Unterschied dieser Variante zu den vorher genannten liegt darin, dass hier erstmals eine übergeordnete Perspektive eingeführt wird (Dispositivanalyse), die den Systemcharakter des Regelsystems berücksichtigt. Im sonstigen Vorgehen unterscheidet sich diese Variante nicht wesentlich von den anderen (Diaz-Bone 2005, Abs. 9–26). Einen Überblick über die Gesamtbreite diskurstheoretischer Ansätze und Methoden erhält man bei Wodak und Meyer (2009) und Angermüller et al. (2014). Im englischsprachigen Bereich lassen sich zahlreiche Ansätze finden, die sich als (critical) discourse analysis oder disc(o)ursive psychology bezeichnen. Allerdings gilt es hier stark zu differenzieren: 1. Was in den USA als discourse analysis
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L. Allolio-Näcke
bezeichnet wird, meint in Europa in aller Regel Gesprächs- oder Konversationsanalyse (KA). Aber auch im deutschsprachigen Raum besteht nicht immer Trennschärfe, hatte sich die linguistische Sprechakttheorie in den 1990er-Jahren selbst als „Diskursanalyse“ bezeichnet (Ehlich 1994) und stiftet damit bis in die heutigen Tage Verwirrung (so bspw. Hausendorf und Quasthoff 2005). 2. Auch wenn es sich in anderen Fällen nicht um KA handelt, dürfen bestimmte Ansätze (Edwards 1997; Edwards und Potter 1992; Potter 1996, 2006; Potter und Wetherell 1987) dennoch nicht als DA klassifiziert werden, auch wenn sie in diesem Kontext auftauchen (so auch Willig 2001, S. 90–104; anders Demuth 2011). Diese Ansätze sind stark am linguistischen Paradigma orientiert und tendieren zu einer Synthese mit der KA. Zudem basieren sie auf dem (sozial-)konstruktivistischen Paradigma und operieren ausschließlich auf Verhaltensniveau, womit sie die Besonderheit des Foucault’schen Ansatzes, die Subjektivierung, verfehlen (Näcke und Park 2000). Ein handelndes Subjekt und daraus resultierende Subjektivität wird von Vertreter/ innen der disc(o)ursive psychology zurückgewiesen (Zielke 2007, S. 109). In den Mittelpunkt werden situationsorientierte Praktiken gestellt, aus denen dann Effekte hervorgehen, die Kognition oder Subjektivität genannt werden. Oder anders ausgedrückt: Menschen handeln zuerst und schreiben dann diesen Handlungen Sinn zu. Z. B. hat Alexa Hepburn (2004) aus dieser Perspektive das Weinen in Alltagssituationen untersucht und findet spezifische Elemente, die Weinen auszeichnen: zitternde Stimme, Naselaufen, Schluchzen etc. Anhand dieser Elemente zeigt sie, wie diese mit spezifischen Handlungen verbunden sind (z. B. Trauer), und dass „Emotionen“ als interaktional und relational, gemeinsam konstruiert und „gemanagt“ verstanden werden müssen, statt sie als individuelle Phänomene zu begreifen. 3. Dennoch lassen sich Ansätze finden, die mit Recht als DA bezeichnet werden können (Burman et al. 1996; Henriques et al. 1998; Parker 1992). Um diese besonders zu kennzeichnen und von der disc(o)ursive psychology abzugrenzen, hat sich die Bezeichnung Foucauldian studies oder Foucauldian discourse analysis eingebürgert; selbst nutzen sie oft das Label critical discourse analysis. Im Mittelpunkt der Foucauldian discourse analysis steht das Verhältnis von Sprache und Subjektivität und die daraus resultierende Frage für die Psychologie, wie diese untersucht bzw. das Subjekt begriffen werden solle (Willig 2001, S. 106). Das Subjekt wird als vom Nicht-Diskursiven beeinflusst konzipiert und deshalb werden vor allem Institutionen und soziale (Macht-)Beziehungen untersucht. Letztere haben Auswirkungen auf das Subjekt, indem sie Handlungen ermöglichen oder unterdrücken. Dem Foucault’schen Denken verpflichtet, wird nicht das Subjekt an sich verabschiedet, sondern nur eine bestimmte Vorstellung desselben. Statt von Subjekt sprechen die Vertreter/innen deshalb von „Subjektpositionen“ (Parker 1994, S. 245) oder vom positioning (Harré und Van Langenhove 1999). Das heißt, z. B. für das Problem der Emotionen, dass diese als Internalisierungen von in Diskursen verhandelten Subjektpositionen und Verhaltensweisen zu begreifen sind. Es heißt aber nicht, dass hier ein Determinationsverhältnis angenommen wird, ganz im Gegenteil, dem Subjekt wird ein „Sich-verhalten-zu“ zugestanden. Mittlerweile ist die Debatte um die DA in der Aufarbeitung des Foucault-Œuvres beim Konzept des Dispositivs angekommen und reagiert darauf. Insbesondere
Diskursanalyse
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Rainer Diaz-Bone (2006a) und Siegfried Jäger (2006, S. 108–113) haben vorgeschlagen, der Diskursanalyse eine Dispositivanalyse (DPA) folgen zu lassen – von Jäger (2012) wird die DA sogar als „Herzstück“ der DPA untergeordnet und als eigenständige Methode in Frage gestellt, obwohl „wir [. . .] bisher keine Dispositivanalysen durchführen konnten, auf die ich mich im Folgenden stützen könnte“ (Jäger 2012, S. 112). Bührmann und Schneider haben 2008 einen Entwurf einer DPA vorgelegt. Dabei ist die DPA eine Forschungshaltung, die „Bestimmung des je über Wissen vermittelten Verhältnisses von Diskurs, Macht und gesellschaftlichem Sein“ (Bührmann und Schneider 2008, S. 32) zu analysieren hat. Nicht weniger als das gesellschaftliche Sein rückt so – neben dem Diskurs – ins Zentrum der Analyse. Damit versuchen die Autor/innen die Differenz zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praxen zu überwinden und vor allem die Zusammenhänge und Verknüpfungen zwischen den Praktiken, Institutionen, Gegenständen, Subjekten usw. zu analysieren. Allerdings halte ich dieses Ansinnen für wenig fruchtbar, selbst wenn man wie Jäger das Dispositiv konzipiert als „rotierenden und historisch prozessierenden Kreis mit drei zentralen [. . .] Durchgangsstationen [. . .]: 1. Diskursive Praxen, in denen primär Wissen transportiert wird. 2. Handlungen als nichtdiskursive Praxen, in denen aber Wissen transportiert wird, denen Wissen vorausgeht bzw. das ständig von Wissen begleitet wird. 3. Sichtbarkeiten/Vergegenständlichungen, die Vergegenständlichungen diskursiver Wissens-Praxen durch nicht-diskursive Praxen darstellen, wobei die Existenz der Sichtbarkeiten (‚Gegenstände‘) nur durch diskursive und nichtdiskursive Praxen aufrechterhalten bleibt.“ (Jäger 2006, S. 108 – Herv. d. A.)
Wie die Hervorhebungen zeigen, bleibt die Analyse auf dasjenige beschränkt, was von Jäger als „Wissen“ bezeichnet wird (so auch Jäger 2012, S. 113–114). Ist dieses schon schwer umfassend und eindeutig zu erfassen, wie Jäger selbst zugibt, so bleibt das, was den Garanten des Dispositivs ausmacht, ganz außen vor: die Macht. Und wie will man das fassen, was Foucault als Macht beschreibt? Und schließlich, wie den Mehrwert, den die Produktion von Subjektivität ausmacht? Insofern stimme ich mit Jürgen Link (2006, S. 414–418) überein, der für ein Verständnis des Dispositivs als gesamtgesellschaftliche Realität wirbt, die sich zwar stark reduziert abbilden lässt, aber nicht vollständig analysierbar ist. Jeder Versuch über ein Modell, wie es Link (2006, S. 414–418) vorlegt, hinaus, oder wir es bei Gilles Deleuze (1991, S. 154) ausformuliert finden, muss scheitern. Bezug der Aussagen des Diskursfragments bzw. Diskursstranges auf das Dispositiv kann also lediglich bedeuten, es/ihn in den diskursiven Kontext und in Bezug auf ein diskursives Ereignis zu verorten. Insofern gilt für die von Bührmanns und Schneiders vorgelegte DPA: „Dieser enormen Breite und Flexibilität der Dispositivanalyse steht [. . .] allerdings auch ihre weitgehende Unbestimmtheit gegenüber. Wenn alles irgendwie wichtig ist und zusammenhängt, dann kann diese Perspektive die Aufgabe der Komplexitätsreduzierung schon für die Forschenden kaum noch leisten. Jede Beschränkung der Forschenden aus praktischen Gründen (in der Regel aus Mangel an den Ressourcen Zeit und Geld) und jede Priorität
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L. Allolio-Näcke
nur eines der Elemente vor einem anderen kommt so einer unzulässigen ‚Amputierung‘ der Perspektive gleich.“ (Herzog 2013, Abs. 42)
Allgemein ist zu konstatieren, dass die Diskursanalyse – zumindest im psychologischen Kontext – in den zurückliegenden Jahren im deutschsprachigen Raum an Bedeutung verloren hat, während sie im englischsprachigen Raum weiterhin Konjunktur zeigt. Das liegt m. E. vor allem darin begründet, dass die englischsprachigen Anwendungen direkt aus praxisnahen bzw. auf die Veränderung der Praxis zielenden Forschungsprojekten kommen, während im deutschsprachigen Raum Diskursanalysen eher im „theoretisch“-universitären Kontext – und damit der deutschen Wissenschaftstradition folgend eher im Bereich der Vereinheitlichung und Systematisierung – entstehen.
2
Theoretische und methodologische Prämissen
2.1
Die Ontologie des Diskurses
Vielfach wird betont, es sei irreführend, den Begriff „Diskurs“ zu verwenden, denn er bezeichne „eine Praxis und nicht [. . .] ein Objekt“ (Bublitz 1999, S. 23). Link betont, dass der Begriff lediglich eine Abkürzung für „Diskursive Formation“ sei und damit auf eine Praxis ziele (Link 1999, S. 151), und diese definiere den Bereich des Wahren bzw. dessen, was als wahr, als existent wahrgenommen wird. Für Foucault selbst gibt es eine ontische Seite dieser diskursiven Formationen: Er „geht [. . .] stets von einem bestimmten und endlichen Corpus aus [. . .], von gesprochenen Worten und von Texten [. . .], deren ‚Aussageregelmäßigkeiten‘ er herausarbeiten möchte“ (Deleuze 1992, S. 80). Vernachlässigt wird hierbei aber die produktive Seite, die Handlungsebene von Sinnstiftung durch Sprechen/Schreiben und durch Lesen/Wieder- bzw. Neuerzählen, denn der Diskurs wird so auf Aussagen als (manifeste) Texte reduziert. Aus dem Blick gerät, dass sich Sinn nur in einem diskursiven Raum erschließt – also außerhalb des Textes (Bublitz 1999, S. 23). Diese Ausblendung findet sich fast durchgängig. So ist es beispielsweise irreführend, wenn Jäger (2009, S. 197) vorschlägt, im bestmöglichen Falle alle verfügbaren Dokumente zu sichten, um möglichst den Diskurs zu erfassen, auch wenn er an anderer Stelle rät, sich aufgrund der „riesigen Materialfülle“ einzuschränken (Jäger 1999, S. 136–137). Er erliegt damit einem „ontologischen Trugschluss“ (Brockmeier und Harré 2005, S. 42), denn er suggeriert, der Diskurs wäre als positivum erfassbar, er sei etwas Vorgängiges, das es der Welt zu „entreißen“, das es „abzulesen“ gelte – die Regeln dafür, wie gelesen werden soll, erscheinen so dem Diskurs immanent zu sein. Einer solchen Sichtweise hat sich Foucault jedoch verwehrt (Foucault 2003, S. 32–33). Dennoch gibt es für Foucault einen ontischen Diskurs, der aber nicht fassbar sei: „Der Diskurs ist ihnen [den Kontrollen und Prozeduren] ausgeliefert, aber [. . .] in dieser seiner Spezifität existiert er auch gar nicht ohne sie“ (Foucault 2003, S. 79). Das heißt, es ist nicht möglich, den Diskurs darzustellen, ohne ihn erst zu erschaffen.
Diskursanalyse
681
Erst indem ein bestimmter Diskurs benannt und durch Zusammenstellung erkannt wird, wird dieser zu einer wahrnehmbaren Entität. Foucault benennt mehrere Prozeduren und Kontrollmechanismen, die das Wesen des (ontischen) Diskurses verändern und bestimmen: Prozeduren der Ausschließung (z. B. das verbotene Wort, Grenzziehung zwischen Wahrem und Falschen, zwischen Vernunft und Wahnsinn), Prozeduren der Kontrolle und Einschränkung (z. B. Kommentar, Autor/infunktion, Organisation der Disziplinen) und der Verknappung der sprechenden Subjekte (Festlegung von Ritualen und Doktrinen in und für Diskursgemeinschaften).
2.2
Die Verknappung des Diskurses durch den Autor/die Autorin – die Diskursposition
Die wichtigste dieser Prozeduren ist die verknappende Funktion des Autors/der Autorin. Er/sie bestimmt, was als Diskurs wahrgenommen werden kann – und zwar 1. durch die Gruppierung von Texten, 2. durch die Sinnstiftung und Bedeutungsgebung sowie 3. durch die Begründung der Einheit zwischen den verschiedenen Textfragmenten (Foucault 2003, S. 20). 1. Bereits die Gruppierung von Texten bedeutet eine erste Verknappung des Diskurses: Es werden bestimmte Texte aus einer endlichen Anzahl von Einzeldokumenten unter einer spezifischen thematischen Fokussierung ausgewählt, andere ausgeschlossen. Das erscheint legitim, denn es ist zum einen unmöglich, alle schriftlichen und mündlichen Äußerungen zu sichten und zu berücksichtigen. Zum anderen handeln Forscher/innen, die gleichzeitig Autor/innen sind, immer und notwendigerweise interessengeleitet – und dies schlägt sich in der Art und Weise der Hypothesenbildung, der Theorieprüfung, im Umgang mit dem empirischen Material usw. nieder. 2. Da der Diskurs eine Form – also an sich bedeutungsleer – ist, kommt es dem Autor/der Autorin zu, die aufgefundenen Äußerungen (Diskursfragmente) zu interpretieren, ihnen Sinn zu verleihen und übergreifend eine bestimmte Bedeutung zuzuschreiben. Auf diese Weise werden Autor/innen als sinnstiftendes und bedeutungsgebendes Prinzip erneut verknappend wirksam. 3. Im dritten Schritt der Verknappung versucht er/sie, einen Ursprung der verschiedenen Einzeläußerungen zu definieren. Dies muss er/sie tun, um zu begründen, dass jede Einzeläußerung einem bestimmten Prinzip folgt und somit Teil eines Diskurses ist: „Der Diskurs verliert so seine Realität, indem er sich der Ordnung des Signifikanten unterwirft“ (Foucault 2003, S. 33). Dies hat weitreichende Konsequenzen: Erst durch das Benennen einer bestimmten Bedeutung des Diskurses wird der Diskurs samt seiner Wirksamkeit inauguriert. Und erst durch dieses Benennen erhält das Subjekt die Möglichkeit, sich zur Welt zu verhalten. Diskurs ist somit nicht Sein, sondern Fiktion – er reiht sich ein in die Welt der Bedeutungen, in der Menschen leben und handeln. Ontischer und fiktionaler Diskurs sind zwei verschiedene Dinge – und doch sind sie nicht ohne einander zu
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denken. Jeder ist Garant der Existenz des anderen. Während der unzugängliche ontische Diskurs einen Möglichkeitsrahmen bildet, ist der fiktionale Diskurs dessen partielle, interessengeleitete und subjektive Konkretion, die sich wiederum in den ontischen Diskurs eingruppiert. Die DA produziert also Fiktionen, die mehr oder weniger glaubhaft und nachvollziehbar sind. Erst wenn sie mittels Rückbindung an nicht-diskursive Strategien als „gemeinschaftlich geteilte Bedeutungen“ (Bruner 1997, S. 31) glaubhaft und nachvollziehbar (gemacht) werden, können subjektiv gewonnene Ergebnisse als wahr gelten. Diese Strategien sind „Evidenzbeweise“, denn sie bilden den sichtbaren Bereich des Wissens: ein Gefängnis, eine Schule, ein Ehering etc. Sie sind der eigentliche Ausgangspunkt einer DA. Nicht der Text steht am Anfang einer solchen, sondern ein sozial „sichtbares“ Phänomen oder eine persönliche Erfahrung (Foucault 1996, S. 28–29). Allerdings „geht der theoretisch-analytische Akt nicht in einer neutralen, ‚objektiven‘ Beschreibung auf. Vielmehr ist er selbst [. . .] eine gesellschaftliche Praxis“ (Bublitz et al. 1999, S. 16). Dies ist auch der Grund, warum es für die DA kein anderes Objektivitätskriterium als die Nachvollziehbarkeit geben kann, denn „Wissen ist nur ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ im Lichte der Perspektive, die wir gewählt haben. Solche Urteile über richtig und falsch [. . .] summieren sich nicht zu absoluten Wahrheiten und Falschheiten“ (Bruner 1997, S. 43). Auch hinsichtlich der Validität der Aussagen kann nur das Kriterium der Plausibilität gelten, denn der Diskurs ist lediglich eine Form, die an sich keine Bedeutung enthält.
2.3
Macht und ihre produktiven Wirkungen
Die wohl prägnanteste Stelle, an der Foucault Macht definiert, lautet: „‚Die Macht‘ [. . .] ist dadurch gekennzeichnet, dass sie Verhältnisse zwischen Individuen oder Gruppen ins Spiel bringt“ (Foucault 1994b, S. 251); sie ist ein „Verhältnis von ‚Partnern‘“ (Foucault 1994b, S. 251), sie ist eine Qualität interaktiver Verhältnisse. Der Begriff Macht dient Foucault demnach als Metapher für die produktive Wirkung von Handlungen. Es geht also nicht (nur) um Macht als Herrschaft, ganz im Gegenteil. Appliziert auf den Diskurs und das (forschende) Subjekt bedeutet dies: Jeder Akt des Sprechens, jede Handlung, die als bedeutungsvoll verstanden werden kann, übt Machtwirkungen aus. Diskurse sind machtvolle und mächtige Gebilde, die das Denken, Sprechen und Handeln der Einzelnen beeinflussen. Da Forschung aber kein der gesellschaftlichen Praxis enthobener Bereich ist, gilt dies analog auch für sie und für Diskursanalytiker/innen: Sie haben an den Machtwirkungen teil und üben Macht aus, indem sie sich gegen bestimmte Diskursinhalte stellen, andere forcieren und unterstützen sowie einen bestimmten Blickwinkel einnehmen.
3
Methodisches Vorgehen
In der Psychologie hat sich vor allem das methodische Vorgehen im Anschluss an Ian Parker (1992, S. 6–20) und Carla Willig (2001, S. 108–112) durchgesetzt. Beide Vorgehensweisen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Leitfragen zur Erschließung
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von Text und Kontext formulieren, die sich an Foucaults Methodologie orientieren. Parker geht über Willig insofern hinaus, als er nicht nur auf einen konkreten Text bezogen fragt, sondern darüber hinaus kontextualisierende, auf den übergreifenden Diskurs bezogene Fragen integriert. Ich schlage insbesondere für Anfänger/innen eine Kombination aus der Jäger’schen Vorgehensweise (2009, S. 158–204) und den spezifisch psychologischen Fragestellungen der englischsprachigen Kolleg/innen vor, wie ich sie hier vorstelle. Die Feinanalyse nach Jäger vorzunehmen, empfiehlt sich deshalb, da sie elementar schult, auf bestimmte „Hinweise“ zu achten, reflexiv zu werden, statt bereits Texte in „Schubladen“ einzuordnen, und sie entspricht dem „deutschen“ Bedürfnis nach einer exakten Beschreibung der Methodenschritte, während im englischsprachigen Bereich eher explorativ statt explikativ vorgegangen wird. Folgende sieben Fragen können an einen konkreten Text gerichtet werden: 1. Diskursive Konstruktionen: Welche Objekte werden diskursiv her- und vorgestellt? Welche Objekte vor Augen treten, hängt zudem von der Forschungsfrage ab. Der Gegenstand ist und wird somit hergestellt. 2. Materialität des Diskurses: Welche Textart liegt vor? Ist es ein Bericht, eine Erzählung, ein Gespräch (Harré 1997) oder handelt es sich um eine Kampagne oder rituelle Praktiken? Grundsätzlich eignet sich alles, dem Bedeutung zugeschrieben wird, als zu analysierender Text (Parker 1992, S. 7). 3. Diskurse: Sind alle Textstellen markiert, die zur Konstruktion des diskursiven Objekts beitragen, richtet sich der Blick auf die Unterschiede zwischen den Einzelaussagen, denn was auf den ersten Blick als ein und dasselbe Objekt erscheint, kann auf vielfältige Weise diskursiv hergestellt werden. 4. Handlungsorientierung: Wer stellt den Text her, an wen richtet er sich und wer hat zu ihm Zugang? Was wird mit der diskursiven Konstruktion des Objekts bezweckt? Warum wird gerade an dieser Stelle des Textes das Objekt ein- bzw. angeführt? Welche Funktion hat es generell und in Beziehung zu anderen Objekten, die im Text benannt werden? Für Anfänger/innen bieten sich hier diejenigen Einzelschritte der Jäger´schen Feinanalyse an, die nach Kontext, Text-„Oberfläche“ und sprachlich-rhetorischen Mitteln fragen. 5. Positionierungen: Welche Subjektpositionen („a location for persons within the structure of rights and duties“; Davies and Harré 1999, S. 35) werden im Text angeboten? Welches Menschenbild wird vorausgesetzt bzw. vermittelt? 6. Praktiken: Welche Handlungsmöglichkeiten werden angeboten, eröffnet oder verweigert? 7. Subjektivität: Welche Perspektiven auf die Welt werden eröffnet? Welche Möglichkeiten von In-der-Welt-sein werden angeboten? Die entsprechenden Antworten und Hinsichten sind im Anschluss zu einem argumentativen Text zusammenzufassen, der in psychologischen Zusammenhängen insbesondere auf die Punkte 5 bis 7 fokussieren sollte. Über diese auf einen konkreten Text beschränkten Fragestellungen hinaus lassen sich übergreifende Fragen formulieren, die von Parker (1992, S. 1) als „Hilfskriterien“ bezeichnet, jedoch damit unterschätzt werden, da sie erst eine Sicht auf einen Diskurs ermöglichen, also ein über das Einzeldokument hinaus-
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gehendes diskursives Gewebe erkennen lassen. Leider, aber oft, unterbleibt diese weiterführende Reflexion, was mit dem enormen Arbeitsaufwand begründet wird. Historizität: Wo und wie taucht der Diskurs auf und wie verändert(e) er sich? Institutionelle Verankerung: Welche Institutionen werden gestärkt, welche werden attackiert oder unterlaufen, wenn ein Diskurs benutzt wird? Welche Institutionen sind Träger des Diskurses? Inklusion und Exklusion: Welche Machtpraktiken sind mit den Diskursen verbunden, sprich: Welche Personen gewinnen oder verlieren im Spiel des Diskurses? Wer befördert den Diskurs und wer würde ihn gern eliminieren? Interdiskursivität: Wie ist der Diskurs mit anderen Diskursen verbunden, insbesondere mit solchen, die sanktionieren oder unterdrücken? Diskursgemeinschaft: Welchen dominanten Gruppen und auf welche Weise ermöglicht ein Diskurs „ihre“ Geschichte zu erzählen und damit die aktuelle Realität zu rechtfertigen? Welche anderen Gruppen werden so ausgeschlossen, ihre Perspektiven auf die Welt in den Diskurs einzubringen?
Anwendungsgebiete in der Psychologie
Wie die Foucault’schen Analysen selbst zeigen, bietet sich die DA für historische Prozesse an, z. B. wenn die Entstehung bestimmter psychologischer Ideen und Gegenstände untersucht werden soll. Doch auch für aktuelle psychologische Fragen lässt sich die DA fruchtbar machen. Grundsätzlich gilt: Es gibt keinen psychologischen Gegenstand, der nicht mittels DA untersucht werden kann. Das betrifft die eher „klassischen“ individualpsychologischen Gegenstände wie Motivation, Emotion, Bewusstsein ebenso wie jüngst hinzugekommene wie Körper, Geschlecht und Alter, aber auch sozialpsychologische wie Eifersucht, Freundschaft etc. Auch übergreifende Kategorien wie Entwicklung, Persönlichkeit etc. sind hiervon nicht auszuschließen. Aber auch für die Gegenstände der angewandten Psychologie lässt sich die DA fruchtbar anwenden, z. B. bei der Bewältigung und Entstehung von Stress, beim Aufkommen von psychischen Störungen etc. Dabei ist nicht nur an die Analyse von Textkorpora wie Zeitungs- oder wissenschaftlichen Artikeln etc. gedacht, die eher das Aufkommen von Ideen (Wissen) abbilden, als vielmehr auch an konkrete Einzel-, Gruppen- oder serielle Interviews (Interviewreihen), an denen sich zeigen lässt, wie sich diese Wissensproduktionen im individuellen Leben niederschlagen, wie Menschen sie erleiden, damit umgehen oder zu diesen Wissensproduktionen beitragen.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Die größte Stärke der DA liegt darin, dass sie ermöglicht, menschliches Handeln und Entscheiden anders zu verstehen als aus einer individualpsychologischen oder neurowissenschaftlichen/kognitivistischen Perspektive. Natürlich können Menschen für ihr
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Handeln allein verantwortlich gemacht werden, allerdings gibt es ebenso gute Argumente dafür, dass Menschen nicht autonom handeln. Insofern bildet eine individualpsychologische Interpretation nur einen kleinen Möglichkeitshorizont des Menschen ab. Die konsequente Alternative, den menschlichen Willen gänzlich zu eliminieren, findet sich in der neurowissenschaftlich inspirierten Psychologie. Doch auch hier zeigt sich, dass mit dem Willen als Störfaktor immer zu rechnen ist (Bungard 1988). Die DA bietet – wenn sie auf dem Foucault’schen Fundament aufsetzt – die Möglichkeit, den Menschen als „ein gedoppeltes Subjekt“ zu begreifen, also eines, „das unterworfen und frei zugleich ist“ (Rüb 1990, S. 199). Damit lassen sich menschliche Denk- und Handlungsweisen nicht in eine der beiden Richtungen wegdrängen. Die DA erlaubt vielmehr, den Menschen dennoch als ein verantwortlich handelndes Wesen zu verstehen. Und dies gilt nicht nur für Alltagshandeln: Gerade sozial induzierte psychische Störungen lassen sich so – ohne einseitige Stigmatisierung der Betroffenen – herausarbeiten und verständlich machen und dadurch, ganz im therapeutischen Sinne, im besten Falle verändern. Dieser Fokus auf den handelnden Menschen ist denn auch der Hauptunterschied zwischen DA und Gesprächs- oder Konversationsanalyse (KA) – und nicht das Material, wie oft behauptet (Keller et al. 2006, S. 9–10). Zwar kann man sagen, dass bei der KA eher „natürliche“ Texte, also konkrete gesprochene Kommunikationssequenzen, zugrunde gelegt werden, und dass bei der DA öfter mit Texten gearbeitet wird, die von der einzelnen Äußerung abstrahieren, weil sie als Teil größerer Textkorpora analysiert werden. Dennoch können auch Gespräche und Interviews einer DA unterzogen bzw. umgekehrt geschriebene Texte mithilfe der KA bearbeitet werden. Das eigentliche Unterscheidungsmerkmal liegt vielmehr im Zugriff auf die durch den bzw. im Text konstruierten Objekte bzw. Subjekte. Die KA ist an Sprache orientiert, d. h. ihre Logik ist textimmanent, sie sucht nach einer geschlossenen Sinnstruktur des Einzeltextes bzw. der Konversation. Diskursanalytiker/innen sind nicht hauptsächlich an Sprache, sondern an dem, was mit Sprache vermittelt oder durch sie repräsentiert wird, interessiert, d. h. sie sehen Texte als Teil eines Kontexts. Erstere arbeiten eher auf der Sprachoberfläche, Diskursanalytiker/innen wollen hinter die Sprache zur sozialen Praxis gelangen. Eine ebenso ausführliche wie eindrückliche Liste von Problemen, die sich mit der DA ergeben, findet sich bei Parker und Burman (1993). Hier werden 32 methodische, epistemologische und politische Probleme angesprochen und ausführlich erläutert. Zu den sechs methodischen Kernproblemen zählen sie: 1. Zeit- und Arbeitsintensität; 2. Schwierigkeit der Bestimmung, ab wann ein Diskurs als ein diskretes Ereignis von einem anderen unterschieden werden kann oder ob er nur deshalb als solches erscheint, weil er in bestimmten Kontexten in einer bestimmten Form vorkommt; 3. Schwierigkeit, vom Einzeldokument zu einem höheren kontextuellen Aggregat zu gelangen (Frage der Verallgemeinerung); 4. notwendiger Reduktionismus auf einen begrenzten (meist fachspezifischen) Textkorpus; 5. Ambivalenz und Polyvalenz der Ergebnisse (es gibt nicht eine richtige Interpretation des Textes) und 6. die Machtfunktion der Forscher/innen, also Teil dessen zu sein, was in einer kritischen DA zum Gegenstand wird.
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Neben diesen allgemeinen Problemen, die viele qualitative Methoden betreffen, lassen sich für die DA zwei zentrale Schwächen anführen. Zum einen bleibt mit der DA immer das Problem der Bedeutung im Raum: Eine DA ist immer standortgebunden, von Forschenden erzeugt, und kann somit nie behaupten, dass sie den Diskurs abbildet. Was aber ist eine (ge-)wichtige Interpretation? Wenn es keine einzelne Wahrheit gibt, sind dann alle diskursanalytischen Aussagen gleich wichtig, gleich wahr? Oder was privilegiert einen Diskurs vor dem anderen? Eventuell nur, dass er einen befreienden Anspruch hat? Und was ist eigentlich ein Diskurs? Kann jeder Alltagsgegenstand zum Diskurs werden? Ist es demnach das gleiche über Familie, Mutterschaft und Kindheit zu sprechen wie über Stofftiere oder Hausarbeit? Die zweite Problematik ist die der Stellvertretung bzw. das Repräsentationsproblem. Wer spricht wie über wen und mit welcher Legitimation? Und warum wird eine bestimmte Gruppe (z. B. Psychotiker/innen, Schwule, Schwarze) als marginalisiert wahrgenommen, die dann mittels DA in die Lage versetzt werden soll, sich zu positionieren, die eigenen gesellschaftlichen Zwänge zu erkennen und sich aus diesen zu lösen? Was heißt es – mit allen politischen wie wissenschaftlichen Friktionen – als jemand zu sprechen? Oder schließt sich dies nicht gegenseitig aus? Weitere theoretische Probleme und Desiderata finden sich bei Allolio-Näcke (2010). Als Desiderat halte ich für wichtig, die konstatierte Kluft zwischen aktuellen Varianten der DA, dem damit verbundenen konkurrierenden Vokabular (Parker und Burman 1993, S. 158) und der theoretischen Basis Foucaults zu überwinden: So böte es sich einerseits an, den theoretischen Rekurs auf Foucault zu streichen und damit dem Vorwurf zu entgehen, etwas vorzulegen, was fast nichts mit Foucault zu tun hat. In diese Richtung verstehe ich den Vorschlag Kellers (2007), der auf den Begriff DA verzichten und eher von „Diskursforschung“ sprechen möchte. Dies wäre unbedenklich und konsequent, allerdings wäre darauf zu achten, wen und welche Wissenschaften man in dieses Label einbindet, damit es innerhalb der qualitativen Sozialforschung erkennbar und nutzbar bleibt. Andererseits wäre zu überlegen, den guten methodischen Vorgaben auch ein angemessenes Foucault’sches Fundament unterzulegen. Damit müssten zwar lieb gewonnene Selbstverständlichkeiten verabschiedet werden, es würde aber eine höhere theoretische Konsistenz gewonnen. Schließlich würden durch eine solche Fundierung Fragen obsolet, wie z. B. die zum Verhältnis von Hermeneutik und DA (Reichertz 2005) oder zum Verhältnis von Realität und Diskurs (Willig 2001, S. 119–120), die immer wieder im Kontext der DA auftauchen.
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Metaphernanalyse Rudolf Schmitt
Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Zentrale Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Beispiel: Jugendlicher Nikotinkonsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Die Metaphernanalyse als qualitative Auswertungsmethode hat sich aus der Verbindung der kognitiven Linguistik einerseits und Annahmen und Vorgehensweisen qualitativer Forschung andererseits entwickelt. Sie weist über die sprachpsychologisch-quantitative Forschung zum Verständnis von Metaphern hinaus und versucht, subjektiven und sozialen Sinn zu rekonstruieren. Die als Ergebnis der Analyse rekonstruierten metaphorischen Konzepte weisen Übereinstimmungen mit dem Begriff des Deutungsmusters auf, ermöglichen jedoch auch das Verständnis individueller Weltdeutungen. In dem Beitrag werden zunächst der Begriff der Metapher in der kognitiven Linguistik und die darauf aufbauende Methode der systematischen Metaphernanalyse vorgestellt, eine Übersicht über Anwendungsbereiche in der Psychologie und eine Beispielanalyse vervollständigen den Aufsatz.
R. Schmitt (*) Fakultät Sozialwissenschaften, Hochschule Zittau/Görlitz, Görlitz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_47
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Schlüsselwörter
Metaphern · Metaphernanalyse · Kognitive Linguistik · Metaphorische Konzepte · Schemata · Deutungsmuster
1
Einleitung
Metaphern waren schon vor der Entstehung einer qualitativ forschenden Metaphernanalyse ein Thema der Psychologie. Die erste umfängliche Thematisierung findet sich in Bühlers Sprachpsychologie (1934): Er begriff die Metapher nicht als schmückendes Beiwerk, sondern als unverzichtbares Phänomen der Sprache; wer erst einmal angefangen habe, darauf zu achten, „dem erscheint die menschliche Rede bald ebenso aufgebaut aus Metaphern wie der Schwarzwald aus Bäumen“ (Bühler 1934, S. 342). Bühler wies der metaphorischen Sprache vier Funktionen zu, die wir heute weitgehend als „kognitive“ fassen würden: Metaphern ermöglichen es 1., neue Sachverhalte zu beschreiben und 2. andere drastisch zu charakterisieren; sie erleichtern 3., Unbekanntes durch Bekanntes darzustellen und sie helfen 4., tabuisierte und anstößige Themen auf eine „verhüllende Weise“ anzusprechen (Bühler 1934, S. 342, 352–353, weitere Hinweise Schmitt 2001a.) Solche Wertschätzung fand die Metapher in der Psychologie dann lange nicht mehr; sie kam nicht vor oder störte. Als Störung eines wörtlichen Sprachverständnisses – genauer: als „semantische Anomalie“ – ist sie vor allem in Hörmanns Sprachpsychologie (1972) lebendig, die unkonventionelle Metaphern als Problem der generativen Semantik diskutierte. Daneben finden sich aber auch entwicklungspsychologische, quantitativ vorgehende Studien zum Erwerb des Metaphernverständnisses, die sich auf ältere Metaphernbegriffe stützen (eine Übersicht findet sich in Schmitt 2005). Dieses sporadische Interesse der psychologischen Forschung an der Metapher zerstreute sich jedoch auch hier in heterogenen theoretischen Konzepten mit geringer Reichweite und unterschiedlichen Operationalisierungen metaphorischer Sprache; die experimentelle Psychologie imponierte durch kunstvolle Prozeduren der Messung der Verstehensgeschwindigkeit von Metaphern unter ebenso kunstvollen Begleitumständen (Herrmann 1995). Ortony wies allerdings der Metapher zu diesem Zeitpunkt in seinem interdisziplinären Band mit dem programmatischen Titel „Metaphor and Thought“ bereits einen systematischen Stellenwert in der kognitiven Psychologie zu (Ortony 1993; s. auch Ortony 1979). Der wichtigste Anstoß für eine erneute Beschäftigung mit dem Phänomen der Metapher kam von außen: Die kognitive Metapherntheorie des Linguisten George Lakoff und des Sprachphilosophen Mark Johnson (Lakoff 1987; Lakoff und Johnson 1998 [Orig. 1980], 1999; Johnson 1987) hat in verschiedenen Teilbereichen der Psychologie interessante Folgestudien angeregt. Gibbs (1993) hat die von diesen Autoren entwickelten Begriffe des metaphorischen Konzepts und des kinästhetischen Schemas genutzt, um nicht nur die in Metaphern, sondern auch in anderen Formen figurativer Sprache (Ironie, Metonymie, Übertreibung, Untertreibung, Sprichworte) enthaltenen kognitiven Schemata zu rekonstruieren. Er hat in zwei
Metaphernanalyse
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weiteren Publikationen (Gibbs 2002, 2006) betont, dass die von früheren Psycholog/ innen experimentell gemessenen unterschiedlichen Verstehensgeschwindigkeiten von (neuer) Metaphorik und „wörtlicher“ Sprache sehr kontextabhängig seien und von einem verkürzten Verständnis der Metapher ausgingen. In seinen Experimenten zeigt er, dass Metaphern in der Regel nicht als Abweichung vom üblichen Sprachgebrauch verstanden werden können. Daher seien die genuin psychologischen Theorien der Metapher (Übersicht in Gibbs 2002, S. 208–264) für eine Metaphernanalyse wenig hilfreich, die den Sinngehalt alltäglichen bildlichen Sprechens rekonstruiert. Die Synthese von psychologischen Fragestellungen und kognitiver Linguistik hat sich als eigenständige qualitative Forschungstradition in der deutschsprachigen Psychologie entwickelt. Es lassen sich drei kurz aufeinander folgende Generationen von Metaphernanalytiker/innen nennen: • Die erste Generation (Straub und Sichler 1989; von Kleist 1987) versuchte die Auswertung von einzelnen Metaphern in Interviews bzw. Therapietranskripten und entwickelte daran erste methodische Hinweise zur Metaphernanalyse. • Die zweite Generation knüpfte daran an, stützte sich jedoch bereits auf die kognitive Linguistik und entwickelte systematische Vorgehensweisen in Verbindung mit psychoanalytischen und konversationsanalytischen Ansätzen (Buchholz 1996; Buchholz und von Kleist 1997; Buchholz et al. 2008) oder als eigenständige qualitative Forschungsmethode (Schmitt 1995, 2003, 2005, 2011a, 2017; Schmitt et al. 2018). • Ein weiterer Zweig von Metaphernforscher/innen nutzte diese Entwicklungen vor allem inhaltlich: Schachtner (1999) kombinierte Metaphernanalysen mit der Grounded-Theory-Methodologie, um metaphorische Muster ärztlichen Handelns zu rekonstruieren. Moser (2000) verband den Ansatz von Lakoff und Johnson mit quantitativen Methoden, um unterschiedliche Selbstkonzepte von Hochschulabsolvent/innen zu beschreiben. Böttger (2003) synthetisierte die vorhandenen Formen der Metaphernanalyse mit Ansätzen der Foucaultschen Diskursanalyse.
2
Grundannahmen
Die kognitive Linguistik trug entscheidend zur Klärung des Begriffs der Metapher bei: Lakoff und Johnson erweiterten klassische Definitionen der Metapher, postulierten gemeinsame Muster von einzelnen Metaphern und sondierten deren Rolle im individuellen Denken, indem sie den Zusammenhang von Bildsprache und Leiblichkeit berücksichtigten und Metaphern als Elemente der Kultur sahen.
2.1
Begriff der Metapher
Überraschend ist zunächst eine radikale Einfachheit der Definition: „Das Wesen der Metapher besteht darin, daß wir durch sie eine Sache oder einen Vorgang in Begriffen einer anderen Sache bzw. eines anderen Vorgangs verstehen und erfahren
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können.“ (Lakoff und Johnson 1998, S. 13). Eine Metapher überträgt also Bedeutungen von einem Bereich auf einen anderen. Ein Vorzug dieser Definition besteht darin, dass alltägliche Metaphern erfasst werden können, wie die folgenden Beispiele aus einer Studie zu alltäglichem Alkoholkonsum zeigen (Schmitt 2002): „Es war wie als würde man durch eine dicke Nebelwand durchgucken.“ oder „Du kannst nicht mehr richtig klar denken.“ Diese kursiv gesetzten Redewendungen enthalten drei Elemente einer weiten Definition von Metaphern nach Lakoff und Johnson (1998, S. 20–26): a. Es lässt sich ein Quellbereich der Metapher, d. h. eine für die Befragten konkretsinnliche Erfahrungsbasis rekonstruieren: „Nebelwand“ und „nicht klar denken“ verweisen auf visuelle Sinneseindrücke und das Vermögen, Helligkeit, Dunkelheit sowie Grade dazwischen zu unterscheiden. b. Die Formulierungen beziehen sich zudem auf ein komplexes Ziel, nämlich den Zustand nach einer Intoxikation mit Alkohol. c. Sie übertragen dabei einen bildlichen Gehalt von einer konkreten semantischen Quelle (unscharfes Sehen) auf ein abstrakteres Ziel (Erleben der Intoxikation). Alle Redewendungen, in denen Bedeutungen von einer Bild-Quelle auf ein BildZiel übertragen werden, galten für Lakoff und Johnson als Metapher. Diese weite Definition umfasst Differenzierungen wie Symbol, Chiffre, Vergleich und Allegorie, wie sie in traditionellen sprachwissenschaftlichen Überlegungen üblich waren. Sie fokussierte nur auf den Prozess der Übertragung von Mustern der Wahrnehmung von einem Phänomen auf ein anderes. Diese Übertragung dient gleichermaßen der individuellen Versprachlichung des Phänomens wie der sozial geteilten Sinnstiftung.
2.2
Metaphorische Konzepte
Die wesentliche Neuerung der kognitiven Metapherntheorie bestand in der Erkenntnis, dass Metaphern in der Regel nicht ohne Zusammenhang auftreten, sondern sich bündeln lassen wie z. B. in den folgenden Redewendungen von jugendlichen Nikotinkonsument/innen (Schmitt und Köhler 2006): Der Einstieg in den Konsum ist ein „Kosten“, bevor die Zigarette tatsächlich „schmeckt“; bei einer Erkrankung ist sie einem Befragten „nicht mehr bekommen“, später kam der „Appetit“ wieder. Das gemeinsame Denkmuster in diesen Versprachlichungen lässt sich als das metaphorische Konzept „Rauchen ist Essen“ zusammenfassen. Es naturalisiert den Konsum eines potenziell tödlichen Suchtmittels zur alltäglichen Essensaufnahme. Abstinenz kann in dieser Bildlichkeit nur als fehlender Hunger oder Appetitlosigkeit gedacht werden. Eine Alternative zu diesem metaphorischen Deutungsmuster geben die folgenden Formulierungen: Das „Probieren“ wird als Lernprozess nach der Überzeugung „Übung macht den Meister“ gedeutet, die Rauchenden erscheinen in der Rangskala der Peer Group als „Anfänger/innen“ und „Professionelle“, als „geschult“. Auch diese Redewendungen lassen sich als Konzept fassen: „Rauchen ist Lernen für
Metaphernanalyse
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das Leben“. Das problematische Verhalten wird normalisiert und positiv gedeutet: Abhängige erscheinen als „Könner/innen“. Lakoff und Johnson (1999, S. 50–54.) gaben Übersichtslisten wichtiger metaphorischer Konzepte vor. Sie benutzten dabei eine Rhetorik, als seien metaphorische Konzepte wie Gegenstände oder naturwissenschaftliche Konstanten „zu entdecken“. Sie explizierten den Prozess des „Findens“ nicht und übersahen, dass sie unreflektiert hermeneutisch operierten. Die systematische Metaphernanalyse (s. Abschn. 3) ergänzt die Annahmen der beiden Autoren um Praktiken zu einer nachvollziehbaren qualitativen Forschungsmethode. Metaphorische Konzepte sind in diesem Verständnis das Resultat einer hermeneutischen Bemühung, den gemeinsamen Sinn von mehreren Metaphern zu erschließen. Wie bei jeder hermeneutischen Anstrengung sind sie unabgeschlossene und weiter zu verfeinernde (Re-)Konstruktionen.
2.3
Metapherngenerierende Schemata
Neben der Unterscheidung von metaphorischen Redewendungen und metaphorischen Konzepten führten Lakoff und Johnson in ihren Publikationen von 1987 (Lakoff 1987; Johnson 1987) mit „Schemata“ einen dritten Schlüsselbegriff ein. Sie beschreiben kinaesthetic image schemas als einfache, präverbale und gestalthafte Erfahrungen, die selbst noch keine Bildqualität haben, aber als basale Muster hinter den Metaphern zu finden sind. Räumliche Schemata wurden bereits im ersten Buch von 1980 als orientational metaphors gefasst: sich „obenauf“ zu fühlen, eine „Hochstimmung“ zu erleben und die Gegensätze dazu, also „gesunkene“ Stimmungen und sich „down“ fühlen, „hohen“ moralischen Standards zu folgen oder „niederträchtige“ Handlungen auszuüben usw. Lakoff und Johnson fassten die moralischen Implikationen dieses kulturell üblichen Schemas in einem Konzept „gut ist oben“ (Lakoff und Johnson 1998, S. 22–24.) zusammen, das das Verhältnis von Redewendung, Konzept und Schema zeigt: Alltägliche metaphorische Redewendungen lassen sich zu metaphorischen Konzepten bündeln, die ihrerseits von wenigen Schemata (wie „oben/unten“, „vorne/hinten“) organisiert werden. Bedeutete die Annahme von räumlichen Schemata schon eine Ausdehnung des traditionellen Metaphernverständnisses, so überschritt die Annahme weiterer bildgenerierender Schemata den bis dahin üblichen Begriff der Metapher endgültig: • Metaphorische Vergegenständlichungen konstruieren abstrakte Phänomene als quantifizierbare Substanzen: „viel Einfluss“, „wenig Liebe“. Vor allem Mengenangaben („mehr“, „weniger“) kennzeichnen diese ikonische Substanzialisierung. • Eine zweite Vergegenständlichung nutzt das Gefäß-Schema: Wenn etwas „im“ Gespräch gesagt wird oder „außerhalb“ desselben, dann konstruieren die Präpositionen „in“ und „außerhalb“ die Zeit des Gesprächs als Gefäß. • Wenn wir davon reden, dass „die Inflation“ Auswirkungen habe, dann geben wir einem diffusen Geschehen aus ökonomischen und sozialen Einzelphänomenen eine metaphorische Ganzheit, die es erlaubt, sie als kausal wirksames Objekt zu
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R. Schmitt
attribuieren: „Die Inflation bewirkt, dass . . .“ Hier wird das Schema eines singulären handelnden Akteurs auf eine komplexe wirtschaftliche Erscheinung übertragen – eine komplexitätsreduzierende Konstruktion. Lakoff und Johnson begriffen also die Vergegenständlichung komplexer psychischer oder sozialer Phänomene als Ergebnis eines metaphorischen Prozesses – das war die radikalste und am schwersten zu vermittelnde Ausdehnung des Metaphernbegriffs. Johnson (1987) versuchte, diese zentralen Schemata im Rückgriff auf Kant als kognitive Universalien zu formulieren und mit Bezug auf Piaget ihre körperliche, sensomotorische Fundierung zu erklären. Er begriff sie phänomenologisch als nicht weiter hintergehbare, einfachste Grundmuster der Wahrnehmung und des Denkens. Die Kenntnis der hier genannten metapherngenerierenden Schemata hilft, Metaphern zu erkennen. Für die meisten qualitativen Forschungsanliegen sind jedoch die auf den Schemata aufbauenden, spezifischer zu formulierenden metaphorische Konzepte am ertragreichsten, denn in ihnen bündeln sich komplexere Muster des Denkens, der Wahrnehmung, der affektiven Empfindung und des Handelns.
2.4
Metaphorische Kognition
Psychologische Untersuchungen zum Problemlösungsverhalten verweisen auf einen engen Zusammenhang von metaphorischer Kognition und Handlungsplanung (Gibbs 2006; Moser 2001). Metaphern prägen unser Denken und Handeln durch die beiden kognitiven Mechanismen des highlighting und hiding: Sie heben bestimmte Aspekte heraus und vernachlässigen andere bzw. verhindern sogar deren Wahrnehmung. So fokussiert beispielsweise in der Debatte um Einwanderung die Metapher, dass „das Boot voll“ sei, ein räumliches Bedrängtheitsgefühl und eine Knappheit an Ressourcen. In der Metapher verschwindet, dass Einwanderung nichts mit räumlicher Enge zu tun hat, Ressourcen im Vergleich zu den Ausgangsländern der Einwanderung reichlich vorhanden sind und Integration etwas anderes ist als das einmalige Klettern über einen Bootsrand. Metaphern konstruieren, beleuchten und verdunkeln Zusammenhänge: So leiten sie Denken, Handeln und Fühlen an.
2.5
Embodiment: Metaphern und Körper
Bereits oben wurde formuliert, dass Schemata einfache Strukturen aus einfachen und gestalthaften Erfahrungen (z. B. Höhe und Tiefe, Behälter) darstellen, die sich metaphorisch auf komplexe, tabuisierte oder neue Sachverhalte übertragen lassen. Als Quelle der Schemata dienen oft körperlich erfahrbare Dimensionen oder einfache Handlungsabläufe, die als elementare Muster des Verstehens abstrakter Zielphänomene genutzt werden. So verweist das Schema eines Wegs mit Anfang und Ziel auf ein früh erlebtes Handlungsmuster seit dem ersten Krabbelversuch, das eine Vielzahl von Metaphern des „Lebenslaufs“ generiert und uns von „Fortschritt“, „Rückschritt“ und „Zielen“ reden lässt. Die Fundierung der Metaphorik in der
Metaphernanalyse
697
körperlichen Erfahrung wurde bereits im ersten Buch immer wieder behauptet (Lakoff und Johnson 1980, S. 61–69), aber erst in der Publikation von 1999 mit einigen empirischen Studien unterlegt, die z. B. die Entwicklung der Metapher des Sehens für kognitive Vorgänge („Einsicht“, „Klarheit“) in entwicklungspsychologischen Studien rekonstruierten (Lakoff und Johnson 1999, S. 46–49).
2.6
Metaphern und Kultur
Um die kulturelle Strukturierung unserer Erfahrung vom Standpunkt der kognitiven Linguistik zu fassen, führten Lakoff und Johnson (1998, S. 31–34) den Begriff der Kohärenz ein: Wir leben in einer Kultur, in welcher Glück, Tugend, Macht, Status, Gesundheit etc. in der Regel recht kohärent mit Metaphern der Höhe bedacht werden, die gegenteiligen Begriffe werden metaphorisch mit Tiefe assoziiert: „Unterlegenheit“, sozialer „Abstieg“, in der Achtung von jemand „sinken“ etc. Das gilt auch für soziale Gruppen mit abweichenden Werten: Lakoff und Johnson postulierten, dass elementare Werte einer Kultur auch in deren Subkulturen mit ihren zentralen metaphorischen Strukturierungen konvergieren. So wird selbst in religiösen Minderheiten unserer Kultur das metaphorische Konzept „gut ist oben“ gebraucht – vom „geistigen Wachstum“ bis zum Himmel als Ort „höchster“ Autoritäten. Die Strukturierung der Erfahrung durch die kulturellen Schemata wurde von Lakoff (1987) mit Analysen der Sprache der australischen Ureinwohner/innen und Japans untermauert; ihm sind Anthropolog/innen (Kimmel 2004; Quinn 1987) gefolgt. Gibbs (1997, 2013) hat darauf hingewiesen, dass die Überlegung, ob denn Metaphern aus einem individuell-kognitiven, körperlichen oder kulturellen Ursprung abzuleiten sind, das Erlebte unzulässig zerreißt, weil Metaphern gerade diese Ebenen verbinden. Er plädiert dafür, bildhafte Sprache als emergentes Phänomen des Austausches von Körper, Welt und individuellem Geist zu deuten.
2.7
Die psychologische und sozialwissenschaftliche Weiterentwicklung
Lakoff und Johnson vermitteln ihren Metaphernbegriff nicht mit psychologischen oder sozialwissenschaftlichen Denktraditionen. Vor allem eine Anknüpfung an Schütz (2004 [Orig. 1953]) liegt auf der Hand. Schütz differenzierte, dass Forschende in den Sozialwissenschaften es mit bereits interpretierten Phänomenen („Konstruktionen erster Ordnung“) zu tun hätten, und folgerte, dass ihre eigene Leistung also „Konstrukte einer zweiter Ordnung“ (Schütz 2004, S. 457) darstellten. Jenseits des alltäglichen Verstehens unter pragmatischen Zwängen gehe es darum, ein Verstehen zweiter Ordnung zu ermöglichen, das die Art und Weise, wie im Alltag verstanden werde, rekonstruiere. Die Metaphernanalyse kann an diese Figur unmittelbar anschließen: Wenn zum Beispiel über eine Diskussion gesagt wird, jeder schwache Punkt der Argumentation sei „attackiert“ worden, obwohl eine gute Argumentations„strategie“ genutzt worden sei, oder dass sich jemand hilflos „ver-
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teidigt“ hätte, dann ist in der Lebenswelt eine Deutung lebendig, die das Verstehen des Phänomens „Diskussion“ durch die Brille der Metapher des Kampfes strukturiert (Lakoff und Johnson 1980, S. 4–6). Metaphernanalysen versuchen, diese lebensweltlich und ungewusst genutzten metaphorischen Muster des Verstehens ihrerseits als Verstehen des Verstehens zu rekonstruieren.
2.8
Metaphorische Konzepte, Deutungsmuster und verwandte Begriffe
Über Schütz hinaus bleibt die Rolle der Metaphern in der sinnverstehenden psychologischen und sozialwissenschaftlichen Forschung ungeklärt. Der implikationsreiche Metaphernbegriff der kognitiven Linguistik regt den Vergleich mit folgenden Begriffen an: a) Der Begriff des „Deutungsmusters“ nach Oevermann (2001) liegt nahe, weil Oevermann auf die Überlegungen Max Webers zur protestantischen Ethik als Beispiel verweist, das in dem Kernkonzept „Zeit ist Geld“ ebenfalls in Lakoff und Johnson (1980, S. 7–9) diskutiert wird. b) Die Überlegungen von Bourdieu (1998) zum Begriff des Habitus berühren das Konzept des „embodiments“ von Metaphern (Johnson 1987) in der Annahme, der Körper sei Sediment wie Akteur sozialer Strukturierungen. c) Moscovici (1995) geht in seiner Theorie Sozialer Repräsentationen davon aus, dass diese einen bildlichen Kern besitzen. d) Einige Varianten von Diskursanalysen, vor allem die Critical Discourse Analysis (van Dijk 2011) gehen davon aus, dass Diskurse von den fokussierenden, abwertenden wie ausblendenden Effekten metaphorischer Denkweise mitorganisiert werden. e) Polányi (1985) geht von einem „tacit knowledge“ aus, das begrifflich nicht expliziert werden kann; Moser (2001) identifiziert Metaphern als eine der wenigen Möglichkeiten, dieses Wissen sprachlich sichtbar zu machen. Es wäre aus der heterogenen Logik unterschiedlicher Forschungsfragen und Theoriekulturen heraus problematisch, den Begriff des metaphorischen Konzepts einem bestimmten psychologischen oder sozialwissenschaftlichen Theoriebezug unterzuordnen. Zudem muss daran gedacht werden, dass eine Methodik – und die damit verbundene Begrifflichkeit – den mit einer Forschungsfrage gegebenen Raum u. U. nicht gänzlich ausschöpft, also Triangulationen mit anderen, nicht-metaphernanalytischen Methoden sinnvoll sein können (Flick 2008).
3
Vorgehensweise
Die Vorgehensweisen bei Metaphernanalysen unterscheiden sich darin, in welchem Ausmaß auf die Theorie der kognitiven Linguistik zurückgegriffen wird. In der deutschen Diskussion ist neben dem anschließend vorgestellten Ansatz das metaphernanalytische Vorgehen von Buchholz und von Kleist (1995) bei der Analyse
Metaphernanalyse
699
therapeutischer Gespräche bekannt, die zunächst sieben methodische Schritte einer Metaphernanalyse formulierten, die Buchholz (1996, S. 90–101) zu vier aufeinanderfolgenden Auswertungsregeln zusammenfasste: • Konstruktion eines metaphorischen Prototyps über die Vorstellung zum Therapieprozess aus den ersten ein bis zwei längeren Patient/innenäußerungen auf die Frage, mit welchen Erwartungen der/die Betroffene die Therapie begann; • Untersuchung der Implikationen des Prototyps der Prozessvorstellung bzgl. der Rolle, die dem Therapeut bzw. der Therapeutin und sich selbst zugewiesen wird; • Suche nach weiteren Beispielen für die Prozessfantasie; • Rekonstruktion der Beeinflussung der konkreten Interaktion durch die metaphorisch konstruierte Erwartung an den Therapieprozess. Auf die Kritik, dass mit dieser Form der Analyse vor allem auffällige Metaphern fokussiert und andere Metaphern übersehen würden, auch sei die Übertragbarkeit der Methode auf andere Bereiche nicht gewährleistet, antworteten Buchholz und von Kleist (1997, S. 295), dass metaphernanalytische Untersuchungen nur den „rules of the thumb“ gehorchten, also ohne feste Regeln verfahren könnten. Der kulturpsychologische Ansatz einer Metaphernanalyse von Straub und Seitz (1998) bezieht sich nur kursorisch auf Lakoff und Johnson und stärker auf ältere Metaphernbegriffe, fokussiert „resonante“, d. h. für Interpret/innen auffällige Metaphern und legt keinen Wert auf alltägliche oder scheinbar „tote“ Metaphern (wie z. B. „Fortschritt“). Dieses Verfahren provoziert ebenso wie der Vorschlag von Buchholz und von Kleist das Risiko einer willkürlichen und selektiven Überdeutung der hervorstechenden Metaphern. Eine ähnliche Kritik wäre zu formulieren für das Vorgehen in Seitz (2004, S. 274–276). Metaphernanalysen nach Lakoff und Johnson rekonstruieren nicht einzelne Metaphern, sondern metaphorische Konzepte und deren Implikationen für Fühlen, Denken und Handeln sowie den Grad der Dominanz eines metaphorischen Konzepts im jeweiligen Diskurs, und sie versuchen, Bruchstellen und Widersprüche zwischen unterschiedlichen metaphorischen Konzeptualisierungen eines Phänomens zu finden. Die folgende Skizze zeigt das Ablaufschema einer systematischen Metaphernanalyse (Schmitt 2003, 2007, 2011a, 2017; Schmitt et al. 2018).
3.1
Zielbereiche identifizieren
Welche Phänomene stehen im Fokus der Forschungsfrage und sollten als Zielbereiche einer Metaphorisierung untersucht werden (z. B. Alkoholabhängigkeit, Abstinenz)?
3.2
Sammlung der kulturellen Hintergrundmetaphern der Zielbereiche, Eigenanalyse
• Um die kulturell übliche Metaphorisierung eines Themas zu erfassen, wird ein Horizont von möglichen Metaphernfeldern zu den Zielbereichen aus heterogenen
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R. Schmitt
Materialien (Lexika, Broschüren, Zeitungen, Protokolle, Publikationen) gesammelt (kultureller Vergleichshorizont). • Die eigenen Metaphern der Interpretierenden für das Thema werden erhoben, da sie sonst als gegeben hingenommen und übersehen werden (Reflexion der Standortgebundenheit).
3.3
Erhebung des Materials
Da die Metaphernanalyse durchaus aufwendig ist, wird ein sparsames Sampling (theoretical sampling sensu Grounded-Theory-Methodologie, Glaser und Strauss 1998 [1967]) oder eine maximale Variation der Perspektive (Kleining 1995) vorgeschlagen. Metaphernanalysen können alle schriftlichen Dokumente (Interviews, Internetkommunikation, theoretische Literatur u. a.) nutzen.
3.4
Systematische Analyse einer Gruppe bzw. eines Einzelfalls
• Suche in den Texten nach metaphorischen Bestandteilen, die für die Beantwortung der Forschungsfrage relevant sind; alle metaphorischen Wendungen samt ihres unmittelbaren Kontextes werden in einer separaten Liste erfasst. • Kulturelle bzw. individuelle metaphorische Konzepte werden aus dieser Liste durch systematischen Vergleich im Hinblick auf gemeinsame Quellbereiche und gemeinsame Zielbereiche rekonstruiert. Diese zentralen hermeneutischen Schritte identifizieren die in einem Text vorkommenden metaphorischen Denkmuster. Sie sind getrennt und nacheinander durchzuführen, um vorschnelle und über-interpretierende Deutungen zu vermeiden; je nach Forschungsfrage erfolgen sie einzelfall- oder gruppenbezogen.
3.5
Interpretation mithilfe einer Heuristik
Die Rekonstruktion der in den metaphorischen Konzepten verdichteten Sinnstrukturen bedient sich einer Heuristik, die Ausgangspunkte von möglichen Interpretationen versammelt: der Vergleich metaphorischer Konzepte untereinander, die Analyse von hiding und highlighting des jeweiligen metaphorischen Musters, die Rekonstruktion der davon bezeichneten Handlungen, Einstellungen und Emotionen, das Fehlen von Konzepten u. a.
3.6
Triangulation, Gütekriterien
Die Notwendigkeit einer Triangulation von Auswertungsmethoden ist von der Forschungsfrage abhängig: Zielt die Frage über Phänomene hinaus, die von der Meta-
Metaphernanalyse
701
phernanalyse rekonstruiert werden können, ist die Einbeziehung anderer Methoden sinnvoll; so z. B. bei einer Analyse von Gesprächsabläufen die Kontrastierung mit der Konversationsanalyse (Schröder 2015; Tay 2013). Gütekriterien einer Metaphernanalyse werden in Anlehnung an die neuere Diskussion von Gütekriterien in qualitativer Forschung in Schmitt (2017) diskutiert (u. a. Ausdifferenziertheit der gefundenen metaphorischen Konzepte, Ausmaß ihrer Sättigung mit Material, Ausführlichkeit der Rekonstruktion ihrer Implikationen; allgemein zu Gütekriterien s. auch Steinke 2012).
3.7
Darstellung
Möglich sind narrative, tabellarische und visuelle Darstellungen typischer metaphorischer Konzepte, die Entfaltung ihrer (konkurrierenden) Sinngehalte und die Diskussion der im Vergleich zum kulturellen Hintergrund fehlenden Metaphorik.
4
Zentrale Themen
Der folgende Überblick fokussiert zunächst auf Psychotherapie und Beratung, da hier ein Schwerpunkt der Rezeption von Metapherntheorien festzustellen ist, bevor Studien in weiteren Arbeits- und Teilgebieten der Psychologie skizziert werden.
4.1
Klinische Psychologie, Psychotherapie und Beratung
4.1.1 Psychoanalyse Die Psychoanalyse hat sich mehrfach mit Metaphern beschäftigt; eine Übersicht über Einzeluntersuchungen gibt Buchholz (1993, S. 321–327). Buchholz (1993) und Carveth (1993) rekonstruierten, dass die psychoanalytische Theorie u. a. Metaphern der Energie, der Hydraulik, der Chirurgie und des detektivischen Unterfangens nutzt. Buchholz (1996) knüpfte an diese Überlegungen mit der Selbstbestimmung einer „Psychoanalyse der Psychoanalyse“ an, die zeigen könne, dass psychoanalytische Begriffe (Trieb, Unbewusstes, Ich etc.) zwar metaphorische Konstruktionen sind, aber offene Horizonte für Behandlungserfahrung und Selbststeuerung bieten, auch wenn sie ebenso dogmatisch versteinern könnten (Buchholz 1996, S. 13–30). Buchholz und von Kleist (1997) rekonstruierten mit einer psychoanalytisch inspirierten Metaphernanalyse, die um Elemente der Konversationsanalyse ergänzt wurde, die Deutungsmuster, in denen „Kontakt“ in der Psychotherapie wahrgenommen wird. Buchholz et al. (2008) beschreiben metaphorische Denkmuster von Sexualstraftätern. 4.1.2 Beratungs- und Psychotherapieforschung Schmitt (1995) rekonstruierte die Konzepte psychosozialer Hilfe in offenen Settings der sozialpädagogischen Einzelfall- und Familienhilfe. Die gegenseitige Steuerung der Kommunizierenden durch Metaphern in therapeutischen Settings belegte Angus
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R. Schmitt
(1996); weitere Studien finden sich zu Depression (Angus und Korman 2002; Barkfelt 2009; Kronberger 1999). Die Metaphorik des Alkoholkonsums (Schmitt 2002) war wie die des Nikotinkonsums (Schmitt und Köhler 2006) Gegenstand von Untersuchungen. Oberlechner (2005) diskutiert die Wichtigkeit von Metaphern in der Gesprächspsychotherapie nach Rogers. Die breite Diskussion im angelsächsischen Bereich fasst McMullen (2008) zusammen. Ziegler (2008) untersuchte in ihrer Studie die Sprachbilder für Schizophrenie von Betroffenen und Angehörigen und widerlegte die in älteren Arbeiten geäußerte Annahme, dass die Betroffenen keine Sprachbilder zur Beschreibung ihrer Verfassung zur Verfügung hätten. Levold (2014) rekonstruiert „Problem“ als heterogenes Bündel an Metaphern. Tay (2013) und Schröder (2015) verbinden Metaphernanalysen von Beratungsgesprächen mit Konversationsanalysen. Eine Übersicht über die aktuelle Diskussion liefert der von Heidenreich und Schmitt (2014) herausgegebene Band zur Intervention mit Metaphern, stärker praktisch orientiert sind Schmitt und Heidenreich (2019).
4.2
Weitere psychologische Arbeitsgebiete
Metaphern in der Perspektive von Lakoff und Johnson sind nicht nur ein Thema der Sprachpsychologie, sondern auch der kognitiven Psychologie, der Sozial- und der Entwicklungspsychologie. Einige Autor/innen (z. B. Gibbs 2002, 2006) sind in verschiedenen Bereichen präsent, und so mag die Einteilung überscharfe Grenzen stiften und manchen Forschenden nicht ganz gerecht werden; sie soll aber eine erste Orientierung in diesen Feldern ermöglichen.
4.2.1 Allgemeine Psychologie Die Arbeiten, die sich der Allgemeinen Psychologie zurechnen lassen, berühren unterschiedliche Bereiche: Die Emotionspsychologie kann auf die Vorarbeit von Lakoff (1987) mit seiner Fallstudie zur metaphorischen Konzeptualisierung von „Wut“ zurückgreifen. Die unverzichtbare Rolle bildhafter Sprache in der Äußerung, aber auch der Wahrnehmung von Emotionen anderer Menschen diskutieren Gibbs et al. (2002) mit experimentellen Befunden. Für die Frage, wie psychologische Theorien durch Metaphern motiviert sein könnten, nennt Boyd (1993) das Beispiel des mind as a machine-Paradigma: Der menschliche Geist funktioniere wie die Informationsverarbeitung eines Computers. Dieser Befund leitet zur kognitiven Psychologie über, die, wie Moser (2001) umfangreich belegt hat, der Bereich ist, in dem Lakoff und Johnson am stärksten in der akademischen Psychologie gewirkt haben. Metaphern zeigten sich als Problem der künstlichen Intelligenz und führten zur Einsicht, dass es gerade die leibgebundene Metaphorik ist, die Menschen von der Maschine unterscheidet (Radman 1996). Wenn Metaphern als handlungsleitende Kognitionen ernst genommen werden können, dann gelingt dies nicht im Rahmen hierarchisch-sequenzieller Vorstellungen der bisherigen Handlungstheorien (Schachtner 1999, S. 27–29), denn Metaphern implizieren vielfältige Organisationsweisen des Denkens, von denen die mit der Metapher der Hierarchie bezeichnete nur eine darstellt. Die umfangreichste Übersicht über die experimentellen Befunde zu kogni-
Metaphernanalyse
703
tiven Implikationen der linguistischen Theorie enthält die bereits erwähnte Publikation von Gibbs (2006). Darin setzt er die These des embodiment – dass alle kognitiven Funktionen sich aus einem körperlichen Funktionieren in einer sinnvollen Umwelt heraus entwickeln und sich davon nicht ablösen lassen – in schärfsten Gegensatz zu einer meist impliziten Grundannahme aller cognitive sciences, dass geistige Funktionen als algorithmisches Prozessieren von Symbolen begriffen werden könnten. Schließlich lässt sich diskutieren, dass Metaphern Ausdrucksformen von tacit knowledge im Sinne von Polányi sind, also jenem Handlungswissen, das nicht in propositionalen Äußerungen vermittelt werden kann (Moser 2001).
4.2.2 Entwicklungspsychologie In der Entwicklungspsychologie finden sich viele experimentelle Studien zur Entwicklung des Verständnisses von Metaphern mit älteren Definitionen (Schmitt 2005). Ferner lässt sich zeigen, dass die Entwicklungspsychologie einen ihrer wichtigsten Gegenstände, das Kind und dessen Entwicklung, selbst nur in Metaphern fassen kann (von der „Prägung“ bis zum „Prozess“). Die Analyse einer Metapher zur Kritik des entwicklungspsychologischen Experimentierens nutzte Smith (1997): „Wissen“ wird hiernach in einer auch wissenschaftsüblichen Metapher als „Stoff“ gesehen, den man „hat“ oder „erwirbt“ – eine verdinglichende Metaphorik, als deren Schattenseite sich in der Forschung die Nichtwahrnehmung von Kontext und Interaktion beim Wissenserwerb zeigt. Lakoff und Johnson (1999, S. 46–49) stützten sich auf empirisch-entwicklungspsychologische Belege, wie sich das metaphorische Konzept „Wissen ist Sehen“ in Metaphern wie „Übersicht“, „Einsicht“ etc. entwickelt: In einer ersten Phase sei das Sehen eines Gegenstands auch gleichzeitig das Wissen um den Gegenstand, die dabei entstehenden neuronalen Verknüpfungen erlaubten es später, Sehen als „Bildspender“ für Wissensphänomene zu nutzen. Gibbs (2006, S. 208–238) hat den Stand der Entwicklungspsychologie in kognitiv-linguistischer Perspektive diskutiert. Vor allem die Hinweise auf die verzögerte Bildung verschiedener Konzepte bei Kindern mit angeborenen Einschränkungen oder beim Aufwachsen in Situationen sozialer Deprivation sind für qualitative Forschung relevant. Überschneidungen zu einer qualitativen Forschung in der Erziehungswissenschaft skizziert Schmitt (2011b). 4.2.3 Sozialpsychologie Auch die Sozialpsychologie hat sich durch die Einsicht, dass in metaphorischen Konzepten Normen, Werte und Einstellungen verdichtet sind, neu inspirieren lassen. So untersuchte Moser (2001) die Rolle der symbolischen Umwelt in metaphorischen Selbstkonstruktionen von Hochschulabsolvent/innen. Die Theorie der Sozialen Repräsentationen nach Moscovici (1995) und ihre Annahmen von „bildhaften Kernen“ oder „figurativen Schemata“ des alltäglichen Denkens lassen sich mit der kognitiven Metapherntheorie verbinden (Kronberger 1999; Wagner 1997; Wagner und Hayes 2005). Ebenfalls der Sozialpsychologie zuzurechnen ist Schachtners Verknüpfung von Metaphernanalyse mit dem Begriff des Habitus nach Bourdieu (Schachtner 1999): Sie untersuchte die metaphorische Strukturierung des Diagnostizierens, des ärztlich-therapeutischen Intervenierens sowie die von Sprachbildern geprägten
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R. Schmitt
Arzt-Patient-Beziehungen und rekonstruierte daraus habituelle Kontinuitäten der metaphorischen Konstruktion von ärztlicher Lebensgeschichte und Handeln.
4.2.4 Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie Die Metaphorik der Geldmärkte ist Gegenstand der Arbeit von Oberlechner et al. (2004). Diese Märkte erschienen den Befragten als Basar, Maschine, Jagd, Sport und Krieg, aber auch als lebendes Wesen oder als Ozean. Die Autor/innen folgern, dass diese Metaphern dazu dienen, das unberechenbare Gegenüber sowohl der Handelspartner wie des Marktes selbst verständlich zu machen und in unterschiedlichen Formen die Möglichkeit der Vorhersagbarkeit zu suggerieren. Nürnberg (2010) hat die metaphorischen Konzepte der beruflichen Sozialisation von Bankiers rekonstruiert. 4.2.5 Alltagspsychologie Schon im ersten gemeinsamen Buch von Lakoff und Johnson (1998) nahmen metaphernanalytische Erklärungen dessen, wie wir im Alltag uns selbst und die Mitwelt verstehen, eine prominente Rolle ein. Sog. folk models (alltagssprachlich verankerte psychologische Annahmen) wurden bei Lakoff (1987, S. 380–415) diskutiert. Im vorerst letzten gemeinsamen Werk beider Autoren (Lakoff und Johnson 1999, S. 235–289) sind in zwei dichten Kapiteln die metaphernanalytischen Befunde zum alltäglich-metaphorischen Verständnis von mind und self zusammengefasst. Schmitt und Köhler (2006) knüpften daran und an die Theorien der Alltagspsychologie nach Heider und Bruner an und schlugen metaphorische Konzepte als zentrale Analyseeinheit der Alltagspsychologie vor. 4.2.6 Kulturpsychologie Für die Kulturpsychologie haben Straub und Seitz (1998) Metaphern erhoben, um eine vergleichende Typik im Erleben und in der Beschreibung historischer Umbrüche zu entwickeln. Sich nicht an der kognitiven Metapherntheorie orientierend, verkürzten die Autoren das Geschehen auf wenige Metaphern als „Einverleibung“ und als „Aufspringen auf einen fahrenden Zug“. Im Kontext der Kulturpsychologie ist auch Koenigsberg (2005) zu erwähnen: Aus psychoanalytischer Perspektive rekonstruierte er in Texten von Hitler u. a. leitende metaphorische Denkmuster: Hitler habe das Volk als Körper identifiziert, in dem die einzelnen Bestandteile (Zellen wie Organe) eine dem Ganzen dienende Funktion (und damit keine Freiheit) hatten. Juden und Jüdinnen seien als „Bakterien“ begriffen worden, die der Zersetzung dienten; die „Endlösung“ sei als „Reinigung“ bzw. „Desinfektion“ verstanden worden. Koenigsberg geht allerdings nicht auf die erheblich breiteren Studien zur Metaphorik des Faschismus aus der deutschsprachigen Pragmalinguistik (z. B. Nieraad 1977) ein, die weitere Metaphern des Faschismus (u. a. Licht-Metaphorik) beschrieben hat. 4.2.7 Geschichte der Psychologie Draaisma (1999) schrieb eine Geschichte der Psychologie des Gedächtnisses als Geschichte ihrer jeweils bestimmenden Metaphern, jedoch ohne Bezug zu Lakoff und Johnson. Der Autor beginnt in der griechischen Philosophie mit Bildern für das Gedächtnis als Wachstafel, als Taubenschlag, als Lagerraum, Keller, Höhle und
Metaphernanalyse
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Schatzkammer. Das Mittelalter habe das Buch als Metapher des Gedächtnisses gesehen; zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts habe die durch den Buchdruck ermöglichte Fülle von Büchern auch das innere Chaos versinnbildlicht. Wie bereits bei den antiken Beispielen rekonstruierte Draaisma konkrete Lebensbezüge als Hintergrund der Metaphorisierung. Ein Befund kehrt immer wieder: Die äußeren Techniken der Speicherung von Wissen (Schrift, Bibliothek, später Fotografie, Edisons Phonograf, Computer, Holografie) finden sich gleichnishaft in den zeitgenössischen theoretischen Beschreibungen des Gedächtnisses. Der Sammelband von Leary (2000) bietet Beiträge zur Metapherngeschichte fast aller psychologischen Subdisziplinen. Nur Danziger (2000) soll hier erwähnt werden: Ihm ging es nicht um einzelne Metaphern der Psychologie, sondern um eine kritische Wendung gegen einen Naturalismus, demzufolge sich die Psychologie mit quasi gegenständlichen Objekten befasst (Wille, Motiv, Kognition, Emotion etc.). Anhand der Geschichte mechanischer Metaphern zeigte er die Verschleierung der lebensweltlichen Quellen einer metaphorischen Konstruktion psychologischer „Sachverhalte“ und ihre künstlichen Einteilungen.
5
Beispiel: Jugendlicher Nikotinkonsum
Im Abschn. 2.2 wurden bereits zwei metaphorische Konzepte des jugendlichen Nikotinkonsums aus einer Studie von Schmitt und Köhler (2006) beschrieben: „Rauchen als Essen“ und „Rauchen als Lernen für das Leben“. Hier sollen zwei weitere aus den dort vorgestellten zwölf metaphorischen Modellen vorgestellt werden.
5.1
Rauchen als ökonomisches Tauschgeschäft
In einer Kultur, in der die Metaphorik von „Geben“, „Nehmen“ und „Haben“ Facetten eines zentralen Denkmodells sozialer Selbstpräsentation darstellt, wundert es nicht, dass Rauchen real und metaphorisch als Geben und Nehmen inszeniert wird: Zigaretten werden „angeboten“ oder man „nimmt sie mit“ (mit den Randunschärfen unlauteren Besitzerwerbs durch „Schnorren“). Rauchen wird als Geldanlage („kleines Vermögen“) „verbucht“, das Rauchbedürfnis als elementar-ökonomischer Mangelzustand („ich brauch das“) erlebt, seine Aufhebung als Gewinn: „zur Lebensbereicherung ab und zu mal gelegentlich wieder zu rauchen“. Abstinenz figuriert in ökonomischen Verneinungen – ein Indiz für einen prekären Zustand des Nicht-Habens: „nicht mehr brauchen“, als „Reduzieren“ des Konsums, wenn nicht gleich vermutet wird, dass Abstinenz „nichts bringt“.
5.2
Rauchen ist ein Freiheitskampf, Abstinenz auch
Eine umfangreiche Gruppe von Metaphern lässt das Rauchen als vielfältigen Kampfplatz erscheinen. Rauchen ist eine Heldentat, „aufregend“, man raucht „tapfer“ mit,
706
R. Schmitt
kann seinen „Mann stehen“, es gibt „Verfechter“ des Rauchens und „Gegner“. Nikotin kann unangenehme Gefühle „abtöten“. Diejenigen, die in der Clique beginnen, sind „Vorreiter“, das Rauchen ist auch ein „Selbstschutz“. Das Heldentum schließt die Stilisierung des Konsums zum sträflichen Vergehen nicht aus: man darf sich „nicht erwischen lassen“. Rauchen ist die „große Freiheit“. Abstinenz erschien hingegen nur einmal in den Interviews als „Freiheit“. Dass Abstinenz als „Kampf“ bebildert wird, legten eher die Inhalte als der Menge der Stichworte nahe („militanter Nichtraucher“): Abstinenz braucht „Kraft“ und „Nervenstärke“, ist „Selbstbeherrschung“, und ein Rückfall ist „Schwäche“. Alle vier metaphorischen Konzepte (Rauchen ist Essen, Lernen, Tauschgeschäft, Kampf) dienen der Bagatellisierung des selbstschädigenden Verhaltens. Die Alternative, das Nichtrauchen, wird in der Logik dieser Bilder meistens defizitär etikettiert. In einigen Konzepten sind Umdeutungen möglich, die Entwicklungsmöglichkeiten aus der Abhängigkeit heraus zulassen (Abstinenz als Lernen, als Freiheitskampf). Beratung und Prävention, so lässt sich ableiten, müssen die Dekonstruktion abhängigkeitsfördernder Konzepte, ihre Umdeutung oder die Entwicklung selbstermächtigender Bilder fördern.
6
Ausblick: Stand und Perspektiven
Die skizzierten qualitativen Studien haben gezeigt, dass sich Metaphernanalysen dazu eignen, jene Deutungsmuster zu rekonstruieren, in denen die Gegenstände des Alltags und der Wissenschaften gefasst werden. Daher überschneidet sich der Begriff des metaphorischen Konzepts mit dem des tacit knowledge, des Habitus, des Deutungsmusters, der sozialen Repräsentation und einigen Theoremen der Alltagspsychologie. Grenzen der bisherigen Studien ergaben sich daraus, dass aus der Fülle gelebter Metaphern nur wenige überpointierend herausgehoben wurden und andere unentdeckt blieben. Beides kann mit der Orientierung am Begriff der Metapher nach Lakoff und Johnson und einer Methodik, die Prüfschritte beinhaltet und Vollständigkeit verlangt, behoben werden (Schmitt 2017). Ganz im Gegensatz zur englischsprachigen Psychologie, in der die kognitive Metapherntheorie sogar die experimentelle Psychologie stimuliert hat (Gibbs 2006), hat die Tatsache, dass außer der veralteten Publikation von 1980 die weiteren Texte der Begründer der kognitiven Metapherntheorie noch nicht auf Deutsch vorliegen, zu empfindlichen Verkürzungen der Wahrnehmung des Ansatzes geführt. Ungeklärt ist darüber hinaus das Verhältnis von qualitativen und quantitativen Metaphernanalysen, da die Bedeutung eines metaphorischen Konzepts nicht aus seiner Häufigkeit erschlossen werden kann, dennoch können Häufigkeiten Hinweise für die Interpretation ergeben (Schmitt 2001b). Als relativ aufwendige Methode scheinen Metaphernanalysen zur Analyse größerer Korpora nur begrenzt geeignet. Die gestiegene Zahl der Publikationen, die im engeren Sinn zur systematischen Metaphernanalyse und im weiteren zu einer Rekonstruktion des Sinns von Sprachbildern beitragen, verdeutlicht jedoch, dass nach den Anfängen bei Bühler die Renaissance der Beschäftigung mit Metaphern auch in der Psychologie begonnen hat. Insbesondere im Hinblick auf die klinische Psychologie ist
Metaphernanalyse
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zu erwarten, dass Metaphernanalysen die Professionellen zu einem besseren Verständnis der Äußerungen von Klient/innen anleiten und auch Hinweise für Interventionen geben (Schmitt und Heidenreich 2019).
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Metaphernanalyse
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Morphologische Beschreibung Herbert Fitzek
Inhalt 1 Einleitung: Morphologische Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Gegenstandskriterien sind Methodenkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Vielfältige Anwendungen und einheitliches Vorgehen: Entwicklungsgang in vier Versionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Als „naturgemäße Darstellung“ zielt die morphologische Beschreibung, Goethes Konzept einer Formen- und Verwandlungslehre folgend, eine gegenstandsangemessene Darstellung von Prozessen des Erlebens und Verhaltens an. In der Tradition (tiefen-)hermeneutischer, gestalt- und kulturpsychologischer Ansätze werden Wirkungseinheiten der Alltags- und Lebenswelt mithilfe verschiedener methodischer Beschreibungsprozeduren („Versionen“) im Hinblick auf grundlegende Erlebensqualitäten der Befragten, auf überindividuelle Wirkungszüge und kulturell geprägte Problemkerne analysiert. Schlüsselwörter
Morphologie · Beschreibung · Hermeneutik · Gestaltpsychologie · Kulturpsychologie
H. Fitzek (*) Business School Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: herbert.fi[email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_44
711
712
1
H. Fitzek
Einleitung: Morphologische Psychologie
Das wissenschaftliche Konzept der „Morphologie“ wurde vor zweihundert Jahren von keinem Geringeren entwickelt als von Johann Wolfgang von Goethe. Heute ist kaum mehr bekannt, dass Goethe seine Beiträge zur Naturwissenschaft genauso wichtig nahm wie seine dichterischen Leistungen. Dabei richtete er seine „Formenlehre“ nicht an (fertigen) Gestalten aus, sondern an der „Bildung und Umbildung“ organischer Einheiten. Für Goethe war eine Gestaltenlehre immer auch „Verwandlungslehre“. Gestalt und Verwandlung beobachtete er zunächst an Pflanzen, Knochengebilden und optischen Erscheinungen, von denen aus er in einer allgemeinen Morphologie auch zur Darstellung von Kultivierungsprozessen übergehen wollte – wie die Kulturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts, die Goethe mit seiner Morphologie inspirierte: Nietzsche, Freud, Dilthey, später Spengler und die frühen Ganzheits- und Gestaltpsychologen (s. Fitzek 1994). Entscheidend waren für Goethe aber nicht die Gegenstände der Morphologie, sondern es war ihre Eigenart als Methode, die „selbst so beweglich und bildsam“ (von Goethe 1981a [1817], S. 56) konzipiert werden müsse wie die Gestaltbildungen, denen sie beschreibend und rekonstruierend folgen solle. Wenn Goethe von „naturgemäßer Methode“ spricht, dann meinte er damit ein wissenschaftliches Vorgehen, das sich den Metamorphosen seines Gegenstandes „identisch macht“, indem es sich „versatil“ in Drehungen und Wendungen mitbewegt (Breidbach 2006, insbesondere S. 185, 209, 255, 267; Fitzek 1994, S. 38–43). Das Experiment der Wissenschaft definierte er nicht im Hinblick auf eine (über Abstraktion und Formalisierung) vom Forschungssubjekt weg zu verlagernde „Objektivität“, vielmehr sah er den wissenschaftlichen „Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt“ (von Goethe 1981a [1823], S. 10–20). „Mitbewegung“ statt „Stilllegung“ lautet das methodische Programm, mit dem Wilhelm Salber Goethes Metamorphosenkonzept Mitte des 20. Jahrhunderts in die Psychologie einführt. „Der psychische Gegenstand“ (Salber 1988 [1959]) rekapituliert zunächst einmal das Haften der zeitgenössischen Psychologie an der naturwissenschaftlichen Erklärungsmethode. Die „Morphologie des seelischen Geschehens“ (Salber 2009 [1965]) überschreitet demgegenüber die Denkbarrieren der Rationalität und Kausalität im Hinblick auf Diltheys Entwurf einer „beschreibenden und zergliedernden Psychologie“ (Dilthey 1957 [1894]). Diese soll vom erlebten Zusammenhang des Seelischen ausgehen, der sich im Verstehen (selbst) ein Organ der Selbstbeobachtung schafft. Für Salber (1988, S. XII–XIV) ist das wissenschaftliche Verstehen eine Metamorphose der alltäglichen Verständigung über Wirklichkeit („Zwischenwelt“), die aus der Kasuistik der Alltagslogik über gezielte methodische „Versionen“ zu kulturwissenschaftlich gesichertem Wissen gelangt. Als Kulturwissenschaft steht die morphologische Psychologie von vornherein in unmittelbarer Nähe zu Kulturgeschichte und Kulturkritik. Statt als Naturwissenschaft konstituiert sie eine Psychologie auf kulturwissenschaftlicher Grundlage – ähnlich wie die kulturpsychologischen Ansätze von Bruner, Goffman, Boesch und die tiefenpsychologischen Kulturkonzepte von Devereux und Lorenzer (dazu Fitzek 2008, S. 286–289, 361–366). Die Kultivierungsperspektive richtet die Aufmerk-
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samkeit der Psychologie auf Fragen nach dem „Wie“ der Wirklichkeitsbehandlung. Erleben und Handeln verweisen darauf, wie seelische Wirklichkeit jeweils konkret eingerichtet, ausgestaltet, modifiziert und instrumentalisiert wird. Die Metamorphose der Wirklichkeitsbehandlung findet ihren Niederschlag in den Geschichten, Bildern und Symbolen des Kultivierungsprozesses. Sie zeigt sich in Redensarten, Bräuchen und Ritualen vergangener wie aktueller Lebenswelten. Da die seelische Formenbildung immer durch das Nadelöhr des Alltags hindurch muss, starten morphologische Untersuchungen mit einer ungefilterten Sammlung der Bilder, Geschichten und Motive, in denen sich seelisches Geschehen verfasst. Wenn sich die Erlebenswirklichkeit, wie Schapp (1953) es schon vor mehr als einem halben Jahrhundert formulierte und neue narrative Konzepte belegen (Geertz 1987; Polkinghorne 1998), „in Geschichten verstrickt“, hat der methodische Zugang über Geschichten und Erzählungen der Menschen empirische Priorität – und bleibt doch nie beim So-Gesagten (Gemeinten) stehen. Der Glättungstendenz von Gestaltbildungen wirkt die psychologische Methode entgegen: durch Dehnen, Strapazieren, Erweitern, Aufbrechen der Erzählfassung von Erlebnissen und Ereignissen (Fitzek 1999). Das Zuspitzen, Verdichten und Aufbrechen der Erzählungen rückt die morphologische Methode von vornherein in die Nähe der Tiefenpsychologie und lenkt den Blick über den alltagsüblichen Erfahrungsrahmen hinaus – nicht zuletzt auf die Befindlichkeiten, Besetzungen, Bedenken und Nebenabsichten der Forschenden. Diltheys Formel „Die Natur erklären wir – das Seelenleben verstehen wir“ (Dilthey 1957 [1894], S. 144) bindet die psychologische Analyse an die Metamorphosen von Geschichtlichkeit, die sich von Fall zu Fall einstellen. Doch ist der alltägliche (Selbst-) Verständigungsprozess von Kurzschlüssen und Beschwichtigungen überlagert. „Mitbewegung“ geht von daher über Nachvollzug hinaus. Ihr Ziel ist die Überwindung des vorwissenschaftlichen Als-Ob-Verstehens im Hinblick auf wissenschaftlich gesicherte Erfahrung. Jenseits von vordergründiger Plausibilität dringen morphologische Analysen zu Überdeterminationen, Gegenläufen und Paradoxien der Alltagslogik vor. Damit greifen sie Freuds „Ratschläge“ für eine tiefenpsychologische Methode auf (Freud 1943 [1912]), die den Zugang zu unbewussten, aber wirksamen Bedeutungsfeldern über eine kunstvolle Zerdehnung der seelischen Ausdrucksbildung eröffnen. Freud (1942 [1905], S. 17) war es, der die tiefenpsychologische Methode als „Kunst“ definierte, die ihren Gegenstand nicht wie die Malerei durch „Aufhäufen“ von Material (via di porre), sondern wie die Bildhauerei durch „Herausarbeiten“ aus dem Stein (via di levare) modelliert. Das komplette Material ist gleichsam mit dem Beginn der wissenschaftlichen Arbeit gegeben – es muss dann aber in einem sorgfältigen und aufwändigen Formenbildungsprozess so bearbeitet werden, dass ein (psychologisches) Profil sichtbar wird.
2
Gegenstandskriterien sind Methodenkriterien
In der psychologischen Morphologie sind Gegenstand und Methode untrennbar miteinander verbunden. Der Beschreibungsmethode entsprechend geht die morphologische Kulturpsychologie vom erlebten Wirkungszusammenhang aus, der sich in
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H. Fitzek
Erfahrungen, Einfällen oder Erinnerungen ausdrückt und abbildet. Ihr Erkenntnisziel sind die konkreten Erlebens- und Erfahrungshorizonte der Lebenswelt – die Tätigkeiten, Gegenstände, Medien und Unterhaltungsangebote, die den Tageslauf kultivieren.
2.1
Gegenstand der morphologischen Psychologie
Um den Selbstverständigungsprozess des Erlebens und Handelns zu erforschen, benötigt die Morphologie kein personales Aktionszentrum („Selbst“, „Person“, „Individuum“) mit einer davon unterscheidbaren innerseelischen Funktionalität („Wahrnehmung“, „Kognition“, „Gedächtnis“, „Motivation“). Ihre Untersuchungen starten vielmehr direkt bei den Erfahrungsgegenständen der gelebten Wirklichkeit – bei den Beschäftigungen im Tageslauf, den Inszenierungen und Requisiten der Lebenswelt, bei den Tätigkeiten der Arbeit und den Medienangeboten der Freizeit, bei den Werken von Kunst und Literatur. Sie sind die „Subjekte“ des seelischen Geschehens als (apersonale) Wirkungszentren, die sich nach Gesetzen von Gestalt und Verwandlung organisieren. In ihnen verfasst (oder „behandelt“) sich die seelische Wirklichkeit als konkrete Alltagskultur. Wenn die Fragestellungen der Psychologie wie in der Morphologie nicht auf Aspekte, Bereiche oder Funktionen eines seelischen Apparates ausgerichtet sind, sondern auf die Chancen und Notwendigkeiten von (Alltags-)Kultivierung, heißt das für die empirische Analyse, dass sie ihren Untersuchungsgegenstand aus der Vielfalt der Lebensbezüge von Fall zu Fall herausgestalten muss; die morphologische Psychologie spricht im Zusammenhang der Präzisierung ihres Untersuchungsobjekts ausdrücklich von „Gegenstandsbildung“ (Salber 1988, S. XX). Was psychologisch zum Gegenstand wird, ist nicht etwa im deskriptiven Zugriff verfügbar, sondern bedarf der methodischen Zubereitung. Die Gegenstandsbildung ist insofern natürlich, als sie zum Gegenstand macht, was sich im Erleben zu einer Einheit zusammenschließt; sie ist andererseits künstlich, weil jeweils eingekreist werden muss, aus welcher Kultivierungsperspektive ein Wirkungszusammenhang betrachtet wird. Den Gegenstand morphologischer Untersuchungen definiert die Morphologie als „Wirkungseinheit“ (Salber 2006 [1969]). Wirkungseinheiten sind relativ autonome Erlebenseinheiten, die methodisch als Gestaltbildungen der Kultivierung von seelischer Wirklichkeit gefasst werden: als „Fälle“ von Werbung, Beeinflussung, Unterricht, Selbsterfahrung, Kunst oder auch von psychologischer Beratung und Behandlung. Vom Zuschnitt der Wirkungseinheiten her lassen sich verschiedene Forschungsprogramme kennzeichnen, die um aktuelle Abläufe („Handlungseinheiten“), um überdauernde Wirkungszusammenhänge („Produkt“-, „Bild“- oder „Filmwirkungseinheiten“, s. Blothner 1999; Fitzek und Marlovits 2015; Melchers 1993) oder um die Einbettung von Handlungen und Ereignissen in die aktuelle Zeitkultur („Kulturanalysen“, s. Fitzek und Ley 1998; Grünewald 2006, 2013; Salber 2009, 2016) zentriert sind. Ein und derselbe psychologische Sachverhalt – eine Werbung oder ein Film – kann mit unterschiedlichem Ergebnis nach seinem unmittelbaren Ablauf, seiner Attraktivität als (Kino-) Ereignis oder seinem Stellenwert in der Gegenwartskultur befragt werden. Das Forschungsprogramm „Alltagsfigurationen“ (Fitzek 2000; Fitzek und Ley 1998) modelliert den kulturanalytischen Aspekt der Wirkungseinheiten im Hinblick auf die
Morphologische Beschreibung
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aktuelle Gegenwartskultur. Dem liegt die Hypothese zugrunde, diese habe selbst ein psychologisches Profil und lasse sich demzufolge aus dem psychologischen Charakter zeittypischer Phänomene erschließen. In der Untersuchung aktueller Freizeit-, Arbeitsoder Medienkulturen konnten mithilfe morphologischer Methoden gemeinsame Kennzeichen von Manifestationen der Gegenwartskultur herausgearbeitet werden – wie Bildinflation, Auskuppeln, Überformalisierung, Aufgehen in Schachtelwelten und Mutproben (Fitzek und Ley 2003; Grünewald 1996; Salber 2009, 2016). Als kunstanaloge Methode ist die Morphologie nie losgelöst vom Material darzustellen, sondern nur bezogen auf konkrete Gegenstände. Daher wird ihr Ablauf im Folgenden entlang einer unveröffentlichten Untersuchung aus dem Forschungsprogramm „Alltagsfigurationen“ vorgestellt, die Studierende einer mit der morphologischen Methode arbeitenden Wirtschaftshochschule durchgeführt haben. Sie gingen der Frage nach, inwieweit das bewusste oder unbewusste Aufgreifen der strukturellen Kennzeichen der Gegenwartskultur für den Erfolg langjährig erfolgreicher Medienprogramme verantwortlich zu machen ist, und wählten als Untersuchungseinheit die Rezeption beliebter, aus den USA übernommener TV-Serien: „Desperate Housewives“, „Dr. House“, „Grey’s Anatomy“ und „24“. Auf die Untersuchung bezogene Textteile werden zur besseren Unterscheidbarkeit in Kästen dargestellt.
2.2
Methode der morphologischen Beschreibung
Die Reflexion auf konkrete Alltagskulturen und ihre Überführung in Untersuchungseinheiten sind erste Schritte morphologischer Untersuchungen, in denen Untersuchungsplanung, Datenerhebung, Datenauswertung und Qualitätskontrolle nicht voneinander trennbar sind. Als hermeneutische Methode geht die Morphologie durchaus nicht zirkulär zwischen Erfahrungs- und Darstellungsebene hin und her, sie ist vielmehr nach Goethe als „Spirale“ konzipiert, die von einer möglichst vorurteilslosen Bestandsaufnahme des um ein jeweiliges Wirkungszentrum zentrierten Materials („Wirkungseinheit“) über konstante methodische Wendungen („Versionen“) allmählich zur wissenschaftlichen Erklärung voranschreitet (Fitzek 2008; Salber 2006 [1969], S. 28–41). Der Zugang zu den Wirkungseinheiten erfolgt immer über Erlebenszusammenhänge. Zur Erkundung eigener (behindernder oder auch verzerrender) Deutungsmuster gehen morphologische Analysen von der Selbstreflexion der Forschenden (in „Erlebensprotokollen“) aus; diese markiert den Ausgangspunkt für intensive zwei- bis dreistündige Befragungen („Tiefeninterviews“ unter Einsatz von anbindenden, nachfassenden, rangierenden und projektiven Fragetechniken), deren wesentliche Aussagen in ausführlichen strukturierten Auswertungen zusammengefasst werden („Interviewbeschreibungen“ als Anordnung der Aussagen im Hinblick auf gestalthafte Dichte, Analogie, Ergänzung, auf Gegenlauf, Kontrast, Paradoxie). Nach dem gleichen Verfahren gestalthafter Zuordnung wird eine Folge von fünf bis zehn, vielfach auch wesentlich mehr Interviews im Hinblick auf durchgehende Erlebenszüge aller Interviews vereinheitlicht („vereinheitlichende Beschreibung“). Dem allmählichen Generieren von (gemeinsamen) Bedeutungsmustern entsprechend geht auch die Auswahl der Befragten vom Allgemeinen zum Besonderen voran und entspricht damit weitgehend dem in der
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H. Fitzek
qualitativen Methodologie verbreiteten – und der Grounded-Theory-Methodologie entstammenden – theoretical sampling (Glaser und Strauss 1967, S. 45–77). Durch die Ausrichtung auf „Gestalthaftes“ (Zusammenwirken, Kontrastieren, Umwenden von Sinnrichtungen) ist in die Beschreibungslinie bereits ein konstruktives Moment eingefügt; umgekehrt bleiben die Erklärungsleistungen der morphologischen Analyse durchgängig auf die Ausgangsbeschreibungen bezogen. Wenn Beschreibung und Erklärung somit methodisch von vornherein zusammenlaufen, erübrigt sich eine Auftrennung von Datenerhebung und Datenauswertung. Als konzeptuell geprägte Befragung ist die Datenerhebung Teil des Auswertungsverfahrens, andererseits ist die Datenanalyse bis zum Schluss an konkretes Material zurückgebunden. Alle Untersuchungen starten mit der Sensibilität für erste und (scheinbar) flüchtige Eindrücke und bleiben durch die fortlaufende Erhebung und Auswertung von Interviewmaterial bis zum Schluss der Analyse modellierbar und revidierbar.
3
Vielfältige Anwendungen und einheitliches Vorgehen: Entwicklungsgang in vier Versionen
Das Grundlagenkonzept der morphologischen Gegenstandsbildung wurde von Salber (2009 [1965]) vor einem halben Jahrhundert für die Analyse von Handlungsverläufen, für Unterricht und Werbung, für die Rezeptionsprozesse von Kunst und Film entwickelt. Mit der Erweiterung auf übergreifende Wirkungszusammenhänge gerieten zunehmend komplexe Fragestellungen der Diagnose und Beratung von Persönlichkeiten und Organisationen in den Blick. Heute wird die Morphologie überwiegend als Psychotherapie („Analytische Intensivberatung“; Ahren und Wagner 1984; Salber 1999) und als Wirtschafts- und Kulturpsychologie praktiziert (Fitzek und Schulte 1993; Grünewald 2006; Lönneker 2007; Melchers 1993; Salber 2009). In der qualitativen Marktforschung werden ihre Auseinandersetzung mit den Grundlagen wissenschaftlicher Tätigkeit und ihre Praxistauglichkeit geschätzt (Kühn 2005; Naderer und Balzer 2011). Der „schräge“ Blick auf die Tiefgründigkeit und die Alltagskultur findet in der Öffentlichkeit einige Beachtung und wird gelegentlich auch in Übersee positiv rezipiert (Arens 1996; Schirmacher und Nebelung 2001). So breit die Anwendungen der Methode aufgefächert sind, so eindeutig ist ihr Entwicklungsgang auf die konstante Abfolge von vier „Versionen“ morphologischer Beschreibung in jeder untersuchten Wirkungseinheit festgelegt: Alle Untersuchungen folgen mehr oder weniger explizit der Abfolge der Gegenstandsbildung über die Erarbeitung von Gestaltlogik, Gestalttransformation, Gestaltkonstruktion und Gestaltparadoxie. Als methodischer Kern bilden die vier Versionen einen konstanten Analyseschlüssel und damit das vereinheitlichende Moment der morphologischen Auswertung (Fitzek 2008, S. 248–253; Salber 2006 [1969]).
3.1
Gestaltlogik: Grundqualitäten
In einer ersten Wendung der Beschreibung präsentiert die morphologische Methode ihren Gegenstand im Hinblick auf grundlegende, durchgängige, zugleich aber vorge-
Morphologische Beschreibung
717
staltliche Qualitäten. Mit der Gestaltlogik von Wirkungseinheiten greift die Morphologie die Beobachtung der Ganzheits- und Gestaltpsychologie auf, dass sich früh und dauerhaft komplexe „Qualitäten“ einstellen, die für die Ausrichtung und den Zusammenhalt des Erlebens eine hohe funktionale Bedeutung haben, aber in der alltäglichen Selbstbeobachtung schnell verlassen werden oder – aufgrund ihrer Sperrigkeit und Ambivalenz – der narrativen Glättung anheimfallen (Fitzek und Salber 1996). Die morphologische Auswertung beginnt mit der Suche nach übergreifenden Bildern für das Ganze der untersuchten Wirkungseinheit, die die phänomenale Breite ihrer Manifestationen auf einen Blick verfügbar machen. Häufig finden sich in frühen Phasen der Untersuchung Vorentwürfe, Geschichten oder sinnliche Formeln, deren funktionale Dominanz für das Ganze der Wirkungseinheit sich oft erst im Fortschritt der Untersuchung offenbart. Gegenüber der verbreiteten Vorsicht vor übereilten Einordnungen betont die morphologische Analyse die Berechtigung früher, bestimmender Eindrücke, die aufgrund ihrer Komplexität und Mehrdeutigkeit oft als unbequem erlebt und (deshalb) frühzeitig aufgegeben werden. Gemäß der morphologischen Seherfahrung, dass die Sinnzusammenhänge der seelischen Wirklichkeit prinzipiell durch Vielschichtigkeit und Überdetermination geprägt sind, sind die aus den Erzählungen und Erfahrungen der Befragten gewonnenen Grundqualitäten in ihrer Vielschichtigkeit von entscheidender funktionaler Bedeutung für die innere und äußere Organisation der untersuchten Wirkungseinheiten (Fitzek 2008, S. 289–291). Grundqualitäten deuten sich in unserem Untersuchungsbeispiel schon in der seltsamen Hermetik von Spielhandlung (Krankenhaus, Straßenzeile) und Rezeptionsverfassung (gern allein oder im Bekanntenkreis mit behaglicher Decke und Knabberzeug) an: Wie „Seifenblasen“ erscheinen die erzählten Geschichten selbst serientreuen Befragten hohl und aufgeblasen, locken aber auf der anderen Seite durch ihren „Glanz“ und ihr „Schillern“. Die Metaphorik von Beschreibungssprache und Fachjargon verweist auf eine Spielhandlung und Erlebenseindruck übergreifende Grundqualität des „Aufschäumens“: Erinnerungen, Erfahrungen, Erlebnisse werden spürbar, ohne dass die Tages- (oder Abend-) Verfassung des Unterhaltungsfernsehens dauerhaft beeinträchtigt würde. Die Sendungen machen ein szenisches Angebot, eigene Tagesreste oder Beunruhigungen in der (geschützten) Stundenwelt der Serienhandlung kurzzeitig und ohne weitere Folgen zu beleben („aufzuschäumen“). Das wird am deutlichsten in den Äußerungen zu „Grey’s Anatomy“, in denen sich die Akteure mit gleichsam traumwandlerischer Sicherheit durch „Himmel und Hölle“ des Krankenhausalltags bewegen. In einer Atmosphäre größter kultureller Herausforderung („hier geht’s sprichwörtlich um Leben und Tod“) breitet sich ganz unverhohlen das Gemisch alltäglicher (damit auch eigener) Irrungen und Wirrungen, Vorlieben und Abneigungen aus. „Desparate Housewives“ entfaltet seine Wirkung demgegenüber durch das „Schillern“ einer perfekten Welt, von der man sich einerseits gerne bezaubern lässt, um zugleich auf die unübersehbaren Risse zu lauern, die den Glanz der Schönen, Reichen und Berühmten durchziehen und das Unperfekte des eigenen Alltags am Scheitern der großen Entwürfe wachsen lassen.
718
3.2
H. Fitzek
Gestalttransformation: Wirkungsraum
Die in der ersten Version des Entwicklungsgangs herausgestellte Grundqualität wird in einer zweiten methodischen Wendung im Hinblick auf durchgängige Wirkungstendenzen vertieft. Dazu werden die Interviewbeschreibungen im Hinblick auf durchgängige Sinnrichtungen transformiert, die sich im Ganzen der untersuchten Wirkungseinheit gegenseitig herausfordern, abstützen und ergänzen. Dominante Wirkungszüge werden vielfach in einer „Hauptfiguration“, hintergründig Entgegenwirkendes in einer „Nebenfiguration“ zusammengefasst (Fitzek 2008; Salber 1999). Goethe (1981b [1833], S. 367–368) hatte die „Grundeigenschaften der lebendigen Bildung“ zuerst in der Pflanzenmetamorphose entdeckt und als Einheit von Bildung und Umbildung, d. h. von Gestalt und Verwandlung (Ausdehnung und Zusammenziehung, von Tun und Leiden, Wirken und Widerstreben) kategorisiert (Fitzek 1994, S. 48). Analog geht die morphologische Psychologie von seelischen Wirkungsverhältnissen aus, die in einem Gegenlauf sich polar kontrastierender und ergänzender Produktionsrichtungen von Gestalt und Verwandlung dargestellt werden: In allen Wirkungseinheiten stehen sich eine Tendenz des Habens und Haltens („Aneignung“) und eine Tendenz zum Anders-Werden („Umbildung“) gegenüber, Tun und Machen („Einwirkung“) laufen einem Eingliedern und Kategorisieren („Anordnung“) entgegen, Wünschen und Wollen („Ausbreitung“) der Wirkungsrichtung des Könnens und Sicherns („Ausrüstung“). In der zweiten Version der Darstellung von Wirkungseinheiten können die beschriebenen Sachverhalte prototypisch im Wirkungsspektrum der sechs Orientierungsrichtungen aufgespannt werden. Die paarweise Gegenüberstellung der Wirkungstendenzen (oder Faktoren) ergibt im Ganzen ein erlernbares und praktikables Such- und Vergleichsraster für alle morphologischen Analysen. Die Flächenlogik des Suchrasters (Hexagramm) wird durch die gegenstandsspezifische Benennung der einzelnen Züge und deren Zuordnung zu vordergründigen und hintergründigen Sinngruppierungen (Haupt- und Nebenfiguration) weiter differenziert (im Einzelnen dazu: Fitzek 2008, S. 291–295; Salber 2006 [1969], S. 78–83). In der Untersuchung ordneten die Studierenden die Kennzeichen der Blasenwelt einer Hauptfiguration zu, die um Züge von „Aneignung“ (Halt finden in überschaubaren Spielhandlungen), „Einwirkung“ (Teilnahme über Spielzüge von Mittun und Mitleiden) und „Anordnung“ (der Spielfiguren in der Skala von Nähe, Bedeutung, Beliebtheit) zentriert ist – während die Faktoren der Nebenfiguration zurücktreten durch das Kleinhalten von „Ausbreitung“ (nichts darf aus dem Rahmen fallen), von „Ausrüstung“ (nichts ist unverrückbar) und erst recht von „Umbildung“ (es ereignen sich letztlich endlose Wiederholungen unter gelegentlicher Variation der Rahmenhandlung). „Desparate Housewives“ bewerkstelligt das, indem Tendenzen zum Ausbrechen aus Handlungsabläufen und Sehgewohnheiten fortlaufend abgewendet werden. Blothner und Conrad (2008) haben in einer morphologischen Untersu(Fortsetzung)
Morphologische Beschreibung
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chung den „Dreh“ als durchgehendes Formkennzeichen dieses Formats identifiziert, mit dem riskante und nachhaltige Entwicklungen verhindert werden. Bei „24“ oszilliert das Geschehen geisterhaft zwischen Realismus und Absurdität. Das Zuschauen gerät in den Strudel einer undurchschaubaren Geschichte, die fesselt, ohne eine Ausrichtung anzubieten. Hier verlagert sich das psychologische Wirkungsgefüge stärker in Richtung der Nebenfiguration, die durch die Wirkungsfaktoren von „Ausbreitung“ (paradiesischer Veränderungssehnsucht) und „Ausrüstung“ (durch die mitlaufende Uhr) repräsentiert ist: Aushalten heißt „Leiden-Können“ im doppelten Sinne von Anstrengung und Lieb-Gewinnen. In Fortführung der ersten Version („Aufschäumen“) erfüllt die zweite Version („An- und Abdrehen“) den Sinn, anlaufende Auf- und Ausbrüche aus dem Format abzuwenden. Ihren Unterhaltungswert gewinnen die Formate somit durch das Auspolstern latenter Aufbruchstendenzen im Tageslauf: „Grey’s Anatomy“ macht es sich in der herausfordernden Wirklichkeit von Leben und Tod behaglich; „Desperate Housewives“ feiert das geheime Besserwissen der zu kurz Gekommenen, „24“ wirbt für das Durchhalten des Eigenen gegen alle äußere Anfechtungen, während „Dr. House“ die Lösbarkeit aller Probleme gegen jede (bessere) Vernunft propagiert (Domke 1998). Für die Praxis der morphologischen Markt- und Medienwirkungsforschung reicht es vielfach aus, die Kultivierungsleistung von Grundqualität und Wirkungsraum in eine psychologisierende Fragestellung zu transformieren. Sie kann im Fall der zitierten Medienuntersuchung in die Frage gekleidet werden, wie das Aufkommen reizvoller, aber bedrohlicher Tagesreste (Ausbreitungen, Verwandlungssehnsüchte) in der vermeintlich sicheren Deckung überschaubarer Wirkungsverhältnisse (Haltsuche, einfache Verrechnungen von Tun und Erleiden, schematische Charaktere) bewerkstelligt wird. Als Antwort legt sich von den beschriebenen Figurationen her das Einschreiben von Entwicklungsforderungen in eine besänftigende Tageslosung nahe: „Bleib dir treu!“ „Versuch’s mal anders!“ „Der Schein trügt!“ „Nimm dir nur das vor, was du leisten kannst!“ „Alles wird gut!“ Von ihrer Wirkung her passen die TV-Formate daher eher zu Sprüchen oder Tageshoroskopen als zur Wirkung anderer (etwa kunstvoller) Medienereignisse. Morphologische Wirkungsforschung stellt ihren Gegenstand (Bild-, Produktoder Medienwirkung) in vereinheitlichenden Beschreibungen einer Reihe von (mindestens fünf bis zehn) Tiefeninterviews vor, in denen Grundqualität und Wirkungsraum der untersuchten Wirkungseinheit herausmodelliert und hinsichtlich eines darin erkennbaren Problemkerns fokussiert werden. Traditionell geschieht das in der Formulierung einer „psychologisierenden Fragestellung“, die nicht den Beginn, sondern den Gewinn morphologischer Forschung darstellt: Inwiefern verweist das (banale) Phänomen auf Grundzüge der Konstruktion des Seelischen – wie beispielsweise auf die Einheit von Bestand und Wandel, den Zusammenhang von Anspruch und Einsatz, das Verhältnis von Eigenem und Fremdem (Salber 1989, S. 224).
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H. Fitzek
Die morphologische Analyse kommt mit der Formulierung der psychologisierenden Fragestellung zu einem ersten Abschluss, der die Analyse von Wirkungseinheiten in die Kultivierung (= Selbstbehandlung) des Alltags integriert, aber überschritten werden muss, wenn darüber hinaus auf Wandel und Veränderung abgezielt wird. Eingriff und Beratung setzen voraus, dass die Spirale der psychologischen Beschreibung (mindestens) eine weitere Wendung nimmt und das Geschehen als Ausdruck umfassender Kultivierungsmuster darstellt. Da die hier gestellte Frage nach der Einpassung der Unterhaltungsprogramme in das Profil der Gegenwartskultur in diese Richtung zielt, ist es nötig, die Untersuchung in eine dritte Version der morphologischen Methode weiterzubewegen.
3.3
Gestaltkonstruktion: Verwandlungsmuster
Die dritte Version verdichtet die Analyse von Wirkungseinheiten im Hinblick auf die Gestaltkonstruktion von Kultivierungsprozessen, wie sie insbesondere in der tiefenpsychologischen Tradition aufgewiesen wurden. Die Tiefenpsychologie hat die Probleme des seelischen Gesamtgeschehens mit den (paradoxen) Ansprüchen der nie restlos gelingenden Kultivierungsaufgabe zusammengebracht. Ähnlich wie Freud („Ödipus“) und Jung („Archetypen“) gewinnt Salber die Ortung der Konstruktionsprobleme und ihrer ungefähren Lösungen aus den Narrationen der Kultivierungsgeschichte. Anders als dort werden sie in der Morphologie aber ausdrücklich mit der Konstruktion von Verwandlung zusammengebracht und als Verwandlungssorte oder Verwandlungsmuster kategorisiert (Fitzek 2008, S. 295–299). Im Zentrum des Analysekonzepts der Wirkungseinheiten steht die Kultivierung vor untrennbaren, aber widersprüchlichen Formansprüchen: Bindung und Lösung, Einheit und Vielfalt, Konsequenz und Brechung. Das Stichwort „Verwandlung“ macht auf das Zusammenfallen von Extremen aufmerksam, wie es bei Goethe im „Gegensinn der Urworte“, bei Nietzsche in der „Umkehrung aller Werte“ und bei Freud in der Bemerkung zum Ausdruck kommt, im Unbewussten sei der Widerspruch aufgehoben. Morphologisch gesehen sind Gestalt und Verwandlung prinzipiell in eine gemeinsame Drehfigur eingebunden: „Was sich hier als wirksam zeigt, ist in eigentümlicher Weise miteinander verbunden – Etwas-Sein und Anders-Werden, Verrückung und Gestalt-Werden, Bleibendes und Umbildung“ (Salber 1999, S. 137). In seiner Darstellung der Geschichte des Seelischen und der Psychologie („Seelenrevolution“) hat Salber (1993) die ambivalenten Verhältnisse von Gestalt und Verwandlung auf das psychologische Profil historisch entwickelter Gesamtkulturen zurückgeführt. Vom Konzept der morphologischen Psychologie her sind die Kulturen der Geschichte um charakteristische Problemkerne von Gestalt und Verwandlung zentriert. So geht es bei den Griechen um Entdeckungsreisen durch die Vielfalt der Wirklichkeit und um die darin verfolgte Wiederkehr des Gleichen, bei den Römern um Zwänge und Freiheiten einer sich ausbreitenden Grundordnung, bei den (frühen) Christen um das Ausreizen von Paradoxien der Wirklichkeit (Salber
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1993, S. 36–56). Die historischen Problemkerne sind die Vorbilder der Verwandlungsmuster, die den modernen Alltag prägen und in seinen (Alltags-) Kulturen aufgerufen und (weiter-)behandelt werden. Die moderne Lebenswelt greift demnach auf Vorbilder zurück, die gleichsam in säkularisierter Form in den Alltags-, Marken- und Medienwelten der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen erhalten geblieben sind – als Entwürfe, nach denen sich das Erleben und Handeln von Fall zu Fall unterschiedlich organisiert (Fitzek 1998, S. 44–46, 2008, S. 348–351). Hiernach hat „Rauchen“ etwas mit Revierkämpfen der frühen Kulturen zu tun; „Putzen“ kann als Fortsetzung von Säuberungsritualen gesehen werden; der „Fitness“-Kult setzt etwas von den Maßhaltewerken des Mittelalters fort. Die Formanhalte der Lebenswelt werden für die Menschen zu Vorgaben für die Entwicklung ihrer persönlichen Biografien. Im morphologischen Konzept beruhen Charakterentwicklung und psychologische Beratung gleichfalls auf den Chancen und Begrenzungen spezifischer Verwandlungsmuster (Ahren und Wagner 1984; Salber 1999). Auch überindividuelle Wirkungseinheiten – Markenbilder, Filme, Unternehmenskulturen – folgen den Entwicklungsspielräumen kulturell geprägter Problemkerne: Erhalten und Riskieren, Ausgleich und Provokation, Restauration und Revolte (Blothner 1999; Fitzek und Ley 1998; Salber 2009). In den Analysen des Forschungsprogramms „Alltagsfigurationen“ haben wir die Spirale von Beschreibung und Erklärung bis zu einem Punkt geschraubt, an dem die Wirkungseinheiten ein gegenwartstypisches Verwandlungsmuster erkennen lassen, das die untersuchten Alltagsgegenstände einheitlich prägt. Wenn erfolgreiche Serienformate die Problematik der aktuellen Kultur, wie angenommen, in besonderer Weise repräsentieren („behandeln“), dann muss ihr psychologisches Profil in besonderer Weise auf das Verwandlungsmuster der Gegenwartskultur verweisen. Die eingangs formulierte Hypothese kann bestätigt (oder erhärtet) werden, wenn die genannten Beschreibungszüge der Medienrezeption passgerecht dem Muster zugeordnet werden, das für die Kultivierungserscheinungen der Gegenwart charakteristisch ist. Das in der Kultur von heute vorherrschende Verwandlungsmuster ist in einer Vielzahl von Untersuchungen zu aktuellen Zeiterscheinungen und den Trends der Alltags- und Jugendkultur differenziert erarbeitet worden (Fitzek und Ley 1998, 2003; Grünewald 1996, 2013; Salber 2009, 2016). Es ist vereinfachend durch die Grundspannung zwischen einem weit verbreiteten Offenhalten gegenüber Angeboten aller Art (Erfahrung von „Gleichgültigkeit“) und einer drängenden Suche nach Fixpunkten der Lebensgestaltung und -bewältigung gekennzeichnet (Suche nach „Konsequenz“). Die Kultivierungsform der Gegenwart sucht die Fülle der Lebensmöglichkeiten dadurch zu erhalten, dass Ansprüche und Freiheiten gleichberechtigt und scheinbar konsequenzenlos nebeneinander gelebt und miteinander kombiniert werden („Gleichgültigkeit“ im doppelten Sinn von Freiheit und Folgenlosigkeit); daran nagt die Sehnsucht nach verlässlichen Lebensentwürfen, die das beliebige „Ein- und Auskuppeln“ des jederzeit Möglichen im Gegenzug auf Festes und Unverrückbares verpflichten (Salber 1993, S. 184–193).
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Für eine Bestätigung der Hypothese, nach der sich aktuelle TV-Serien passgerecht in das Spannungsfeld von Gleichgültigkeit und Konsequenz einfügen, spricht außer der geläufigen Benennung als „Seifenopern“ das „Schäumen“ und „Schillern“ der Blasenwelt, ihr „Oszillieren“ zwischen Fiktion und Realität ebenso wie die offensichtliche (Klein-)Dramatik von Liebe und Verrat, Sehnsucht und Enttäuschung. Das Aufschäumen von Ausbreitungen und Verwandlungssehnsüchten setzt als Gegenlauf eine nebenbildliche Richtungssuche in Gang, die nach unverbrüchlichen Sicherheiten fragt: in „24“ als Durchhalten und Leiden-Können von Entwicklung, bei „Dr. House“ als Suche nach einem Weg, der aus den unverbindlichen Spielen der Erwachsenen herausführt und eine noch unverstandene, aber erreichbare Lösung anbietet. Aus dem festgefahrenen „Alles ist möglich“ führen allerdings hier wie dort keine glatten Lösungen heraus; das versinnlicht sich im gesichtslosen Weitermachen des „24“-Helden Jack Bauer wie in der „behinderten“ Genialität von Dr. House.
3.4
Gestaltparadox: Lösungstypen
Die morphologische Datenauswertung ist geprägt durch eine zunehmend konstruktive Verdichtung von Beschreibungsmomenten im Hinblick auf die Herausarbeitung eines grundlegenden Verwandlungsmusters. Bewegt sich die Erfassung der wesentlichen Grundqualitäten noch nah an der phänomenalen Breite der Wirkungseinheiten und stellt der Wirkungsraum das Spektrum des Erlebten noch ausdrücklich vom Interviewmaterial aus dar, so zentriert die Verdichtungsleistung der dritten Version die Analyse im Hinblick auf den konstruktiven Kern der Formenbildung, der insbesondere für den Fortschritt von Forschung in Beratung genutzt wird und die morphologische Beschreibung in den Aktionsfeldern von Einzel-, Gruppen und Organisationsberatung nutzbar macht („Intensivberatung“; s. Ahren und Wagner 1984; Salber 1999). Mit der Identifizierung eines Verwandlungsmusters erreicht die morphologische Rekonstruktion eine Erklärungsdichte, wie sie ansonsten in kulturhistorischen Gesamtentwürfen zu finden ist. Von einem kulturanthropologischen Standpunkt her würde es sich zweifellos lohnen, die aus den TV-Soaps abgeleitete Grundqualität des „Aufschäumens“ und ihre Repräsentation im Wirkungsraum mit der „Schaum“Metapher abzugleichen, die beispielsweise im Sphären-Konzept Peter Sloterdijks (2004) als anthropologischer Charakter der Gegenwartskultur verfolgt wird. Als empirische Methode ist die morphologische Analyse allerdings gehalten, vom konstruktiven Moment der Mustererkennung (und -benennung) methodisch zum Ausgangsmaterial zurückzufinden. Nach drei Versionen in Richtung Verdichtung kehrt die morphologische Analyse folgerichtig – in einer vierten Version – von der Erklärungsebene zur Fülle der anschaulichen Wirklichkeit zurück. In der Version der Gestaltparadoxie findet das für die jeweilige Kultivierungsform (Wirkungseinheit) gefundene Verwandlungsmuster ausdrücklich Anschluss an die Anschaulichkeit des Ausgangsmaterials. Die Rückkehr zu den Phänomenen auf neuer Ebene („Spiralmethode“) geschieht mithilfe einer Typisierung, die individuelle Lösungsformen des Umgangs mit dem
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herausgestellten Verwandlungsmuster identifiziert (Fitzek 2008, S. 299–303). Entsprechend der nie vollständig zu erfüllenden Aufgabe des Verwandlungsmusters sind die individuellen (durchaus nicht zwingend personengebundenen) Lösungen immer provisorisch, doppeldeutig, paradox – dadurch wirken sie im naiven Verständnis vielfach merkwürdig oder auch komisch. Das Passen ins Muster der Gegenwartskultur erklärt noch nicht ausreichend, welche Fassung das Konstruktionsproblem von Gleichgültigkeit und Entschiedenheit in der konkreten Kultivierungsleistung des TV-Soap-Erlebens gewinnt. Wenn die Serien das Problem der Gegenwartskultur auch gemeinsam repräsentieren, so lassen sie doch in ihrer Wirkungsstruktur Unterschiede erkennen, die auf verschiedene Typen des Umgangs mit dem Verhältnis von Gleichgültigkeit und Entschiedenheit schließen lassen. Methodisch sind die Beschreibungen von daher abschließend noch einmal im Hinblick auf typische Lösungsformen für die Bewältigung des paradoxen Konstruktionsproblems zu durchmustern.
Für die Kategorisierung des Materials nach Lösungstypen stellen die vier Serien gleichsam Behandlungsformen des unterschiedlichen Umgangs mit dem für die Gegenwartskultur charakteristischen Problem von Konsequenz und Verfließen dar. Die Gleichgültigkeit (des Auskuppelns, der Freiheit, Konsequenzenlosigkeit) ist in allen Formaten (über-)repräsentiert, während die gegenläufige Suche nach Konsequenz und Entschiedenheit unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Es zeigte sich, dass die in der Selbstdarstellung der Medien als „Soaps“ klassifizierten Formate („Grey’s Anatomy“ und „Desperate Housewives“) sowohl durch das Haften an Gleichförmigkeiten wie auch durch ein beliebiges Einund Auskuppeln von Perspektiven und Schicksalen geprägt sind, während die in den Medien als „Dramen“ charakterisierten Formate („24“ und „Dr. House“) einen deutlich breiteren Entwicklungsspielraum für die Konsequenz der Ereignisse freigeben. In weiteren Untersuchungen gibt Blothner nicht nur einen Überblick über die den Alltag mehr und mehr beherrschende Wirkung der TV-Formate (Blothner und Conrad 2008), sondern differenziert diese Wirkung auch hinsichtlich unterschiedlicher Film- und Serienformate wie Gewaltserien, Komödien und Doku Soaps (Blothner 2010a, b, c). Die morphologische Kulturpsychologie beruht auf einer beschreibenden Perspektive der Wirkungseinheiten des Alltags und der Kultur in ihrem Eigenrecht. Aus der Beschreibung ergibt sich ein kritischer Blick auf das Profil der Kulturen im Allgemeinen wie auch auf die Erscheinungen der modernen Lebenswelt. Der universale Gegenlauf von sichernder Hauptfiguration und herausfordernder Nebenfiguration legt eine Stellungnahme gegen die Dominanz des Einfachen und Bewährten und für die Entwicklungschancen von Verwandlung und Metamorphose nahe. Morphologische Untersuchungen nehmen Partei gegen das betonierte Aufrechterhalten des Selbstverständlichen und das Aufrichten von Drehgrenzen gegen Neugier und Kreativität. Das macht sie zu Anhaltspunkten für produktive Weiterentwicklung (von Produktinnovationen, Medienformaten, Unternehmenskulturen).
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3.5
H. Fitzek
Gütekriterien: Märchenanalyse und gegenständliche Relevanz
Angesichts der in den letzten Jahrzehnten verstärkt aufkommenden Diskussion um Gütekriterien in der qualitativen Forschung (Steinke 1999) soll hier abschließend nach der internen und externen Sicherung des Versionengangs psychologischer Beschreibung in der morphologischen Auswertung gefragt werden. Angesichts des spiraligen (hermeneutischen) Charakters der „Gegenstandsbildung“ erübrigen sich Anleihen an szientistischen Gütekriterien. Im Sinne einer internen Homogenität der Methode ist vielmehr neben der Konstanz des Verfahrens (von Version zu Version) die Stimmigkeit der Ergebnisse im Ganzen des Entwicklungsgangs zu nennen. Daneben lassen sich zwei Außenkriterien benennen, über die sich die Qualität morphologischer Beschreibungen bestimmen lässt: 1. Sicherung über Märchenanalyse (Fitzek 2008, S. 353–361): Wie dargestellt, erreichen morphologische Untersuchungen ihre größte konstruktive Dichte durch die Zuordnung zu einem kulturell entwickelten Verwandlungsmuster. Als Kriterium für das Passen von Beschreibungsmaterial und Konstruktionsmodell kann ausgenutzt werden, dass die historischen Muster – nach dem Konzept der morphologischen Kulturpsychologie – narrative Repräsentationen ausgebildet haben, die um den strukturellen Kern der ewigen Kultivierungsprobleme einen jeweils spezifischen Erzählrahmen legen. Die in Geschichten gefassten Problematiken lassen sich dementsprechend von der Vielzahl der Märchenerzählungen her kategorial sortieren; dazu analysiert Salber (1999) in seiner psychologischen Märchenanalyse etwa zwei Dutzend der von den Brüdern Grimm gesammelten Märchen. Die Zuordnung der Kultivierungsprobleme zu bestimmten Verwandlungsmustern der Märchen erlaubt eine Überprüfung der Analyse von Wirkungseinheiten mithilfe der jeweils passenden Märchenerzählung. Das geschieht praktisch durch die Passung von Analysematerial und Märchenmotiven sowie durch den Vergleich verschiedener Analysen über das gemeinsame (Märchen-)Muster (Fitzek 2008, S. 353–361). Im Fall der Gegenwartskultur kommen für dieses Verfahren die Märchen vom „Tischlein deck dich – Esel streck dich – Knüppel aus dem Sack“, „Rapunzel“ und „Krautesel“ in Frage. So geht es im Rapunzel-Märchen nach Salber (1999, S. 110–112), unbesehen der dabei verfolgten Figuren, Motive und Intentionen, um eine unstillbare Gier nach Unerreichbarem und die damit erkauften („bösen“) Blicke der Umgebung. Alles drängt aus dem Salatbeet des täglichen Einerleis hinaus in den Turm der schönen An- und Aussichten. Das geht aber nur solange gut, wie Lug und Trug, List und Tücke uns mit den Grundbedürfnissen des Lebens versorgen, und scheitert, wenn Konsequenzen unübersehbar werden (in der Urversion wird das schöne Kind schwanger). Rapunzel steht morphologisch für die unstillbaren Träume (und „Schäume“), die sich in der Gegenwartskultur über dem als grau erlebten Alltag auftürmen, für den Reiz des schönen Scheins, einer Freiheit, die Alles-Werden-Können verspricht und (häufig) mit Rat- und Perspektivenlosigkeit endet. Wie alle Märchen zeigt auch Rapunzel eine andere Seite (Nebenbild), die einen Ausweg – vergleichbar der oben angesprochenen Gegenläufe in den
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TV-Dramen – im konsequenten (aber gleichsam „behinderten“) Durchmachen und Durchleiden von Durststrecken („Wüsteneien“) weist. Gerade die Typisierungsleistung der vierten Version gewinnt durch die Märchenanalyse ein Instrument für eine externe Validierung (Fitzek 2008, S. 355). In symbolischer Art stellen Märchenhandlungen oder -figuren unterschiedliche Varianten des Umgangs mit dem zentralen Konstruktionsproblem (Verwandlungsmuster) der untersuchten Wirkungseinheit dar. Das wären vom Hauptbild unserer Medienanalyse her beispielsweise bei Desperate Housewives die Rapunzel-„Türme“ der Wisteria Lane, im Nebenbild die „blinden“ Jagden eines Jack Bauer in 24 und die „behinderten“ Visionen eines Dr. House. 2. Sicherung über die gegenständliche Relevanz des Forschens (Fitzek 2008, S. 361–366): Neben der Überprüfung durch das Außenkriterium von Narrationen ergibt sich eine zweite Validierungsleistung aus der subjektwissenschaftlichen Forschungslogik morphologischer Analysen. Wie erwähnt, geht die Morphologie methodologisch nicht von der Unterscheidbarkeit des Begründungs- und Entdeckungszusammenhangs der Forschung aus. Wie bei Goethe wird das Forschen als Ausdruck und Fortsetzung des Forschungsgegenstandes gesehen. Georges Devereux (1975 [1967]) hat dieses Methodenkriterium erstmalig ausdrücklich in einer psychologischen Methodologie berücksichtigt und gefolgert, dass die Gegenständlichkeit des Forschungsprozesses – aufgrund der damit verbundenen „Angst“ und „Scham“ seitens der Forschenden – nicht etwa überwunden werden muss (und auch gar nicht überwunden werden kann). Die Spiegelung von Gegenstandsmomenten im Forschungsprozess kann vielmehr genutzt werden, um Lücken im Aufschluss über die psychologischen Kennzeichen des Forschungsgegenstandes zu ergänzen (Fitzek 2005). Die gegenständliche Relevanz des Forschens haben unsere Studierenden durch die Reflexion auf die psychologische Eigenart der Forschungsverläufe erfahren, die immer auch Ausdruck der gegenständlichen Qualitäten waren. Insbesondere konnten die Eigenarten der Gruppenarbeit in einem abschließenden methodischen Schritt sehr klar als Hineingeraten in die spezifische „Logik“ der Serien verstanden werden: „Pubertäres“ (Grey’s Anatomy), „Kreiseln“ (Desperate Housewives), „Geheimnistuerei“ (24) und „Detektivisches“ (Dr. House).
4
Ausblick: Stand und Perspektiven
Angesichts der breit gefächerten Anwendungen bildet das Konzept der „naturgemäßen Methode“ und seine Umsetzung in die Analysepraxis der vier Versionen das Rückgrat aller morphologischen Untersuchungen. Es befähigt morphologisch aus-
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gebildete Forschende zu einem unmittelbaren (beschreibenden) Zugang zur psychologischen Wirklichkeit und zu einer „entschieden psychologischen“ Haltung jeder erdenklichen Sachfrage gegenüber (Blothner und Endres 1993; Fitzek und Schulte 1993). Mit der Nähe zum erlebten und gelebten Alltag treffen die morphologischen Beschreibungen nicht immer die Sympathie, aber doch zumindest vielfach das Interesse von Auftraggebenden und Öffentlichkeit. Die Kritik an den Zwängen der (natur-)wissenschaftlichen Methodologie erscheint nachvollziehbar, der Wegfall von Standardisierungen und Formalisierungen zugunsten anschaulicher Beschreibungen und hintergründiger Konstruktionen erfrischend. Das Vorgehen bleibt dem Gegenstand durchgängig angepasst und erhält sein konkretes methodisches Profil (gegenstandsangemessen) im Verlauf der jeweiligen Untersuchung. Standardisierte Abläufe reduzieren sich in der Datenerhebung wie in der Datenauswertung auf die Permanenz der vier Versionen. Das eröffnet Entwicklungsspielräume für die Ausgestaltung des Forschungsgeschehens, erschwert andererseits aber den Vergleich morphologischer Untersuchungen untereinander. Ein unmittelbarer Einblick in das morphologische Forschungsgeschehen ist methodologisch ohnehin nicht ohne Einübung in die Gegenständlichkeit der jeweiligen Untersuchung und ohne das Vertraut-Werden mit den Tätigkeiten von Beschreibung und Rekonstruktion zu gewinnen. Hinter solchen pragmatischen Zugangsproblemen verbirgt sich eine eher grundsätzliche Zumutung jeder hermeneutischen Methode: Aufgrund des Übergangscharakters morphologischer Analysen zwischen Abbildung und Rekonstruktion sind die in der klassischen Wissenschaftstheorie geforderte Trennung von Datenerhebung und Datenauswertung, externe Überprüfbarkeit, Formalisierbarkeit der Operationen und die Orientierung an szientistischen Gütekriterien nur begrenzt applizierbar. Bei aller nötigen Vereinheitlichung sperrt sich die Methode gegen Universalien und bleibt, wie dargestellt, bezogen auf die Repräsentation der psychologischen Eigenart spezifischer Gegenstände in ihrer methodischen Behandlung („gegenständliche Relevanz“). Die Diskussion der methodologischen Position der Morphologie macht somit nur Sinn, wenn der naturwissenschaftlich-nomothetische Methodenstatus der Psychologie ausgesetzt wird. Sie bezieht mit dem Anschluss an die Konzepte Diltheys, Freuds und der Gestaltpsychologie selbst in der (offenen) Diskussion der qualitativen Forschung eine exponierte Position. Kerngedanke der morphologischen Methodologie ist die These, dass die Einordnung kulturwissenschaftlicher Methoden als „Kunstverfahren“ nicht ein (behebbarer) Mangel, sondern das wesentliche Erkennungszeichen einer „entschieden psychologischen“, d. h. kulturwissenschaftlich fundierten, qualitativen, auch tiefenpsychologischen Methodologie darstellt (Blothner und Endres 1993; Fitzek 2008, S. 410–421). Konsequenterweise ist die Erforschung der Wirkung von Kunstwerken und ihres Einsatz in Selbsterfahrung und Beratung ein aktueller Schwerpunkt der morphologischen Beschreibung (Fitzek 2015a). In der morphologischen Methode wird die wissenschaftliche Modellierung von Wirklichkeit selbst als Gestaltungsprozess definiert („Gegenstandsbildung“), dessen Abläufe nicht linear, Schritt für Schritt, aber doch vollständig und konsequent
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durchlaufen werden müssen, um den Ansprüchen wissenschaftlicher Methodik zu entsprechen. Neuerdings gibt es in der qualitativen Methodendiskussion Anzeichen dafür, dass die Entscheidung, Wissenschaft und Kunst als gegenläufige Zugänge zur Darstellung von Wirklichkeit auseinanderzuhalten, von ähnlichen Gedankengängen her neu aufgerollt und revidiert wird (zu einer subjekt- bzw. kulturwissenschaftlichen Psychologie s. bereits Allesch 2000; Bergold und Breuer 1987).
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Auswertung von Zeichnungen Elfriede Billmann-Mahecha und Heike Drexler
Inhalt 1 Entstehungsgeschichte, historische Relevanz und (sub-)disziplinäre Einordnung zeichnerischer Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen zu visuellen Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Zur Interpretation von Kinderzeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Zentrale Diskussionen zur Interpretation von Zeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Zur Interpretation von (Kinder-)Zeichnungen gibt es bisher nur wenige methodische Vorschläge. Vor dem Hintergrund qualitativer Forschung wird daher eine interpretative Annäherung vorgeschlagen, die v. a. auf die Einbeziehung von Kontextinformationen abhebt: angefangen bei Informationen zur zeichnerischen Entwicklung bis hin zur Berücksichtigung kultureller, sozialer und situationaler Kontexte. Unabhängig von der Interpretationsmethodik wird die Analyse von Zeichnungen durch zugrunde liegende Interpretationsziele und zentrale Forschungsfragen bestimmt, weshalb Ziele der Produktionsästhetik, der Werksästhetik und der Rezeptionsästhetik unterschieden werden. Schlüsselwörter
(Kinder-)Zeichnungen · Interpretation · Methodik · Kontextualität · Interpretationsziele
E. Billmann-Mahecha (*) · H. Drexler Institut für Psychologie, Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_53
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E. Billmann-Mahecha und H. Drexler
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Entstehungsgeschichte, historische Relevanz und (sub-)disziplinäre Einordnung zeichnerischer Dokumente
1.1
Zeichnungen als Teil der frühesten Kulturdokumente des Menschen
Zeichnungen gehören zu den ältesten kulturellen Dokumenten. Die bis heute entdeckten, frühesten bildhaften Darstellungen in Form von Felszeichnungen und Höhlenmalereien werden auf ein Alter von etwa 32.000 Jahren geschätzt (zu Techniken der Datierung, s. Hallier 2007). Lange zuvor aber wurde bereits in Knochen und Steine geritzt, ohne dass wir genau wissen, welche Funktion diese ersten „Zeichen“ gehabt haben könnten. Mit der Auswertung der frühen kulturellen Dokumente befassen sich Prähistoriker/innen und Kulturanthropolog/innen auf der Basis ihres Wissens über das Leben und die Kultformen der damaligen Menschen. Umgekehrt dienen die erhaltenen Zeichnungen dem Aufschluss über das Leben in einem bestimmten Zeitraum und an einem bestimmten Ort. Die Enträtselung prähistorischer Bilddokumente kann als ein hermeneutischer Zirkel zwischen den Zeichnungen und den Informationen zum kulturellen Hintergrund der Entstehungszeit aufgefasst werden, der zu immer neuen kulturgeschichtlichen Aufschlüssen führt (für Beispiele s. z. B. Haarmann 1990). In der Psychologie beschäftigt sich vor allem die Jung´sche Schule mit diesen frühesten Zeugnissen bildnerischen Schaffens. Entsprechend der zugrunde liegenden Jung´schen Theorie identifiziert sie in ihnen die ersten manifesten Ausdrucksformen zeitloser, archetypischer Symbolik, die auch das heutige künstlerische Schaffen trotz aller Wandlungen mit präge (z. B. Jaffé 1968). Die akademische Psychologie schenkt demgegenüber – mit Ausnahme weniger kunstpsychologischer Arbeiten – bislang nur am Rande der Auswertung von Zeichnungen Aufmerksamkeit, bedient sich aber dieses Mediums, z. B. zu illustrativen Zwecken oder auch, um komplexe theoretische oder empirische Modelle zu visualisieren. Wissenschaftlich umstritten ist die Anwendung von Zeichentests in der psychologischen Diagnostik und Therapie, weil die üblichen Testgütekriterien sehr zu wünschen übrig lassen (z. B. Cox 2005; eher moderat äußert sich Wichelhaus 2008; zur Geschichte s. Sehringer 2005a). Eine lange, interdisziplinär geprägte Tradition weist die Befassung speziell mit Kinderzeichnungen auf. Deshalb wird die Auswertung von Kinderzeichnungen in exemplarischer Absicht einen vergleichsweisen breiten Raum in diesem Beitrag einnehmen (s. a. BillmannMahecha 2005). Innerhalb der qualitativen Forschung erhält die Auswertung visuellen Materials erst seit Kurzem verstärkt Aufmerksamkeit. Im Mittelpunkt steht dabei die Auswertung von Foto- und Videomaterial. Auch wenn es Überschneidungen gibt, wird zu zeigen sein, dass die Auswertung von Zeichnungen, insbesondere solche von Laien und Kindern, zum Teil einer eigenen Zugangsweise bedarf.
Auswertung von Zeichnungen
1.2
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Zur Geschichte der wissenschaftlichen Befassung mit Kinderzeichnungen
Der Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Kinderzeichnungen wird vielfach in den Untersuchungen des italienischen Kunsthistorikers Corrado Ricci gesehen („L’arte dei bambini“, 1906 [1887]). Er hat mit seinem Bildmaterial eine Reihe von Phänomenen beschrieben, die heute noch Gültigkeit besitzen, z. B. die ersten Menschdarstellungen als Kopffüßler. Eine erste psychologische Gesamtdarstellung zur Kinderzeichnung wurde von James Sully (1897 [1895]) in seinem Buch „Studies of Childhood“ vorgenommen. Anfang des 20. Jahrhunderts entstand eine Fülle von Arbeiten zur Kinderzeichnung; etliche Forscher/innen legten umfangreiche, internationale Sammlungen an (z. B. Karl Lamprecht am kunsthistorischen Seminar in Leipzig). 1905 erschienen zwei große Tafelwerke, eines von Siegfried Levinstein, Doktorand bei Lamprecht, und ein zweites von dem Münchner Pädagogen Georg Kerschensteiner. Das große Interesse an Kinderzeichnungen zu jener Zeit ist zum einen im Kontext der „Kunsterziehungsbewegung“ zu sehen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nahm und insbesondere durch die Arbeiten von Alfred Lichtwark (1966 [1901]) und Gustav Hartlaub (1930 [1922]) geprägt war. Die Kunsterziehungsbewegung gilt als Versuch, der bis dahin vernachlässigten ästhetischen Erziehung die gleiche Bedeutung wie der moralischen und intellektuellen Erziehung beizumessen. Zum anderen steht das Interesse an Kinderzeichnungen im Kontext des allgemeinen Höhepunktes der Kinderforschung um die Jahrhundertwende. In der Psychologie sind für die Anfangsjahre insbesondere die Arbeiten von David Katz (1906), Clara und William Stern (1910) sowie Karl Bühler (1918) zu nennen. Durch genaue Beobachtungen des Zeichenprozesses und durch Bezugnahme auf die allgemeine kindliche Entwicklung wollten sie die bis dahin beschriebenen Besonderheiten von Kinderzeichnungen, wie z. B. Kopffüßler, falsche Rechtwinkligkeit und Röntgenbilder, psychologisch erklären. Pädagog/innen und Psycholog/innen haben in der Anfangszeit der Erforschung der Kinderzeichnung häufig aufeinander Bezug genommen. So arbeitete zum Beispiel der französische Kunstpädagoge Luquet ab 1913 eine Stufenfolge zeichnerischer Entwicklung aus (Luquet 1913, 1927), die später Piaget und Inhelder (1971 [1948]) als Grundlage für ihre Analyse des räumlichen Denkens diente. Die von Luquet (1923) und anderen behauptete Parallelität zwischen prähistorischen Zeichnungen und Kinderzeichnungen kann allerdings nicht aufrechterhalten werden (Cox 2005, S. 162–166). In der kinderpsychologischen Praxis dienten Kinderzeichnungen schon bald als diagnostisches Hilfsmittel zum Verstehen kindlicher Problemlagen und Befindlichkeiten. Hierfür wurden zum einen teilstandardisierte zeichnerische Verfahren entwickelt (für einen Überblick s. Sehringer 1999), z. B. der Test „Familie in Tieren“ zur Erfassung der Familiensituation (Brem-Gräser 2014 [1957]), zum anderen freie Kinderzeichnungen meist tiefenpsychologisch interpretiert (s. Abschn. 3.4). In der therapeutischen Praxis wiederum werden Malen und Zeichnen wie andere spielerische oder künstlerische Verfahren zur Unterstützung therapeutischer Prozesse eingesetzt (für einen Überblick z. B. Franzen 2009; Schuster 2003).
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E. Billmann-Mahecha und H. Drexler
2
Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen zu visuellen Daten
2.1
Zeichnungen als Teilbereich visueller Daten
Wenn davon die Rede ist, dass sich die qualitative Forschung zunehmend auch der Auswertung visueller Daten widme, so stellt sich die Frage, was visuelle Daten sind. Elaborierte Auswertungsvorschläge liegen insbesondere für Foto- und Film- bzw. Videomaterialien vor, die wiederum v. a. Personen und Szenen mit menschlichen Interaktionen zum Gegenstand haben (z. B. Bohnsack 2011; Marotzki und Niesyto 2006; speziell zur tiefenhermeneutischen Methodik s. König 2001). Weitere visuelle Materialien, die Gegenstand qualitativer Analyse sein können, sind etwa Malerei, Skulpturen, Bauwerke und vieles mehr (z. B. die klassische psychoanalytische Interpretation des Moses von Michelangelo von Freud 1982 [1914]). Zeichnungen erscheinen in ihrer Zweidimensionalität und Bildhaftigkeit zwar ähnlich wie Fotos, aber es gibt für die Interpretation nicht unbedeutende Unterschiede: 1. Sie entstehen nicht „in einem Schuss“, sondern in einem längeren Prozess. Zwar sind auch Fotos häufig geplant und langwierig „gestellt“, aber das Bilddokument als solches entsteht letztlich in einem Augenblick. 2. Bildgegenstände eines Fotos werden auf- bzw. ausgesucht und ggf. arrangiert, während sie bei Zeichnungen gleichzeitig mit dem Bilddokument erst geschaffen werden. Zwar gibt es in der professionellen Malerei die Stilrichtung des Fotorealismus und entsprechende Versuche von Laien, das ändert aber nichts daran, dass die Abbildung in einer komplexen Handlungskette (hierzu bereits Meumann 1914, S. 392–398) hergestellt wird, die sich als solche wesentlich vom Fotografieren unterscheidet. Die Herausforderung, beim Zeichnen dreidimensionale Vorlagen oder mentale Vorstellungsgehalte auf ein zweidimensionales Blatt zu bringen, wurde insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung der Kinderzeichnung untersucht. Die von Schuster (2000) aus kognitiver Perspektive vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Gegenstandswissen, Abbildungswissen und Ausführungswissen ist auch für die Analyse von Zeichnungen erwachsener Laien von Bedeutung, weil nicht unbesehen von einer eventuell unbeholfenen grafischen Realisierung (z. B. hinsichtlich Perspektive, Raumaufteilung) auf zugrunde liegende kognitive oder emotionale Gehalte geschlossen werden kann. Obwohl also Zeichnungen prinzipiell von anderem Produktionscharakter als Fotos sind, ist auch Zeichnung nicht gleich Zeichnung. Erstens sind die Grenzen zur Malerei auf der einen und zur (Computer-)Grafik bis hin zu Graffiti auf der anderen Seite fließend. Zweitens ist zu unterscheiden, für welchen Zweck eine Zeichnung angefertigt wurde, ob von Professionellen oder von Laien und ob frei Hand oder mit Computerunterstützung, bei der man sich fertiger Zeichenelemente und -modi bedienen kann. Professionelle Zeichnungen werden zum Beispiel erstellt: • in künstlerischer, kultureller oder anderer gestaltender Absicht, wie z. B. Werke bildender Kunst, Buchillustrationen oder Karikaturen;
Auswertung von Zeichnungen
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• in wissenschaftlichen oder didaktischen Arbeitszusammenhängen (auch computerunterstützt), wie z. B. Visualisierung wissenschaftlicher Modelle, Illustration von Lehrbüchern, Tafelbilder im Unterricht, Erstellung von Bauplänen in der Architektur oder im Ingenieurwesen; • in alltagspraktischer Absicht (auch computerunterstützt), wie z. B. visualisierte Bastelanleitungen, Möbel-Aufbauanleitungen oder Hinweisschilder mit Bildsymbolen (Piktogramme). Zeichnungen von Laien und Kindern werden zum Beispiel erstellt: • zur „Ablenkung“, wie z. B. Telefonkritzeleien oder Kritzeleien auf Seminarunterlagen; • im Rahmen von Freizeitgestaltung, wie z. B. Laienkunst oder freie Kinderzeichnungen; • in Schule und Ausbildung, wie z. B. im Kunst-, Biologie- oder Geografieunterricht; • in alltagspraktischer Absicht (teilweise verbunden mit Text), wie z. B. Mindmaps oder Wegbeschreibungs-Zeichnungen. Für die Interpretation ist deshalb in einem ersten Schritt unerlässlich zu klären, um welchen Typ von Zeichnung es sich handelt und von wem sie zu welchem Zweck angefertigt wurde. So kann allein die „Gattung bildliche Unterweisung“ (Gombrich 1989) wiederum in vielfältige Teilbereiche mit je eigenen Problemstellungen aufgeteilt werden. Ähnliches gilt für alle anderen hier genannten Typen von Zeichnungen.
2.2
Auswertung von Zeichnungen: Interpretationsziele und mögliche Forschungsfragen
Wie man Zeichnungen auswertet, hängt ganz wesentlich von den Interpretationszielen ab, die verfolgt werden. Nicht bei allen Forschungsfragen ist es Ziel, latente Sinnstrukturen oder Orientierungsmuster zu entschlüsseln, auch wenn das ein zentrales Ziel qualitativer Sozialforschung ist. In Anlehnung an Umberto Ecos Unterscheidung zwischen intentio auctoris, intentio operis und intentio lectoris (Eco 2004 [1990], S. 35–39) und die in der Literaturwissenschaft diskutierten Unterschiede zwischen Produktionsästhetik, Werkästhetik und Rezeptionsästhetik (z. B. Breuer 1997) können auch verschiedene Ziele der Interpretation von Zeichnungen differenziert werden, die mit unterschiedlichen Forschungsfragen einhergehen. Als Interpretationsziele werden dabei 1. die von den Zeichnenden bewusst oder unbewusst intendierten Sinngehalte (intentio auctoris), 2. Zeichnungen als Repräsentanten einer bestimmten (Sub-)Kultur (intentio operis) und 3. die von den Betrachtenden zugeschriebenen ästhetischen Qualitäten und Sinngehalte (intentio lectoris) unterschieden. Auch wenn es selbstverständlich erscheinen mag, so muss aufgrund manch abenteuerlich anmutender Interpretation von Zeichnungen, die wir gelegentlich in der Literatur finden, darauf verwiesen werden, dass vom Eindruck der Betrachtenden, die sich auf je eigene alltagskulturelle oder theoretische Signifikationssysteme
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beziehen, nicht unmittelbar auf die Intentionen der Zeichnenden geschlossen werden kann. Deshalb sind auch Symbol- und Metapherndeutungen im ersten Schritt immer rezeptionsästhetischer Natur. Rezipient/innen können zum Beispiel in Zeichnungen Symbole „erkennen“, die mit dem bewusst oder auch unbewusst intendierten Sinngehalt der oder des Zeichnenden nichts zu tun haben müssen. Auf entsprechende Gefahren – wenn von der Rezeption unbesehen auf die (latente) Intention der Produktion geschlossen wird – hat z. B. DiLeo (1992) anhand von klinischen Fallbeispielen aufmerksam gemacht. Umgekehrt kann nicht selbstverständlich unterstellt werden, dass im Produktionsprozess intendierte Symbolisierungen oder auf Werkebene in einem bestimmten kulturellen Referenzsystem dargestellte Symbole von den Rezipierenden auch so „gesehen“ und verstanden werden (s. Abschn. 3.4). Dies ist auch von alltagspraktischem Interesse zum Beispiel bei der Frage, wie Laien gezeichnete Hinweise verstehen (visuelle Bastel- und Bauanleitungen, Hinweisschilder, die sich vermeintlich allgemein verständlicher Symbole bedienen etc.). Auf der Basis der Unterscheidung zwischen Produktions-, Werk- und Rezeptionsästhetik werden im Folgenden einige wichtige psychologische Fragestellungen zur Analyse von Zeichnungen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – aufgeführt. In konkreten Forschungsprojekten sind selbstverständlich Kombinationen dieser Fragestellungen zu finden. Interpretationsziel Produktionsästhetik: • Analysen der Zusammenhänge zwischen kognitiven Schemata, grafomotorischen Kompetenzen und zeichnerischem Ausdruck (für Kinderzeichnungen z. B. Sommers 1984; für den Vergleich zwischen Erwachsenen und Kindern bereits Meumann 1914; für eine kognitionswissenschaftlich orientierte, computerunterstützte Analyse von Freihandzeichnungen von Architekt/innen s. Pasternak 1993); • Analysen komplexer mentaler Vorstellungsgehalte mithilfe von Zeichnungen zu bestimmten Themenbereichen („thematisches Zeichnen“), wie z. B. Analysen kindlicher Vorstellungen vom Träumen (ein Fallbeispiel findet sich bereits bei Piaget 1980, S. 97–99; s. auch Billmann-Mahecha 2005, S. 446–448), kindlicher Vorstellungen vom Tod (z. B. Bürgin 1981) oder kindlicher Wünsche zur Gestaltung der eigenen Schule (Kuhn 2003); • Analysen von emotionalen Befindlichkeiten und subjektiven Bewertungen (z. B. Kearney und Hyle 2004, die u. a. mithilfe von Zeichnungen das Befinden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nach tief greifenden strukturellen Veränderungen der Arbeitsorganisation untersucht haben); • Zeichenprozessanalysen (für Kinderzeichnungen bereits Clara und William Stern 1910; für entsprechende Analysen mit Hilfe der Videografie z. B. Koeppe-Lokai 1996); • Analysen im Rahmen der psychologischen Diagnostik – im klinischen Anwendungsfeld oder zur „Messung“ der Kreativität – mithilfe teilstandardisierter Zeichentests (Sehringer 1999) oder auf der Basis freier Zeichnungen (für eine tiefenpsychologische Interpretation z. B. Holderegger 2007); • Analysen von zeichnerischen Begabungen (z. B. Schulz 2007);
Auswertung von Zeichnungen
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• Analysen von Klient/innenzeichnungen, um den Fortgang therapeutischer Prozesse einzuschätzen (z. B. Herzka Bollinger 2008; Wichelhaus 2008). Interpretationsziel Werkästhetik: • Vergleichende Analysen von Zeichnungen v. a. im Hinblick auf Formmerkmale zur Erstellung oder Überprüfung von Entwicklungstypiken, wie wir sie in den Phasenmodellen zur zeichnerischen Entwicklung finden (dazu Abschn. 3); • vergleichende Analysen von Zeichnungen im Hinblick auf Stil- und Formmerkmale sowie der dargestellten Inhalte, um Fragen nach der Historizität und Kulturalität von Zeichnungen zu untersuchen (ebenfalls Abschn. 3); • vergleichende Analysen von Zeichnungen in kinder- und jugendkulturellen Studien (z. B. Keul 1991, der Zukunftsvorstellungen österreichischer Kinder und Jugendlicher u. a. anhand von Zeichnungen zum Thema „Wohnen in der Zukunft“ analysiert hat); • vergleichende Analysen von Zeichnungen, um die Verarbeitung kollektiver Traumata in Bildern zu untersuchen (z. B. Schultz 1992). Interpretationsziel Rezeptionsästhetik: • Analysen zur Entwicklung des ästhetischen Urteils (in Bezug auf die Ontogenese, s. Parsons 1987; in Bezug auf die Aktualgenese bei Erwachsenen s. Leder et al. 2004); • vergleichende Analysen der Interpretationen von Zeichnungen durch Vertreter/ innen verschiedener Herkunftskulturen (z. B. untersuchten Schwarzer et al. (2011), wie afrikanische und deutsche Interpret/innen afrikanische und deutsche Kinderzeichnungen beurteilen); • Analysen der Prozesse des Verstehens von Zeichnungen, die in didaktischer Absicht erstellt wurden etc.
3
Zur Interpretation von Kinderzeichnungen
Bis heute gibt es nur wenige methodische Vorschläge, wie man Kinderzeichnungen interpretieren kann (für die kinderpsychologische Praxis s. Seidel 2007; für die Diagnostik von Gefühlen s. Sehringer 2005b). Die Folge ist, dass auf diesem Gebiet zum Teil „Wildwuchs“ herrscht, der in praktischen Anwendungsfällen bis zum Missbrauch von Kinderzeichnungen gehen kann. Die aktuelle Ratgeber- und Sachbuchliteratur ist voll mit Rezepten, wie man die „geheime Sprache“ der Kinder in ihren Zeichnungen verstehen kann. Da lesen wir dann ohne jegliche theoretische oder methodologische Begründung – um ein beliebig herausgegriffenes Beispiel zu zitieren –, dass ein langer Hals bei Menschdarstellungen „Wissbegierde und Forschergeist“ ausdrücke und dass das Kind, das die abgebildete Zeichnung verfertigt hat, eine eindeutige Neigung habe, „‚abzuheben‘ und den Boden der Tatsachen zu verlassen“ (Crotti und Magni 1999, S. 86). Angesichts eines solchen Umgangs mit
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Kinderzeichnungen scheint es geraten, dass sich die qualitative Forschung stärker mit der Frage befasst, wie Kinderzeichnungen methodisch kontrolliert interpretiert werden können. Vor dem Hintergrund dieser Problemlage wird hier – anders als in der objektiven Hermeneutik (in Bezug auf Kinderzeichnungen s. Scheid 2013) – eine interpretative Annäherung vorgeschlagen, die v. a. auf die Kontextualität von Kinderzeichnungen abhebt. Gemeint sind hiermit Entwicklungskontexte, situative Entstehungskontexte sowie familiäre und (sub-)kulturelle Lebenskontexte, deren Einbezug oder Vernachlässigung sich je nach Interpretationsziel auf die Reichweite der Interpretationshypothesen und deren Validierungsmöglichkeiten auswirkt.
3.1
Notwendiges Basis-Kontextwissen zur Auswertung von Kinderzeichnungen
3.1.1 Die zeichnerische Entwicklung Zur Entwicklung und zu den Besonderheiten des kindlichen Zeichnens gibt es inzwischen eine Fülle von Untersuchungen (für einen umfassenden Überblick s. die Standardwerke von Cox 2005; Golomb 1992; Richter 1987; Schuster 2000) und mehrere Phasenmodelle. Diese Phasenlehren weisen – auch wenn sie mit unterschiedlichen Begriffen arbeiten und in den Altersangaben schwanken – große Ähnlichkeiten auf. Schuster (2000, S. 15–47) beschreibt die Entwicklung in drei großen Phasen: Kritzelphase, in der vor allem das Hinterlassen von (Bewegungs-) Spuren im Vordergrund steht, Schemaphase, in der die Kinder Malschemata, d. h. vereinfachte Darstellungsweisen entwickeln und Versuche der visuell-realistischen Darstellung, in denen Kinder die Abbildungskonventionen ihrer Kultur zu übernehmen versuchen und dabei je nach Zeichenfähigkeit an Grenzen stoßen. Solche Phasenmodelle können aber nur eine erste Orientierung geben, weil sich Kinder unterschiedlich entwickeln und es zudem auch individuelle Stile in Kinderzeichnungen gibt, die oft sehr lange beibehalten werden. Zweifel an den in der Entwicklungspsychologie allgemein anerkannten Phasenbeschreibungen äußern z. B. Richter (1987) und Cox (2005). Vor diesem Hintergrund sind Kenntnisse über historische, (sub-)kulturelle, soziale und situationale Einflüsse auf Kinderzeichnungen unerlässlich. 3.1.2
Zeitgeschichtliche, kulturelle, soziale und situationale Einflüsse auf Kinderzeichnungen Dass sich Kinderzeichnungen im historischen Verlauf inhaltlich verändern, lässt sich z. B. mit einem Blick auf die von Ricci (1906 [1887]) publizierten Kinderbilder leicht erkennen. So finden wir heute kaum noch Hut und Pfeife, um eine Figur als männlich zu kennzeichnen. Inwieweit sich auch strukturelle Unterschiede im historischen Verlauf zeigen, kann schwerer beurteilt werden, weil es kaum weiter zurückliegende Dokumente gibt. Zu vermuten ist aber, dass bei der zeichnerischen Entwicklung – ebenso wie bei der musikalischen – die Gelegenheit zum Tun und das zur
Auswertung von Zeichnungen
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Verfügung stehende Material eine wichtige Rolle spielen. Gerade auf diesem Gebiet haben sich im letzten Jahrhundert beträchtliche Veränderungen ergeben. Die Frage nach Zusammenhängen zwischen Kinderzeichnung und Kultur wurde schon von Levinstein (1905) und Kerschensteiner (1905) angeschnitten, allerdings ohne empirische Untersuchungen dazu vorlegen zu können. Kerschensteiner etwa vermutete, dass ein Kind, das in einer fremden Kultur aufwächst, ganz im Stile des Gastlandes zeichnen würde. Inzwischen liegen solche Untersuchungen vor, z. B. von Meili-Dworetzki (1981, 1982) zu japanischen und türkischen im Vergleich zu schweizerischen Kindern, von Schütz (1999) zu Kindern auf Bali und Madagaskar sowie von Wolter (2007) und Rübeling et al. (2011) zum Vergleich afrikanischer mit deutschen Kindern. Alle diese Studien belegen kulturspezifische Besonderheiten in Kinderzeichnungen, die hier nicht im Einzelnen aufgeführt werden können. Insbesondere die sehr elaborierten Zeichnungen japanischer Kinder bestätigen die Skepsis gegenüber universalistisch formulierten Phasenmodellen. Meili-Dworetzki konnte darüber hinaus zeigen, inwiefern bei Migrantenkindern eine gewisse, wenn auch nicht vollständige Annäherung an die Zeichenkonventionen der neuen kulturellen Umgebung stattfindet (hierzu auch Balakrishnan 2014, die Zeichenmotive von in Deutschland lebenden Vorschulkindern mit und ohne Migrationshintergrund verglichen hat). Bei der Beurteilung gerade von länger zurückliegenden kulturvergleichenden und kultursensitiven Untersuchungen sind freilich die sich im historischen Verlauf verändernden Zeichenkonventionen in Rechnung zu stellen. Umso mehr kann ein Ignorieren kultureller und zeitgeschichtlicher Besonderheiten zu gravierenden Fehlinterpretationen führen. Die soziale Beeinflussung von Kinderzeichnungen wurde z. B. von Schuster und Jezek (1992) untersucht. Sie konnten zeigen, wie sich die Bilder von engen Freundinnen und Freunden in vielen Einzelaspekten ähneln und sich signifikant von beliebigen Mitschüler/innen unterscheiden. Schließlich sind noch situationale Einflüsse zu nennen, die in nicht unerheblichem Maße die Motivwahl und die Art der Ausführung beeinflussen.
3.2
Auswertung von Zeichnungen: Ein Interpretationsvorschlag
Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die in der neueren wissenschaftlichen Literatur zur Kinderzeichnung formulierten Möglichkeiten, Probleme und Grenzen der Interpretation zusammenzufassen, zu systematisieren und auf diese Weise methodisch handhabbar zu machen. Hierbei wird zwischen verschiedenen Bezugsebenen unterschieden, die als Hilfsmittel zu verstehen sind, um „einen Anfang zu machen“ und um sich im Interpretationsprozess Rechenschaft abzulegen über die Art und die Quelle der zur Verfügung stehenden Daten, auf die sich die Interpretationshypothesen stützen. Sinngemäß lassen sich die Bezugsebenen auch für die Interpretation von Zeichnungen erwachsener Laien nutzen. Vor allem wenn die Produktionsästhetik im Mittelpunkt steht, sind für die Interpretation einer Zeichnung Kontextinformationen unerlässlich: verbale Äußerungen des Kindes zu der Zeichnung, situative Entstehungskontexte, zu denen auch der
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Entstehungsprozess der Zeichnung gehören kann, und familiär-biografische Kontexte. Haben wir solche Informationen nicht oder nur sehr spärlich zur Verfügung (wie z. B. bei der Sammlung von Zeichnungen in Schulklassen), so verbietet es sich, weitreichende psychologische Aussagen über das einzelne Kind zu machen. Gelingt es, sich mit dem Kind ausführlich über den Sinngehalt der Zeichnung zu verständigen, so kann das in vielen Fällen für die Interpretation bereits ausreichen. Ist eine solche Verständigung hingegen nicht möglich oder ist es Ziel der Interpretation, auch dem Kind nicht bewusste Sinngehalte der Zeichnung zu erschließen, so können wir unsere Deutungen nur über eine kritische Bezugnahme auf weitere zur Verfügung stehende Kontextinformationen absichern. Dies gilt auch für Rückgriffe auf psychoanalytische Symbole, auf Raum- und Farbsymboliken, auf Bildmetaphern oder auf statistische Befunde zu bestimmten „Merkmalen“ in Kinderzeichnungen. Nachfolgend werden mögliche Bezugsebenen bei der Aufstellung und Absicherung von Interpretationshypothesen aufgelistet: (1) Das Bild selbst: Gemeint sind z. B. Analysen zum Gesamteindruck des Bildes, vergleichende Analysen mit anderen Zeichnungen desselben Kindes sowie Zeichnungen anderer Kinder, um beispielsweise formale und/oder ästhetische Aspekte, Veränderungen, Auffälligkeiten etc. zu erfassen. (2) Aussagen des Kindes: Berücksichtigt werden z. B. beiläufige Kommentare während und/oder Befragungen der oder des Zeichnenden nach der Bildentstehung, um Darstellungsabsichten, intendierte Sinngehalte, Umdeutungen etc. zu erfassen. (3) Situative Entstehungskontexte: Gemeint ist die Beobachtung des Zeichenprozesses (dokumentiert beispielsweise durch Videografie oder ein Gedächtnisprotokoll der Entstehungssituation), um über das Bild hinausgehende Bedeutungszusammenhänge situativer Art, wie etwa Beeinflussungen, Darstellungsschwierigkeiten, Materialverfügbarkeiten usw. zu verstehen. (4) Verschiedene familiär-biografische Kontexte: Berücksichtigt werden z. B. die Erfahrungswelt der oder des Zeichnenden, etwa im Kindergarten (z. B. typische lokale Darstellungskonventionen) oder in der Familie (beispielsweise Geschwisterbeziehung, TV-Konsum, Familienkonstellation etc.), um weiterreichende Bedeutungszusammenhänge individuell-biografischer Art zu verstehen. (5) Verschiedene soziokulturelle Kontexte: Gemeint ist die Berücksichtigung (sub-)kultureller und historischer Besonderheiten in Kinderzeichnungen, kultur-historisch gewachsener Symbol- und Metaphernverständnisse und/oder kinderkultureller Lebensformen, um überindividuelle Deutungen, Typologien etc. zu generieren.
3.3
Zwei Beispiele der Interpretation von Kinderzeichnungen
Anhand von zwei Beispielen wird – in der gebotenen Kürze – die Berücksichtigung und Anwendung der vorgeschlagenen Bezugsebenen im Hinblick auf verschiedene Interpretationsziele veranschaulicht. Beim ersten Beispiel handelt es sich um eine
Auswertung von Zeichnungen
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Abb. 1 Ein unangenehmes Erlebnis
am individuellen Kind ansetzende Interpretation (Produktionsästhetik), beim zweiten Beispiel um eine vergleichende Interpretation von Zeichnungen verschiedener Kinder (Werkästhetik).
3.3.1 Interpretationsbeispiel 1: Ein unangenehmes Erlebnis Der junge Zeichner dieses Bildes (siehe Abb. 1; aus Billmann-Mahecha 1994) ist dreieinhalb Jahre alt. Wir sehen drei sogenannte Kopffüßler, nicht untypisch für einen Dreijährigen. Aufgrund der Anordnung und Größenverhältnisse stellt sich der Eindruck ein, dass inhaltlich Vater, Mutter und Kind dargestellt sein könnten (das Kind in der Mitte). Diese ersten Deutungen bewegen sich auf der Ebene der Bildbeschreibung (Bezugsebene 1). Interessant an diesem Bild sind aber seine Entstehungsgeschichte und ein Kommentar des Kindes (Kontextinformationen auf den Bezugsebenen 2 und 3): Die Mutter fuhr mit ihrem Sohn zu einer Freundin. Da er fest schlief, ließ sie ihn im nicht abgeschlossenen Auto und schaute alle zehn Minuten nach ihm. Als der Junge aufwachte und sich alleine im Auto fand, stieg er aus und lief weinend ins Haus zu seiner Mutter. Nachdem er sich beruhigt hatte, zeichnete er dieses Bild, allerdings nur mit der oberen Linie des Mundes bei der Figur in der Mitte. Zwei Stunden später – er hatte sich nun vollständig beruhigt – nahm er sein Bild nochmals zur Hand und zeichnete die untere Linie hinein mit dem Kommentar „Jetzt lacht er wieder“. Die Entstehungsgeschichte des Bildes „erzählt“ uns also, wie sich der Junge erst traurig und dann wieder froh fühlte. Erkennen können wir das an dem fertigen Bild
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E. Billmann-Mahecha und H. Drexler
nicht. Wir benötigen hierfür die Information zum situativen Entstehungskontext und den Kommentar des Kindes. Erst aufgrund dieser Kontextinformation können wir den narrativen Charakter erschließen (zur narrativen und erlebnisverarbeitenden Funktion, die Kinderzeichnungen haben können, s. Richter 1987, S. 92–104; s. auch Drexler et al. 2012). Durch die Aussage und die nachträgliche Ergänzung des Bildes wissen wir auch, dass die Figur in der Mitte den Zeichner selbst darstellen soll. Ob die beiden größeren Figuren rechts und links tatsächlich, wie vermutet, Elternfiguren – eventuell sogar „schützende“ Elternfiguren – darstellen, kann nicht mit Sicherheit interpretiert werden. Diese „Lesart“ ließe sich erst mithilfe weiterer Kontextinformationen zu den familiären Bedingungen (Bezugsebene 4) erhärten oder zurückweisen (für weitere Beispiele zum Interpretationsziel der Produktionsästhetik s. auch Balakrishnan und Drexler 2014).
3.3.2
Interpretationsbeispiel 2: Kindliche Vorstellungen von Zahlen und Rechenoperationen Zum Entstehungskontext dieser Zeichnung (siehe Abb. 2) wissen wir Folgendes (Strehl 2002): Im Rahmen einer mathematikdidaktischen Lehrveranstaltung haben Studierende in ersten Klassen hospitiert und die Kinder gebeten, Bilder zu malen, und zwar zur Zahl 7, zur Zahl 0, zur Aufgabe 7 + 6 und zur Aufgabe 6 – 2. Die Zeichnungen wurden vergleichend unter der Fragestellung analysiert, welcher Zahlbegriff dem jeweils Dargestellten zugrunde liegt. Auf der hier ausgewählten Zeichnung erkennen wir einen schematisch gezeichneten Hasen von hinten, was inhaltlich zunächst nichts mit Zahlen zu tun hat (Bezugsebene 1). Mit der Kontextinformation, dass das Kind die Zahl 0 darstellen sollte (Bezugsebene 3) und dem geschriebenen Kommentar des Kindes (Bezugsebene 2) wird das Bild verständlich: Null ist, wenn erst etwas da ist und dann nicht mehr. Was heißt das nun für den Zahlbegriff? Strehl interpretiert unter Bezugnahme aller Zeichnungen zur Zahl Null: „Das Kind denkt an die Kardinalzahl 0. Die Null als Anfang einer Zählreihe oder als Anfang einer Skala kommt nicht in Betracht. Die leere Menge ist es, die sich nicht darstellen lässt. Darstellbar ist nur ein Vorgang, bei dem nichts bleibt, also 2 – 2 = 0. In Bezug auf eine solche Gleichung greifen die üblichen Möglichkeiten für die Darstellung einer Subtraktion: Zwei Blumen werden durchgestrichen. Ein Kind zeichnet einen Osterhasen und – wiederum norddeutsch – schreibt dazu ‚zorerst ein Osterhase – den höpft wech‘.“ (Strehl 2002, S. 6)
Mit Hinweis auf die Konvention des Wegstreichens, um das „Nichts“ darzustellen, interpretiert der Autor (Bezugsebene 5), dass Kinder, die diese Form der Darstellung wählen, wozu auch der weghüpfende Osterhase gehört, die Null als Kardinalzahl auffassen. Aus mathematikdidaktischer Sicht ist nach Strehl noch anzumerken, welche Darstellungsmöglichkeiten in den Zeichnungen der untersuchten Kinder nicht vorkommen: „das Weitergehen oder Zurückgehen auf dem Zahlenstrahl oder der Längenvergleich als Möglichkeit der Subtraktion“ (Strehl 2002, S. 5). An diesem Beispiel sehen wir, dass Zeichnungen wertvolle Hinweise auf Vorstellungsgehalte von Kindern (als Kollektiv auf der Basis von Werkanalysen) geben
Auswertung von Zeichnungen
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Abb. 2 „Die Zahl Null“
können. Ohne weitere Informationen stößt die Interpretation in Bezug auf das einzelne Kind allerdings an ihre Grenzen. Für weiterreichende mathematikdidaktische Überlegungen wiederum wären präzisere Kontextinformationen zum vorangegangenen Mathematikunterricht vonnöten.
3.4
Zeichentestverfahren und freie Zeichnungen als Diagnoseinstrument
Da Kinder mit Malsituationen in aller Regel vertraut sind und Malaufgaben aus ihrem Alltag kennen, liegen Zeichentests als diagnostische Verfahren auf den ersten Blick nahe. So mag z. B. die Testsituation dem Kind weniger offensichtlich erscheinen und damit weniger belastend oder beängstigend wirken als bei anderen Verfahren. Darüber hinaus können Kinder in ihren (freien) Zeichnungen, wie eben diskutiert, Vorstellungsgehalte, Weltwissen und Erfahrungen zum Ausdruck bringen, die sie womöglich rein sprachlich (noch) nicht formulieren wollen oder können. Werden Zeichentestverfahren als ergänzendes Instrument für einen Zugang zur kindlichen Erfahrungswelt und/oder als motivierende und anregende Gesprächsgrundlage genutzt, können sie sinnvoll und unterstützend sein. Werden sie hingegen weitestgehend ohne Berücksichtigung von Kontextfaktoren als diagnostisches In-
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E. Billmann-Mahecha und H. Drexler
strument zur Anamnese kindlicher Entwicklung eingesetzt und entsprechende Ergebnisse als Grundlage für therapeutische Maßnahmen verwendet, müssen methodische Grenzen kritisch diskutiert werden. Testgütekriterien sind bei Zeichentests in der Regel generell ungenügend (Sehringer 1999); darüber hinaus werden entscheidende Determinanten, wie z. B. aktuelle Motivationslagen, zeichnerische Fähigkeiten und Malerfahrungen, individuelle ästhetische Ansprüche und Darstellungsvorlieben, kulturell und historisch variierende Abbildungskonventionen und individuelles Symbolverständnis gar nicht oder nur ungenügend berücksichtigt. Gerade kindliches Metaphern- und Symbolverständnis muss mit dem alltagskulturellen Gebrauch der Rezipient/innen (selbst mit dem Gebrauch Gleichaltriger) nicht übereinstimmen und kann eben nicht unmittelbar produktionsästhetisch gedeutet werden. Malt beispielsweise ein Kind im Test „Familie in Tieren“ (Brem-Gräser 2014 [1957]) einen Hasen, kann das ganz unterschiedliche Gründe haben: Hase als Lieblingstier, Verfügbarkeit eines elaborierten Malschemas für Hasen, kürzliche Thematisierung (etwa im Kontext des Osterfestes) und sicher auch, wie vom Test intendiert, zugeschriebene Eigenschaften des Tieres – wobei sich aus der Zeichnung eben nicht unmittelbar erschließen lässt, um welche Eigenschaften es sich dabei handelt (z. B. schnell laufen vs. ängstlich sein). Um hier ein Beispiel anzuführen, werden im erwähnten – und sich mittlerweile in der elften Auflage befindenden – Test „Familie in Tieren“ (s. Brem-Gräser 2014 [1957]) nicht nur die angesprochenen Bezugsebenen bei der Interpretation der fertigen Zeichnung unzureichend berücksichtigt, sondern bemerkenswerterweise auch sozio-kulturelle Veränderungen seit den 1950er-Jahren nahezu vollständig außer Acht gelassen. Dies betrifft etwa veränderte Familienbeziehungen und Familienkonstellationen oder auch mögliche Veränderungen in der Zuschreibung tierischer „Eigenschaften“. In der Argumentationslinie dieses Beitrags würde eine bloße Überprüfung von historisch veränderlichen, alltagskulturellen Signifikanzsystemen zur Aktualisierung einer Art „Interpretationsschablone“ zwar nicht ausreichen, dennoch verwundert hier die fehlende Anpassung des Verfahrens (für eine kritische Betrachtung, s. Baumgärtl und Thomas-Langel 2014).
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Zentrale Diskussionen zur Interpretation von Zeichnungen
Der aktuelle Stellenwert der Analyse visuellen Materials wird in der qualitativen Forschung mit Verweis auf die zunehmend visuell geprägte Alltagspraxis begründet. Dabei wird immer wieder hervorgehoben, dass visuelles Material die interpretative Forschung insofern vor eine besondere Herausforderung stelle, als es sich nicht um Textdokumente im gewohnten Sinne handle, die mit bekannten texthermeneutischen Methoden sequenziell erschlossen werden können, sondern um visuelle Formen, die ihre Bestandteile nicht nacheinander, sondern gleichzeitig darbieten. Gegen die „Sprachlichkeit“ von Bildern argumentierte bereits Susanne Langer in ihrem 1942 erstmals erschienen, viel beachteten Werk „Philosophie auf neuem Wege“: „Der radikalste Unterschied ist der, daß visuelle Formen nicht diskursiv sind. Sie bieten ihre Bestandteile nicht nacheinander, sondern gleichzeitig dar“ (Langer 1984 [1942], S. 99). Für Zeichnungen gilt dies aber nur dann, wenn wir – wie insbesondere bei den
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prähistorischen Felszeichnungen oder bei Werken der bildenden Kunst – bereits fertige Zeichnungen auswerten. Heute können wir bei entsprechenden Fragestellungen den Zeichenprozess z. B. mithilfe von Videografien beobachten und auf diese Weise den Bildaufbau nachvollziehen. Dies gilt sowohl bei Freihandzeichnungen als auch – obwohl technisch etwas anspruchsvoller – bei computerunterstützten Zeichnungen. So werden Darstellungsabsichten, aber beispielsweise auch Schwierigkeiten bei der visuellen Umsetzung sichtbar, die sich – gerade bei Kindern – auch auf den finalen Bildinhalt auswirken können. Die an den kunstwissenschaftlichen Diskurs anschließende Frage, ob Bilder ähnlich wie Texte zu interpretieren seien oder eines eigenen, bildimmanenten Zugriffs bedürfen (Müller-Doohm 1995), wird derzeit v. a. in Bezug auf die Fotoanalyse diskutiert (für die verschiedenen Positionen s. den aufschlussreichen Band von Marotzki und Niesyto 2006). Während z. B. Bohnsack (2011, S. 13) dafür eintritt, der „Eigenlogik des Ikonischen“ gerecht zu werden und hierfür auf der Basis der dokumentarischen Methode unter Bezugnahme auf Panofsky und Imdahl ein dezidiertes Vorgehen begründet, argumentiert Niesyto (2006) u. a. mit Bezug auf Prosser (1998) sehr überzeugend für den Einbezug von Kontextwissen. Diese Position wird für die Auswertung von Zeichnungen auch hier vertreten. Positionen, die von der visuellen Eigenqualität eines Bildes ausgehen, postulieren ein Evidenzerleben im Deutungsprozess, das nicht vollständig in einen Text übertragen werden kann, und einen Sinnüberschuss im Bild, der z. B. über eigene assoziative Bilder in seiner Tiefendimension erschließbar wird. Hinzu kommt, dass bereits die Bildwahrnehmung als ein kognitiver Strukturierungsprozess und damit als eine erste Stufe der unmittelbaren Bilddeutung angesehen werden kann, die uns als solche gar nicht vollständig bewusst sein muss. Nun leugnen aber auch Vertreter/ innen, die die Sprachlichkeit von Bildern hervorheben, keineswegs kognitive Konstruktionsprozesse bei der Bildwahrnehmung und auch nicht die Möglichkeit von Evidenzerlebnissen. Der relevante methodologische Unterschied liegt vielmehr darin, dieses unmittelbare Erleben nicht als wissenschaftlich verhandelbare Deutungsarbeit anzusehen. Akzeptieren wir die Nicht-Diskursivität visueller Darstellungen und damit der primären Wahrnehmungsorganisation einerseits und die Notwendigkeit der Versprachlichung von Bilddeutungen in wissenschaftlicher Absicht andererseits, so sind die Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation von Zeichnungen markiert. Die wissenschaftliche Grenze ist dort erreicht, wo Bilddeutungen nicht mehr sprachlich begründbar sind. Alternative Bilddeutungen und damit die Möglichkeit der Kritik an vorgetragenen Deutungen ergeben sich nicht aus dem Bild an sich, sondern aus alternativen sprachlichen Formulierungen (alternative „Lesarten“) mit Bezug auf das Bild bzw. auf ausgewählte Bildelemente oder mit Bezug auf weiteres Kontextwissen. Wenn die Interpretation einer Zeichnung analog zu Prozessen der Textinterpretation aufgefasst wird, so impliziert das nicht, die Zeichnung selbst als Text aufzufassen. Vielmehr ist damit das methodische Ziel formuliert, Deutungen auf wissenschaftlich vermittelbare Grundlagen zu stellen. Etwas anderes ist es selbstverständlich, wenn Zeichnungen nicht in wissenschaftlicher, sondern in rein künstlerischer Absicht interpretiert werden, wie z. B. von Yeondoo Jung, der Kinderzeichnungen in Fotos „übersetzt“ hat (Jung 2012).
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Ausblick: Stand und Perspektiven
In diesem Beitrag sollten die methodischen Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Interpretation von (Kinder-)Zeichnungen aus der Perspektive der qualitativen Forschung aufgezeigt werden. Nicht eigens angesprochen wurden die Prinzipien qualitativer Forschung, von denen – je nach Fragestellung – insbesondere die Prinzipien Offenheit, Kommunikation, Prozessualität und Reflexivität selbstverständlich auch für Projekte, in denen Zeichnungen interpretiert werden, von Bedeutung sind. Da die Gefahr der „Überinterpretation“ gerade bei Bildmaterial, das ein „unmittelbares Evidenzerleben“ hervorrufen kann, groß ist, und die einschlägige Populärliteratur dem auch reichlich Vorschub leistet, ist es mehr denn je geboten, Interpretationshypothesen zu Zeichnungen durch eine umfassende Explikation der Deutungsarbeit zu begründen und die Reichweite der Interpretation offen zu legen. Für die psychologische Forschung besteht das Desiderat, Fragen der Bildhermeneutik theoretisch und methodisch stärker innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie zu vernetzen. Verbindungen zur Wahrnehmungspsychologie ergeben sich beispielsweise über die klassischen Arbeiten von Arnheim (2000), Verbindungen zur Sozialpsychologie über die Thematik der Kommunikation, da Bilder, Zeichnungen und anderes visuelles Material selbstverständlich auch kommunikativen Charakter haben (z. B. Schuster und Woschek 1989). Ähnliches gilt für die weiteren Teildisziplinen wie etwa die Psychotherapie (z. B. Mayer 2008). Wie die exemplarische Auflistung möglicher Forschungsfragestellungen in Abschn. 2.2 gezeigt hat, spielt die Auswertung von Zeichnungen potenziell in allen Teildisziplinen der Psychologie eine Rolle – bis hin zur Arbeits- und Organisationspsychologie (z. B. Nossiter und Biberman 1990). Leider stehen dabei aber Studien, die mit quantitativen Methoden arbeiten (z. B. Rübeling et al. 2011) bislang meist unverbunden neben solchen, die tiefenhermeneutische oder andere qualitative Methoden anwenden. Für die künftige Forschung könnte es sich als fruchtbar erweisen, bei komplexen Fragestellungen die qualitative Analyse von Zeichnungen nicht nur mit weiteren qualitativen Verfahren zu verbinden (wie z. B. Darbyshire et al. 2005 oder Kuhn 2003), sondern auch als Mixed-Methods-Designs (Teddlie und Tashakkori 2009; Schreier und Odağ 2010) anzulegen, also Forschungsdesigns, in denen bei der Auswertung von Zeichnungen qualitative und quantitative Auswertungsverfahren miteinander kombiniert werden.
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Auswertung von Zeichnungen
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Videoanalysen Carolin Demuth
Inhalt 1 Videoanalyse in der Psychologie – Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Qualitative Videoanalyse in der Psychologie – Theoretische und methodische Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Verfahren und Auswertungsschritte der Videoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Videoanalyse in der Psychologie – aktueller Stellenwert und wichtige Einsatzfelder . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Die Analyse von Videomaterial erfährt in den letzten Jahren eine zunehmende Verbreitung in der Psychologie. Der folgende Beitrag geht speziell auf qualitative Verfahren der Videoanalyse und deren Nutzen für psychologische Forschungsfragen ein. Sie bieten die Möglichkeiten, psychische Prozesse von Handeln und Erleben in situ als soziale Phänomene zu erforschen. Die „qualitative Videoanalyse“ als spezifisches Auswertungsverfahren gibt es dabei nicht. Vielmehr können je nach theoretischer Ausrichtung und Forschungsfrage unterschiedliche Analyseverfahren genutzt werden. Nach einem geschichtlichen Überblick über den Einsatz von Film- bzw. Videomaterial in der Psychologie werden relevante theoretische und methodische Prinzipien diskutiert sowie unterschiedliche Verfahren vorgestellt. Im Anschluss werden der aktuelle Stellenwert und wichtige Einsatzfelder erörtert und ein Ausblick auf künftige Entwicklungen gegeben. Insbesondere wird auf Ansätze der diskursiven Psychologie und unterschiedliche Formen der multimodalen Interaktionsanalyse eingegangen. C. Demuth (*) Communication & Psychology, Centre for Qualitative Studies, Aalborg University, Aalborg, Dänemark E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_61
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C. Demuth
Schlüsselwörter
Qualitative Methoden · Videoanalyse · Psychologie · Multimodalität · Interaktionsanalyse · Video-Ethnografie
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Videoanalyse in der Psychologie – Entstehungsgeschichte
Die Analyse von Videodaten erlebt in den letzten Jahren eine rasch zunehmende Verbreitung in den Sozialwissenschaften. Diese Entwicklung geht einher mit dem rasanten technischen Fortschritt, der das Erheben und Analysieren von Videomaterial vereinfacht und zahlreiche Möglichkeiten der Datenbearbeitung bietet. Die Psychologie erreicht dieser Aufschwung zwar mit etwas Verzögerung, das Arbeiten mit Video- bzw. Filmmaterial hat in der Disziplin jedoch eine lange Tradition: So nutzte Kurt Lewin bereits in den 1930er-Jahren den Film als Dokumentationsmethode in der Entwicklungspsychologie. Die Filmaufnahmen von zwei Kindern, die sich auf einen Stein setzen wollen,1 dienten beispielsweise zur Veranschaulichung seiner Feldtheorie (2012 [1963]). Ein weiterer Film, „Das Kind und die Welt“ (1931), der das Leben von Kindern in der Großstadt zeigt, gilt als einflussreicher Beitrag zu späteren Theorien zu Intelligenzentwicklung und Lernen. Er war lange Zeit verschollen und wurde in den 1980er-Jahren wiedergefunden (Lück und van Elteren 1988).2 Die aufgenommenen Szenen zeigen, wie Kinder in den ersten Lebensjahren nach und nach ihre Lebenswelt erforschen. William Stern hebt in seinem Vortrag anlässlich der Filmaufführung im Jahre 1932 in der Hamburger „Urania“ hervor: „Die ausgezeichneten Bildaufnahmen haben den großen Vorzug, dass die Kinder völlig ahnungslos waren und daher in ihrem gänzlich natürlichen und ungezwungenen Gehaben und Sichbewegen sichtbar werden. All die Künstlichkeit, Befangenheit und Selbstgefälligkeit, die Kinder sonst vor einem Photographierapparat zeigen, fällt hier vor der versteckten Kamera des Psychologen fort. Ausdrücklich hinweisen möchte ich auch darauf, dass die tonfilmischen Aufnahmen, soweit sie Lautäußerungen der Kinder wiedergeben, diesen Eindruck echt kindlichen Lebenswesentlich verstärken.“ (Stern 1932, S. 18)
In den 1950er- und 1960er-Jahren wurden Filmaufnahmen darüber hinaus in Experimentalstudien als Mittel zur Augenscheinvalidierung eingesetzt, so z. B. in den klassischen Studien von Stanley Milgram (1963) zu Gehorsamsbereitschaft, dem Stanford Prison Experiment von Philip Zimbardo und Kollegen (Haney et al. 1973) sowie in Harry Harlows Experimenten mit Rhesusäffchen in der Bindungsforschung (Harlow und Zimmermann 1958). Gerade in der Entwicklungspsychologie kam die Videotechnologie nun zunehmend z. B. in der Säuglings- und Kleinkindforschung zum Einsatz, hier jedoch innerhalb eines quantitativen Paradigmas 1
https://www.fernuni-hagen.de/videostreaming/zmi/video/1984/84-04_76606/. 26.10.2017. 2 https://www.fernuni-hagen.de/videostreaming/zmi/video/1988/88-06_76699/. 26.10.2017.
Zugegriffen
am
Zugegriffen
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Videoanalysen
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(z. B. Ainsworth 1979; Papousek und Papousek 1981). Ein Beispiel für eine frühe qualitative Videoanalyse in der Psychologie ist die Studie zu Verhaltensveränderung durch Selbstbeobachtung von John Shotter (1983). Eine für die damalige Zeit wegweisende Studie kam aus der Nachbardisziplin Anthropologie: Gregory Bateson und Margaret Mead (1942) verwendeten in ihrer mittlerweile klassischen Studie über den „Balinesischen Charakter“ neben einer Reihe anderer Verfahren vorrangig Filmmaterial, um das tägliche Leben in einem balinesischem Bergdorf zu dokumentieren. Die erstellten Filme wurden z. T. den Dorfbewohner/innen gezeigt und deren Reaktion wiederum filmisch festgehalten (für eine weitergehende Diskussion s. auch Wolff 1995). Dabei waren sich Bateson und Mead darüber im Klaren, dass Filme – genauso wie andere Dokumentationen und Artefakte – keine Abbildung der Wirklichkeit, „sondern nur Darstellungsformen sind, die ohne Analyse blind bleiben“ (Wolff 1995, S. 138). In den 1950er-Jahren verwendete Bateson gemeinsam mit seinen Kollegen Jürgen Reusch und Weldon Keys Filmaufnahmen von Familientherapie-Sitzungen (Reusch 1956; zit. n. Erickson 2011, S. 180). Der erste wissenschaftliche Versuch, soziale Interaktionen systematisch mittels Filmaufnahmen zu analysieren, wurde Mitte der 1950er-Jahre von der interdisziplinären Arbeitsgruppe des Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences (CASB) an der Standford University unternommen, in der Bateson mitarbeitete. Die Arbeitsgruppe wurde von der Psychiaterin Frieda Fromm-Reichman geleitet. Ihr gehörten neben Bateson Henry Brosin, ebenfalls Psychiater, die Linguisten Charles Hocket und Norman McQuoan sowie der Anthropologe Ray Birdwhistell an (Erickson 2011, S. 180). Der Ansatz, den die Arbeitsgruppe entwickelte, wird als „Semiotische Ökologie“ („semiotic ecology“, Erickson 2011, S. 181, 2015; s. auch Goodwin 2013) beschrieben. Er basierte auf der Erkenntnis, dass menschliche Interaktion ein fortwährender Prozess der gemeinsamen Sinnherstellung ist. Semiotische Ökologie ist demnach nicht nur multimodal (sowohl nonverbal als auch verbale Kommunikation umfassend), sondern umfasst auch die Aktivität mehrerer Beteiligten (der Zuhörenden in Koordination mit den Sprechenden) (Erickson 2011, S. 181). Diese Arbeiten bahnten den Weg für ähnliche Studien. So begann man in den 1970er-Jahren, Videoaufnahmen zu Supervisionszwecken von psychiatrischen Therapie-Sitzungen einzusetzen (z. B. Scheflen 1973). Adam Kendon (1990) unternahm zahlreiche naturalistische Film- und Videoanalysen zu menschlicher Kommunikation. Seine Arbeiten zeigen, dass sichtbares Verhalten wie Gestik, Mimik, Blickrichtung und Körperhaltung nicht einfach Ausdruck innerer kognitiver Zustände oder Emotionen ist, sondern der komplexen Koordination menschlichen Verhaltens dienen (Heath et al. 2010). In den Nachbardisziplinen entwickelte sich die qualitative Videoanalyse aufbauend auf die oben genannten Arbeiten von Bateson und Kollegen weiter. Hier sind v. a. die Arbeiten von Charles und Majorie Goodwin (z. B. Goodwin 1981, 2006; Goodwin und Goodwin 1996), Jürgen Streeck (1993) und Lorenza Mondada (z. B. 2011) zu nennen, die zu einem grundlegend neuem Verständnis von Sprache und menschlicher Interaktion beigetragen haben, indem sie aufzeigen konnten, dass menschliche Kommunikation nicht durch „Übertragung“ von „Information“ stattfindet,
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sondern aus einem komplexen Zusammenspiel von Sprechen, sichtbarem nonverbalem Verhalten sowie Interaktion mit der materiellen Welt besteht. In der deutschsprachigen Soziologie haben vor allem die Arbeiten von Hubert Knoblauch und Kolleg/innen (z. B. Knoblauch et al. 2006, 2008) einen entscheidenden Beitrag zur Videoanalyse geleistet (s. auch Ball und Gilligan 2010). Wichtige Anstöße für die Videoanalyse bzw. Videotechnik in der Entwicklungspsychologie im deutschsprachigen Raum liefert Thomas Thiel (2011). Mittlerweile finden videoanalytische Verfahren eine immer größere Verbreitung in der Psychologie. In der qualitativen Forschung haben sich dabei je nach epistemologischer und methodologischer Ausrichtung unterschiedliche Verfahren herausgebildet (s. Abschn. 3.4). Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem interactional turn bzw. dem inzwischen diskutiertem intersubjective turn (De Jaegher 2018) zu: Während qualitative Sozialforschung lange Zeit dem Primat der Sprache folgte wurde eine solche Herangehensweise in den letzten Jahren zunehmend als unzureichend erachtet (z. B. Reavey 2011). Psychologische Konstrukte wie Emotionen, Kognitionen oder Wahrnehmungen werden vielmehr als vielschichtige Phänomene verstanden, die intersubjekitv zwischen zwei (oder mehreren) Personen hergestellt werden, eingebettet in eine soziale und materielle Umwelt, mit der sie interagieren (z. B. Goodwin 2000; Linell 2009). Diese Ansätze basieren auf zwei Annahmen (Reavey 2011): 1) Subjektive Erfahrung basiert nicht nur auf Sprache, sondern auch auf dem räumlichen Kontext und Embodiment (Verkörperung); 2) Personen verwenden multi-modale Kommunikationsformen, wenn sie ihre Alltagserfahrungen teilen bzw. ko-konstruieren. Dieses sich zunehmend etablierende Verständnis von menschlichem Verhalten und psychischen Phänomenen als etwas, das dynamisch, lokal situiert in sozialen Interaktionen in einem bestimmten materiellen Kontext hergestellt wird, erfordert entsprechende methodische Verfahren, die diese „öffentlichen“ multimodalen Prozesse erfassen und der Analyse zugänglich machen können (Goodwin 2000, 2013). Gerade hier liegt das Potenzial von Videoanalysen in der Psychologie, da sie es erlauben, die Komplexität sozialer Interaktionen, in denen psychische Prozesse stattfinden, zu erfassen und der Analyse zugänglich zu machen. Da mittlerweile hochwertige Videoaufnahmen auf kleinsten, leicht portablen und relativ kostengünstigen Geräten möglich sind und es zahlreiche Varianten der computergestützten Datenspeicherung und -aufbereitung gibt, die eine detaillierte Analyse sehr komplexer Vorgänge (z. B. durch wiederholtes Vor- und Zurückspulen in Slowmotion) erlauben, können psychologische Fragestellungen unter dieser Prämisse nun auch entsprechend empirisch erforscht werden. Ebenfalls bietet die explosionsartig zunehmende freie Verfügbarkeit von Videos im Internet innovative Möglichkeiten für die psychologische Interaktionsforschung.
2
Qualitative Videoanalyse in der Psychologie – Theoretische und methodische Prinzipien
Das Besondere an der Videotechnologie ist, dass sie es ermöglicht, „Fakten und Prozesse ein[zu]fangen, die zu schnell oder zu komplex für das menschliche Auge sind“ (Flick 2007, S. 306). Im Unterschied zu anderen Formen der Fixierung von
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Forschungsmaterial (wie z. B. Protokolle, Fotos, Audioaufnahmen) ermöglichen Videoaufnahmen, verschiedene parallele (vertikale) Ebenen sozialer Interaktion gleichzeitig zu erfassen und in ihrem zeitlichen Verlauf (horizontal) und ihrem konkreten Kontext festzuhalten (Moritz 2011) und für die spätere Analyse bereitzustellen. Neben Mimik, Gestik, Körperhaltung kann auch der Gebrauch von Objekten und Artefakten sowie das materielle Umfeld der Interaktion einer präzisen Analyse zugänglich gemacht werden. In keinem anderen Medium können lebensweltliche Handlungen und Erfahrungen so umfassend in ihrer Komplexität erfasst und jenseits der konkreten Handlungssituation wiederholbar zugänglich gemacht werden (Fischer 2009). Insbesondere digitale Videoaufnahmen erlauben, empirisches Material zu bearbeiten, zu präsentieren, weitgehend ohne Qualitätsverlust zu kopieren und anderen Forschenden zu Verfügung zu stellen und somit auch (interdisziplinäre) Zusammenarbeit zu fördern. Durch die Möglichkeit, Alltagsinteraktionen in ihrer Komplexität zu fixieren, erscheint die Analyse von Videomaterial zunächst weniger selektiv als die teilnehmende Beobachtung. Dies ist jedoch ein Trugschluss, da die Forschenden vorab entscheiden, was gefilmt und worauf der Fokus gelegt wird, z. B. welche Aktivitäten dokumentiert werden sollen, wie die Kamera positioniert und aus welcher/welchen Perspektive(n) gefilmt wird. Es fließen also bereits bei der Aufnahme Vorannahmen mit ein, es handelt sich nicht um eine 1:1-Abbildung der Wirklichkeit. Durch die beobachteten Phänomene und Praktiken werden den Videograf/innen bestimmte Positionierungsmöglichkeiten angeboten, die sie weiter verfolgen können oder nicht. Entsprechend fordert die „zeigende Ethnographie“ (Mohn 2002) auf, Sehen als „Sehen als“ zu reflektieren und die Trennung zwischen Datenerhebung und Datenanalyse aufzuheben. Ein Vorteil der Präsenz der Forschenden bei der Aufnahme ist, dass die Forschenden bestimmte Dinge wahrnehmen, die die Kamera nicht einfangen kann (z. B. Gerüche etc.). Ebenfalls erlaubt die Analyse von Videomaterial (s. Abschn. 3) den Forschenden mehrere Wahrnehmungssinne (auditiv, visuell) in die Analyse mit ein zu beziehen. Wie Fischer (2009) herausstellt, ist wissenschaftliche Erkenntnis immer an menschliche Wahrnehmung gebunden. Mit Bezug auf Husserls Phänomenologie kommt dabei dem menschlichen Sehsinn gegenüber den anderen Sinneswahrnehmungen eine ganz besondere Rolle bei der ReKonstruktion von Bedeutung zu (Fischer 2009, S. 6–15). Dieser ist bei der Analyse von Videomaterial zentral, weswegen sich Videoanalyse ganz besonders für die Erforschung von Bedeutungskonstruktionen eignet. Erkenntnisprozesse in der Analyse von Videoaufnahmen beruhen dabei auf einem komplexen Zusammenspiel von Wahrnehmungen, Erinnerungen und Annahmen seitens der Forschenden, in die auch gesellschaftliche Erwartungen einfließen (Fischer 2009, S. 32). Sowohl das Erstellen von Videomaterial als auch dessen Analyse wird so durch die Standortgebundenheit der Forschenden mitstrukturiert und stellt eine Ko-Konstruktion zwischen den Beforschten und Forschenden dar (Huhn 2005; zur Subjektivität der Forschenden: Breuer 2003; Mruck und Breuer 2003; Mruck und Mey 2019). Knoblauch (2004, S. 126) unterscheidet verschiedene Datensorten, die in der Videoforschung verwendet werden:
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• • • • •
wissenschaftlich aufgezeichnete natürliche soziale Situationen, wissenschaftlich aufgezeichnete experimentelle Situationen, Interviews, von Akteur/innen aufgezeichnete gestellte Situationen (Videotagebuch), von Akteur/innen aufgezeichnete und selbst bearbeitete Situationen (z. B. Hochzeitsvideos), • von Akteur/innen aufgezeichnete und von Professionellen bearbeitete Situationen (z. B. Hochzeitsvideos, Dokumentationen, Selbstdarstellungen), • Videoaufnahmen als Erweiterung einer anderen Methode, z. B. Interview: neben der auditiven Information werden auch Mimik und Gestik erfasst. Heath et al. (2010) nennen als weitere Datensorte ethnografische Filme, die gemeinsam mit den Teilnehmenden ko-produziert werden, was zunehmend in der visuellen Anthropologie Anklang findet. Eine weitere Vorgehensweise, die bereits in den Arbeiten von Bateson und Mead (z. B. Bateson und Mead 1942) zu finden war, sind Aufnahmen, in denen den Teilnehmenden die primären Aufnahmen gezeigt und so die Möglichkeit gegeben wird, ihre Perspektive (die mitunter von der der Forschenden abweicht) darüber darzulegen, was in der Interaktion geschieht. Dabei geht es nicht notwendigerweise darum, eine Perspektiven-Übereinstimmung im Sinne einer Bestätigung des bereits Gefundenen zu erzielen. Das Verfahren kann auch im Sinne einer Triangulation verstanden werden, die unterschiedliches Datenmaterial produziert (z. B. direkte Aufnahme von Interaktionen und spätere Reflexion darüber) und durch verschiedene Investigator-Perspektiven (die der Forschenden und die der Teilnehmenden) eine erweiterte Erkenntnis über den untersuchten Forschungsgegenstand hervorbringt. Die Videoaufnahme an sich stellt jedoch noch kein Datenmaterial dar, sondern eine Informationsquelle, aus der Datenmaterial identifiziert werden kann. Dies unterliegt mehreren Selektionsprozessen, angefangen bei der Entscheidung der Forschenden, was gefilmt und aus welcher Perspektive, was und wie transkribiert werden soll bis hin zur Entscheidung, welche Abschnitte für eine Auswertung Berücksichtigung finden sowie auf welche Verhaltensaspekte sich die Analyse konzentriert (Erickson 2011; Ochs 1979).
3
Verfahren und Auswertungsschritte der Videoanalyse
3.1
Aufbereitung von Videomaterial
Für die Analyse stellt sich zunächst die Frage nach der angemessenen Form bzw. der eigentlichen Notwendigkeit einer Verschriftlichung. Dies wird in der Literatur mitunter kontrovers diskutiert (Moritz 2014). Zum einen wurden Transkriptionssysteme von Interaktionsanalysen ursprünglich basierend auf Audio-Aufzeichnungen entwickelt und beziehen sich entsprechend meist auf sprachliche Kommunikation. Videotechnologie erfasst jedoch eine viel höhere Komplexität von Interaktion, was ja gerade die Stärke dieses Verfahrens ist.
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Eine umfassende multimodale Transkription von Gesten, Mimik, Blicken, Körperbewegungen und anderen visuellen Aspekten ist fast unmöglich. Mittlerweile gibt es eine Reihe unterschiedlicher Transkriptionsweisen für videografierte Interaktionen (Davidsen und Krummheuer 2018), die sowohl Text als auch Bild umfassen, jedoch ist selbst eine detaillierte Transkription, wie sie beispielsweise in der multimodalen Konversationsanalyse verwendet wird (Mondada 2014), zwangsläufig nie komplett oder objektiv, sondern immer selektiv und bereits interpretativ (Duranti 2006; Ten Have 2002; Ochs 1979). Eine weitere Reduktion erfolgt in der Analyse, durch die Auswahl von Merkmalen der Transkription, auf die eingegangen wird (Ten Have 2002). Die zu untersuchende Alltagsinteraktion wird in ein „analytisches Objekt“ (Ashmore und Reed 2000) transformiert und dadurch aus ihrem natürlichen Kontext gerissen. Darüber hinaus wird in Publikationen meist eine vereinfachte Version der Transkription verwendet, da das in der Analyse verwendete Transkript ohne den Zugriff auf die Videoaufnahme für die Lesenden nicht leicht zu verstehen wäre. Der Anspruch (speziell in konversationsanalytischen und diskursiv-psychologischen Arbeiten), Validierung dadurch sicher zu stellen, dass durch die Darlegung der Transkription „die Daten für sich selbst sprechen“, ist daher mitunter ein Trugschluss. Aus diesem Grund plädieren manche Forscher/innen dafür, auf eine Transkription zu verzichten und stattdessen einen Hypertext zu Verfügung zu stellen, der die Analyse direkt mit der Aufnahme verlinkt (Ashmore und Reed 2000, Abs. 44). Die Videotechnologie erlaubt ja gerade, das Primat der Sprache in der qualitativen Sozialforschung zu überwinden und Multimodalität von Interaktionen direkt anhand der Primärdaten (des „Rohmaterials“) zu analysieren. Befürworter/innen einer Verschriftlichung argumentieren hingegen, dass viele Aspekte menschlicher Interaktion subtil, flüchtig, vielschichtig und für die visuellauditive Wahrnehmung nicht unmittelbar ersichtlich sind. Eine hinreichende Validität kann trotz der Möglichkeiten, die mittlerweile hochentwickelten Softwareprogramme bieten, demnach nicht erreicht werden, indem man Videoaufnahmen direkt analysiert. Auch wenn Videomaterial niemals verlustfrei (also identisch) in ein anderes Medium wie z. B. Text transformiert werden können, sei es möglich, die vom „Akteur zum Ausdruck gebrachte Bedeutung auch mit Hilfe eines anderen Mediums hinreichend genau“ darzustellen (Reichertz und Englert 2011, S. 22). Transkriptionen stellen also nicht das eigentliche Datenmaterial dar, sondern dienen dazu, das Videomaterial zu begleiten (Heath et al. 2010). Forschende müssen entsprechend Kriterien für die unvermeidbare Selektion explizieren und theoretisch begründen (Rose 2000). Eine Verschriftlichung erlaubt es darüber hinaus, ein Datenarchiv zu erstellen, das anderen zugänglich ist, und anderen einen begrenzten aber brauchbaren Zugang zu dem analysierten Phänomen zu schaffen (Have ten 2002).
3.2
Auswahl des zu analysierenden Materials
Im gesamten Prozess sind Forschende vor eine Reihe von Fragen gestellt, die eine Entscheidung je nach methodologischem Hintergrund und Fragestellung des
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Forschungsvorhabens erfordern. Dies beginnt bereits bei der Datenerhebung: Sollen beispielsweise vergleichbare Interaktionen vorab definiert werden (z. B. beim Abendessen, Sterponi 2009; Wiggins 2017), oder soll gemäß dem Prinzip des theoretischen Samplings zunächst bereits erhobenes Videomaterial analysiert werden, um die wichtigsten Merkmale zu identifizieren, bevor weiteres Material erhoben wird (Knoblauch et al. 2006). Da meist nicht das gesamte Material detailliert ausgewertet werden kann, muss eine Auswahl getroffen werden, welche Sequenzen in die weitere Analyse einbezogen werden sollen. Manche Verfahren (wie die diskursive Psychologie oder die multimodale Interaktionsanalyse) sehen vor, das Material zunächst zu sichten, um für Forschungsfrage interessant erscheinende Sequenzen zu identifizieren, und sie anschließend einer detaillierten Analyse zu unterziehen. Andere (z. B. hermeneutische) Verfahren gehen von Anfang an streng sequenzanalytisch vor (Heath et al. 2010). Bei der Auswahl stellt sich auch die Frage, wie man Beginn und Ende einer zu analysierenden Sequenz festlegt und ggf. mit einem entsprechenden Softwareprogramm schneidet. Je nachdem, welches methodische Verfahren an das Material herangetragen wird (s. Abschn. 3.4), muss entschieden werden, ob eine Kollektion von ähnlichen Sequenzen sinnvoll ist, um einen systematischen Vergleich zu erleichtern und übergreifende Regelmäßigkeiten und Divergenzen zu identifizieren (Heath et al. 2010, Kap. 4; Wiggins 2017). Damit einher geht die Frage, ob über eine spezifische videografierte Situation hinaus generalisierbare Aussagen gemacht werden sollen. Ein weiterer Punkt ist, wie der Kontext mit in die Analyse miteinbezogen werden soll, bzw. was als Kontext definiert wird. Die hierzu geführten Debatten drehen sich darum, ob Kontext als vorab definiert und die Interaktion beeinflussend zu verstehen ist, oder als ein interaktiv hervorgebrachtes Phänomen (Duranti und Goodwin 1992). Heath et al. (2010, Kap. 5) unterscheiden folgende kontextspezifischen Aspekte, die für die Interaktion handlungsrelevant werden können: 1) die physikalische Umgebung: hier gilt zu unterscheiden, ob der materielle Kontext, in der Interaktion stattfindet, generell bestimmte Arten von Handlungen begünstigen oder eingrenzen kann, also einen generellen Einfluss auf die Interaktion hat, oder ob nur diejenigen Aspekte für die Interaktion relevant sind, die von den beteiligten Personen selbst handlungsrelevant gemacht werden; 2) interaktive Objekte und Technologien, die im Zeitalter der Digitalisierung eine zunehmende Rolle für soziale Interaktion einnehmen, wie z. B. Schaltflächen, Bildschirme, Tastaturen etc.; 3) Partizipationsformen, d. h. der jeweilige Teilnehmendenstatus, der Personen in der Erreichbarkeit einer Äußerung zukommt (Goffmann 1981); 4) Institutionen und institutionelle Rollen: wie tragen beispielsweise sichtbare materielle wie auch gesprochene Aspekte von Interaktion zu einer spezialisierten Form von Partizipation bei, die wir als ‚institutionell‘ beschreiben? Goodwin und Goodwin (1996) betonen, dass qualitative Videoanalyse sich nicht auf aufgezeichnete soziale Alltagsinteraktionen beschränkt, sondern auch die Interaktion des oder der Forschenden mit dem Material im Zuge des Erkenntnisprozesses berücksichtigen muss: Sowohl die beobachtete Interaktion als auch die wissenschaftliche Interaktion unterliegen dabei prinzipiell ähnlichen alltagsweltlichen Prozessen der Bedeutungsherstellung. In der wissenschaftlichen Interaktion haben die
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Forschenden jedoch mehr Zeit, über unterschiedliche Interpretations-Lesarten zu reflektieren und stehen nicht in unmittelbarem Handlungszugzwang (Breuer 2003; Fischer 2009). Auch stellt sich die Frage, in welcher Beziehung das Videomaterial zu ggf. weiteren Datenformen steht, z. B. wie Feldnotizen in die Analyse des Videomaterials einbezogen werden sollen. Heath et al. (2010) argumentieren für ein Primat der videografierten Daten. Die Relevanz von ethnografisch gesammelten Beobachtungen für die Videoanalyse muss hingegen innerhalb der in der situierten Interaktion vollbrachten Handlung aufgezeigt werden.
3.3
Datensitzungen
Workshopähnliche Datensitzungen bieten den Forschenden die Gelegenheit, Videomaterial gemeinsam mit anderen Forschenden mehrfach anzusehen, zu kommentieren und erste Analysen an das Material heranzutragen. Sie sind ein fester Bestandteil und unumgängliches methodisches Prinzip der Konversationsanalyse (Sacks 1992), kommen aber auch in anderen Formen der qualitativen Videoanalyse zum Einsatz (Heath et al. 2010, Kap. 5; Schwarze und Konzett 2014). Das vorgestellte Material stammt typischerweise aus der Frühphase einer noch nicht publizierten Studie und ist in gewisser Weise „ungeschützt“. Hier stellt sich die Frage des wissenschaftlichen Ethos und des Vertrauens. Schwarze (2014) etwa betont, dass zum einen präsentierte Ideen und Konzepte nicht von anderen weiterverwendet werden, zum anderen die von den Teilnehmenden zu Verfügung gestellte Kompetenz entsprechend in daraus resultierenden Publikationen gewürdigt werden sollte. Heath et al. (2010, S. 102) empfehlen für die Treffen, in denen mehrere Forschende Material vorstellen, einen ausreichenden zeitlichen Rahmen (90–150 Minuten) und eine angemessene Gruppengröße auszuwählen und ggf. eine Moderation anzubieten. Die Videosequenzen sollten unter einer gezielten Fragestellung ausgewählt werden und nicht zu lange sein: Heath et al. (2010, S. 102) empfehlen Sequenzen von maximal 20 Sekunden Länge. Eine gut aufbereitete Transkription sowie möglicherweise weitere Informationsmaterialien sind sehr hilfreich, wobei der Fokus der Analyse auf das Videomaterial gerichtet bleiben sollte. Heath et al. (2010, S. 102), sehen den Nutzen von Datensitzungen darin, • interessante Phänomene zu identifizieren, die in die genauere Analyse einbezogen werden sollen, • analytische Stringenz sicher zu stellen, um Interpretationen abzusichern, • Schwierigkeiten aufzudecken, die eigene Interpretation Anderen verständlich zu machen, • alternative Sichtweisen auf das Material und den Forschungsgegenstand vorzustellen, • Ideen für weitere Analyseschritte zu sammeln.
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Datensitzungen sind immer kosten- und zeitaufwendig und ersetzen nicht die eigentliche Analyse, die meist von einzelnen Forschenden anhand des Videos bzw. der Transkription zu leisten ist. Sie führen jedoch durch den interaktiven Austausch zu einer höherwertigen Analyse. Von daher sollte der Wert von Datensitzungen nicht unterschätzt werden. Darüber hinaus stellen sie eine gute Gelegenheit dar, Novizen in das methodische Vorgehen einzuführen (Wiggins 2017).
3.4
Verfahren zur Analyse von Videomaterial
„Die“ qualitative Videoanalyse als ein spezifisches Auswertungsverfahren gibt es nicht. Der Begriff wird vielmehr für unterschiedliche Analyseverfahren verwendet, die Videotechnologie, d. h. eine zunächst „methodologiefreie“ Forschungstechnik (Fischer 2009, S. 7) zur Datenfixierung nutzen. Die unterschiedlichen Verfahren müssen jeweils in ihrer theoretischen Verankerung verstanden und die Wahl eines bestimmten Verfahrens von der Passung mit der jeweiligen Fragestellung abhängig gemacht werden. In der vorrangig an den Naturwissenschaften orientierten Psychologie werden meist quantitative Kodierverfahren zur Analyse von Videomaterial verwendet. In der qualitativen Sozialforschung finden sich mehrere unterschiedliche Zugänge: Aus einer wissenssoziologischen Tradition haben sich im deutschsprachigen Raum die folgenden Verfahren zur Analyse von Videomaterial entwickelt: die Video-Hermeneutik (Raab und Tänzler 2006, aufbauend auf der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik von Soeffner 2000), die dokumentarische Methode (Bohnsack 2009; s. auch Wagner-Willi 2004), aufbauend auf die Arbeiten Mannheims; die hermeneutisch-wissenssoziologische Videoanalyse (Reichertz und Englert 2011) sowie die Video-Interaktions-Analyse (Knoblauch 2004; Knoblauch et al. 2006, 2013; Moritz und Corsten 2018). Eine Grundannahme ist, dass Wissen und Erkenntnis durch soziale Interaktion entsteht, weiterverwendet und bewahrt wird und somit kulturellen Sozialisierungsprozessen unterliegt. Ziel von wissenssoziologischen Verfahren ist es entsprechend, implizite kulturelle Bedeutungsmuster zu rekonstruieren und somit explizit zu machen. Aufbauend auf Überlegungen aus der objektiven Hermeneutik, der dokumentarischen Methode, und der Segmentanalyse zeigen jüngst Mey und Dietrich (2016; s. auch Dietrich und Mey 2018), wie der traditionell textorientierte Ansatz der Grounded-Theory-Methodologie auf visuelle Daten bezogen werden kann. In der Ethnologie hat die Videoanalyse eine lange Tradition. Forschende, die die qualitative Videoanalyse mit einem ethnografischen Ansatz verbinden, verwenden oft den Begriff der Videografie (Knoblauch 2012) oder der videografischen Ethnografie. Die Kamera-Ethnographie (Mohn 2002, 2008, 2011) verknüpft teilnehmendes Beobachten mit „kamera-ethnographischer Blickarbeit“ (Mohn 2011, S. 95) und die Analyse von Videomaterial mit fokussierendem Schnitt. Ähnlich der Versprachlichung von Beobachtungen in Feldnotizen dienen die Videoaufzeichnung und das Schneiden der Aufnahmen hier zur Generierung weiterer Fragen und Blickstrategien im ethnografischen Forschen. Als eine umfassende Methode des Verstehens,
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Herausarbeitens und Zeigens sozialer und kultureller Sinnstrukturen ist das Ziel ein „dichtes Zeigen“ (Mohn 2008, 2011, S. 95) in Analogie zur „dichten Beschreibung“ nach Clifford Geertz (1983 [1973]). Die Interaktionsanalyse (Jordan und Henderson 1995) hat ihre Wurzeln in der Ethnografie (v. a. teilnehmende Beobachtung), Soziolinguistik, Ethnomethodologie, Konversationsanalyse, Kinesik, Proxemik und der Ethologie. Eine der Grundannahmen der Interaktionsanalyse ist, dass Wissen und Handlung sozial organisiert und in spezifischen sozialen und materiellen Ökologien situiert sind. Kognitionen werden entsprechend als sozial und ökologisch „verteilt“ (‚distributed‘, Jordan und Henderson 1995, S. 41) und nicht als verborgene mentale Prozesse im Gehirn verstanden. Ziel ist es zu identifizieren, wie Teilnehmende in sozialen Interaktionen Ressourcen der komplexen sozialen und materiellen Welt von Akteur/innen und Objekten, in der sie handeln, nutzen. Aus dieser Forschungstradition sind die wegweisenden Arbeiten von Charles und Marjorie Goodwin hervorgegangen (z. B. Goodwin 1981, 2000). Innerhalb der diskursiven und narrativen Psychologie, in der vorrangig sprachanalytische Verfahren zum Einsatz kommen, werden Videoaufzeichnungen zunehmend als unverzichtbare Datengrundlage gesehen. Die diskursive Psychologie (z. B. Potter 2012; Wiggins 2017) untersucht, wie psychologische Kategorien und mentale Konzepte (Erinnern, Einstellungen etc.) in natürlichen sozialen Interaktionen konstruiert, verstanden und gezeigt werden. Sie bedient sich hierbei weitgehend der methodischen Verfahren der Konversationsanalyse. Videoaufzeichnungen erlauben die Analyse der sich dynamisch entwickelnden sozialen Praktiken, in denen non-verbale Kommunikation (Mimik, Gestik, Körperbewegungen, Blickrichtung etc.) und gegenständliche Komponenten (Materialien, die in die Handlung eingebaut sind) eine Rolle spielen. Die multimodale (Inter-)Aktionsanalyse (Norris 2004) zielt darauf ab, die Diskursanalyse um eine kontextuelle Perspektive zu erweitern, indem sie die unterschiedlichen Modi sozialer Interaktion (Sprache, Körperhaltung, Gestik, Mimik etc.) gleichwertig analysiert und relevante Objekte der materiellen Welt (z. B. die Gestaltung eines Raumes) mit einbezieht. Sie unterscheidet dabei lower-level actions (z. B. das Umblättern einer Zeitschriftseite), higher-level actions (z. B. Abendessen) und frozen actions (z. B. eine Tasse Kaffee auf dem Tisch). Der Ansatz wurde im Rahmen der Identitätsforschung weiterentwickelt (Norris 2011) und sieht Identität als etwas, was in konkreten Alltagsinteraktionen multimodal ko-konstruiert wird. Ein ähnliches Ziel verfolgt der Narrative Practice Approach (Bamberg 2012; Lucius-Hoene und Deppermann 2004). Er zielt auf Positionierungsakte in Narrationen ab. Der Einbezug visueller Aufnahmen gibt dabei zusätzliche Aufschlüsse, die durch eine rein textbasierte Narrationsanalyse nicht zu erzielen sind. Videoanalysen werden auch im Rahmen der Autoethnografie (Ellis et al. 2011) verwendet. Die Teilnehmenden werden dabei gebeten, ein Videotagebuch zu führen und subjektives Erleben festzuhalten (z. B. Pini und Walkerdine 2011). Da die Teilnehmenden hier selbst forschende Person sind, bestimmen sie selbst (durch Kameraführung, Dauer, Fokus etc.), was für sie relevant ist.
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Videoanalyse in der Psychologie – aktueller Stellenwert und wichtige Einsatzfelder
Mit der zunehmenden Erkenntnis, dass Bedeutungskonstruktionen durch mehr als Kognitionen und Sprache zustande kommen, und Kultur bzw. kulturelle Alltagspraktiken eine zentrale Rolle in diesem Prozess spielen, rücken auch in der Psychologie methodische Verfahren in den Vordergrund, die erlauben, diese Konstruktionen systematisch zu analysieren (Reavey 2011). Psychisches Handeln und Erleben verstanden als dialogisch in sozialer Interaktion eingebettet und konstituiert (Demuth 2011; Goodwin 2000; Linell 2009) – und eben nicht als verborgene Prozesse im „Innern“ eines Individuums, die nach außen kommuniziert werden – erfordert einen multimodalen methodischen Zugang, der visuelle, auditive, körperliche, objektweltliche und räumlich-materielle Aspekte mit einschließt. Wichtige Einsatzfelder finden sich beispielsweise in der Entwicklungspsychologie und der pädagogischen Psychologie, da Entwicklung als interaktionaler Prozess zu verstehen ist, der in sozio-kulturell hervorgegangenen Alltagspraktiken stattfindet. Unterschiedliche Studien zu kindlichen Interaktionen in der Familie und in Kindertagesstätten wurden beispielsweise zur Entwicklung von Autonomie (Fasulo et al. 2007), zu moralischem Verstehen (Sterponi 2009; Takada 2013), zu Freundschaften und Peer Interaktionen in Kitas (Corsaro 1985; Monaco und Pontecorvo 2010) und in der Schule (z. B. Cekaite 2013; Ratcliff 2000), zu Lernprozessen im Schulalltag (Angelillo et al. 2007) oder zur kommunikativen Bedeutung von Kinderzeichnungen (Balakrishnan et al. 2012) durchgeführt, aber auch zu Entwicklungsstörungen wie Autismus (z. B. Mey und Wenglorz 2005; Sterponi und Fasulo 2010; Sterponi und Shankey 2014). Neben der Analyse von videografiertem kindlichen Verhalten finden sich auch Arbeiten, in denen Kinder selbst Videoaufnahmen ihrer Alltagserfahrung erstellen (Mey 2005). In der Säuglingsforschung finden sich Studien zum Spielverhalten (Fantasia et al. 2014) oder zur Mutter-Kind-Kommunikation und Emotionsregulierung (Demuth 2012, 2013; Fantasia et al. 2019). Die inzwischen klassische Langzeit-Fallstudie von Forrester mit seiner Tochter Ella (Forrester 2015) bietet wichtige Einsichten in die kognitive und emotionale Entwicklung von Kindern, sowie über die Rolle der Kamera in videografierten ElternKind Interaktionen (Forrester 2011). Weitere Arbeiten adressieren Diagnose-Praktiken mit Kindern mit Entwicklungsstörungen (Fasulo et al. 2017) sowie die interaktive Situiertheit von Identitätskonstruktionen (Bamberg 2004, 2008; Lomax 2011). Ebenso finden sich Einsatzfelder in der Arbeits- und Organisationspsychologie, beispielsweise in den Workplace Studies (z. B. Engeström und Middleton 1996). In der Sozialpsychologie liegen Arbeiten vor über Ärzt/innen-Patient/innen-Interaktionen (z. B. Fatigante et al. 2016), über Psychotherapiesitzungen (z. B. Fasulo 2007) sowie psychoanalytisch informierte Aktionsforschung zur Hip-Hop-Kultur (Haaken 2011). Weitere Studien finden sich in der Klinischen Psychologie z. B. zu Interaktionen mit Menschen mit schwerer intellektuell-kognitiver Beeinträchtigung (Antaki et al. 2017). Deppermann (2015) untersucht die Herstellung von intersubjektiven Kooperation zwischen Lehrer/innen und Schüler/innen am Beispiel von videografierten
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Fahrstunden. In der Forensischen Psychologie gibt es Arbeiten über die Glaubwürdigkeit kindlicher Zeugenaussagen (Motzkau 2011). Desweiteren wird Videoanalyse als Feedbackinstrument z. B. im Rahmen der Psychotherapie-Ausbildung, in Kommunikationstrainings oder in Beratungs- und Coachingsettings verwendet. Hier liegt der Schwerpunkt jedoch meist eher auf Aspekten der Supervision, nicht so sehr auf der mikroanalytischen Auswertung der Interaktionen (Fischer 2009). Eine vielversprechende Entwicklung stellt die von Stokoe (2014, s. auch: http://www.carmtraining.org) entwickelte Konversationsanalytische Rollenspiel-Methode (Conversation Analytic Role-play Method) dar, die zunehmenden für die Fortbildung von Mitarbeiter/innen von Call-Centern und telefonischen Notfalldiensten angewandt wird. In der Werbepsychologie werden Videoanalysen zur Erforschung von Verbraucher/innenverhalten in Supermärkten, Einkaufszentren oder zu Hause genutzt werden. Die Einsatzmöglichkeiten erstrecken sich also über alle Bereiche der Psychologie.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Videotechnologie ermöglicht eine mikroanalytische Rekonstruktion subjektiver Bedeutungskonstruktionen in situ – d. h. dort, wo psychologische Prozesse im Alltag stattfinden. Das Potenzial der Videoanalyse für die Psychologie liegt darin, dass sie es ermöglicht, den Prozess der Ko-Konstruktion psychologischer Phänomene in sozialen Alltagsinteraktionen,3 eingebettet in eine materielle Welt, zu untersuchen. Sie trägt zur Überwindung des Primats der Sprache in der qualitativen Sozialforschung bei und ermöglicht, die Komplexität menschlichen Handelns zu erfassen und zu analysieren. Viele Aspekte menschlichen Handelns sind subtil, flüchtig und leicht zu übersehen, bestimmen jedoch maßgeblich soziale Interaktionen. Wenn psychologische Konzepte wie Kognition, Erinnern, Identität, Emotionen, Moral nicht als verborgene Entitäten im Innern einer Person, sondern als interaktiv hergestellte soziale Prozesse aufgefasst werden, ist die Analyse von Videomaterial zukunftsweisend. Da aufgrund der immer mehr verbreiteten Videotechnologie auf Mobiltelefonen und Tablets Videoaufnehmen zunehmend Teil unseres Alltagslebens werden und entsprechende Geräte inzwischen relativ unauffällig sind, kann davon ausgegangen werden, dass Kameras von den Teilnehmenden kaum mehr als intrusiv erlebt werden. V. a. in der Forschung mit Jugendlichen kann videobasierte Forschung türöffnend sein, da Videoaufnahmen ein Medium darstellen, das Teil ihrer Alltagserfahrung und bei Jugendlichen sehr beliebt ist. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, eine Vertrauensbasis mit den Teilnehmenden herzustellen und sie darüber aufzuklären, wie das aufgenommene Material weiter verwendet wird. 3
Wobei, wie Knoblauch (2012) anmerkt, eine aufgezeichnete experimentelle Situation ebenfalls als „Alltagsgeschehen“ i. S. einer sozialen Interaktion zwischen Forschenden und Beforschten gelten und entsprechend qualitativ ausgewertet werden kann.
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Da Videoaufnahmen einen direkten Zugriff auf das originäre Material ermöglichen, erhöhen sie darüber hinaus die Glaubwürdigkeit und Absicherung von Interpretationen, ein in der qualitativen Forschung relevantes Gütekriterium (Steinke 2008). Es ist aber zu beachten, dass bereits die Aufnahme Interpretation bedeutet, da die Forschenden entscheiden, was (nicht) aufgenommen und auf was in der Analyse fokussiert wird. Deshalb ist auch hier eine entsprechende Reflexivität der Subjektivität der Forschenden erforderlich (Breuer 2003). Des Weiteren können Videoanalysen mit anderen Verfahren wie z. B. Interviews oder teilnehmender Beobachtung im Sinne einer Triangulation (Flick 2004) verbunden werden. Neue technische Entwicklungen erweitern das Potenzial qualitativer Videoanalyse. Spezielle Softwareprogramme erlauben das simultane Abspielen von verschiedenen Kamerapositionen, das aufgenommene Material muss jedoch synchronisiert werden (auch mit der Transkription). 360-Grad-Kameras sind in der Lage, Videos aus allen Richtungen aufzunehmen und ersparen somit eine Synchronisation mehrerer Kameras. Dies geht jedoch mitunter auf Kosten der Auflösung. Neue Entwicklungen wie GoPros (Action-Kameras, der Begriff beinhaltet go und professional und steht für „werde professionell“) und Brillen mit integrierter Kamera erlauben, „aus der Perspektive“ der Teilnehmenden zu forschen, wobei dies keine direkte Aufnahme von deren Sicht darstellt, da die Aufnahme nur die Kopfbewegung und nicht die Augenbewegung der Kamera-tragenden Person wiedergibt. Der jeweilige wissenschaftliche Nutzen der technischen Möglichkeiten für die Sozialforschung muss entsprechend abgewogen werden. Eine umfassende Diskussion der Vor- und Nachteile dieser neuen technischen Entwicklungen für die Videoanalyse findet sich bei Davidsen und McIlvenny (2016). Bei Kamerabrillen und 360-Grad-Kameras ergeben sich darüber hinaus entsprechende ethische Fragen aufgrund der verdeckten Aufnahme, die diskutiert werden müssen. Verschiedene Softwareprogramme, die speziell für die Analyse (z. B. AVA360VR, CLAN, Datavyu, ELAN, Feldpartitur, Interact, Noldus, Praat, Transana) und die Bearbeitung von Videomaterial (z. B. Adobe Creative Suite, Final Cut Pro, iMovie, Inqscribe) entwickelt wurden, erlauben, das Videomaterial systematisch zu ordnen und zu verbinden und ermöglichen somit ein effizienteres Arbeiten der Forschenden. Darüber hinaus gewähren manche Softwareprogramme mehreren Forschenden zu Kooperationszwecken Zugriff auf Videomaterial von unterschiedlichen Standorten. Bei allen wertvollen technischen Fortschritten bleibt die Analyse an sich jedoch nach wie vor etwas, was von den Forschenden zu leisten ist. Wie alle qualitative Verfahren erfordern auch Videoanalysen methodisch-handwerkliche Kompetenzen, die erlernt werden müssen und mit wachsender Praxis und Erfahrung trainiert und verbessert werden können (Demuth 2015). Die Grenzen bzw. Herausforderungen in der Videoanalyse zeigen sich auf vier Ebenen. Methodologisch: Wie andere methodische Vorgehen in den Sozialwissenschaften auch, erlaubt Videografie keine objektive Aufnahme, sondern konstruiert eine bestimmte Version der Wirklichkeit, indem Forschende einen bestimmten Ausschnitt oder einen bestimmten Blickwinkel wählen, auf den sich die Aufnahme richtet (Heath et al. 2010). Diese Selektivität ist nicht nur der subjektiven
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Wahrnehmung der Forschenden aufgrund ihrer theoretischen Vorannahmen geschuldet, sondern auch der hohen Komplexität des Datenmaterials. Als weitere Herausforderung wird oft die Reaktivität durch die Präsenz der Kamera thematisiert. Ratcliff (2003) schlägt hierzu vor, die Aufnahmen sozialer Interaktion durch ein Weitwinkelobjektiv zu dokumentieren: In einer Studie mit Kindern stellte er fest, dass die Teilnehmenden an der Peripherie des gefilmten Geschehens weniger stark auf die Anwesenheit der Kamera reagierten, wenn sie dachten, sie seien außerhalb deren Sichtfeldes. Als eine weitere Möglichkeit schlägt er den Einsatz einer zweiten verdeckten Kamera vor. Theoretisch: Vorherrschende Forschungsansätze in der Psychologie, beruhen nach wie vor weitgehend auf einem monologischen und individualistischen Menschenbild, das psychische Prozesse als im „Innern“ eines Individuums versteht (Brockmeier 2017). Eine Anbindung videoanalytischer Forschung, die dagegen psychische Phänomene, wie Emotion und Kognition, als gemeinsam in der Interaktion hervorgebracht sieht (Goodwin 2000) bleibt schwierig. Darstellbarkeit in Publikationen und Vorträgen: Die Veröffentlichung von videobasierten Studien unterliegt nach wie vor den herkömmlichen textbasierten Konventionen wissenschaftlichen Publizierens, was die Darstellbarkeit der Ergebnisse einschränkt. Auch wenn zunehmend online-basierte Zeitschriften die Publikation von Videomaterial ermöglichen, bleiben Veröffentlichungen (nicht zuletzt aus ethischen Gründen) bisher weitgehend text-basiert. Dies bedeutet einen Rekurs auf das Primat der Sprache, das die Videografie gerade zu überwinden versucht. In mündlichen Präsentationen stellt sich die Herausforderung, wie die Zuhörer/innen angesichts der flüchtigen Natur der untersuchten Phänomene am besten durch die Analyse geführt werden können und eine detaillierte Ergebnisdarstellung in einem meist sehr begrenzten Zeitrahmen erfolgen kann. Ethisch: Eine der größten Herausforderungen in der Videoanalyse ist die Wahrung der Anonymität der Teilnehmenden ohne zu großen Detailverlust. Für Publikationen können einzelne Bilder als Strichzeichnungen dargestellt werden (von Hand oder mit entsprechenden Softwareprogrammen wie z. B. AKVIS Sketch). Namen und Angaben zu Orten oder Institutionen können durch Bearbeitung der Audiospur verzerrt werden. Videobearbeitungsprogramme, wie z. B. iMovie ermöglichen die Weichzeichnung oder Maskierung von Gesichtern. Videokonvertierungsprogramme wie z. B. Wondershare können in Kombination mit Adobe Photoshop verwendet werden, um gesamte Videosequenzen zu anonymisieren. Diese Formen der Anonymisierung bergen jedoch auch die Gefahr, Einzelheiten zu kaschieren (z. B. Blickrichtung), die man gerade zeigen möchte. Eine zunehmende Zahl von E-Journals bietet mittlerweile die Möglichkeit an, Videos online zu präsentieren, jedoch bedarf es auch hier der explizierten Zustimmung der Studien-Teilnehmenden. Trotz Anonymisierungstechniken kann damit eventuell eine geringere Offenheit einhergehen. Die leichte Verbreitung durch Kopieren oder Bereitstellen von Vorträgen oder Veröffentlichungen im Internet führt letztendlich auch dazu, dass die Forschenden keine Kontrolle mehr darüber haben, wer weitere Kopien der Daten erhält. Raudaskoski (2015) schlägt vor, die Teilnehmenden per Formular zur „informierten Einwilligung“ zu bitten, detailliert zu explizieren, ob die erhobenen Daten
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jeweils in anonymisierter oder nicht anonymisierter Form, als Foto-, Audio- oder Film-Material für Forschungs-, Lehr- und Publikationszwecke verwendet werden dürfen. Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen bleibt festzuhalten, dass bei dem Einbezug von Videomaterial für viele forschungsbezogene Fragen noch angemessene Lösungen gefunden werden müssen. Dies scheint lohnenswert, denn für die Psychologie bietet die Analyse von Videos zahlreiche Möglichkeiten, psychische Prozesse in situ und als soziale Phänomene zu erforschen.
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Artefaktanalyse Ulrike Froschauer und Manfred Lueger
Inhalt 1 Relevanz und Hintergrund der Artefaktanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Methodologische Verankerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die Durchführung der Artefaktanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Modifikationen der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Psychologische Aspekte der Analyse einer Geldbörse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Artefakte als von Menschen erzeugte materielle Gegenstände sind nicht nur ein wesentlicher Faktor in unserer Umwelt, sondern formen damit verbundene Vorstellungen und Verhaltensweisen. Indem sie Bedeutungen transportieren, in Sinnzusammenhänge integriert sind oder Rahmenbedingungen für das soziale Zusammenleben schaffen, bilden sie ein wichtiges Datenmaterial für das Verständnis von Menschen im Umgang mit ihnen sowie der damit verknüpften sozialen Welt. Der Beitrag beschäftigt sich mit der Analyse von Artefakten im Kontext der Psychologie. Im Zuge dessen werden methodologische Grundlagen im Rahmen einer interpretativen Sozialforschung sowie die einzelnen Analyseschritte vorgestellt. Zur Verdeutlichung der Vorgangsweise finden sich auch exemplarische Hinweise für eine qualitativ-empirische Analyse eines Alltagsgegenstandes. U. Froschauer (*) Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] M. Lueger Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung, Wirtschaftsuniversität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_54
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Schlüsselwörter
Artefaktanalyse Interpretative Sozialforschung Materielle Kultur Ökologische Psychologie Qualitative Methoden
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Relevanz und Hintergrund der Artefaktanalyse
Unsere Welt ist voller Gegenstände, die durch Menschen erzeugt oder manipuliert wurden und werden und die sich dadurch von der natürlichen Umwelt unterscheiden. Da die Gestaltung dieser Objekte menschliche Handlungsweisen und Vorstellungen materialisiert, fungieren sie als Bedeutungsträger, die nicht nur das Verhalten gegenüber diesen Objekten, sondern auch deren Einbindung in soziale Beziehungen und Verhältnisse vermitteln. Artefakte sind aber nicht nur Bedeutungsträger, sondern sie greifen in menschliche Handlungsweisen und Kooperationen ein, indem sie Chancen eröffnen (etwa die Möglichkeit, per Mobiltelefon fast jederzeit und über weite Distanzen zu kommunizieren), Optionen verschließen (etwa durch Mauern) oder die Koordination von Handlungen regeln (etwa durch Maschinenabläufe, die bestimmte Handlungsweisen erfordern). Insofern sind sie in die Situationsdefinition der Akteur/innen und damit in deren situierte Praktiken eingebunden. Artefakte sind durchaus spezifische Analysegegenstände. Im Gegensatz zu Erkenntnisobjekten, die grundsätzlich alle Objekte umfassen, auf die man sich beziehen kann (z. B. materielle Objekte, Phantasien, Träume, theoretische Konzepte, Vorstellungen), blendet die Artefaktanalyse erst einmal alle nicht-materiellen Objekte aus. Damit erfolgt eine Einschränkung auf stofflich existente Gegenstände, die aufgrund der Widerständigkeit ihrer Materialität der (auch technisch gestützten) sinnlichen Erkenntnis zugänglich sind. Das bedeutet nicht, dass die objektive Realität dieser Gegenstände problemlos bestimmbar wäre, sondern dass sie aufgrund ihrer physischen Existenz zwar eindeutig als Gegenstände identifizierbar sind, als solche jedoch den Bedingungen ihrer Beobachtung und Einbindung in Sinnzusammenhänge unterliegen. So gesehen existieren diese Gegenstände außerhalb des Bewusstseins und werden erst durch die Verarbeitung im Zuge der Zuwendung, Wahrnehmung und Interpretation in die Wirklichkeit unserer Lebenswelt integriert. Dabei ist die Bedeutung dieser Gegenstände nicht vorgegeben, sondern diese entsteht und entwickelt sich im sozialen Kontext der interaktiven Auseinandersetzung von Menschen mit ihnen (Blumer 1969). Da die ausgetauschten Erfahrungen und Handhabungen je nach situativer Einbettung differieren, ist deren Bedeutung variabel. Deshalb ist ein steinerner Gegenstand möglicherweise nicht bloß ein Stein (und vielleicht Baumaterial), sondern als Meteorit ein Bote ferner Galaxien (und Analysegegenstand für die Astronomie, Geologie, Physik oder Chemie), als Steinskulptur der Ausdruck persönlicher Eigenschaften und Präferenzen einer Künstlerin und vielleicht in der Folge als Wertgegenstand am Kunstmarkt Repräsentant eines Stils oder gar einer Epoche. Bereits hier zeigt sich der Analysebedarf für solche Gegenstände. Aber die Artefaktanalyse geht noch einen Schritt weiter, indem sie alle nicht von Menschen erzeugten Gegenstände aus der Betrachtung ausschließt. Als Arte-
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fakte gelten also nur solche Gegenstände, in die menschliche Aktivitäten eingegangen sind, egal um welche Gegenstände es sich dabei handelt (also auch gezüchtete Pflanzen oder menschlich veränderte lebende Körper) und unabhängig davon, ob mit deren Erzeugung irgendeine Intention verbunden war (etwa Spuren im Schnee, Maschinen, Gebäude, Fotos). Artefakte im hier verstandenen Sinn sind also alle von Menschen (mit-)geformten Objekte, die die in sie eingegangene physische, kognitive und soziale Praxis vergegenständlichen und zugleich auf diese Einfluss nehmen. Sie bilden solcherart Ausdrucksgestalten einer historisch-konkreten Lebensweise, die menschliche Tätigkeiten und deren Sinnzusammenhänge verkörpern. Ihre Erzeugung verändert die physische Umwelt der Menschen und dadurch ihre Lebensbedingungen, während der Umgang mit ihnen Denkweisen mitformt und Prozesse der Sinngenerierung anregt. Insofern entäußern sie den in sie eingelagerten Sinn (etwa in Form von Bauplänen), bilden gleichzeitig Projektionsflächen für deren sinnhafte Interpretation und schaffen Orientierung für die Bewältigung des Alltags. Damit geben Artefakte ein beredtes Zeugnis unterschiedlicher Lebensweisen und Lebensverhältnisse, deren Analyse von großer Bedeutung für die Psychologie sein kann (Lueger 2010): Erstens liefern Artefakte eine gute Grundlage für das Verständnis historischer Entwicklungen und die damit verbundenen Denk- und Vorstellungswelten (insbesondere Bauten, Werkzeuge oder andere Kulturgegenstände). Das gilt für Lebensbedingungen, den Stand der Technik, Handelsbeziehungen, Wissen oder auch Werthaltungen, die man anhand der Entwicklung, Veränderung oder Ablösung von Artefakten analysieren kann. Zweitens sind Artefakte hervorragende Hinweise auf soziale Beziehungen, Handlungsweisen und soziale Verhältnisse. Abgrenzungen wie Zäune, Mauern oder symbolische Markierungen deuten auf Inklusion und Exklusion, in Maschinen manifestiert sich die technische und soziale Organisation von Arbeit (dies gilt für den Haushalt genauso wie für Verwaltung, Handwerk oder Industrie), Fotos machen auf Fotografierwürdiges aufmerksam und sind wichtige Mittel auch der Selbstinszenierung. Drittens können Artefakte auch dann wichtige Informationen bereitstellen, wenn sprachliche Dokumente oder Beobachtungen nicht verfügbar sind. Das gilt nicht nur z. B. für die Archäologie, die über keine schriftlichen Aufzeichnungen oder unmittelbare Verhaltensbeobachtungen verfügt, sondern auch für die Analyse latenter Sinnstrukturen von Artefakten, die sich unabhängig von den ursprünglichen Intentionen entäußern und sich hinter dem Rücken der Hersteller/innen oder einer bewussten Handhabung gleichsam als nichtintendierte Folgen niederschlagen. Das betrifft etwa die Bedeutung von und den Umgang mit Architektur, Einrichtungsgegenständen, Technik oder einfach Alltagsprodukten bis hin zum Müll. Artefakte sind eng mit der Wahrnehmung, den Handlungsweisen, dem Denken und mit symbolischen Bedeutungen und damit in Prozesse der Aneignung der Welt verwoben, sodass sie nicht nur materielle Kultur repräsentieren (Habermas 2012). Menschen formen diese materielle Welt und werden im Gegenzug von diesen mitgeformt. Allerdings wird in diesem Beitrag nicht davon ausgegangen, dass Artefakte selbst aktiv sind oder als Akteure in Erscheinung treten (z. B. Latour 2010), sondern sie inkorporieren Sinnstrukturen, die für das Verstehen situierter
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Praktiken und sozialer Dynamiken von herausragender Bedeutung sind (Holzkamp 1978). Indem sie einen Bezug zu Verhaltensweisen von Personen und Kollektiven herstellen, die an ihrer Gestaltung beteiligt sind, diese handhaben oder mit ihnen konfrontiert sind, verändern sie nicht nur die Welt, sondern auch die Menschen. Zwar wird mitunter von einem „material turn“ gesprochen (D’Adderio 2011; Bennett und Joyce 2010) und auch im Rahmen der Auseinandersetzung mit materieller Kultur finden sich viele Analysen von Dingen (Eisewicht 2016; Miller 2005; Moran und O’Brian 2014; Tilley et al. 2006), aber dennoch gibt es in der Literatur (mit Ausnahme von Text-, Bild- und Videoanalysen) kaum explizite methodische Verfahrensweisen zur systematischen Interpretation solcher Artefakte (insbesondere dreidimensionaler). Trotzdem setzen sich verschiedene Disziplinen intensiv mit Artefakten auseinander (aktuell: Burzan 2016; Dreßler 2016). So befasst sich die Archäologie immer schon mit der Materialität von Kulturen, bedient sich aber vorrangig naturwissenschaftlicher Zugänge (Hurcombe 2007; Renfrew und Bahn 2012). Erst in letzter Zeit findet sich in diesem Bereich eine zaghafte Auseinandersetzung mit der Eingebundenheit der Gegenstände und der Technik in menschliche Handlungsweisen (Dobres 2000). Die Architektur beschäftigt sich mit den verschiedenen Lebens- und Arbeitsweisen, die sich in der Gestaltung von Gebäuden und Räumen manifestieren (Fischer und Delitz 2009; Schäfers 2014; Selle 2011; Steets 2015), wobei in der Analyse häufig theoretische Perspektiven im Vordergrund stehen. Die Architekturpsychologie rückt dabei das Raumerleben in das Zentrum der Betrachtung (Mehrabian 1987; Richter 2009). Während sich die Technikpsychologie (Schraube 2009; Chimirri 2012) mit der sozio-materiellen Vermitteltheit von Verhaltensweisen in der alltäglichen Lebensführung sowie mit der Bedeutung von Technik für die Subjektivitätsentwicklung befasst, führt sie derzeit trotz der thematischen Bedeutung noch ein Schattendasein. Hingegen ist die Techniksoziologie schon seit vielen Jahren etabliert (Häußling 2014; Rammert 2007; zur Technikethik siehe Misselhorn 2018). Allerdings ergeben sich aus der soziologischen Analyse der Technikgeschichte, der Handhabung von Werkzeug oder technischen Einrichtungen, die in vielen Facetten von der Freizeit bis zum Arbeitsleben die Lebenswelt durchdringt (z. B. Haushaltsgeräte, Fahrzeuge, Sportgeräte, Videokameras, Maschinen, Industrieanlagen; Eisendle und Miklautz 1992; Habermas 2012; Norman 2015) nur wenig Anhaltspunkte für eine psychologische Betrachtungsweise. Die Bedeutung und Allgegenwärtigkeit sowie die Unabhängigkeit ihrer Existenz von Forschungsaktivitäten lässt es sinnvoll erscheinen, sich näher mit einer systematisierten Analyse von Artefakten im psychologischen oder allgemein in einem sozialwissenschaftlichen Kontext zu befassen. Die folgenden Ausführungen sollen dafür einen Beitrag leisten, indem im ersten Schritt die methodologische Position der Artefaktanalyse im Rahmen einer interpretativen Sozialforschung umrissen und danach ein Verfahren zur Analyse dreidimensionaler Gegenstände als Prototyp der Artefaktanalyse vorgestellt wird. Da die Vielfalt an Artefakten im Sinne der Gegenstandsangemessenheit der methodischen Vorgangsweise Modifikationen des Interpretationsverfahrens erfordert, werden im anschließenden Kapitel einige Besonderheiten von Artefakten angesprochen. Anschließend wird anhand eines Alltags-
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gegenstandes gezeigt, wie eine solche Artefaktanalyse gestaltet werden kann. Der letzte Schritt resümiert die Überlegungen zur Artefaktanalyse.
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Methodologische Verankerung
Viele Handlungen sind ohne Artefakte nicht möglich. Sie sind uns aber so vertraut, dass wir diese Gegenstände nur selten in Hinblick auf ihre psychologischen, sozialen und gesellschaftlichen Bezüge reflektieren. Dafür ist es wichtig, ihre Einbettung in Sinnhorizonte und soziale Kontexte zu erfassen und als Teil der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit (Berger und Luckmann 2013) zu analysieren. Im Kontext psychologischer Fragestellungen geht es dabei um die komplexen Beziehungen zwischen Artfakten und Menschen, die mit ihnen etwas zu tun haben. Dazu zählen etwa: die Bedeutung von Artefakten für die Wahrnehmung (z. B. die Fokussierung oder Veränderung der Blickordnung, die Erregung von Aufmerksamkeit durch ein Parfum oder die Farbgestaltung eines Plakats), die Bereitstellung von Informationen (wenn etwa Türen Betretungsregeln signalisieren oder Verkehrszeichen über gesetzliche Vorgaben und Bedingungen für eine reibungslose Abwicklung des Verkehrs informieren), die Veränderung des Denkens (z. B. ein Abakus zur Unterstützung eines Rechenprozesses oder eine Rechenmaschine, die das Rechnen ganz abnimmt), der Einfluss auf Emotionen (z. B. durch die drastische Darstellung von Grausamkeiten), die Koordinierung von Handlungsweisen (z. B. durch den Maschinentakt oder die Normierung von Bauteilen), oder die Veränderung der Vorstellungen und Handlungsweisen von Menschen, die Artefakte verwenden (z. B. das durch das Tragen einer Waffe vermittelte Sicherheits- oder Machtgefühl und damit einhergehende Veränderungen der Verteidigungs- oder Angriffsbereitschaft; das durch Kleidung veränderte Selbstwertgefühl). So gesehen beeinflussen Artefakte die Wahrnehmung, das Denken, die Gefühlswelt und Handlungsbereitschaften. Aber Artefakte geben nicht aus sich heraus irgendeine Bedeutung preis, sondern bedürfen der Interpretation, die ihnen im Alltag Sinn verleiht und es im Forschungsprozess möglich macht, die mit dem Artefakt verknüpften Sinnstrukturen zu erschließen. So sind neben den Rahmenbedingungen für die Existenz eines Artefakts immer spezifische Gründe für das Auftreten von Artefakten verantwortlich (immerhin wurden sie durch menschliche Aktivitäten in die Welt gesetzt), die sich für eine erste Rekonstruktion der Sinnstruktur anbieten. Die Artefaktherstellung wiederum kann Handlungs- und Beziehungsinformationen liefern: etwa über Herstellungsmotive (z. B. Intentionen, erwartete Funktionen), Handlungsmuster (z. B. bei Abnützungsspuren), erforderliche Fertigkeiten (z. B. die Herstellung einer Skulptur), benötigtes Wissen (z. B. Bedienen eines Fahrscheinautomaten), Handlungsabläufe (z. B. Eingaben in eine PC-Tastatur), benötigte andere Handlungen (z. B. verschiedene Vorlauftätigkeiten beim Hausbau) oder eine spezifische Rechtsform (etwa durch Erbrecht erzeugte Grundstücksteilung in einer Region). Die Herstellung von und der Umgang mit Artefakten ist eine Art beobachtbares Wirken in die Umwelt (Luckmann 1992). Dieses Wirken löst Bedeutungszuschreibungen aus (z. B. ein
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Tatwerkzeug in einem Kriminalfall; der Verwendungszweck einer Maschine), kann mit Emotionen verbunden sein (z. B. Andenken an ein verstorbenes Familienmitglied) oder Handlungen regulieren, indem es Bewegungsräume vorgibt (z. B. Zimmeraufteilung), bestimmte Handlungsanforderungen stellt (z. B. Bedienung eines Geräts, automatischer Check-in am Flughafen) oder auf normative Vorgaben verweist (z. B. Verkehrsschilder). Und mitunter tauschen Artefakte Informationen aus: So telefonieren nicht nur Menschen, sondern auch die beteiligten Telefone stehen in Verbindung, und viele Maschinen geben Befehle an andere weiter. All das erzeugt ein Feld, indem nicht nur wichtig ist, was den Menschen Artefakte bedeuten, sondern was die Menschen mit Artefakten und was umgekehrt die Artefakte mit den Menschen „machen“. Es wäre daher verkürzend, Artefakte bloß in ihrer „objektiven“ Beschaffenheit zu betrachten. Piaget (1976) hat darauf hingewiesen, dass in der Wahrnehmung nicht einfach die Umwelt auf uns „einstürzt“, sondern dass wir diese aktiv formieren: durch den eigenen Beobachtungsstandort, durch Erzählungen anderer, durch Erwartungen und Erfahrungen. Wir lernen im Zuge der praktischen Auseinandersetzung mit Artefakten und integrieren sie in eine sinnhafte gegenständliche Welt, die sich im Alltag bewähren muss (siehe auch die dritte Prämisse bei Blumer 1969, wonach sich die Bedeutungen von Dingen im Zuge der interpretativen Auseinandersetzung mit ihnen verändern; vgl. Weick 1995). So gesehen manifestiert sich in Artefakten Wissen über ihre Herstellung, über ihre Bedeutung (auch für andere) sowie über ihre Verwendung, das auf die Komplexität sozialer Beziehungen verweist. Jedoch ist die Interpretation abhängig vom individuellen Blickwinkel und den Erfahrungen der Interpretierenden sowie deren soziale Vernetzung und damit der wechselseitigen Beobachtung des Umgangs mit den Artefakten sowie dem kommunikativen Austausch über diese. Das lenkt den Blick auf die mehrdimensionale Verankerung von Artefakten (Joerges 1979): Ein Fahrzeug kann für eine Person den Arbeitsplatz sichern (in der Automobilindustrie, als Fahrer/in), für andere Personen kann es eine Geschäftsmöglichkeit (Leasingfirmen, Autohäuser), Mobilitätsmittel (Passagier/ innen), Prestigeobjekt (z. B. Bentley, Ferrari, Trabant), Besitztum (das man verkaufen oder verpfänden kann), Ausstellungsobjekt (Oldtimer) oder Grund für Staus und Umweltzerstörung sein. Diese multiple Verankerung von Artefakten und der damit verknüpfte Bezug zur sozialen Welt erfordern eine entsprechende methodologische Berücksichtigung: Es reicht nicht, nur eine Perspektive zu erfassen, sondern es bedarf der Rekonstruktion der Einbettung in komplexe soziale und psychologische Bezüge. Damit, so die Kernidee, ist es möglich, von einem Artefakt ausgehend dessen soziale Konstruktion und deren Spezifika zu erfassen und damit einen Beitrag zum Verständnis der kognitiven und sozialen Welt zu leisten, in der Menschen leben. Dafür bedarf es der Analyse der mit einem Artefakt kontextuell verbundenen Sinnstrukturen, wobei vier Sinndimensionen von Interesse sind (Froschauer und Lueger 2009; Lueger 2001): 1. der intendierte (gemeinte) Sinn, der eine gewollte Information vermitteln soll und im Artefakt als subjektiver Sinn typisiert werden kann; 2. der projizierte Sinn, den die Rezipient/innen eines Artefakts in diesem zu erkennen glauben (etwa ein Erinnerungsstück); 3. der praktische Sinn,
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der auf die mit dem Artefakt verbundenen situativen Praktiken Bezug nimmt; 4. der objektive Sinn, der Artefakte technisch integriert und diesen konstruktionsbedingt inhärent ist (etwa das Zusammenspiel der Teile einer funktionsfähigen Uhr). Mit Ausnahme des objektiven Sinns enthalten alle Sinndimensionen sowohl individuelle Komponenten, die in eine persönliche Erfahrungsgeschichte eingebettet sind, als auch kollektive Komponenten, die ein gemeinsames Grundverständnis ermöglichen und auf diese Weise eine kollektive Orientierung in Hinblick auf die Sichtweise und den Umgang mit Artefakten schaffen. Diese gemeinsam verfügbaren Sinnhorizonte formen das Alltagsverständnis in einer von Artefakten erfüllten Welt und ermöglichen koordinierte und erwartbare Handlungsweisen. Aus einer interpretativen Perspektive orientieren sich daher Artefaktanalysen an vier Grundfragen: 1. Wie kommt es dazu, dass es das Artefakt gibt? 2. Wie wird es hergestellt? 3. Wie gehen Menschen/Kollektive damit um? 4. Was „macht“ das Artefakt mit den Menschen und welche Interessen verbergen sich dahinter? Diese Fragen verdeutlichen, dass eine Kontextrekonstruktion die Schlüsselkomponente einer interpretativen Artefaktanalyse bildet. Diese Methode bewegt sich zwischen den dinglichen Komponenten einerseits (Objektcharakter) und kognitiven oder emotionalen Bedeutungszuschreibungen andererseits (Subjektcharakter), wobei Artefakte in diesem Zwischenraum als kontextuell geformte soziale Konstruktionen behandelt werden. Sie verkörpern die soziale Welt, weil sie Produkte menschlichen Handelns und Deutens sind, in denen sich die Komplexität sozialen Handelns und sozialer Beziehungen manifestiert, treten den Menschen aber zugleich als eigene Realität gegenüber, mit der sie umgehen müssen. Das gilt es bei der Interpretation von Artefakten methodisch zu bedenken.
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Die Durchführung der Artefaktanalyse
Wie wichtig dreidimensionale Artefakte sind, bemerkt man sofort, wenn man versucht, sich diese aus unserem Leben wegzudenken. Das Überleben wäre ohne Artefakte (wie Kleidung oder Werkzeug) eine gewaltige Herausforderung, und moderne Gesellschaften wären (ohne Gebäude, Transportmittel, Technik) nicht denkbar. Für die Psychologie kann daher eine Methode der Artefaktanalyse beitragen, dieses für individuelle Wahrnehmungs- und Handlungsweisen sowie das soziale Zusammenleben bedeutsame Datenmaterial systematisch zu nutzen. Artefakte sind nicht in ihrer Materialität von Interesse, sondern aufgrund der sinngebundenen Verweise auf Anderes, wie etwa die mit ihnen verbundenen Bedeutungen oder die von ihnen ausgehenden Handlungsstrukturierungen (Baudrillard 1991). Sie geben auch nichts aus sich heraus preis, weshalb sie der Interpretation bedürfen (Reichertz 1996), also der menschlichen Vorstellungskraft, mit der die mit den Artefakten verbundenen Bedeutungen, Hinweise auf Handlungs- und Sichtweisen sowie die von ihnen ausgehenden Impulse für das soziale Leben erst einmal in ihrem Potenzial erkundet werden. Sie existieren nicht bloß autonom im Moment,
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sondern sind dauerhaft fixierte Materialisierungen historisch-genetischer Prozesse, die vielfach in die Zukunft fortwirken und dabei auch selbst einer Veränderung unterliegen. Methodisch besteht die zentrale Herausforderung für die Analyse von Artefakten in einer möglichst umfassenden Kontextualisierung, die die in sie eingeschriebenen sozialen Logiken thematisiert (Froschauer 2002): 1. Die Logik des Anlasses: Diese gibt Aufschluss, warum ein Artefakt überhaupt in einem spezifischen Kontext aufscheint. Beispielsweise setzt eine Glühbirne Geräte zur Erzeugung und Weiterleitung von Elektrizität (Kontext anderer Artefakte) sowie das Interesse bzw. den Bedarf an künstlicher Beleuchtung und entsprechendes Wissen zur Konstruktion sowie Fertigkeiten zur Herstellung solcher Geräte voraus. Artefakte gibt es also nicht einfach, sondern ihre Existenz hat Gründe. 2. Die Logik der Produktion: Unabhängig vom Grund ihrer Entstehung müssen sie geschaffen werden. Nach Schütz (1981) sind sie Erzeugnisse, die die mit ihrer Hervorbringung verbundenen Abläufe und den in sie eingegangenen Sinn anzeigen. In diese gehen sowohl individuelle Handlungen bzw. Handlungsmuster (wie etwa im Fall von Spuren) als auch komplexe soziale Koordinationsprozesse ein und bieten solcherart Hinweise auf das Verhältnis zwischen individuellen und kollektiven Produktionszusammenhängen. 3. Die Logik des Gebrauchs: Die Vielfalt ihrer kontextuellen Handhabung macht sie zu einem wesentlichen Bezugspunkt für die Frage, mit welchen Kontexten und mit welchen Vorstellungen der Gebrauch, die Veränderung oder auch die Zerstörung von Artefakten verknüpft sein könnte. 4. Die Logik der Sinnhaftigkeit: Artefakte sind nicht bloß physische Gegenstände, sondern sie sind mit Bedeutungen versehen und in Sinnzusammenhänge integriert. Insofern ist es wichtig zu verstehen, welche Bedeutungen mit ihnen verbunden werden und wie sie in individuelle und kollektive Vorstellungswelten und Handlungskomplexe integriert sind. 5. Die Logik der sozialen und gesellschaftlichen Praxis: Artefakte transportieren Bedeutungen, produzieren Wirkungen und verändern dabei Wahrnehmungen, Einstellungen und Handlungsweisen – also die Menschen (Burkart 2007). Gerade die Aneignung von Artefakten (etwa zu lernen, wie man mit einem Fahrrad fährt, eine Krawatte bindet oder am Automaten einen Fahrschein löst), ihre Funktionen und Wirkungen im sozialen Zusammenhang (etwa die ständige Erreichbarkeit am Smartphone, die Koordination von Arbeiten an einer Maschine, die Exklusion von Personen durch verschlossene Türen) erfordern den Einbezug des Handlungsfeldes in die Artefaktanalyse. Die Materialität ist ein erster Ausgangspunkt für die Artefaktanalyse, von dem aus die sinngebundenen Verweise auf Bedeutungen und Zusammenhänge mit situierten Praktiken erkundet werden. So gesehen ist eine Teeschale aus feinster chinesischer Keramik ein Objekt, das im Vergleich zu anderen Teetassen spezifische Bedeutungen transportiert (z. B. hoher Preis, Prestige, Hochachtung
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von einer bestimmten Kultur), spezielle Herstellungstechniken erfordert (z. B. sorgfältige Auswahl des Ausgangsmaterials, hohe töpferische Kompetenz), spezielle Umgangsformen erfordert (z. B. vergleichsweise vorsichtige Handhabung) und spezifische Handlungsweisen formt (etwa im Rahmen einer Teezeremonie), sofern sie nicht in einer Vitrine ausgestellt ist. Der kompetente Gebrauch formt dabei nicht nur die Praktik des Trinkens, sondern ist ein Teil der Selbstpräsentation, signalisiert die Identifikation mit einer spezifischen Teekultur, ist Ausdruck der Wertschätzung von Gästen und versieht die mit der Keramikschale verbundene Situation, die Personen und deren Handlungen mit einem rituellen Bedeutungskontext. Darüber hinaus ist zu beachten, dass zur kompetenten Umsetzung der Zeremonie etwa auch die Präsentierteller für die Teeblätter, die Kanne, die Riechschalen, hochwertige Teesorten und die spezifische Zubereitung der Aufgüsse und das Einschenken gehören. So gesehen ist die Artefaktanalyse nicht am Material interessiert, jedoch ist dieses für das Verständnis des Artefakts durchaus bedeutsam (etwa in Hinblick auf die durch das Artefakt und dessen kompetente Handhabung vermittelte Gastfreundschaft und Selbstdarstellung). Das verwendete Material wird erst in diesem Sinnzusammenhang bedeutsam. Methodisch betrachtet man Artefakte als beobachtbare Mitteilung, die es zu entschlüsseln gilt und die sich auf verschiedene Kontexte beziehen kann. Um deren Bedeutung herauszuarbeiten, ist es sinnvoll, verschiedene Analysedimensionen zu berücksichtigen (Froschauer 2002; Lueger 2010; Lueger und Froschauer 2018): 1. Der Forschungskontext klärt erst einmal den Analyserahmen. In diesem Zusammenhang sind drei Fragen überlegenswert: a) Welche Informationen erwartet man sich in Hinblick auf die Analyse eines bestimmten Artefakts und warum erachtet man ein Artefakt als besonders interpretationswürdig? b) Was könnten vergleichbare oder verbundene Artefakte sein, die in die Analyse einbezogen werden sollten? c) Inwiefern ist die Artefaktanalyse in ein Gesamtdesign einer Forschungsarbeit eingebettet und welche spezifischen Beiträge erwartet man von den unterschiedlichen Elementen des Designs (etwa die Kombination von Befragungen zur Nutzung eines analysierten Raumes, die Beobachtung des Verhaltens in diesem sowie die Artefaktanalyse zur Interpretation der Bedeutung der Raumstruktur und der Einrichtung)? 2. Eine deskriptive Analyse schafft den Zugang, wobei diese bereits die erste Rekonstruktion des Artefaktkontextes mitbedingt. Zu diesem Analyseschritt zählen folgende Fragen: a) Warum gibt es dieses Artefakt überhaupt, was ist der Anlass für dessen Produktion und für welche Gebrauchsformen könnte es gedacht sein? b) Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, dass ein spezifisches Artefakt existieren kann (z. B. bei einem PC eine globalisierte Wirtschaft mit fortgeschrittener Technologie und vielfältigem interdisziplinärem Wissen)? c) Wie lassen sich die Stofflichkeit und die allgemeinen Eigenschaften des Artefakts charakterisieren (dazu zählen auch taktile oder olfaktorische Eigenschaften)? d) Wie lässt sich die innere Differenziertheit des Artefakts charakterisieren? Das kann bei Technikartefakten eine große Herausforderung sein, da zu überlegen ist, in welche Tiefe man vordringen soll (Beispiel Computer: die Einzelheiten und
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Besonderheiten der verbauten Einzelteile, die Programmierung der Softwareanwendungen, die erforderliche Infrastruktur). 3. Im Zuge der anschließenden alltagskompetenten Sinneinbettung wird versucht, aus der Perspektive der Herstellung, Nutzung oder der mit dem Artefakt konfrontierten Personen den Bedeutungshorizont eines Artefakts zu erkunden. Dafür versetzt man sich in die Rolle einer alltagskompetenten Person, um verfügbare Wissensvorräte über mögliche individuelle, soziale und kulturelle Bedeutungszuschreibungen und Sinnzusammenhänge zu aktivieren und mit dem Artefakt zu konfrontieren. Für diesen Schritt bieten sich folgende Ausgangsfragen an: a) Was sind mögliche soziale Bedeutungen des Artefakts, wenn man dessen einzelne Komponenten und deren Zusammenspiel aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet? b) In welchem Kontext trifft man dieses Artefakt an und welche Bedeutung hat dieser? Hier steht die Einbettung in ein individuelles und soziales Setting im Zentrum und die Frage, inwiefern dieses Setting die Wahrnehmung des Artefakts beeinflusst. Dazu zählen auch die Sinnlichkeit und Emotionalität der Wahrnehmung eines Artefakts (Baudrillard 1991). 4. Die Strukturanalyse ist der zentrale Interpretationsabschnitt, bei dem man sich zunehmend von der Materialität des Artefakts und den Bedeutungszuweisungen entfernt und versucht, die Einbettung in einen spezifischen Kontext von Praktiken sowie jene Regeln zu erfassen, die den Umgang mit diesem verständlich machen. In diesem Schritt werden auch die bisherigen Interpretationen in einen Gesamtzusammenhang integriert. Dafür kann man sich folgender Fragen als Richtschnur bedienen: a) Was ist für die Produktion des Artefakts notwendig und was braucht es an Rahmenbedingungen, damit dieses Artefakt hergestellt werden kann? Hier geht es um Wissen, Handlungskompetenzen, andere Artefakte als notwendiges Umfeld oder auch in den Artefaktkontext involvierte Handlungsweisen verschiedener Personen. b) Was sind potenzielle Funktionen und Wirkungen des Artefakts? Dahinter steht die Frage, was das Artefakt bei den involvierten Akteur/ innen auslösen könnte, also was ein Artefakt mit diesen „macht“ bzw. in welchem Interesse das geschieht (z. B. hält die Gefängniszelle Häftlinge im Interesse des Strafvollzugs und damit im Zusammenhang mit dem Rechtssystem fest). c) Welche Praktiken etablieren sich im Zuge des Umgangs mit dem Artefakt? Dabei ist zu überlegen, in welchen Situationen das Artefakt in welche Praktiken eingebettet ist. 5. Letztlich ist es hilfreich, vergleichbare Artefakte in die Analyse einzubeziehen. Dafür bietet sich ganz im Sinne des theoretischen Samplings der Grounded Theory-Methodologie (Glaser und Strauss 2010, Kap. 3) an, ähnliche Artefakte zu analysieren, um die Geltung der Interpretation zu sichern, oder verschiedene Ausprägungen eines Artefakts zu untersuchen, um die Differenziertheit eines Artefakttypus zu verstehen und die Reichweite der Interpretation auszuloten. Für die Qualität der Analyse sind zwei Aspekte besonders wichtig: Zum einen die möglichst weite und spekulative Ermittlung von Lesarten des fokussierten Artefakts (extensive Sinnauslegung ohne Zeitdruck), wobei es durchaus sinnvoll ist, auf vielfältiges Wissen zurückzugreifen (etwa durch Interpretation im Team, um verschie-
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dene Perspektiven zu reflektieren; Reichertz 2013). Zum anderen geht es um die kritische Reflexion der erkundeten Möglichkeiten, wofür es wichtig ist, im Zuge der Interpretation zu prüfen, welche anderen Erkenntnisse für oder gegen bestimmte Lesarten sprechen und unter welchen Bedingungen eine bestimmte davon akzeptiert werden kann. Gerade die mehrdimensionale Verankerung von Artefakten macht es unabdingbar, die kontextuellen Geltungsbedingungen einer Interpretation anzugeben.
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Modifikationen der Analyse
Die Analyse dreidimensionaler Artefakte läuft also auf eine zentrale Frage hinaus, nämlich was diese über das soziale Umfeld sowie über jene Personen aussagen, die mit ihnen umgehen. Das hier vorgestellte Verfahren soll jedoch nicht als Standardverfahren missverstanden werden. Wie jedes interpretative Verfahren bedarf es der Anpassung an spezifische Gegenstandsbereiche oder Fragestellungen. Diese Anpassung des Verfahrens ist auch deshalb nötig, weil dreidimensionale Artefakte höchst unterschiedlich gestaltet sein können und sich nicht alle Artefakte nur auf Grundlage ihrer äußeren Erscheinung analysieren lassen. An dieser Stelle sei nur kurz auf Artefakte in einer erweiterten Perspektive verwiesen, die spezifischere Anforderungen stellen: 1. Der menschliche Körper und dessen Bekleidung: In allen Kulturen finden sich Verhaltensweisen, welche die körperliche Erscheinung modifizieren und dadurch den Körper selbst zum Artefakt machen (z. B. Gugutzer 2015; Posch 2009; Shilling 2012). Das betrifft dessen Formung (z. B. Frisur/Rasur, Tätowierungen, gezielte Ernährung, Muskeltraining oder medizinische Eingriffe; Kasten 2006), den Schmuck oder auch die Umhüllung, mit der er zur Darstellung gebracht wird (z. B. durch Kleidung; Schmidt 2007; Sommer und Wind 1991; Ziege 2011). Diese individuelle Selbstpräsentation sowie die Integration in eine spezifische Subkultur bliebe ohne Bezug zum gesellschaftlichen und institutionellen Kontext unverständlich (z. B. der Trend zur individualisierenden Mode, die Erkennbarkeit einer beruflichen Funktion durch eine Uniform), weshalb es hier besonders wichtig ist, die damit verbundenen Erwartungen (z. B. religiöser Art, Vorstellungen über die gepflegte oder attraktive Erscheinung, geschlechtsspezifische Zuschreibungen, subkulturelle Regeln, Sicherheitsvorschriften) zu erkunden. 2. Von Menschen geformte Landschaft: Hier muss berücksichtigt werden, dass sie nicht einfach ein Gegenstand ist, sondern von Menschen überformte Natur (in diesem Zusammenhang bietet die Humangeografie wichtige Hinweise; Knox und Marston 2008; Gebhardt et al. 2003). In Europa ist die Landschaft überwiegend Kulturlandschaft. Wenn wir also in die menschlich geformte Landschaft blicken, so zeigen sich in der Art des Umgangs mit Grund und Boden gesellschaftliche Verhältnisse und Produktionsweisen, die etwa in Hecken, Zäunen oder Barrieren als Markierungen von Grenzen (etwa zum Anzeigen von Besitztümern, Inklusion und Exklusion), durch die Kultivierung von Landschaft im
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Zuge der Raumplanung (etwa die Nutzung von Boden in der Landwirtschaft, in Städten, oder im Bergbau, die Bepflanzung) oder der privaten Raumnutzung (z. B. Privatgrundstücke) zum Ausdruck kommen (Kaspar 2012). All das macht individuelle Positionierungen (Besitz, Gestaltungsfähigkeit und -wille), die Regelung sozialer Beziehungen (wie Erbschaft, Zugehörigkeit) und (berufliche und private) Chancen der Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen sichtbar. Insofern ist es wichtig, die spezifischen Eingriffe, die hinter diesen Modifikationen stehenden individuellen Vorstellungen, die Regeln sozialer Ordnung und der Naturaneignung, die damit verbundene Erlebnisqualität (auch Ästhetik) oder Funktionalität sowie die historische Verortung besonders zu beachten. In psychologischer Hinsicht stellt sich die Frage, was die Landschaftsgestaltung für die Entfaltung oder Beschränkung individueller Entwicklung (wie Aneignung von Kompetenzen, Identität, soziale Zuschreibung) zu tun hat und welche Folgen damit verbunden sind (etwa Biografie, emotionale Qualitäten), wobei die ökologische Psychologie wichtige Anhaltspunkte zum umweltbezogenen Erleben und Verhalten liefern kann (z. B. Hellbrück und Kals 2012; Kruse et al. 1996). 3. Komplexe Technik: Sie bedarf einer gesonderten Betrachtung, weil die konkrete Konstruktion sowohl im Hinblick auf die Rahmenbedingungen (z. B. Stromgenerator für Elektrogeräte) als auch auf das Innenleben (z. B. die Komplexität des Aufbaus, Software) spezifische Anforderungen stellt. Bei solchen Artefakten erfolgt das Zusammenwirken der verschiedenen Teile oder auch verschiedener Artefakte nach vorbestimmten und vorhersagbaren Regeln. Darüber hinaus sind moderne technische Artefakte aufgrund der Software oft höchst variabel einsetzbar, wobei diese Einsetzbarkeit nur rekonstruierbar ist, wenn man die Gebrauchsmöglichkeiten der Software versteht. Darüber hinaus ist Technik immer verbunden mit spezifischen Kompetenzen (z. B. Bedienung) und setzt vielfach andere Artefakte für deren Gebrauch voraus (z. B. Abhängigkeiten), nimmt Tätigkeiten ab oder erleichtert diese (z. B. Maschinen) und verändert kognitive Strukturen (z. B. in der Auseinandersetzung mit Technik). Insofern bedingt die Analyse technischer Artefakte eine Untersuchung im Zuge des Gebrauchs (einen ersten Zugang bieten hier die Techniksoziologie oder Technikpsychologie; z. B. Häußling 2014; Pinch und Bijker 1984; Rammert 2007). Die Forschung muss sich im Zuge dessen mit den Bedienungs- und Gebrauchsformen auseinandersetzen, was ein praktisches Erkunden im Zuge der Analyse sinnvoll macht, um die mit einem adäquaten Umgang erforderlichen Lernprozesse und Erfahrungen, das nötige Wissen, die eingespielten Routinen, die Probleme und deren Bewältigung, aber auch die damit verbundenen kognitiven und emotionalen Prozesse genauer erfassen zu können. 4. Zweidimensionale Artefakte: Auch sie weisen Besonderheiten auf, die hier nur kurz angerissen werden sollen, weil für deren Analyse vielfach spezialisierte Analyseverfahren verfügbar sind. Diese zweidimensionalen Artefakte lassen sich grob in folgende Kategorien einteilen (Lueger 2010; Lueger und Froschauer 2007): • Handwerklich hergestellte Bilder: Sie erfüllen eine darstellende und/oder reflexive Funktion (z. B. Handzeichnungen, Malerei) und visualisieren Vor-
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stellungen und Eindrücke. Während insbesondere im Kontext der Ikonografie und Ikonik aus der Alltagserfahrung, der Literaturkenntnis und aus einem historischen und gesellschaftlichen Hintergrund auf den „Bildsinn“ geschlossen wird (Panofsky 1978; Imdahl 1995), kehrt eine interpretative Artefaktanalyse dieses Verhältnis zwischen Bild und Kontext gleichsam um. Nun geht es weniger um den „Bildsinn“, sondern um die im Bild manifestierte gesellschaftliche Dimension, den sozialen Kontext des Bildes, mit diesem verbundene Wahrnehmungsweisen sowie um die im Bild verankerten kommunikativen Elemente. Im Zentrum steht also nicht mehr die im Bild erzählte Geschichte, sondern die Frage, unter welchen Bedingungen jemand auf die Idee kommt, eine solche Geschichte mit spezifischen Materialien und Stilmitteln auf einer Fläche darzustellen. Zur Bildanalyse gibt es eine Reihe von Interpretationsverfahren (u. a. Breckner 2010; Englisch 1991; Heinze-Prause und Heinze 1996; Müller-Doohm 1993). • Fotos: Als alltägliche und inzwischen leicht verfügbare Repräsentation moderner Gesellschaften fangen sie gleichsam einen Augenblick ein und geben ihn technisch modifiziert wieder (z. B. Farbbilder, Fotomontagen oder Verfremdungen), wobei der Platz in der Forschung inzwischen gesichert ist (allgemein siehe Eberle 2017; zum fotografischen Mapping siehe Downs und Stea 2005; zu Fotointerviews siehe Collier und Collier 1992; Slutskaya et al. 2012). Berücksichtigt man die Besonderheiten der Fotografie, bieten sich folgende spezifische Ansatzpunkte für die Interpretation an: a) die Analyse der Produktionsbedingungen (z. B. Rahmen, Technik, Manipulationen); b) die selektive Inszenierung und Distinktheit von Fotos (z. B. Betonen, Ausblenden, Anordnen); c) die narrative Struktur von Fotos (z. B. visuelle Grammatik, reflexive Bedeutungen); d) Assoziationen (z. B. individuelle oder gemeinsame Rezeption). • Filme und Videos: Sie machen Prozessverläufe und narrative Inszenierungen visuell (und meist auch akustisch und mitunter dreidimensional) verfügbar. Auch für Film- und Videoanalysen sind Interpretationsverfahren greifbar (z. B. Corsten et al. 2010), wobei aus einer interpretativen Perspektive hermeneutische Ansätze von besonderer Relevanz sind (Keppler 2015; Knoblauch et al. 2006; Raab 2008; Reichertz und Englert 2011; Peltzer und Keppler 2015). Bei der Filmanalyse ist es sinnvoll, unter Berücksichtigung des jeweiligen Filmtyps verschiedene Perspektiven einzunehmen: a) die vor der Kamera; b) die hinter der Kamera und am Bearbeitungstisch; c) die Position der Rezipient/innen. d) Darüber hinaus ist der enge Filmkontext zu beachten, weil im Hintergrund dieser Filme häufig Technologien, Märkte, Werbestrategien, Produktlinien und die Rezeptionskontexte stehen. e) Letztlich stellt sich die Frage, auf welche Weise in den Filmen nicht nur in einem Milieu verbreitete Normen, Werthaltungen, Abgrenzungen oder Handlungsorientierungen dargestellt werden, sondern auch welche Funktion sie für Personen und die Gesellschaft übernehmen. • Symbolische Darstellungen: Sie werden hier als Ergänzung angeführt, weil sie eine wichtige kommunikative Funktion übernehmen (wie Schilder, Hinweis-
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zeichen oder Landkarten), vielfach aber die Kenntnis der Bedeutung der Mitteilung voraussetzen. In der Forschung wiederum können sie im Rahmen von Vignettenanalysen wertvolle Dienste leisten, indem Vignetten als gezeichnete Anregungen für Diskussionen oder Rollenübernahmen fungieren (Stiehler et al. 2012; Miko-Schefzig 2019). Für die Analyse ist es dabei sinnvoll, die Zeichenhaftigkeit (Peirce 1991) von Artefakten einzubeziehen: die Symbolik im Kontext kultureller Selbstverständlichkeiten, die mögliche indexikalische Qualität oder Zeichen als symbolische Repräsentanten ohne direkten Bezug zum Dargestellten.
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Psychologische Aspekte der Analyse einer Geldbörse
In diesem Abschnitt soll nun gezeigt werden, wie man sich im Rahmen einer Artefaktanalyse einem alltäglichen Gegenstand interpretativ annähern kann. Dafür bietet sich die Geldbörse mit ihren Inhalten an, die in modernen westlichen Gesellschaften (zumindest derzeit noch) fast jeder Mensch bei sich trägt, wenn er sich außerhalb seiner Wohnung bewegt. Aufgrund der Kürze der Darstellung konzentrieren wir diese auf zentrale Kernfragen, die sich für die Analyse eines Artefakts anbieten und richten den Blick vorrangig auf eine psychologische Sichtweise: 1. Forschungsinteresse: Da Geldbörsen einen wichtigen Alltagsgegenstand für viele Aspekte der Organisierung des Alltags darstellen, könnte für die Psychologie die Frage im Vordergrund stehen, welche Rolle die Geldbörse zur Bewältigung von Alltagsroutinen, zur Selbstdarstellung oder auch in Hinblick auf die eigenen Ansprüche spielt. Die Geldbörse wird damit zum Hinweis auf die persönliche Lebensgestaltung. Die Artefaktanalyse kann im Forschungsprozess ergänzt werden durch Gespräche mit den Personen über ihre Geldbörse. 2. Deskriptive Analyse: Im ersten Schritt stellt sich die Frage, was eine Person motiviert, überhaupt eine bzw. eine bestimmte Geldbörse zu verwenden und welche Eigenschaften der Geldbörse (z. B. Material und Aufbau) ihren Gebrauch fördern. Erste Anhaltspunkte können sein die Verfügbarkeit bestimmter Gegenstände, während man unterwegs ist – wobei in der Analyse der Inhalte darauf zu achten ist, wofür diese für eine Person oder in einer Gesellschaft stehen. Darüber hinaus ist die Größe einer Geldbörse und die damit verbundenen Verwendungsoptionen wichtig: Beispielsweise sind Geldbörsen für Frauen häufig größer als solche für Männer, was mit deren Kleidung (kleinere Taschen) oder der Verwendung einer Handtasche zusammenhängen kann. Die Aufteilung der Geldbörse deutet darauf, inwiefern beim Erwerb die Vielfalt der Verwendung eine Rolle spielt (Kartenfächer, Ausweisfächer, Fach für Kleingeld etc.). Das Material, die Farbe, die Form oder die Marke haben möglicherweise etwas mit Selbstpräsentation zu tun, wobei eigene Ansprüche (etwa auf Mode, Unauffälligkeit oder Auffälligkeit, Qualität oder Preis) zur Geltung kommen können. In Hinblick auf die interne Differenzierung zeigen sich neben den Materialeigenschaften auch Hinweise auf die unterbringbaren Gegenstände. Daraus lässt sich erst einmal
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erkennen, welche Funktionen eine Geldbörse für die Person erfüllen kann (etwa Verfügbarkeit von Geld in Form von Bargeld oder Bank-/Kreditkarten, von Mitgliedskarten, Ausweisen, Rechnungen, Fotos, Glücksbringern, Kondomen etc.). 3. Alltagskompetente Sinneinbettung: Hier geht es darum, die in der vorherigen Dimension identifizierten Besonderheiten der Gestaltung und der Inhalte einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Die äußere Form steht so für bestimmte Vorlieben und Verwendungsoptionen (z. B. können Ausgehbörsen für Frauen reduzierte Versionen der Alltagsvariante für spezifische Anlässe sein; Abnutzungsspuren deuten auf Verwendungsweisen und Nutzungsdauer). Insofern stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen welche Geldbörse gewählt wird. In Hinblick auf die Inhalte stehen etwa Bargeldreserven und Kredit-/Bankkarten einerseits für die Bevorzugung bestimmter Zahlungsmodalitäten, andererseits auch für die spezifische Einbindung in institutionalisierte Formen des Zahlungsverkehrs (Bankverbindungen, Kreditwürdigkeit). In den Mitgliedskarten offenbaren sich vielfältige Beziehungsnetze, die sich nach der Mitgliedschaftsart differenzieren lassen (z. B. Kundenkarten für bestimmte Geschäfte, Mitgliedskarten als Zutrittsmedien zu bestimmten Einrichtungen). Ausweise ermöglichen den Identitätsnachweis für bestimmte Institutionen (z. B. Banken, Polizei) und signalisieren, dass man mit solchen Notwendigkeiten rechnet (oder rechnen muss). Fahrkarten oder Zutrittskarten liefern Informationen über bestimmte Fahrgewohnheiten oder auch Örtlichkeiten, zu denen man Zutritt hat, Rechnungen geben Aufschluss über Geschäftsbeziehungen und Konsumgewohnheiten, Bilder zeigen eine bestimmte Nähe zum Dargestellten an (meist Personen, Tiere, Objekte), und Glücksbringer sagen etwas über Glaubensfragen. Der Inhalt von Portemonnaies gibt komplexe Netzwerke preis, in die ihre Besitzer/innen eingebunden sind und deutet auf wichtige Handlungszusammenhänge. 4. Distanziert-strukturelle Analyse: Bezüglich der Herstellung des Artefakts können die verwendeten Einzelteile (z. B. Leder, Metall), Hilfsmittel (z. B. Nähmaschine), deren Bezugsquellen, die für die Herstellung nötigen Kompetenzen (z. B. handwerkliches Geschick) oder die Art der Konstruktion viel über eine Person aussagen. Bei erworbenen Geldbörsen stellen sich etwa Fragen nach den Optionen, die beim Erwerb berücksichtigt wurden (z. B. Preis, Aussehen), nach Hinweisen darauf, inwiefern der Herstellungsprozess oder die Herkunft selbst für die Person wichtig sein könnten (z. B. erkennbare Zurechnung an ein Land als Erinnerung) oder auf Veränderungen in der Nutzung (z. B. Gebrauchsspuren). Für den praktischen Gebrauch stellt sich anhand der Inhalte die Frage, welche Optionen diese im Alltag eröffnen und inwiefern diese mit den persönlichen Charakteristika korrespondieren könnten. Das ist insofern von Bedeutung, weil die Geldbörse in vielen Fällen als multifunktionaler, auf den Alltagsverlauf abgestimmter Aufbewahrungsort fungiert. Deshalb stellt sich bei den einzelnen Inhaltskomponenten die Frage, wie diese von der Person gebraucht werden können, welche Anforderungen sich im Alltag damit bewältigen lassen und auf welche Weise dies organisiert wird. Beispielsweise geben Kreditkarten (sofern sie gedeckt sind) Sicherheit, jederzeit auch größere Anschaffungen tätigen zu können, ohne deshalb umfangreichere Geldreserven mitnehmen zu müssen und
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bieten einen gewissen Schutz vor Geldverlust im Fall eines Diebstahls. Kundenkarten bieten die Inanspruchnahme von Rabatten und maßgeschneiderten Empfehlungen; Rechnungen sind im Gewährleistungsfall wichtig oder verschaffen einen Überblick über die Ausgaben; ein Blutgruppenausweis kann sich bei einem Unfall bewähren. Bilder halten die Nähe zum Dargestellten aufrecht und man kann sie anderen zeigen. Viele dieser Gegenstände übernehmen potenzielle Schutzfunktionen, deuten auf mögliche Ängste oder erweitern die im Alltag verfügbaren Optionen. Insofern erschließt sich über die Geldbörse eine Vielfalt an alltäglichen Praktiken, die das Leben nachhaltig erleichtern. 5. Vergleichende Analyse: Sie ermöglicht es, die allgemeine Bedeutung einer Geldbörse für die Menschen herauszuarbeiten und die Unterschiede zu erkennen, die verschiedene Personen in ihrer alltäglichen Lebenspraxis auf eine möglicherweise typische Weise unterscheiden. Geldbörsen von Frauen und Männern zeigen häufig solche Unterschiede. Aber es sind auch unterschiedliche Lebensstile erkennbar, die in spezifischen Milieus oder auch durch die mit den Gegenständen verbundenen Erfordernissen angeeignet wurden: solche ohne viel Bargeld (mit Vertrauen auf eine funktionierende und unproblematische Infrastruktur) und solche, die versuchen, sich (im Bewusstsein der Fülle mit einer Verwendung von Bankomat- oder Kreditkarten preisgegebenen Informationen) der institutionellen Kontrolle durch Bargeldverwendung zu entziehen; solche, die auf Sicherheit bedacht und auf alle Eventualitäten vorbereitet sind oder solche, die darauf weitgehend verzichten. Fasst man das zusammen, so wird deutlich, dass Geldbörsen nicht nur viele Hinweise auf die Persönlichkeit und die Alltagsorganisation einer Person geben, sondern auch Informationen über ein weites Geflecht von sozialen und institutionellen Beziehungen bieten. Das macht die Geldbörse zu einem sehr wichtigen und zugleich privaten Element im Bereich des persönlichen Besitzes, der im Gegensatz zu vielen anderen Besitztümern ständiger Begleiter ist und deren Abhandenkommen meist deutlich in das Bewusstsein mit entsprechenden Begleitemotionen tritt. Jedoch ist im Sinne der Qualitätssicherung die Reichweite der gezogenen Schlussfolgerungen zu prüfen. Beispielsweise hat die Verwendung einer großen Geldbörse etwas mit deren Unterbringung zu tun (etwa in einer Handtasche), was in manchen Fällen dazu führt, dass anlassbezogen verschiedene Geldbörsen verwendet werden. Aber die Geldbörse kann nicht nur für die Psychologie wichtige Erkenntnisse liefern. Für soziologische Fragestellungen kann es wichtig sein, Hinweise auf gesellschaftliche Phänomene zu erhalten. Dabei könnte man sich auf die Frage konzentrieren, in welcher Gesellschaft wir leben, wenn wir bestimmte Geldbörsen mit ihrem spezifischen Inhalt verwenden. Dann ergeben sich aus der Produktion etwa Hinweise auf Geldwirtschaft sowie auf eine arbeitsteilig organisierte und globalisierte Wirtschaft: Immerhin braucht man für eine Ledergeldbörse Tiere, die dafür getötet werden; Gerbereien und chemische Industrie, die das Leder verarbeiten; Maschinen (inklusive entsprechendem Ingenieurswissen), die eine präzise Bearbeitung (Nähen etc.) ermöglichen; Bergbau, der Metalle dafür bereitstellt und auch den Handel samt Finanzinstitutionen, welche die verschiedenen beteiligten Organisationen miteinan-
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der verknüpfen. In diesem Fall würde man auch – je nach Fragestellung – die institutionelle Struktur von Beziehungen und damit auch die dahinter stehenden Regeln oder Herrschaftsverhältnisse erkunden können.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Die methodische Vorgangsweise im Rahmen von Artefaktanalysen, das zeigt auch das Beispiel, ist nicht als Verfahrenstechnik zu begreifen, die verlässliche Erkenntnisse nur dann liefert, wenn man die oben angeführten fünf Interpretationsschritte genau einhält. Es handelt sich vielmehr um eine Kunstlehre, bei der man sich an einem methodologischen Rahmen und an verfahrenstechnischen Richtlinien orientiert, aber diese an konkrete Fragestellungen und Artefakte anpasst. So sollten die Besonderheiten verschiedener Artefakte (menschliche Körper, einfache Gegenstände, komplexe Maschinen oder Videos) berücksichtigt werden und auch die Fragestellung kann verschiedene Merkmale eines Artefakts herausheben. Daher ist es wichtig, in der Interpretationspraxis die Artefaktanalyse für die jeweilige Forschung im Sinne der Gegenstandsangemessenheit (Blumer 1969) zu modifizieren. Blickt man auf die Anwendungsfelder in der Psychologie, so finden sich einige typische Bereiche: Dazu zählt etwa die Architekturpsychologie (z. B. Richter 2009), die sich mit der Wahrnehmung und den Handlungsbezügen von Räumen und Gebäuden konzentrieren und damit wichtige Informationen für die Planung verfügbar machen (Reichl 2014) sowie allgemein die Umweltpsychologie (Hellbrück und Kals 2012). Und auch die Technikpsychologie ist mit der Artefaktanalyse angesprochen. Darüber hinaus finden sich ganz andere Anwendungsfelder, für die exemplarisch zwei Studien genannt werden: Breuer (2011, 2013) untersucht etwa die Sinnaufladung von persönlichen Objekten (also auch natürlicher Dinge), die bei einem Besitzwechsel zwischen den Generationen eine Beziehung etablieren und dadurch eine spezifische Wirkung in der Nachwelt entfalten. Er spricht dabei von personalisierten Hybrid-Strukturen, die bestimmte Eigenschaften ihrer (Vor-)Besitzer/innen inkorporieren und eine Verbindung zu diesen aufrecht halten. Breuer verfolgt damit die Frage, was aus solchen personalisierten Objekten wird, wenn sie abgegeben werden (etwa als Erbe) und sich in der Folge die Beziehung zu den Objekten und den Beteiligten neu formiert. Ausgehend von den Perspektiven der Vorbesitzer/innen und Nachfolger/innen bettet er die Analyse in die Betrachtung der Konfiguration von Dingen, Institutionen, Handlungsmustern oder Funktionen sowie in die transaktionale Kopplung von Personen und Dingen ein. In eine ganz andere Richtung geht etwa die von Marlovits (2003) vorgestellte psychologische Gegenstandsanalyse des Snowboards. Die Konzentration auf das Gerät begründet er damit, weil zum einen dem Snowboard ein zentraler Stellenwert als Bedingung für die Ausübung der Sportart zukommt und zum anderen Sportler/innen ihr Erleben aufgrund des Verschmelzens der Grenzen zwischen Person und ihrer Umwelt während der Sportausübung nur unzureichend verbalisieren können. In diesem Fall wurde (als ergänzendes Verfahren) das Sportgerät analysiert, wobei nach einer Form- und Funktionsbeschreibung die Analyse der Spezifika des Snowboards durchgeführt
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wurde, wobei besonders die Ambivalenz zwischen der massiven Bindung des Gegenstands an den Körper und dem gegen das Herkömmliche revoltierenden Freiheitsdrang herausgearbeitet wurde. In all diesen Fällen kann die Artefaktanalyse wichtige Beiträge leisten, indem sie die Ebenen erweitert und die Analyse stärker systematisiert, wobei sich Artefaktanalysen überall dort anbieten, wo Artefakte mit Personen, ihren Denkweisen und Praktiken eng verbunden sind. So könnte bei der Analyse von Lehr- und Lernprozessen in Schulen die genauere Interpretation der Lehrräume, ihrer Einrichtung und dadurch forcierten Settings einen Beitrag zum Verständnis von Strategien der Vermittlung und Aneignung von Wissen leisten. Zudem lässt sich die Artefaktanalyse gut mit anderen Methoden kombinieren und schafft einen spezifischen Zugang, den andere Methoden nicht in dieser Form bieten (das räumliche Setting als Rahmenbedingung für Handlungsstrategien, Lenkung der Wahrnehmung, als spezifischer Beitrag zur Motivierung). Im soeben genannten Beispiel kann man zusätzlich mit Lehrkräften und Schüler/innen über die Schulräume sprechen (damit betont man die kognitive Verarbeitung des Wahrgenommenen und Erlebten) oder Beobachtungen über das Verhalten in Schulräumen durchführen (um die Handlungsweisen zu erkunden). Grundsätzlich ist es auch möglich, Artefakte im Forschungsprozess herstellen zu lassen und im Zuge dessen über das Artefakt zu sprechen und die im Herstellungsprozess verbundenen Vorstellungen, die Erwartungen nach der Fertigstellung sowie die Rezeption und die Verwendung durch andere Personen in diesem Gesamtprozess zu erkunden. Letzteres deutet auf einen Einsatz im Rahmen von Rezeptionsanalysen, während der man ein Artefakt als Auslöser nimmt und untersucht, welche Vorstellungen Menschen in Konfrontation mit diesen entwickeln und welche Komponenten eines Artefakts darauf wirken. Artefakte haben neben ihrem universellen Vorkommen vielfältige Vorzüge: sie sind meist unbeeinflusst von Forschungseingriffen (sieht man von der Zuwendung oder einer Herstellung im Forschungsprozess ab), existieren häufig als fixierte Ausdrucksformen historisch-genetischer Prozessstrukturen nicht bloß im Moment (wie etwa Beobachtungdaten – sofern es sich nicht um sich schnell verändernde Artefakte handelt), es sind auch nicht Aussagen über die eigenen Einstellungen und Erfahrungen (wie etwa Befragungsdaten), sondern bieten sich für eine wiederholte, extensive Interpretation an, bei der nicht vorweg bestimmte Perspektiven eingenommen (wie bei der Beobachtung) oder Fragen gestellt werden (wie bei Interviews). So gesehen werden sie als Gegenstände der äußeren Welt aufgefasst, deren Bedeutung sich aber nur im Kontext ihrer Produktion durch Menschen und in ihrer Bezugnahme auf ihre Interpretation, ihre Handhabung und teilweise ihre Inkorporation in alltägliche Praktiken im sozialen Kontext erschließt. Darüber hinaus kann man jederzeit die Analyseperspektive verändern und ergänzen. Jedoch erfordern interpretative Verfahren als Kunstlehren viel Erfahrung und bedürfen einer sorgfältigen Qualitätsprüfung, um die Verlässlichkeit der gewonnenen Erkenntnisse sicherzustellen.
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Typenbildung Udo Kuckartz
Inhalt 1 Einleitung: Geschichte der Typenbildung in der empirischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische und methodische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Ablauf, Formen und Probleme der Typenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Anwendung der Typenbildung in der psychologischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Der Beitrag fokussiert die Methode der Typenbildung, die in der Psychologie und in den Sozialwissenschaften eine lange, bis zu Max Weber und Alfred Schütz zurückreichende Tradition besitzt und in klassischen empirischen Studien wie etwa der „Marienthal-Studie“ eingesetzt wurde. An die Darstellung der Kernbegriffe typenbildender Verfahren schließt sich die Beschreibung des Ablaufs von Typenbildung an. Deren Ziel ist es, Typologien zu bilden, die aus Typen maximaler Heterogenität mit möglichst großer interner Homogenität bestehen. Beispiele aus der psychologischen Forschung verdeutlichen die Anwendung der Typenbildung in konkreten Forschungsfeldern. Abschließend werden Stärken, Schwächen und Desiderate der Methode diskutiert; diese erweist sich als eine effektive Strategie zur Verallgemeinerung im Rahmen qualitativer Forschung. Schlüsselwörter
Analyse qualitativer Daten · Typenbildung · Idealtypen · Marienthal-Studie · Gütekriterien · Verallgemeinerung U. Kuckartz (*) Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_59
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1
U. Kuckartz
Einleitung: Geschichte der Typenbildung in der empirischen Forschung
Methoden der Typenbildung haben in der Psychologie und in den Sozialwissenschaften eine mindestens hundertjährige Tradition. Edward Tiryakian (1968), Autor des Beitrags „Typologies“ in der International Encyclopedia of the Social Sciences, beginnt die Ahnenreihe der typologischen Tradition mit Hippokrates, Platon und Aristoteles und datiert die Anfänge der Typenbildung in den Sozialwissenschaften zu Beginn des letzten Jahrhunderts. In der Historie der empirischen Forschungsmethoden hat die Typenbildung zwar keine Hauptrolle gespielt, sie war aber auch kein marginalisiertes Konzept; schließlich haben auch die Klassiker verschiedener Disziplinen wie Wilhelm Dilthey, Carl G. Hempel, Carl G. Jung, Paul Oppenheim, Alfred Schütz, Georg Simmel, Max Weber und Wilhelm Wundt dezidiert ein Konzept der Typenbildung verfolgt, und in klassischen Forschungstraditionen wie den ethnografischen Studien der ChicagoSchool finden sich immer wieder Elemente von Typenbildung (Keller 2012). Beispielhaft ist die sozialpsychologische Forschung der 1930er-Jahre, in der das Denken in Typenbegriffen eine große Rolle spielte. Exemplarisch sei das berühmt gewordene Feldforschungsprojekt über die „Arbeitslosen von Marienthal“ genannt, das zu Beginn der 1930er-Jahre von der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle der Universität Wien unter der Leitung von Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda durchgeführt wurde. Das Projekt ist auf einer Webseite des Archivs für die Geschichte der Soziologie in Österreich multimedial dokumentiert (AGSÖ 2007). Auf der Basis vielfältiger Datenerhebungen – Beobachtung, Einzelgespräche, Zeitverwendungsbögen und anderem mehr (Jahoda et al. 1975 [1933], S. 64–82) – erstellten die Forscher und Forscherinnen für jede der von ihnen untersuchten 100 Familien ausführliche Familienbeschreibungen, wobei sehr vielfältige Gesichtspunkte berücksichtigt wurden, die als eine Art Leitfaden folgende Struktur der Familienbeschreibungen ergab: • Familie (Zusammensetzung der Familie, Alter, Einkommen, Besitzverhältnisse), • Hausbesuchsprotokoll (Beschreibung der Wohnung, ihres Zustands, der Einrichtung und Ausstattung sowie Eindruck vom Zustand der Kinder), • Lebensgeschichte des Mannes (Biografie, Beruf, beruflicher Werdegang, Stellung im Betrieb, politische Orientierung, Freizeitverhalten), • Lebensgeschichte der Frau (Biografie, Ausbildung, Berufstätigkeit), • Gespräche (Einstellungen, Basisorientierungen, politische Einstellungen, Vorstellungen von der Zukunft) und • Beobachtungen (Verhalten der einzelnen Familienmitglieder, Gestaltung des Tages, Wirtshausbesuch, Aktivitäten). Durch stetigen Vergleich und Kontrastierung der nach diesen Kriterien charakterisierten Einzelfälle (zur Methode dieser Studie, s. Hopf 2016, S. 119–134) identifizierten die Forschenden vier verschiedene Muster der Verarbeitung von Arbeitslosigkeit, die sie als „Haltungstypen“ bezeichneten, und zwar 1. „Die Resignierten“, 2. „Die Ungebrochenen“, 3. „Die Verzweifelten“ und 4. „Die Apathischen“.
Typenbildung
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Die Vielfältigkeit des Datenmaterials und die Multiperspektivität der unterschiedlichen Erhebungsformen wurden hier also zu Grundhaltungen verdichtet. Diese wurden einerseits datenbasiert sehr genau beschrieben, andererseits wurden ihre charakteristischen Merkmale explizit angegeben, wie der folgende Auszug der Beschreibung des Typs „Die Resignierten“ erkennen lässt: „Greifen wir aus dieser Schilderung schlagwortartig die Kriterien heraus, die uns veranlassen, eine Familie als resigniert zu bezeichnen, so ergibt sich: keine Pläne, keine Beziehung zur Zukunft, keine Hoffnungen, maximale Einschränkung aller Bedürfnisse, die über die Haushaltsführung hinausgehen, dabei Aufrechterhaltung des Haushaltes, Pflege der Kinder und bei alledem ein Gefühl relativen Wohlbefindens.“ (Jahoda et al. 1975 [1933], S. 70) In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts finden sich nicht nur solche praktischen Anwendungen von Typenbildung in der empirischen Forschung, sondern auch Arbeiten, welche die methodischen Grundlagen der Typenbildung reflektieren, bspw. die Beiträge von Alfred Schütz. Schütz (1972) begriff Typenbildung als eine anthropologische Basistechnik, die nicht nur im alltäglichen Handeln allgegenwärtig ist, sondern auch in der Welt der empirischen Sozialforschung, die ihre Gegenstände nach Schütz’ Auffassung nur typisierend erfassen kann. In der Psychologie ist die Typenbildung zeitweise etwas in Verruf geraten, weil sie mit Typenlehre (Jung) und veralteten Konzepten der Persönlichkeitspsychologie assoziiert wurde. In der quantitativ arbeitenden Psychologie werden allerdings mit der Clusteranalyse und der Latent Class Analysis typenbildende Verfahren relativ häufig eingesetzt (Bräker et al. 2011; Gollwitzer 2007). Heute finden sich Ansätze der Typenbildung sehr häufig in der Biografieforschung (Ecarius und Schäffer 2010), in der Kriminologie, in der Jugendforschung, in der Forschung über Lebensstile und soziale Milieus und in interdisziplinären Forschungsfeldern wie Public Health und der Forschung über Umweltrisiken und Umweltwahrnehmung (de Haan et al. 2001). Besondere Erwähnung verdient an dieser Stelle die sich in der Tradition von William Sterns Komparationslehre verortende Komparative Kasuistik (Jüttemann 2009a, zuerst 1981). Dem Ansatz von Schütz recht ähnlich, geht auch die Komparative Kasuistik davon aus, dass Menschen ihre soziale Umwelt in typisierender Weise wahrnehmen, wobei dies vor allem phänomenkategorial und weniger quantitativ-graduell geschieht, wie dies in den klassischen Konzepten der Persönlichkeitspsychologie, etwa bei den Big Five, angenommen wird (Jüttemann 2009b, S. 10). Auch im Rahmen der dokumentarischen Methode wird Typenbildung vorgenommen, allerdings mit einer sehr speziellen, einzig dort verwendeten Terminologie (Nohl 2013).
2
Theoretische und methodische Implikationen
Die beiden Hauptstrategien der Datenauswertung, die in der qualitativen Forschung verfolgt werden, erscheinen auf den ersten Blick eher gegenläufig: Während die Fallanalyse sich in hermeneutischer Tradition auf das Singuläre bezieht und mit einer detaillierten Analyse und Interpretation des Einzelfalls oder mehrerer Einzelfälle
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arbeitet, sucht die andere Hauptstrategie qualitativer Datenanalyse nach dem Fallübergreifenden, dem Regelhaften. Der Begriff „Typ“ stellt gewissermaßen die Klammer zwischen diesen eigentlich auseinanderstrebenden Analysestrategien – hier die Besonderheit des Einzelfalls, dort Regelhaftes – dar. Einzelfall und Regelhaftes sind in der Suche nach dem Typischen miteinander verknüpft, denn Methoden der Typenbildung sind in der Regel fallbezogene Auswertungsverfahren, d. h. sie bauen auf dem genauen Studium von Einzelfällen auf und unterscheiden sich insofern deutlich von den in der quantitativ orientierten Forschung vorherrschenden Auswertungsstrategien: Dort ist die Suche nach in den Daten vorhandenen Zusammenhängen üblicherweise eine variablenbezogene Suche nach Regelhaftigkeiten, die dann in der Form von Korrelationen, Parametern und Koeffizienten ausgedrückt werden. Typenbildung muss allerdings nicht zwangsläufig fallorientiert sein, sie lässt sich auch für merkmalsbezogene Gruppierungen nutzen, wie dies etwa bei der Typenbildung von Argumenten, Kommunikationsformen etc. geschieht. Dieser Beitrag fokussiert die fallorientierte Typenbildung und geht auf die weit seltener anzutreffende merkmalsorientierte Typenbildung nicht weiter ein. Das Herausfinden des Typischen, obwohl von vielen Autor/innen als das zentrale Ziel qualitativer Analyseverfahren herausgestellt (z. B. Lamnek 2005), geschieht allerdings häufig als Common-Sense-Verfahren in methodisch wenig kontrollierter Form. Damit einhergeht, dass der Begriff „Typ“ eher im Sinne eines Alltagsbegriffs verwendet wird, ohne dass hiermit ein bestimmtes wissenschaftliches Verfahren, eine in der Methodenliteratur genau beschriebene Methode, assoziiert wird. Seit mehr als 100 Jahren existiert allerdings in der Psychologie und den Sozialwissenschaften auch eine stärker wissenschaftlich geprägte Verwendungsweise des Begriffs „Typ“ bzw. „Typologie“: Seit Wilhelm Wundt und Max Weber haben die empirisch vorgehenden Wissenschaften sich nicht nur des Begriffs „Typ“ mit Erfolg bedient, sondern sie haben sich auch mit der Frage entsprechender typenbildender Methoden befasst – Max Webers Idealtypen (Weber 2002; s. Gerhardt 1998; Kuckartz 1991) sind ein weithin bekanntes Beispiel für die wissenschaftliche Fruchtbarkeit eines solchen Ansatzes. Doch was versteht man überhaupt unter „Typ“? Etymologisch stammt der Begriff „Typ“ aus dem Griechischen (typos) und bedeutet ursprünglich „Gepräge“, „Muster“, „Grundform“. Ein Typ ähnelt dem Negativ einer Fotografie, von dem eine beliebig große Anzahl von Abzügen angefertigt werden kann. Insofern stellt ein Typ die Essenz dessen dar, was übrig bleibt, wenn alles Individuelle, Persönliche und Idiografische abgezogen wird. Typologische Klassifikationen stellen den Versuch dar, einen Gegenstandsbereich zu ordnen, und zwar auf der Basis von Differenzbegriffen, nicht von vereinheitlichenden Prozeduren der Durchschnittsbildung. Solche Klassifikationen von Elementen zu Klassen haben besonders in der Biologie eine lange Tradition. In der empirischen Sozialforschung sind es neben den bereits genannten methodisch richtungsweisenden Arbeiten (von Simmel, Weber, Hempel und Oppenheim sowie Lazarsfeld) einige neuere: Hierzu gehören jene von Gerhardt (2009), Hopf (2016), Kluge (1999, 2000), Kelle und Kluge
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(2010), Kuckartz (1990, 1991, 2010, 2016), Lindner und Stuhr (2009) sowie aus dem Umfeld der Diskussion um die Komparative Kasuistik (Jüttemann 2009a). Eine allgemeine, gleichwohl kurze Definition von Typenbildung lautet: Aufgrund von Ähnlichkeiten in ausgewählten Merkmalsausprägungen werden Objekte zu Typen zusammengefasst. Dabei sollen die Objekte desselben Typs einander möglichst ähnlich, die verschiedenen Typen hingegen möglichst unähnlich sein. Statt von Typen ist häufig auch von Gruppen oder Clustern die Rede. Im Rahmen empirischer Sozialforschung bedeutet Typenbildung also die Gruppierung von Fällen zu ähnlichen Mustern oder Gruppen, die sich von ihrer Umgebung und anderen Mustern und Gruppen deutlich unterscheiden lassen. Ein Typ oder Typus besteht also immer aus mehreren (Einzel-)Fällen, die sich untereinander ähnlich sind. Die Gesamtheit der für einen bestimmten Phänomenbereich gebildeten Typen bezeichnet man als „Typologie“. Per definitionem besteht also eine Typologie immer aus mehreren Typen und ihrer Relation untereinander, sie strukturiert einen Phänomenbereich im Hinblick auf Ähnlichkeiten und Distanzen. Die verschiedenen Methoden der Typenbildung sind also von vornherein mit den zentralen Begriffen Ähnlichkeit, Distanz, Gruppe, Homogenität und Heterogenität assoziiert. Eine Vielzahl von Begriffen bevölkert das Feld der Typenbildung: Idealtyp, Realtyp, Durchschnittstyp, Extremtyp, natürlicher Typ, reiner Typ, konstruierter Typ, heuristischer Typen und andere mehr (Tippelt 2010). Vor allem das Gegensatzpaar von „Realtyp“ und „Idealtyp“ ist für die Geschichte der Typenbildung von Belang. Realtypen sind empirisch vorfindbare Gruppierungen, während Idealtypen eine Konstruktion der Forschenden sind, die als bewusste Hervorhebung einzelner Aspekte bei Vernachlässigung anderer als weniger relevant eingeschätzter Merkmale gewissermaßen am Reißbrett entworfen werden. Idealtypen können sich nicht als falsch, sondern nur als für die Realität (etwa Interventionsmaßnahmen) unbrauchbar erweisen. Auf Charles Peirce geht die wichtige Unterscheidung von type und token zurück, wobei bei Peirce mit token das Vorkommnis eines Wortes und mit type die kennzeichnende Form gemeint ist. Auf dieser vor dem/der Lesenden liegenden Druckseite kommt das Wort „von“ möglicherweise achtmal (token) vor, aber es ist immer das gleiche Wort, also nur ein type; die Zahlenkette 330070 weist sechs token (Ziffern) auf, aber nur drei types (nämlich 3, 0 und 7). Mit diesem Dual von type and token ist die für die Verallgemeinerungsfunktion von Typenbildung so entscheidende Relation von Fall und Typ angesprochen (Kreitz 2010). Im Gegensatz zu der primär taxonomischen Funktion, die Typen in der Biologie haben, sind Typen und Typologien in der qualitativen Sozialforschung analytische Werkzeuge, deren Einsatz im Prozess der Datenauswertung nicht nur auf die Beschreibung von Phänomenen und die rekonstruktive Analyse beschränkt ist. Zum einen schaffen sie auch Orientierungswissen, das gewissermaßen prospektiv in die Zukunft zielen kann, etwa wenn in der Markt- und Werbepsychologie aufgrund einer Typologie eine bessere Ansprache von Zielgruppen erreicht werden soll. Zum anderen können Typologien auch ein erklärendes – nicht nur beschreibendes – Potenzial besitzen, wenn sie im Sinne von unabhängigen Variablen zur Erklärung von sozialen Phänomenen herangezogen werden.
800
3
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Ablauf, Formen und Probleme der Typenbildung
Die Umsetzung einer Typenbildung setzt voraus, dass das vorliegende Material so beschaffen ist, dass es den Vergleich und die Kontrastierung von Einzelfällen überhaupt ermöglicht, das heißt, es müssen möglichst vollständig alle im Kontext der Fragestellung interessierenden Informationen für alle Forschungsteilnehmenden der Untersuchung vorhanden sein.
3.1
Das Konzept des Merkmalsraums
Zentral für die Typenbildung ist das Konzept des „Merkmalsraums“ (property space bzw. attribute space). Dieser Begriff geht auf Hempel und Oppenheim (1936) zurück, die allerdings noch von „Merkmalraum“ sprachen, während heute meistens der Begriff „Merkmalsraum“ (mit Fugen-S) bevorzugt wird. Typologien beruhen nicht auf einem einzigen, sondern auf mehreren, mindestens auf zwei Merkmalen. Diese Merkmale konstituieren einen n-dimensionalen Merkmalsraum. Hempel und Oppenheim zogen den Vergleich zur Physik, in der die räumliche Lage von Punkten mittels abstufbarer Koordinatenbegriffe bestimmt wird. „Auf diese Weise wird das Individuum nicht einfach klassifizierend in einen Typus eingeordnet, sondern es erhält [. . .]) einen Ort im typologischen Merkmalraum individuell zugewiesen. [...] So bestimmt also jede typologische Theorie einen besonderen Merkmalraum, und die Typbegriffe ordnender Form haben [...] eine ähnliche Funktion wie der Begriff ‚Ort (eines Massepunkts)‘ in der Physik: sie dienen zur Charakterisierung der Lage eines Individuums im Merkmalraum der betreffenden typologischen Theorie.“ (Hempel und Oppenheim 1936, S. 67)
Zur Veranschaulichung mag man sich zunächst den einfachsten Fall, nämlich einen zweidimensionalen Merkmalsraum, vorstellen, etwa in Form eines Diagramms der beiden Merkmale „Körpergröße“ mal „Gewicht“, in dem eine bestimmte Anzahl von Forschungsteilnehmenden als Datenpunkte dargestellt sind. In einer solchen Darstellung lassen sich ggf. leicht Datenpunkte zu Typen gruppieren, beispielsweise „große schwere Männer“, „kleine leichte Frauen“, „kleine Männer“, „dicke Männer“ etc. Ein gutes Beispiel für einen komplexen, vieldimensionalen Merkmalsraum stellen soziale Milieus dar; beispielhaft hierfür sind die weithin bekannten Milieus des Heidelberger Milieu- und Trendforschungsinstitut SINUS (2016, zuerst 1981). In dieser Aufgliederung kann für jeden Haushalt angegeben werden, welchem von zehn sozialen Milieus sie zuzuordnen sind. Jeder Typenbildung – gleichgültig, mit welchem Verfahren sie zustande kommt – liegt zwangsläufig die implizite oder explizite Vorstellung eines Merkmalsraums zugrunde.
Typenbildung
3.2
801
Ablauf der Typenbildung
Bei jeder wissenschaftlichen Typenbildung lassen sich vier Hauptphasen unterscheiden: • Phase 1: die Definition des Merkmalsraums, welcher der Typenbildung zugrunde liegen soll; • Phase 2: die eigentliche Konstruktion der Typologie, d. h. die Gruppierung der Fälle zu Typen; • Phase 3: die Beschreibung der einzelnen Typen der gebildeten Typologie; • Phase 4: die Zuordnung der einzelnen Fälle, d. h. der Forschungsteilnehmenden, zu den gebildeten Typen. Im ersten Schritt der Typenbildung ist zu entscheiden, welche Merkmale als relevant für die angestrebte Typologie betrachtet werden. Im Fall der oben dargestellten Haltungstypen der Marienthalstudie waren dies all jene Merkmale bzw. Fragen, die für die Erstellung der Familienbeschreibung herangezogen wurden. Wie viele Merkmale sich überhaupt in die Typenbildung einbeziehen lassen, hängt von der Art der Konstruktion der Typologie ab. Mit dem Verfahren der typenbildenden qualitativen Inhaltsanalyse steht ein recht genau beschriebenes Verfahren für die Bildung von Typen in der Forschungspraxis zur Verfügung (Kuckartz 2016, S. 143–162; Mayring 2015, S. 103).
3.3
Formen der Typenbildung
Es lassen sich drei Hauptformen von Typologiekonstruktionen unterscheiden.
3.3.1 Bildung merkmalshomogener Typen Eine Typologie, in der alle Elemente eines Typs identische Merkmale besitzen, wird als merkmalshomogen oder monothetisch bezeichnet. Als einfaches Beispiel mag man sich eine Vier-Felder-Tafel auf der Basis von zwei dichotomen Merkmale, Geschlecht und Einkommen vor Augen halten (Tab. 1). Die Zugehörigkeit zum zweiten Typ „Frauen mit hohem Einkommen“ ist nur dann gegeben, wenn die beiden Merkmale Geschlecht und Einkommen die verlangten Werte haben. Solche Vier-Felder-Typologien sind zahlreich anzutreffen (z. B. Umweltbewusstsein [hoch/niedrig] und Umweltverhalten [umweltgerecht/ nicht-umweltgerecht]); bei den konstituierenden Merkmalen werden in solchen Fällen – stark vereinfachend – nur zwei Ausprägungen unterschieden. Die Bildung von Typologien mit monothetischen Typen ist in der Praxis nur mit relativ wenigen Merkmalen und wenigen Merkmalsausprägungen möglich. Schon bei drei Merkmalen mit jeweils vier Ausprägungen entstehen theoretisch
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Tab. 1 Einfache Typenbildung mit Hilfe einer Vier-Felder-Tafel
Einkommen
hoch niedrig
Geschlecht männlich Typ 1 Typ 3
weiblich Typ 2 Typ 4
Tab. 2 Typenbildung durch Reduktion (nach Lazarsfeld 1937, S. 136) Bildungsabschluss der Mutter Kein Abschluss Haupt-/Realschulabschluss Abitur FH/Universität
Bildungsabschluss des Vaters Kein Haupt-/ Abschluss Realschulabschluss Typ 5 Typ 4 Typ 4 Typ 4 Typ 3 Typ 3 Typ 2 Typ 2
Abitur Typ 3 Typ 3 Typ 3 Typ 2
FH/ Uni Typ 2 Typ 2 Typ 2 Typ 1
4 mal 4 mal 4 = 64 Typen, d. h. die Vielfalt wird zunehmend schwieriger überschaubar und dient kaum mehr dem Zweck, die Daten zu systematisieren und zu organisieren.
3.3.2 Typenbildung durch Reduktion Eine Typologie mit einer großen Anzahl von Typen lässt sich durch die von Lazarsfeld (1937) beschriebenen Verfahren der funktionalen und pragmatischen Reduktion auf eine handhabbare Anzahl verringern. Dazu ein Beispiel, in dem die Bildungsabschlüsse der Eltern in einer 4 mal 4 Tabelle (16 Typen) dargestellt sind (Tab. 2). Um die schwer überschaubare Anzahl von insgesamt 16 Typen zu verringern, werden eine Ordnungsrelation definiert und eine Reduktion des Merkmalsraums herbeigeführt, sodass die Typologie beispielsweise nur noch aus fünf Typen besteht: • • • • •
Typ 1: Beide Elternteile besitzen einen Hoch- oder Fachhochschulabschluss; Typ 2: Ein Elternteil besitzt einen Hoch- oder Fachhochschulabschluss; Typ 3: Ein Elternteil besitzt das Abitur; Typ 4: Ein Elternteil besitzt einen Haupt- oder Realschulabschluss; Typ 5: Beide Eltern verfügen über keinen Abschluss.
Durch diese Reduktion werden aus den merkmalshomogenen teilweise merkmalsheterogene (polythetische) Typen, das heißt, sie weisen Varianz auf, denn nicht alle einem Typ zugerechneten Forschungsteilnehmenden besitzen die gleichen Bildungsmerkmale der Eltern. Diese Eigenschaft gilt für die Typen 2, 3 und 4, während die Typen 1 und 5 weiter monothetisch sind, denn der Zugang zu ihnen ist nur bei jeweils einer einzigen Merkmalskombination der beiden Klassifikationsvariablen möglich: Bei Typ 5 sind beide Eltern ohne Schulabschluss und bei Typ 1 besitzen beide einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss.
Typenbildung
803
3.3.3 Bildung merkmalsheterogener (polythetischer) Typen Die beiden ersten Formen der Typenbildung werden in der Literatur auch als „künstliche Typologien“ bezeichnet, weil sie ohne direkte Bezugnahme auf die empirische Existenz konstruiert werden können. Es könnte passieren, dass bestimmte Kombinationen (Mutter Universitätsabschluss und Vater ohne Schulabschluss) in der Realität überhaupt nicht vorkommen. Als „natürliche Typologien“ werden hingegen solche bezeichnet, die aus den empirischen Daten gebildet werden, d. h. die Einzelfälle werden so zu Typen gruppiert, dass diese intern möglichst homogen und extern möglichst heterogen sind. Solche Typen sind faktisch immer merkmalsheterogen (polythetisch), das heißt, die zu einem Typ gehörenden Individuen sind bezüglich der Merkmale des Merkmalsraums nicht alle identisch. Natürliche Typologien lassen sich sowohl intellektuell, d. h. durch systematisches geistiges Ordnen, als auch mit stärker formalisierten Verfahren bis hin zur Clusteranalyse oder Korrespondenzanalyse bilden. Welche der drei Möglichkeiten der Typenbildung im konkreten Fall gewählt wird, hängt von der Zahl der Forschungsteilnehmenden und der Dimensionalität des angestrebten Merkmalsraums ab. Eine monothetische Typenbildung lässt sich im Grunde nur bei zwei Merkmalen mit relativ wenigen kategorialen Ausprägungen realisieren. Die Typenbildung durch Reduktion ist in dieser Hinsicht schon erheblich flexibler, doch ermöglicht nur die polythetische Typenbildung einen vieldimensionalen Merkmalsraum. Mit Ausnahme der monothetischen Typologie, die quasi selbst erklärend ist, verlangen die anderen Konstruktionsprinzipien, dass die Typen hinsichtlich ihrer Lage im Merkmalsraum möglichst genau beschrieben werden. Bei der durch Reduktion entstandenen Typologie reicht hierzu in der Regel eine Aufzählung der in einem Typ zusammengefassten Merkmalskombinationen, so wie dies oben bei der Typologie der Bildungsabschlüsse der Eltern geschehen ist. Die Charakterisierung natürlicher Typologien gestaltet sich demgegenüber schwieriger. Weithin bekannte Beispiele für solche Beschreibungen sind die Lebensstiltypologien bzw. Milieutypologien aus der Lebensstilforschung (Rössel und Otte 2012).
3.4
Probleme der Typenbildung
Zwei bei der Typenbildung immer wieder auftauchende Fragen sollen hier stichpunktartig behandelt werden: Erstens die Frage „Wie viele Typen sollen unterschieden werden?“ und zweitens „Sollen Angaben über die empirische Häufigkeit der vorgefundenen Typen gemacht werden?“
3.4.1 Bestimmung der Anzahl der Typen Entscheidungen über die Anzahl der Typen sind auf dem Hintergrund von Überlegungen zu Homogenität bzw. Heterogenität zu treffen. Dazu ein Beispiel aus der erwähnten Marienthalstudie: Die Haltungstypen „Die Verzweifelten“ und „Die Apathischen“ waren im Gegensatz zu den anderen beiden „ungebrochenen Haltungstypen“ als „gebrochen“ zu charakterisieren, aber der Unterschied zwischen ihnen war so groß, dass den Autor/innen die Differenzierung in zwei Gruppen notwendig erschien:
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„Die letzte Verhaltensweise schließlich (Familie 363) unterscheidet sich von den drei übrigen durch das Aufgeben des geordneten Hausstandes. Mit apathischer Indolenz lässt man Dingen ihren Lauf, ohne den Versuch zu machen, etwas vor dem Verfall zu retten. Wir bezeichnen diese Gruppe auch als apathisch. Das Hauptkriterium für diese Haltung ist das energielose, tatenlose Zusehen. Wohnung und Kinder sind unsauber und ungepflegt, die Stimmung ist nicht verzweifelt, sondern indolent. Es werden keine Pläne gemacht, es besteht keine Hoffnung; die Wirtschaftsführung ist nicht mehr auf Befriedigung der wichtigsten Bedürfnisse gerichtet, sondern unrationell. In dieser Gruppe finden wir die Trinker des Ortes. Die Familie zeigt Verfallserscheinungen, es gibt viel Streit; Betteln und Stehlen sind häufige Begleiterscheinungen. Nicht nur für die weitere Zukunft, schon für die nächsten Tage und Stunden herrscht völlige Planlosigkeit.“ (Jahoda et al. 1975 [1933], S. 71–72)
Die Legitimation, statt wie ursprünglich beabsichtigt einen einzigen gebrochenen Haltungstyp namens „Die Verzweifelten“ nun zwei Typen, nämlich „Die Verzweifelten“ und „Die Apathischen“ zu bilden, ist primär sozialpsychologisch motiviert; aber es spielt natürlich auch eine Rolle, dass mehr als ein Drittel der in der Feldstudie erfassten Familien den „Verzweifelten“ zuzurechnen waren, also genügend Material vorhanden war, um stärker zu differenzieren. Empirische Typen werden in der Forschungspraxis fast immer so konstruiert, dass sie allgemeine Charakteristika in den Vordergrund stellen. Individuelle Besonderheiten und Abweichungen sind zwar regelmäßig vorhanden, aber sie werden für die Typenbildung ausgeblendet. Typologien sind dann, wenn sie wie in der Marienthalstudie so komplexe Inhalte wie den Umgang mit Arbeitslosigkeit zum Gegenstand haben, im Sinne der Klassifikation von Typologien fast ausnahmslos polythetisch, d. h. die einzelnen Elemente (hier Familien) weisen Abweichungen auf. Anders als bei formalisierten Verfahren der Typenbildung wie bspw. der Clusteranalyse, wo es technische Kriterien für die Bestimmung der optimalen Anzahl von Typen gibt, ist die Entscheidung für eine bestimmte Zahl bei rein qualitativer Typenbildung immer eine Gratwanderung zwischen notwendiger Systematisierung und Zusammenfassung einerseits und analytisch gebotener Differenzierung andererseits. Es ist empfehlenswert, sich bei diesem Entscheidungsprozess auch die Interessen der Rezipient/innen bzw. der Auftraggeber/innen der Studie vor Augen zu führen. Eine zu differenzierte Typologie läuft Gefahr, nur relativ schwer kommunizierbar zu sein, während eine überschaubare Anzahl, vor allem, wenn sie noch einer internen Systematisierung folgt (etwa: vier Haltungstypen, davon zwei „gebrochene“ und zwei „ungebrochene“), wesentlich eingängiger und auf den ersten Blick plausibler ist.
3.5
Angaben über die Verteilung der Typen
In der Regel sind die Samplegrößen bei qualitativen Studien relativ klein, und die Auswahl der Forschungsteilnehmenden richtet sich selten nach Kriterien der Repräsentativität für eine tatsächliche oder angenommene Grundgesamtheit. Es stellt sich deshalb die Frage, ob überhaupt zahlenmäßige Angaben über die Verteilung der Typen im Datenmaterial gemacht werden sollen. Getan haben dies bspw. die Autor/
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innen der Marienthalstudie: Sie machten für die vier Haltungstypen recht präzise Prozentangaben: 16 Prozent ungebrochen, 48 Prozent resigniert, 11 Prozent verzweifelt und 25 Prozent apathisch. Die Angabe von Zahlen bedeutet für die Lesenden zunächst einmal einen Zuwachs an Information. Im Sinne des Postulats von Seale (1999) „Count the countable“ wird die vorhandene Informationen ausgeschöpft, und es werden Informationen mitgeteilt, die von den Rezipient/innen empirischer Studien ohnehin sofort nachgefragt würden. Natürlich wollen sowohl Mitglieder der Scientific Community als auch interessierte Rezipient/innen wissen, wie hoch bspw. der Anteil der Apathischen unter den Arbeitslosen ist. Selbstverständlich sind aber aus solchen Angaben über die Verteilungen in einer Stichprobe keine direkten Rückschlüsse auf die Verteilung in der Grundgesamtheit möglich. Hierzu bedarf es weitergehender Überlegungen, beispielsweise eines Mixed-Methods-Ansatzes in Form einer Verallgemeinerungsstudie (Kuckartz 2014, S. 81–83). Die Marienthal-Forschungsgruppe hat genau dies getan und später alle 478 Familien des Ortes den vier Haltungstypen zugeordnet. Sie musste dann feststellen, dass die gebrochenen Haltungstypen unter den 100 Familien, die in der Feldstudie intensiver untersucht worden waren, überrepräsentiert waren. Der analytische Ertrag der Typologie ist allerdings unabhängig von der zahlenmäßigen Genauigkeit der Verteilung in der untersuchten Gruppe gegeben. Verteilungsangaben sind in der Regel durchaus sinnvoll, können aber nicht ohne Weiteres zur Schätzung der Verteilung in der Grundgesamtheit herangezogen werden.
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Anwendung der Typenbildung in der psychologischen Forschung
Typenbildung wird in Lehrbüchern der Psychologie (Hussy et al. 2010, S. 259–262) beschrieben und in einer Vielzahl von psychologischen Subdisziplinen genutzt – sowohl als quantitative Typenbildung wie auch als qualitative Typenbildung. Unter den Fachgebieten, in denen sich Anwendungen finden lassen, sind u. a. zu nennen: Arbeits- und Organisationspsychologie, Diagnostik, Differenzielle Psychologie, Kriminalpsychologie, Medienpsychologie, Medizinische Psychologie, Persönlichkeitspsychologie, Psychiatrie, Psychotherapieforschung, Umweltpsychologie und Verkehrspsychologie. Häufig sind Psychologinnen und Psychologen in den Schnittgebieten zu anderen Wissenschaftsdisziplinen tätig, wie etwa in der Pädagogischen Psychologie oder der Psychosomatischen Medizin bzw. Medizinischen Psychologie. Auch dort werden Methoden der Typenbildung des Öfteren eingesetzt. Es erstaunt allerdings, dass die Sozialpsychologie, die in der Tradition der Typenbildung klassische Disziplin, nur relativ wenig Anwendungen vorzuweisen hat. Ein Blick auf die zahlenmäßige Verteilung aufgrund einer Recherche in den einschlägigen Forschungsdatenbanken zeigt, dass die Therapieforschung mit Abstand am häufigsten zu typenbildenden Methoden greift. Dort finden sich zahlreiche Projekte, von denen vier exemplarisch genannt seien:
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• Lindner (2003) untersuchte Gegenübertragungssituationen zu Beginn der ambulanten psychoanalytisch orientierten Psychotherapie suizidaler Männer und unterschied fünf Typen von Situationen. • Stuhr und Wachholz (2001) erhoben zwölf Jahre nach der Therapie das Bild, das Patient/innen von ihren Therapeut/innen hatten. • Leikert und Ruff (2003) untersuchten Psychoanalysepatient/innen fünf Jahre nach der Therapie hinsichtlich der Art und Weise der Konfliktbearbeitung. • Rinckens (2003) führte eine Studie mit 92 alkoholabhängigen Patient/innen durch und typisierte den Krankheits- und Behandlungsverlauf. Methodisch orientieren sich die Projekte im Bereich der Therapieforschung relativ häufig an dem von Gerhardt (1998) vorgeschlagenen Modell der Typenbildung. Dieses basiert auf dem aus der Soziologie stammenden Modell der Idealtypenkonstruktion von Weber, welches Gerhardt forschungstechnisch für eine moderne Sozialforschung operationalisiert hat. In der Psychotherapieforschung wird auf diese Methode meist unter der Bezeichnung „verstehende Typenbildung“ Bezug genommen. Diese Bezeichnung soll deutlich machen, dass es sich bei der vorgenommenen Typenbildung um etwas Anderes handelt als um das Ergebnis einer quantitativ-statistischen Typenbildung, wie sie häufig mit clusteranalytischen Verfahren vorgenommen wird. Nach der Psychotherapieforschung sind es die Arbeits- und Organisationspsychologie, die pädagogische Psychologie, die Umweltpsychologie und die mit Gesundheit befassten Bereiche (Gesundheitspsychologie, Gesundheitswissenschaften, Suchtprophylaxe), in denen sich häufig Anwendungen der Typenbildung finden. In der Arbeits- und Organisationspsychologie geht es dabei um Themen wie die Typisierung von Berufsbiografien (Dettmer et al. 2003), die Handlungsmöglichkeiten langzeitarbeitsloser Jugendlicher (Beelmann 2003) oder die psychische Gesundheit von Lehrer/innen (Schaarschmidt und Fischer 1998), die erforscht werden. Auch hier ist es oft der Wunsch nach besseren Konzepten für eine Intervention, der die Anwendung von Typenbildungsverfahren motiviert. Die Typenbildung ist also kein Selbstzweck, sondern aus ihr werden typenbezogene Interventionsempfehlungen hergeleitet. Ähnliches gilt für die pädagogische Psychologie und die Unterrichtsforschung: Wenn hier beispielsweise Mobbing bei Kindern und Jugendlichen untersucht wird und Typen von Mobbern unterschieden werden, so geschieht dies mit Blick auf entsprechende Interventionsprogramme (Scheithauer et al. 2003). Auch in der Unterrichtsforschung folgt Typenbildung häufig einer praktischen Zielsetzung, etwa wenn Lerntypen gebildet werden oder eine Typisierung von bewegungsorientierten Schulentwicklungsprozessen vorgenommen wird (Laging und Dirks 2014). Auch in der Umweltpsychologie geschieht die Typenbildung meist mit dem Ziel, bestimmte Gruppen für eine gezielte Kommunikation oder Intervention zu identifizieren. So arbeiteten Hoff und Ewers (2001) über Typen des Umwelthandelns, Linneweber et al. (2001) über eine Typisierung von Akteur/innen im Umweltschutz.
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Hunecke und Haustein (2007) entwickelten fünf Mobilitätstypen auf der Basis einer großen standardisierten Erhebung mit nachfolgender Validierung durch eine qualitative Interviewstudie mit 82 Repräsentant/innen dieser Typen. In den meisten Fällen ist es ein Zielgruppenansatz, der die Wahl der Typenbildung als Methode motiviert. Häufig ergeben sich dabei Affinitäten zur sozialwissenschaftlichen Lebensstilforschung (z. B. bei Hunecke 2001; Lantermann und Papen 2001; Schuster und Lantermann 2002). In der Gesundheitspsychologie und verwandten Fachgebieten ist es besonders die Typisierung der Bewältigungsformen von Krankheiten, die im Mittelpunkt steht. „Wie reden Patienten nach einer simultanen Pankreas-Nieren-Transplantation über ihren Körper?“ fragen beispielsweise Langenbach et al. (2004) und differenzieren zwischen verschiedenen idealtypischen Verarbeitungsweisen. Die Art und Weise, wie in der psychologischen Forschung Prozesse der Typenbildung ablaufen, ist sich recht ähnlich. In fast allen hier erwähnten Forschungsprojekten lassen sich folgende sechs Elemente des Typenbildungsprozesses identifizieren: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
offene Interviews als Grundlage, die explizite Bezeichnung eines relativ komplexen Merkmalsraums, die zusammenfassende Klassifikation von Merkmalsausprägungen, die Gruppierung in eine überschaubare Anzahl von Typen, die nachvollziehbare Beschreibung von Typen anhand von Beispielfällen und die Entwicklung typenbezogener Handlungsstrategien.
Selbstverständlich lässt sich eine gewisse Bandbreite der Anwendungen feststellen; diese reicht von narrativen Interviews (Schütze 1983) und problemzentrierten Interviews (Witzel 2000; Witzel und Reiter 2012) bis hin zu stärker strukturierten Leitfaden-Interviews (Hopf 2016). Der Merkmalsraum ist nicht immer derart komplex wie bei der Studie von Beelmann, und häufig unterbleibt auch die explizite zusammenfassende Klassifikation von Merkmalsausprägungen. Schließlich differiert auch die Zahl der Typen, die unterschieden werden; in manchen Fällen sind es nur drei, mitunter auch mehr als fünf, aber so gut wie nie ist die Zahl der Typen zweistellig. Relativ selten, aber durchaus existent sind Arbeiten, die das Verfahren der Typenbildung methodisch reflektieren und seinen Ertrag für die qualitative psychologische Forschung belegen, z. B. die Beiträge von Stuhr und Wachholz (2001) oder Lindner (2006), der sein an Gerhardt orientiertes idealtypisches Verfahren als validen Weg zu Verallgemeinerungen begreift und vom Einzelfall aus systematisch und nachvollziehbar zu generalisierenden Erkenntnissen gelangen will. Gerade im Feld der Psychotherapieforschung spielen qualitative Methoden eine große Rolle, und die Frage der Generalisierbarkeit und Objektivierbarkeit von Ergebnissen ist virulent. Typenbildung ist hier besonders als ein Ansatz der Generalisierung von Interesse, ein Punkt, der bereits seit Mitte der 1990er-Jahre diskutiert wurde (z. B. Kuehnlein 1994; Stuhr und Leuzinger-Bohleber 1997).
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Zahlreiche Anwendungen der Typenbildung zeigen, dass diese den Einzelfall und den Fallvergleich in den Mittelpunkt stellenden Methoden bei bestimmten Datenkonstellationen zu einem Erkenntnisgewinn beitragen können, weil sie einen anderen Zugang zu den Daten ermöglichen (s. die referierten Beispiele aus der Umweltforschung in Kuckartz 2010; s. auch Kaltenborn 2009). Verfahren der Typenbildung sind insbesondere dann geeignet, wenn es darum geht, zielgruppengenaue Strategien (sei es der Therapie, der Kommunikation oder der analytischen Unterscheidung von homogenen Gruppen) zu entwickeln. Welche Analysemodelle den Daten jeweils angemessen sind, kann selbstverständlich nur nach sorgfältiger Inspektion von Fall zu Fall entschieden werden. Nicht immer ist Typenbildung ein angemessenes Verfahren der Datenauswertung. Johann Bacher hat in seinem Lehrbuch der Clusteranalyse für die quantitativ orientierte Clusteranalyse idealtypisch die Angemessenheit bzw. Nicht-Angemessenheit eines typisierenden Ansatzes in einem zweidimensionalen Merkmalsraum schematisiert (Bacher 1994, S. 10; s. Abb. 1). Obwohl quantitativ orientiert, lassen sich aus dieser idealtypischen Gegenüberstellung auch Lehren für die qualitativ orientierte Typenbildung ziehen. Situation 1 symbolisiert eine Datenlage, die eher durch Singularität und Zufall als durch Systematik gekennzeichnet ist. Hier ist die Bildung einer Typologie und die Unterscheidung von Typen nicht sinnvoll, weil dies den Daten eine Struktur überstülpen würde, die diese gar nicht besitzen. Anders verhält es sich in der zweiten Situation, dort sind deutlich vier Gruppen von Forschungsteilnehmenden zu unterscheiden, die interne Homogenität aufweisen. Auch in Situation 3 wäre eine Typenbildung denkbar, aber es zeigt sich doch, dass zwischen den beiden in der Grafik dargestellten Merkmalen ein durchweg stetiger Zusammenhang besteht, der durch ein Typenmodell nicht adäquat beschrieben würde. Auch für die Typenbildung stellt sich die Frage der Qualität, d. h. der Unterscheidung von guter und schlechter Praxis. In ähnlicher Weise wie für andere Analyseverfahren (etwa für die Grounded-Theory-Methodologie sensu Strauss und Corbin 1996 [1990], S. 214–223) können Gütekriterien für eine „gute“ Typenbildung entwickelt werden. In Anlehnung an Tiryakian (1968, S. 178) lassen sich folgende Kriterien für eine gute Typologie formulieren:
Abb. 1 Angemessene und unangemessene Situationen für Typenbildung
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• Jedes Objekt (Person) wird (genau einmal) klassifiziert, d. h. beispielsweise wird eine Familie (oder allgemein formuliert eine Untersuchungseinheit) einem bestimmten Haltungstyp zugeordnet und nicht mehreren gleichzeitig. • Die Merkmale und Dimensionen der Typenbildung werden explizit gemacht, d. h. es erfolgt eine nachvollziehbare Beschreibung des Merkmalsraumes. • Die ausgewählten Merkmale sind relevant für die Fragestellung. Die Relevanz wird begründet. • Die gebildete Typologie folgt dem Prinzip der Sparsamkeit, d. h. sie besteht aus so vielen Typen wie nötig und so wenigen wie möglich. • Die Typologie ist fruchtbar im Hinblick auf die Entdeckung neuer Phänomene und erweist sich in neuen Forschungsfeldern als heuristisch brauchbar. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn sich eine Typologie von Grundhaltungen als sehr nützlich zur gezielten Konzeption von Interventionen etc. erweisen würde. • Der Zusammenhang der Typen zu einem Ganzen ist gegeben. Die Typen beziehen sich wechselseitig aufeinander, und die Typologie weist erkennbar eine Gestalt auf. Der letzte Punkt ist besonders kritisch, denn oftmals erscheinen Typologien als relativ willkürlich. Sie weisen keine Gestalt, keinen inneren Zusammenhang, auf und deshalb haben die Rezipierenden der Forschung bereits große Mühe, sich die Typenbezeichnungen einzuprägen. Für eine mit qualitativen Methoden arbeitende Psychologie ist die Typenbildung als Methode hoch interessant. Das Feld der für diese Methode in Betracht kommenden Fragestellungen ist kaum überschaubar – die in Jüttemann (2009a) dokumentierten Forschungsbereiche, in denen Verfahren der komparativen Kasuistik angewendet wurden, geben hier einen ersten Eindruck. Für qualitativ orientierte Psycholog/innen dürfte es auch produktiv sein, einmal einen Blick in die Nachbardisziplinen zu werfen, etwa in die Biografieforschung, in der bereits seit Längerem mit der Methode Typenbildung gearbeitet wird. Typenbildung eignet sich sehr gut als eine qualitative Strategie der Verallgemeinerung. Sie stellt eine quasi „natürliche“ Kombination von qualitativen und quantitativen Analyseprozeduren dar, die von Individuen auch im Rahmen ihres Alltagslebens praktiziert wird. Um aber mehr zu sein als eine Common-SenseAlltagstechnik, bedarf Typenbildung eines Mehr an methodischer Kontrolliertheit, d. h. es ist deshalb notwendig, den Prozess der Typenbildung ebenso wie den zugrunde liegenden Merkmalsraum genau zu dokumentieren und die oben genannten Gütekriterien zu beachten.
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Computergestützte Analyse qualitativer Daten (CAQDAS) Udo Kuckartz und Stefan Rädiker
Inhalt 1 Entstehungsgeschichte, historische Relevanz und disziplinäre Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . 2 CAQDAS: Eigenständige Methode oder neutrales Werkzeug? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Analysemöglichkeiten von QDA-Software . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ablauf der computergestützten Analyse am Beispiel der qualitativen Inhaltsanalyse . . . . . 5 Stärken und Grenzen von CAQDAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Übersicht über QDA-Softwarepakete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Die Analyse qualitativer Daten in der Psychologie wird heutzutage unter dem Stichwort „Computer Assisted Qualitative Data Analysis“ (CAQDAS) häufig computergestützt mithilfe sogenannter QDA-Software durchgeführt. Gemeinsam ist den Softwarepaketen, dass sie die Umsetzung einer Vielzahl unterschiedlicher Forschungsstile unterstützen, wobei kategorienbasierte Verfahren wie die Grounded-Theory-Methodologie und die qualitative Inhaltsanalyse besonders stark von der Computerunterstützung profitieren. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die Entstehungsgeschichte von CAQDAS, diskutiert methodologische Fragen und stellt typische, von QDA-Software bereitgestellte Basisfunktionen vor. Anhand eines typischen Ablaufs computergestützter Analyse werden die vorge-
U. Kuckartz (*) Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Rädiker (*) Methoden-Expertise.de, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_55
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stellten Funktionalitäten konkretisiert und anschließend die neueren Entwicklungen sowie die Stärken und Grenzen von CAQDAS beleuchtet. Schlüsselwörter
Qualitative Datenanalyse · QDA-Software · Mixed Methods · Textanalyse · Videoanalyse
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Entstehungsgeschichte, historische Relevanz und disziplinäre Einordnung
Mitte der 1980er-Jahre, als mit der Entwicklung des Personal Computers völlig neue technische Möglichkeiten entstanden, haben Computer auch Einzug in den Forschungsalltag von qualitativ Forschenden gehalten. Die Schnelligkeit von Computern und die Fähigkeit, nahezu unbegrenzt Daten speichern und sehr effektiv organisieren zu können, machte die Nutzung von Computersoftware auch für die qualitative Forschung attraktiv. Unter dem Stichwort CAQDAS (Computer Assisted Qualitative Analysis Software) entstand ein äußerst kreatives neues Forschungs- und Entwicklungsfeld: Weltweit wurde Software für die Auswertung qualitativer Daten entwickelt (Fielding und Lee 1998; Weitzman und Miles 1995).1 Diese Programme, für die sich inzwischen die Bezeichnung „QDA-Software“ eingebürgert hat, fanden nach und nach Eingang in die Praxis und gehören heute quasi zu den Standardwerkzeugen qualitativ-empirischer Forschung. Wurde QDA-Software noch in den 1990er-Jahren überwiegend in der Soziologie und der Erziehungswissenschaft eingesetzt, so gehören mittlerweile auch immer mehr Psychologinnen und Psychologen zu den Anwender/innen. Denn dort, wo qualitative, psychologische Forschung stattfindet, kann auch QDA-Software gewinnbringend eingesetzt werden, wie z. B. die zahlreichen Artikel aus dem Bereich der Psychologie in der Open-Access-Zeitschrift Forum Qualitative Forschung/Forum: Qualitative Social Research [FQS]2 zeigen. In der Ausgabe 12(1) von FQS ist unter dem Namen „The KWALON Experiment. Discussions on Qualitative Data Analysis Software by Developers and Users“ auch ein eigener Band zum Thema computergestützte Analyse in der qualitativen Forschung erschienen (Evers et al. 2011). QDA-Software selbst hat im Verlauf des mittlerweile mehr als zwanzig Jahre umfassenden Entwicklungszeitraums einen großen Veränderungsprozess durchgemacht. Waren es in den Anfängen noch sehr einfache Verfahren des Kategorisierens und Wiederfindens (code and retrieve), die sich mit den ersten Programmen wie The Ethnograph, MAX, Textbase Alpha oder ATLAS.ti realisieren ließen (Kelle 1996), 1
Abschn. 7 enthält eine Übersicht über die derzeit gebräuchlichen QDA-Programme, von denen größtenteils auch Demoversionen verfügbar sind, sodass man sie bei Interesse auf Funktionalität und Eignung testen kann. 2 http://www.qualitative-research.net/.
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so sind im Laufe der Zeit immer komplexere Funktionen hinzugekommen bis hin zur grafischen Modellbildung, zur Visualisierung von Analyseergebnissen und zur synchronen Betrachtung von Transkriptionen und Video- bzw. Audioaufnahmen (Bazeley und Jackson 2013; Silver und Lewins 2014). Zunehmend haben einerseits informationswissenschaftliche Techniken (z. B. Boolesche Algebra zum Wiederfinden von kodierten Textstellen, automatische Kodierung, komplexe Suche nach Überschneidungen von Kodes, komplexere Datenformate, Audio und Video) Eingang in die Software gefunden, andererseits auch sozialwissenschaftliche Methoden, die von der Grounded-Theory-Methodologie über die qualitative Inhaltsanalyse und Diskursanalyse bis zur Typenbildung reichen (Kuckartz 2009, 2016; Kuckartz et al. 2007). Die Leistungsfähigkeit heutiger QDA-Programme ist sehr unterschiedlich. Aufgrund des in diesem Bereich bestehenden hohen Innovationstempos ist es aber wenig sinnvoll, an dieser Stelle Vergleiche vorzunehmen, wären diese doch bei Drucklegung des Handbuchs wahrscheinlich schon veraltet. Relativ aktuelle Überblicke finden sich bei Schmieder (2014) sowie bei Silver und Lewins (2014), ältere Vergleiche bei Creswell und Maietta (2002) sowie Alexa und Züll (1999). Weltweit führend sind derzeit die Programme ATLAS.ti, MAXQDA und NVivo, die ein breites Spektrum von Funktionen beinhalten. Alle drei Programme sind in verschiedenen Sprachversionen verfügbar und sowohl auf Windows als auch auf macOS Betriebssystemen lauffähig. Es existieren auch einige kostenfreie Programme, die aber ein deutlich reduziertes Funktionsspektrum aufweisen, Open-Source-Software im eigentlichen Sinn eines von vielen getragenen Entwicklungsprojektes mit offen vorliegendem Quelltext gibt es bislang nicht.
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CAQDAS: Eigenständige Methode oder neutrales Werkzeug?
Anders als bei Statistik-Software, bei der die Software die eigentliche Analyse durchführt und die Forschenden nur noch die Aufgabe haben, die errechneten Parameter und Koeffizienten zu interpretieren, sind es bei QDA-Software weiterhin die Forschenden selbst, die die Daten analysieren. Die QDA-Software analysiert nicht selbsttätig und automatisch, sondern erbringt vornehmlich eine Unterstützungs- und Systematisierungsleistung. Seit längerem existiert ein Diskurs um den methodischen Stellenwert von CAQDAS, konkreter: Handelt es sich hierbei um eine eigenständige Methodik oder „lediglich“ um ein neutrales Werkzeug? Die „Werkzeug-Position“ betont die Qualitätsverbesserung und die neuen analytischen Möglichkeiten durch QDA-Software (Gibbs et al. 2002; Morison und Moir 1998; Richards und Richards 1994) und verweist darauf, dass die Software die Nutzenden keineswegs auf ein bestimmtes methodisches Paradigma festlege (Weitzman 2000, S. 803). Die Software könne so oder so benutzt werden, sie lasse sich sogar für Aufgaben jenseits qualitativer Datenanalyse einsetzen, z. B. als Literaturverwaltungsprogramm zweckentfremden.
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Die Kritiker/innen der Werkzeug-Position bezweifeln den Zuwachs an Analysemöglichkeiten auch gar nicht, befassen sich aber nicht mit der Mikroebene der Analyse im einzelnen Forschungsprojekt, sondern wechseln mit ihrer Argumentation auf eine andere Ebene, nämlich auf die Ebene einer Art Gesamtsicht qualitativer Forschung. Sie hegen vor allem die Befürchtung einer Verengung des Methodenspektrums durch den Softwareeinsatz (Agar 1991; Coffey et al. 1996; Seidel 1991): Der Charakter eines neutralen Werkzeugs sei nur bei oberflächlicher Betrachtung gegeben, in Wirklichkeit beinhalte QDA-Software eine Art hidden curriculum, das die Forschenden, von ihnen selbst weitgehend unbemerkt, in eine bestimmte Richtung führe (Brown 2002; Coffey et al. 1996; Seidel 1991). Solche Warnungen vor vermeintlichen Gefahren des Arbeitens mit QDA-Software wurden vor allem in den 1990er-Jahren recht häufig diskutiert (Coffey et al. 1996; Lee und Fielding 1996; Kelle 1997; Silver und Lewins 2014, S. 335), mittlerweile ist die Diskussion stark abgeflaut. Grundsätzlicher ist die Position von Glaser (2003) sowie Roberts und Wilson (2002). Sie sehen prinzipielle Gegensätze zwischen der Logik des Computers und qualitativer Forschung: „Computer techniques of logic and precise rules are not compatible with the unstructured, ambiguous nature of qualitative data and so it may distort or weaken data [. . .] or stifle creativity“ (Roberts und Wilson 2002, para. 21). Entgegen den früher geäußerten Befürchtungen (Barry 1998; Coffey et al. 1996) hat aber bis heute keine Homogenisierung qualitativer Methoden durch QDASoftware stattgefunden. Zwar korrespondiert die Logik von CAQDAS möglicherweise besser mit solchen Formen der qualitativen Datenanalyse, die auf Kodierung abstellen, aber auch sequenzanalytische und diskursanalytische Vorgehensweisen können gewinnbringend computerunterstützt umgesetzt werden. Die Frage „Eigenständige Methode oder neutrales Werkzeug“ lässt sich nicht mit einem eindeutigen ja oder nein beantworten, sondern hier gilt ein sowohl als auch. Einerseits stellt CAQDAS ein vielseitig verwendbares Werkzeug dar, andererseits sind neue innovative Analyseverfahren erst durch CAQDAS ermöglicht worden. Dies gilt beispielsweise für die komplexen Analysetechniken im Rahmen von Mixed-Methods-Ansätzen (Kuckartz 2014, S. 99–154) und für die mit großen Datenmengen arbeitende Analyse von Social-Media-Daten.
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Analysemöglichkeiten von QDA-Software
QDA-Software gibt Forschenden eine Vielzahl an Funktionen an die Hand, die baukastenartig miteinander kombiniert werden können, um eine der jeweiligen Forschungsfrage angemessene Analyse zu ermöglichen. Charakteristisch ist, wie oben erwähnt, dass sehr unterschiedliche methodische Ansätze umgesetzt werden können und sowohl Prozesse der Theoriekonstruktion als auch der Theorieüberprüfung wirksam unterstützt werden. Insbesondere Forschungstechniken, die wie die Grounded Theory Methoden des ständigen Vergleichs einsetzen (Corbin und Strauss 2015, Kap. 5), profitieren von der Computerunterstützung. An dieser Stelle sollen die wichtigsten Funktionen von QDA-Software vorgestellt werden; einen
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umfassenden Einblick in die gesamte Bandbreite des Funktionsangebots bieten Kuckartz (2009, 2014) sowie Silver und Lewins (2014). Datenmanagement: In QDA-Software lassen sich verschiedene Datenarten importieren. Standardmäßig kann mit Texten in den Formaten DOC, DOCX und RTF (Rich-Text-Format) gearbeitet werden, einige Programmpakete können auch PDF-Dokumente verarbeiten. So können die Daten also beliebige Formatierungen, beispielsweise unterschiedliche Schriftarten und Zeilenabstände enthalten, aber auch die Integration von Bildern, Tabellen etc. ist denkbar. Sofern die Software den internationalen Zeichenstandard Unicode unterstützt, können Texte in beliebigen Sprachen analysiert werden, also auch in Chinesisch, Arabisch, Japanisch etc. Zunehmend mehr Softwarepakete ermöglichen es, Bild- und Grafikdateien zu importieren, sodass sich auch Teilbereiche einer Grafik oder eines Bildes markieren, kommentieren und kodieren lassen. Programme wie Feldpartitur, INTERACT, Transana, Studiocode und sind speziell für die Bearbeitung von Videomaterial konzipiert, sodass auch der computergestützten Analyse der Gestik, beispielsweise in Berater/innen-Klient/innengesprächen, heutzutage nichts mehr im Wege steht.3 Es gibt mehrere Möglichkeiten, vorhandene Daten in die QDA-Software zu übertragen. Neben dem einfachen Import vorhandener Dateien per Drag-and-drop mit der Maus lassen sich auch Texte von Webseiten über die Zwischenablage in die Software hineinkopieren. Zudem können strukturierte Excel-Dateien z. B. mit den offenen Antworten aus einer standardisierten Befragung eingelesen werden. OnlineSurveys enthalten häufig sowohl standardisierte Fragen mit Antwortvorgaben als auch offene Fragen. Die hierdurch erzeugten Mixed Data lassen sich ebenfalls in die QDA-Software importieren und auswerten. Die verschiedenen Daten können nach dem Import mithilfe der QDA-Software verwaltet werden, d. h. sie lassen sich gruppieren, sortieren und löschen, und einzelne Texte/Dokumente können jederzeit im Analyseprozess editiert werden. Meist sind die Daten übersichtlich in einer Baumstruktur angeordnet, die vom Aussehen und von der Funktionalität her der Datenverwaltung in Windows und macOS ähnelt. Mit einfachem Doppelklick auf ein Textdokument, ein Bild oder ein Video wird dieses geöffnet und steht so in Sekundenschnelle für die Analyse zur Verfügung – ohne dass lange auf der Festplatte nach den gewünschten Daten gesucht werden müsste. Kategorienmanagement: Kategorien bzw. Kodes stellen ein zentrales analytisches Mittel in zahlreichen sozialwissenschaftlichen Analysestilen wie etwa der Grounded-Theory-Methodologie (Charmaz 2014; Corbin und Strauss 2015; Kelle 2007; Mey und Mruck 2009, 2011) oder der qualitativen Inhaltsanalyse dar (Kuckartz 2016; Mayring 2015; Schreier 2012, 2014). Gemeinsam ist den verschiedenen kategorienbasierten Vorgehen, dass ein Text (oder ein Bild, eine Videoaufnahme 3
Die Funktionalität der genannten Programme ist im Wesentlichen nur auf die Bearbeitung von Videos ausgerichtet, dieser Beitrag fokussiert jedoch Programme, deren Schwerpunkt auf der Textanalyse liegt. Weitere Informationen zu den Videoanalyse-Programmen finden sich auf deren Internetseiten: http://www.feldpartitur.de/, http://www.mangold-international.com/, http://www.stu diocodegroup.com/, http://www.transana.org/.
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etc.) durch Strukturierung und Segmentierung der Analyse zugänglich gemacht wird. Praktisch sieht die Arbeit mit einer QDA-Software in der Regel so aus, dass die Forschenden eine ausgewählte Textstelle mit der Maus markieren, die markierte Textstelle mit der Maus auf eine Kategorie ziehen und dieser dadurch zuordnen. Die QDA-Software visualisiert die vorgenommene Kodierung dann am Rand des Textes. Alternativ kann man den Text auch mit einem elektronischen Textmarker einfärben und auf diese Weise einer Kategorie zuordnen. Die Kategorien werden in QDAProgrammen meist als Codes bezeichnet und den Vorgang, eine Textstelle einem Kode zuzuordnen bzw. einen Kode für eine Textstelle zu generieren, bezeichnet man dementsprechend als kodieren. Ihren großen Vorteil kann die computergestützte Analyse ausspielen, wenn es nun darum geht, die zu einem Kode zugeordneten Textstellen und Bildsegmente wiederzufinden und anzuzeigen. Während man in einem Text auf einem „realen“ Papierausdruck lange suchen müsste, bis man alle zugehörigen Passagen einer Kategorie zusammengestellt hat, präsentiert die QDA-Software die Ergebnisse einer solchen Suche nach wenigen Mausklicks und offeriert beispielsweise für eine Interviewstudie mit 50 Teilnehmenden alle dem Themenkode „Risikobereitschaft“ zugeordneten Textstellen übersichtlich in einer Liste. Eine ähnliche Suche würde auch bei Daten eines Online-Surveys mit mehreren tausend Befragten nur unwesentlich mehr Zeit erfordern. QDA-Software erlaubt neben diesem sogenannten einfachen Text-Retrieval auch komplexe Text-Retrievals, die ein sehr hohes analytisches Potenzial besitzen. So lassen sich etwa Überschneidungen von Kodierungen aufspüren oder es können nur die Kodierungen angezeigt werden, die wahlweise innerhalb, außerhalb oder in der Nähe einer Kodierung mit einem ausgesuchten Kode liegen. In der QDA-Software können die Kodes als Liste mit verschiedenen Hierarchieebenen, in einigen Programmen auch als Netzwerkstruktur, angelegt werden. Das Kategoriensystem kann dynamisch während der Analyse angepasst werden, und ähnlich wie die Texte lassen sich auch die Kodes gruppieren, ausdifferenzieren oder von einem Projekt in das nächste übernehmen. Memos: Neben den Kategorien stellen Memos ein weiteres zentrales Hilfsmittel dar, das von vielen Forschenden sehr häufig genutzt wird und insbesondere in der Grounded-Theory-Methodologie einen zentralen Stellenwert besitzt (Corbin und Strauss 2008, S. 117). Wie kleine Post-it-Zettel lassen sich Memos in der QDA-Software an beliebige Textgruppen, Texte, Textpassagen oder auch Kodes anheften. In Form eines formatierten Textes können Forschende in den Memos ihre Notizen, Ideen und Theorieentwürfe festhalten, eine Zusammenfassung eines Falls speichern oder auch Widersprüche im Datenmaterial kennzeichnen. Die Memos sind jederzeit abrufbar, können ergänzt und verändert werden. Es lassen sich zahlreiche verschiedene Memotypen unterscheiden, z. B. Theorie-Memos für erste Theorieentwürfe oder Kode-Memos für Kategoriendefinitionen und entsprechende Ankerbeispiele. Memos übernehmen also eine analytische oder eine Gedächtnis-Funktion und es besteht sogar die Möglichkeit, für eine bessere Übersicht unterschiedlichen Memo-Typen unterschiedliche Symbole zuzuordnen. Die Memos können verschoben, kopiert, durchsucht und tabellarisch dargestellt werden, sodass sie bei Bedarf als eigenständiges Datenmaterial für Analysen bereitstehen.
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Suchfunktionen: QDA-Programme stellen zahlreiche Möglichkeiten der informationswissenschaftlichen Exploration des Datenmaterials zur Verfügung, die vor dem Computer-Zeitalter gar nicht denkbar schienen. Forschende können heutzutage in Texten/Dokumenten und bei Bedarf auch in Memos nach beliebigen Zeichenketten, Worten oder auch Wortkombinationen verknüpft durch Boolesche Operatoren suchen. Dabei spielt es aufgrund der fortschreitenden Leistungsfähigkeit der Computer kaum eine Rolle, ob in zehn oder 1000 Texten gesucht wird. Als Ergebnis der Suche präsentiert die QDA-Software eine Liste der Fundstellen, die per Mausklick angezeigt werden. Alternativ eröffnet die computergestützte Analyse die Option, eine sogenannte Keyword-in-Context-Liste zu erstellen, die für einen Suchbegriff alle Fundstellen und den sie umgebenden Text in vordefinierter Länge enthält und so ermöglicht, das semantische Umfeld eines ausgewählten Begriffs zu explorieren. Für die vertiefende Analyse besonders interessant ist zudem die Funktion, die Suchergebnisse und wahlweise auch den umgebenen Satz oder Absatz automatisch einem Kode zuzuordnen. Im Sinne eines „Text Mining“ kann man mit dieser Funktion gestufte Analysen durchführen und zunächst relevante Begriffe wie etwa „Angst“ oder „Entspannung“ festlegen, dann mit der automatischen Kodierung jeweils alle Absätze, in denen der Begriff vorkommt, identifizieren und einem geeigneten Kode zuordnen und schließlich die kodierten Absätze einer detaillierten Analyse unterziehen. Variablen: QDA-Programme erlauben es, zu jedem Fall (also zu jedem Text/ Dokument, jedem Bild etc.) standardisierte Informationen in einem Datensatz von Variablen zu speichern. Viele standardisierbare Angaben liegen bereits vor Beginn einer Analyse vor und können zusammen mit den Fällen in die QDA-Software importiert werden. Wurde im Rahmen eines qualitativen Interviews auch ein Kurzfragebogen ausgefüllt (Kuckartz et al. 2008; Witzel 2000; Witzel und Reiter 2012) oder ein psychologischer Test durchgeführt, so kann der einzelne Fall um zahlreiche Hintergrundinformationen aus diesen Datenquellen angereichert werden, wie etwa Alter und Geschlecht, aber auch Wert auf einer Stress-Skala. Die QDA-Software kann die gespeicherten Variablen nun verwenden, um gezielt Fälle auszuwählen oder zu kontrastieren, z. B. nur die Aussagen von Männern anzuzeigen oder die Aussagen von Menschen mit niedrigen Stresswerten getrennt von denen mit hohen Stresswerten zu präsentieren. QDA-Software erlaubt es aber auch, standardisierbare Informationen, die erst im Verlauf der Analyse des Datenmaterials entstehen, in Variablen zu speichern und für weitere Analyseschritte zu nutzen. Zu diesen Informationen zählt etwa, ob und wie oft Aussagen einer Person die Kategorie „Selbstattribution“ zugeordnet wurde. Interne und externe Links: Wer zwei Textstellen miteinander verbinden möchte, z. B. um widersprüchliche Aussagen in einem Interview zu markieren, kann die beiden Textstellen mit einem internen Link im QDA-Programm verbinden, sodass ein Klick auf die eine „gelinkte“ Textstelle – wie ein Hyperlink im Web-Browser – zur anderen Textstelle führt und umgekehrt. Diese Funktion ist nützlich, wenn widersprüchliche Aussagen von Befragten in einem Interview oder aber auch zusammengehörige Informationen aus verschiedenen Interviews sichtbar gemacht werden sollen. Mithilfe externer Links kann durch einfachen Mausklick eine beliebige Webseite oder eine Datei auf der eigenen Festplatte angesprungen werden.
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Liegt der Originalton eines Interviews in digitaler Form vor, spielt ein Klick auf eine Zeitmarke im QDA-Programm die Aufnahme des Interviews an der entsprechenden Stelle ab. Teamwork: Für alle Fälle, in denen mehrere Forschende im Team am gleichen Datenmaterial arbeiten, hält QDA-Software zahlreiche Teamworkfunktionen bereit. Hat man das gesamte Datenmaterial in eine Projektdatei importiert und Kopien dieser Datei an alle Teammitglieder verteilt, so kann der aktuelle Stand der Analysearbeit (Kodierungen, Memos etc.) zu ausgewählten Texten beliebig zwischen den Projektdateien transferiert werden. Dies ist immer dann hilfreich, wenn die Personen zu unterschiedlichen Themen arbeiten und die Ergebnisse zu den verschiedenen Themen am Ende in einer Projektdatei vereint werden sollen. Für den Fall, dass die Teammitglieder zu den gleichen Themen, aber mit unterschiedlichem Datenmaterial arbeiten, sieht QDA-Software die Möglichkeit vor, die Projektdateien und damit das gesamte Datenmaterial in einem einzigen Projekt zusammenzuführen. Darüber hinaus ist es möglich, für unterschiedliche Nutzer/innen unterschiedliche Rechte zu vergeben und einzelnen Personen bestimmte Änderungen an der Projektdatei zu verwehren. Für die Qualitätssicherung und Qualitätssteigerung der Datenanalyse bieten einige QDA-Programme Funktionen an, die es erlauben, die Übereinstimmung der Kodierenden (Intercoder-Reliabilität) zu messen und zu erhöhen. Wortbasierte Häufigkeitsauswertungen: In mehreren QDA-Programmen stehen Funktionen für das Zählen von Wörtern bereit, die im Rahmen einer qualitativen Analyse insbesondere zu heuristischen und explorativen Zwecken genutzt werden können. Die QDA-Software listet alle unterschiedlichen Wörter eines Projekts oder Textes auf und gibt an, wie häufig das Wort vorkommt, berechnet sogar die TypeToken-Ratio (Quotient aus Anzahl aller Wörter eines Textes und Anzahl unterschiedlicher Wörter) als Maß für den Wortschatz. Diese Funktionen sind für die Psychologie insofern bedeutsam, als dass auf diese Weise Listen mit relevanten Begriffen zu einem ausgewählten Thema erstellt werden können, etwa mit Begriffen, die Angst oder Freude ausdrücken und die bei Bedarf nach verschiedenen Kategorien aufgegliedert sein können und in einem sogenannten Diktionär festgehalten werden. Ein erstelltes Diktionär kann nun dazu dienen, andere Texte hinsichtlich der enthaltenen Kategorien auszuzählen, um beispielsweise automatisiert den „Angst-Wert“ oder „Freude-Wert“ eines Textes zu bestimmen. Quantifizierung („Quantitizing“): Bei der Kodierung von qualitativen Daten werden meist auch quantitative Informationen erzeugt, etwa wie häufig bestimmte Kodes den jeweiligen Texten/Dokumenten zugeordnet wurden. Als Quantitizing wird üblicherweise der Transfer solcher Informationen in eine quantitative Datenmatrix bezeichnet, die wiederum mit statistischen Verfahren analysiert werden kann. Quantifizierende Vorgehensweisen in der qualitativen Forschung bedürfen der sorgfältigen Planung und Durchführung und müssen immer den Entstehungskontext der Zahlen und ihre genaue Bedeutung berücksichtigen, damit keine falschen Schlussfolgerungen gezogen werden und die qualitativen Daten verzerrende Eindrücke entstehen. Eine Darstellung der umfangreichen Einsatzmöglichkeiten deskriptiver Statistik im Rahmen qualitativer Forschung finden sich in Grunenberg und Kuckartz (2010).
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Ablauf der computergestützten Analyse am Beispiel der qualitativen Inhaltsanalyse
Wie findet nun eine Auswertung mit QDA-Software genau statt, was muss unbedingt beachtet werden und welche Entscheidungen sind seitens der Forschenden zu fällen? Im Folgenden werden einige entscheidende Punkte computergestützter Auswertung fokussiert, und zwar auf dem Hintergrund eines inhaltsanalytischen Auswertungsprozesses von Interviews: Teilweise orientieren sich die Forschenden an formalisierten Vorgehensweisen (Kuckartz 2016; Mayring 2015), teilweise sind sie an einem bestimmten theoretischen Rahmen orientiert (Hopf et al. 1995), folgen formalen Verfahren wie der Leitbildanalyse (Kuckartz 1996) oder entwickeln neue, ihren Daten speziell angemessene Analysevarianten. All diesen Vorgehensweisen ist die systematische Methode der Auswertung gemeinsam, d. h., das gesamte Material wird durchgearbeitet, auf der Basis eines Kategoriensystems kodiert und analysiert. Im Folgenden werden sechs wichtige Punkte eines solchen Auswertungsprozesses näher betrachtet.
4.1
Transkription
Sofern die Daten von den Forschenden selbst erhoben wurden, stellen sich noch vor der eigentlichen Auswertung viele Fragen rund um die Transkription des als Audiooder Videodatei vorliegenden Materials (Dittmar 2009). Bei offenen Interviews oder Fokusgruppen wird man sich in der Regel für eine vollständige Transkription entscheiden und diese mithilfe der QDA-Software oder einer speziellen Transkriptionssoftware (etwa f4/f5 oder easytranscript)4 vornehmen. Die gängigen Transkriptionsregeln (Dresing und Pehl 2015) werden von QDA-Software problemlos unterstützt. Das gilt allerdings nicht für die spezielle Form von Partiturtranskriptionen, die sich etwa mit Hilfe von Exmaralda5 oder Feldpartitur erzeugen lässt; diese lässt sich mit QDA-Software nur schwierig verarbeiten. Bei der Transkription, insbesondere von paraverbalen Gegebenheiten, sollte man berücksichtigen, wie die Suchfunktionen von QDA-Software arbeiten. So lassen sich später ohne weiteres Textstellen finden, bei denen lautes Sprechen durch Sonderzeichen (etwa „$$“) eingerahmt ist, während nach Fettdruck – dem häufig für lautes Sprechen vorgesehenen Transkriptionsformat – nicht gesucht werden kann. Die neueste Generation von QDA-Software ermöglicht den simultanen Rückgriff auf den Originalton, vorausgesetzt, dass beim Transkribieren Zeitmarkierungen gesetzt wurden, durch die Verbindungen zwischen Text und Originalton hergestellt werden. Hier muss also bereits vor dem Transkribieren entschieden werden, ob ein
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http://www.audiotranskription.de/ und http://www.e-werkzeug.de/. http://www.exmaralda.org/de/.
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solcher Rückgriff auf das Originalmaterial zu einem späteren Zeitpunkt der Analyse notwendig und sinnvoll ist. Hinsichtlich der Anzahl und Größe der gleichzeitig auswertbaren Texte gibt es keine relevanten Begrenzungen, jedenfalls so lange nicht, wie man sich im Rahmen der in der qualitativen Forschung üblichen Samplegrößen bewegt. Feldstudien mit mehreren hundert Feldnotizen oder Beobachtungsprotokollen lassen sich ebenso bearbeiten wie Interviewstudien üblicher Größenordnung mit ca. 20 bis 100 Interviews. Erst dann, wenn das Material wesentlich umfänglicher ist, empfiehlt sich eine Prüfung, ob die QDA-Software der Wahl mit dieser Materialfülle auch zurechtkommt.
4.2
Beginn der computergestützten Analyse
Mit welchen Schritten startet der eigentliche computergestützte Auswertungsprozess? Qualitative Datenauswertung verlangt intensive Textarbeit, gleichgültig ob sie nun computergestützt durchgeführt wird oder nicht. Der Auswertungsprozess beginnt deshalb mit der sorgfältigen Lektüre der Texte – in Forschungsteams möglichst durch mehrere Mitglieder. QDA-Software kann hier insofern unterstützend sein, als mit der Erstellung eines zeilennummerierten oder absatznummerierten Ausdrucks ein gemeinsames Referenzsystem geschaffen wird, auf das man sich bei der Interpretation eines Textes beziehen kann. Die Absatznummerierung ist normalerweise der Zeilennummerierung wegen der größeren Flexibilität vorzuziehen, denn der Text lässt sich in diesem Fall ähnlich wie bei einem Textverarbeitungssystem beliebig der Fenster- bzw. Bildschirmbreite anpassen. Andererseits hat eine Zeilennummerierung den Vorteil der genaueren Referenzierung. Schon bei der ersten Lektüre eines Textes sollte man Auffälligkeiten festhalten, weiterführende Ideen niederschreiben und Widersprüche in den Texten kenntlich machen. QDA-Software unterstützt die Textarbeit sehr wirksam: Erste Vermutungen und Hypothesen lassen sich direkt am Text in Form von Memos festhalten. Auffällige Textstellen werden ähnlich wie mit einem Textmarker so markiert, dass sich die Hintergrundfarbe der Textstelle verändert. Schließlich kann man in den Texten nach bestimmten Begriffen suchen, Textstellen miteinander durch Links verbinden oder Bezüge zu anderen Texten oder Dokumenten außerhalb der erhobenen Daten herstellen. Gegen Ende des ersten Materialdurchlaufs erweist es sich insbesondere bei fallbezogenem Material wie offenen Interviews als nützlich, wenn eine erste Fallzusammenfassung (case summary), d. h. eine systematisch ordnende, zusammenfassende Darstellung der Charakteristika des Einzelfalls mit Hinblick auf die Forschungsfrage, angefertigt wird. Solche Falldarstellungen sollen kurz und prägnant sein, auch stichwortartige Darstellungen sind durchaus zielführend (Kuckartz et al. 2008). Case summarys lassen sich in der QDA-Software in Form von Memos an die jeweiligen Texte anheften, sodass im weiteren Analyseprozess jederzeit auf sie zurückgegriffen werden kann. Bei größeren Stichproben, bei denen möglicherweise nicht jedes Team-Mitglied jeden Text intensiv gelesen hat, geben diese
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Fallzusammenfassungen einen schnellen Einblick in die Charakteristik der einzelnen Forschungsteilnehmenden.
4.3
Bildung von Kategorien
Der nächste Schritt systematischer Auswertung besteht in der Bildung von Kategorien. Woher kommen diese? Wie gelangt man zu den für die Analyse optimalen Kategorien? Gleichgültig, welche Art des Arbeitens man bevorzugt, sei es direkt am Computer oder papierbasiert, der Bildung von Kategorien kommt bei vielen Analyseverfahren eine ganz zentrale Rolle zu. Berelson hatte für die klassische quantitative Inhaltsanalyse den Satz formuliert: „Die Inhaltsanalyse steht und fällt mit ihren Kategorien“ (Berelson 1952, S. 147). Ähnliches gilt auch für kategorienbasierte Analysen qualitativer Daten. Bei der Arbeit mit Kategorien ist stets zu beachten, dass sich zahlreiche Arten von Kategorien unterscheiden lassen, etwa Fakten-Kategorien für leicht feststellbare Tatsachen wie die Teilnahme an einer Rehabilitationsmaßnahme, thematische Kategorien wie „Selbstwirksamkeit“ sowie evaluative Kategorien für skalierende Einschätzungen (Kuckartz 2016, S. 34–35). Die QDA-Software trifft derartige Unterscheidungen nicht, sondern diese wichtige analytische Aufgabe verbleibt stets bei den Forschenden. So wird in MAXQDA und ATLAS.ti durchgängig der Begriff „Code“ verwendet, gleich ob es sich um eine thematische oder evaluative Kategorie handelt, und NVivo greift auf den etwas weniger gebräuchlichen Begriff „Node“ zurück. Hinsichtlich der Bildung von Kategorien lassen sich idealtypisch zwei Varianten unterscheiden: die meist als deduktive und induktive Kategorienbildung bezeichnet werden. Bei der deduktiven Kategorienbildung werden vorab festgelegte, aus der Theorie stammende kategoriale Vorstrukturierungen an das Material herangetragen (Hopf et al. 1995) und in der Software vorab definiert. Umgekehrt werden beim induktiven Vorgehen die Kategorien aus dem Text generiert; dabei kann ein paraphrasierenden Verfahren nützlich sein (Mayring 2015, S. 69–85). Auch beim deduktiven Vorgehen ist es aber durchaus möglich, dass beim Kodieren der Texte neue thematische Aspekte identifiziert und entsprechende Kodes definiert werden. Der Begriff „induktiv“, der sich für die Kategorienbildung am Material eingebürgert hat, wird allerdings leicht missverstanden. Auch bei der Kategorienbildung am Material ist es nicht so, dass diese von selbst emergieren, einem quasi entgegenspringen. Vielmehr stellt es eine intellektuelle Leistung der Forschenden dar, Kategorien auf der Basis ihres jeweiligen Vorwissens zu bilden. Insofern sind die Differenzen zwischen induktiver und deduktiver Kategorienbildung keineswegs so groß wie die Begriffe nahe legen – beide gründen auf das vorhandene Vorwissen. Bei der Arbeit mit QDA-Software lassen sich differenzierte und vielschichtige Kategoriensysteme bilden. Um dabei die Intercoder- und die Intracoder-Reliabilität zu gewährleisten, aber auch für die spätere Dokumentation sollten die jeweiligen Kategoriendefinitionen in der QDA-Software festgehalten werden, die dort leicht modifiziert und mit Kodierbeispielen versehen werden können. Solche „Ankerbei-
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spiele“ lassen sich durch einfaches Copy-and-paste vom Text in ein Kode-Memo übertragen und sollten mit einer Quellenangabe versehen werden, etwa in der Form „(Interview 1, Absatz 14)“. Wie in Abschn. 3 oben beschrieben, geschieht das Kodieren mit QDA-Software so, dass Textstellen ein bereits existierender oder ein neu generierter Kode zugeordnet wird. Dieser erste Kodierprozess lässt sich auch als „Grobkodierung“ bezeichnen: Die Kategorien dienen zunächst dazu, die für die Forschungsfrage relevanten Stellen in den Interviews zu identifizieren. Bei der Wahl des Umfangs der Segmentkodierung sollte man nach der Maxime „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“ verfahren. Da die Textstellen im weiteren Analyseprozess „dekontextualisiert“, d. h. außerhalb ihres Kontextes verwendet werden, lautet die wichtigste Regel, soviel Text zu kodieren, dass Segmente auch außerhalb des ursprünglichen Kontextes noch verständlich bleiben. Der Auswertungsprozess lässt sich in dieser Phase gut arbeitsteilig organisieren, etwa so, dass die Mitglieder des Teams verschiedene inhaltliche Bereiche bearbeiten. Die Schnelligkeit des Computers erleichtert das dynamische Arbeiten mit den Kategorien, d. h. das Ordnen, Ausdifferenzieren und Integrieren zu abstrakteren Kategorien, und das Wiederfinden von thematisch interessanten und relevanten Textstellen. Vor Beginn der Kodierung ist festzulegen, wie mit dem mehrfachen Auftauchen der gleichen Information zu verfahren ist. Wenn in einer Studie mit Reha-Patient/ innen eine Kategorie „Reha-Vorerfahrungen“ definiert wurde, so wird man die gleiche Information („Dies ist jetzt meine dritte Reha“) normalerweise nur einmal kodieren. Dies gilt natürlich nicht für thematische Kategorien, die jede Erwähnung eines Themas erfassen sollen und ebenso wenig, wenn man dem mehrfachen Auftauchen der gleichen Information eine inhaltliche Bedeutung beimisst.
4.4
Kodierung und Weiterentwicklung von Kodes
Auf der Basis der Grobkodierung lassen sich bereits kategorienbasierte Auswertungen vornehmen, d. h. das Material wird kategorienbezogen zusammengestellt. Diese Zusammenstellungen von allen Textstellen, denen ein bestimmter Kode zugeordnet wurde, dienen als Grundlage für eine eventuelle Ausdifferenzierung oder Integration von Kategorien. Nicht jede thematische Kategorie muss ausdifferenziert und verfeinert werden, doch für die zentralen Kategorien einer Studie ist dies in der Regel sinnvoll und notwendig. Aufgrund der kategorienbezogenen Auswertungen identifiziert man die relevanten Dimensionen und bildet neue Subkategorien („Dimensionsanalyse“) (Kuckartz und Rädiker 2010). Mit diesen differenzierteren Kategorien führt man eine Feinkodierung durch, d. h. für jedes kodierte Segment der betreffenden Kategorie wird entschieden, welche der aufgrund der Dimensionsanalyse neu gebildeten Subkategorien zugeordnet werden sollte. Als Beispiel mag man sich eine Kategorie „Verbesserung im Sozialverhalten“ vorstellen, bei der aufgrund der Dimensionsanalyse verschiedene Arten der Verbesserung unterschieden werden können. Diese
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werden dann als Subkategorien neu definiert und kodiert. Ebenfalls ist in dieser Phase der Analyse eine Integration von thematisch zusammenhängenden Kategorien zu komplexeren und abstrakteren Konzepten möglich (z. B. Grundhaltungen, Leitbilder, Orientierungsmuster und Ähnliches mehr). Dieser Schritt der Feinkodierung erfordert viel Arbeit und wird deshalb am besten, soweit möglich, arbeitsteilig durchgeführt, indem die Bearbeitung einzelner Oberkategorien auf die Teammitglieder aufgeteilt wird. Im Grunde setzt diese Form des Arbeitens mit Kategorien die Unterstützung von QDA-Software voraus, denn hier werden selektiv die jeweiligen Segmente präsentiert und von den Forschenden durch Anklicken der zutreffenden Subkategorie neu zugeordnet, eine Technik, die bei manueller konventioneller Arbeitsweise völlig undenkbar wäre bzw. Monate oder Jahre in Anspruch nehmen würde. CAQDAS-Benutzer/innen stellen häufig die Frage, wie viele Kodes denn eigentlich für eine Analyse optimalerweise benötigt werden. Dies hängt natürlich von der Forschungsfrage und der gewählten Methode ab. Verallgemeinernd lässt sich allerdings sagen, dass 20 bis 40 ein Erfahrungswert für die Phase der Grobkodierung sind (Creswell 2007, S. 150–151; Schreier 2012, S. 79). Durch Ausdifferenzierung und Dimensionalisierung kann sich die Zahl dann leicht verdoppeln oder verdreifachen. Mehr als drei Hierarchieebenen zu unterscheiden dürfte nur in Ausnahmefällen zu empfehlen sein, schließlich sollte auch berücksichtigt werden, dass die Anforderungen an die Kodierer/innen mit der Komplexität des Kategoriensystems überproportional anwachsen. Möglicherweise verführt CAQDAS durch die technischen Möglichkeiten dazu, sehr viele Kodes zu bilden und im Kategoriensystem viele Hierarchieebenen vorzusehen. Beides sollte man vermeiden, denn das Ziel der Kategorienbildung ist es schließlich, eine systematische Ordnung in das Material zu bringen und nicht eine neue Unübersichtlichkeit zu erzeugen.
4.5
Arbeit mit Memos
Die Arbeit mit Memos begleitet den gesamten Prozess der computergestützten Analyse. Vor allem die Protagonist/innen der Grounded-Theory-Methodologie, z. B. Juliet Corbin in den Neuauflagen des Lehrbuchs „Basics of Qualitative Research“ (Corbin und Strauss 2008, 2015), haben vehement für das regelmäßige Schreiben von Memos, beginnend mit den ersten Phasen des Auswertungsprozesses, plädiert. CAQDAS macht es leicht, dieses analytische Instrument zu nutzen und vor allem den Überblick über die eigenen Memos und die Memos der anderen Mitglieder des Forschungsteams zu behalten. Dem Vorbild der Grounded-Theory-Methodologie entsprechend sollte man jedem Memo einen Titel geben und den Autor bzw. die Autorin und das Entstehungsdatum vermerken. Nützlich ist es auch, zwischen verschiedenen Memotypen zu unterscheiden, z. B. „Theorie-Memos“, „MethodenMemos“, „Kode-Memos“ etc. Ähnlich wie mit Kodes sollte man auch mit Memos einen inflationären Umgang vermeiden. Im Verlauf des Analyseprozesses sollte vornehmlich ein qualitatives
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Wachstum von Memos stattfinden, d. h. diese sollten integrativer und theoretischer werden, aber nicht unbedingt immer mehr an Zahl zunehmen.
4.6
Kategorienbasierte Auswertung
Auf der Basis von ausgearbeiteten Kategorien und der entsprechenden Kodierung des Materials lassen sich die Beziehungen zwischen den Kategorien und Subkategorien untersuchen. Ausgangspunkt ist die Zusammenstellung der entsprechenden Textstellen, entweder am Bildschirm oder in Form eines Ausdrucks. Man kann diese Textsammlung – im übertragenen Sinn – vor sich ausbreiten, analysieren und die Auswertungsergebnisse zu Papier bringen. Textbeispiele stehen immer auf einen Klick zur Verfügung und können gleich in den Forschungsbericht eingefügt werden. An dieser entscheidenden Stelle des Auswertungsprozesses gilt es natürlich aufzupassen, dass man nicht in Materialzusammenstellungen erstickt. Die Schnelligkeit der Computertechnik erlaubt es schließlich, nahezu unbegrenzt Teile des Datenmaterials nach bestimmten Kriterien auszuwählen und zusammenzustellen, sodass die Gefahr besteht, „den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen“. Oberstes Ziel ist es also, die Übersicht zu behalten. Dazu kann beispielsweise auch das Erstellen einer Themenmatrix oder das Anfertigen der von Schmidt (1997) beschriebenen Kreuztabellen gehören. Der Schritt der Feinkodierung macht es möglich, systematisch Hypothesen zu formulieren und am vorhandenen Material zu überprüfen. In ihrer sozialpsychologischen Studie über das Verhältnis von innerfamilialen sozialen Erfahrungen, Persönlichkeitsentwicklung und politischen Orientierungen haben Hopf und Schmidt etwa mit Hilfe von Übersichtstabellen die Zusammenhänge von Bindungserfahrung und politischer Orientierung für ihr Sample übersichtlich dargestellt (Schmidt 1997). Solche Übersichten in Tabellenform zu erstellen ist von Vorteil, weil so die Beantwortung von Fragen, die an das Material gestellt werden, wesentlich leichter und gültiger möglich ist. Tabellenübersichten mit quantitativen Daten, etwa den Kategorienhäufigkeiten, lassen sich in der QDA-Software direkt erzeugen. Auch tabellarische Übersichten, in denen verschiedene Gruppen von Befragten kontrastiert werden, lassen sich erstellen und mit den Ergebnissen der Feinkodierung füllen. In einem Evaluationsprojekt, in dem eine universitäre Lehrveranstaltung zur sozialwissenschaftlichen Statistik mithilfe leitfadenbasierter Interviews und eines ergänzenden Kurzfragebogens evaluiert wurde (Kuckartz et al. 2008), bestand beispielsweise die Vermutung, dass in den Interviews hauptsächlich solche Studierende für mehr Ruhe in der Lehrveranstaltung plädierten, die Probleme mit dem Stoff und eine schlechte Mathematiknote in der Schule hatten. Diese Vermutung lässt sich wesentlich leichter überprüfen, wenn der Schritt der Feinkodierung ausgeführt wurde, als wenn die gleiche Fragestellung nur auf der Basis der relativ unspezifisch mit der thematischen Kategorie „Verbesserungsvorschläge“ kodierten Segmente untersucht würde. Dann wäre es nämlich jeweils notwendig, erneut den Text zu lesen, diesen zu verstehen und die Aussage einer analytischen Dimension, etwa „organisatorische Verbesserungen“, zuzuordnen.
Computergestützte Analyse qualitativer Daten (CAQDAS)
5
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Stärken und Grenzen von CAQDAS
Wie jedes andere methodische Werkzeug zur Datenanalyse besitzt CAQDAS Grenzen und Beschränkungen hinsichtlich der Anwendung und des sinnvollen Einsatzes. Von Schwächen im eigentlichen Sinn lässt sich ebenso wenig sprechen, wie man von Schwächen der Faktorenanalyse oder Schwächen der Hermeneutik sprechen kann. Die Sinnhaftigkeit der Nutzung von QDA-Software lässt sich nur auf dem Hintergrund der Forschungsfrage und der angestrebten Analyse entscheiden. Verfahren, die wie die objektive Hermeneutik sehr stark mit der Exegese einzelner Textstellen arbeiten, profitieren nur relativ wenig von CAQDAS. Allerdings ist es auch schwer vorstellbar, wie für diese extensiv hermeneutisch arbeitenden Analyseverfahren eine bessere CAQDAS-Unterstützung konzipiert werden könnte. Hier sind computergestützte Verfahren weniger angemessen als im Falle von kategorienbasierten, systematisierenden und zusammenfassenden Verfahren. Bei der Diskussion der Benefits und Schwächen von CAQDAS erscheint es hilfreich, mit dem an der Medizin und Therapie orientierten Indikationskonzept von Flick (2007, S. 511) zu arbeiten. Diesem zufolge ist eine bestimmte Behandlung oder ein bestimmtes Medikament nicht per se sinnvoll, sondern es sind zunächst die vorliegenden Bedingungen auf die Angemessenheit der Methode hin zu untersuchen. Liegen diese vor, so kann CAQDAS zu einer erheblichen Qualitätsverbesserung qualitativer Forschung beitragen. Der Einsatz von Computertechnik kann eine beträchtliche „digitale Dividende“ abwerfen, wobei diese auf verschiedenen Ebenen ausgezahlt wird. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich die folgenden zehn Punkte anführen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Tempo, Schnelligkeit und Effektivität der Auswertungsprozesse Umfang der bearbeitbaren Daten bzw. des Samples Integration unterschiedlicher Datenarten (Text, Audio, Video etc.) Organisation und Strukturierung des Datenmaterials Multimediale Verknüpfungsmöglichkeiten von Daten (z. B. durch Links, Geolinks, Synchronisierung von Transkript und Originalton) Unterstützung von Mixed-Methods-Ansätzen und Triangulation Visualisierung als Form der Darstellung analytischer Befunde und als analytisches Hilfsmittel Unterstützung von Teamwork Kosten-Nutzen-Verhältnis Dokumentation, Nachvollziehbarkeit und Qualität
Die Aufstellung zeigt, dass die Benefits von CAQDAS quantitativ und qualitativ umfangreich sein können. Überall dort, wo Daten bereits digitalisiert vorliegen oder ohne größeren Aufwand digitalisiert werden können, verspricht der Einsatz computerunterstützter Verfahren beträchtliche Vorteile. Diese sind umso größer, je mehr Systematisierung und Zusammenfassung die Ziele der Auswertung sind. Die große Nähe zu den Daten, die Möglichkeit, zu jedem Zeitpunkt von der generierten Theorie zu deren empirischer Basis zurückzukehren, macht CAQDAS für zahlreiche Analyseformen interessant.
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Ausblick: Stand und Perspektiven
CAQDAS hat sich im letzten Jahrzehnt mit rasantem Tempo weiterentwickelt und gehört weiterhin zu den innovativen Feldern der Methodenentwicklung. Beispielsweise wurden in ATLAS.ti und MAXQDA sogenannte Geolinks integriert. Diese innovative Funktion ist überall dort in der Psychologie von großem Nutzen, wo ein Raumbezug von Interesse ist, das gilt ebenso für die Umweltpsychologie, denn der Wohnort stellt sicherlich eine wichtige Einflussgröße z. B. für die Risikowahrnehmung dar, wie für die Sozial- und Gemeindepsychologie. Im Folgenden werden vier Gebiete der Entwicklung näher beleuchtet, in denen in besonderem Maße Entwicklungen stattfinden bzw. zukünftig zu erwarten sind.
6.1
Daten-Display und Möglichkeiten zur Visualisierung
Das Thema „Visualisierung“ gewinnt in der qualitativen Methodenliteratur zunehmend an Bedeutung. Schon in den 1990er-Jahren hatten sich Miles und Huberman (1995) intensiv mit der grafischen Darstellung qualitativer Daten befasst und ein umfangreiches Sourcebook publiziert (s. auch Miles et al. 2014). Mit der computergestützten Analyse steigen die Möglichkeiten der Visualisierung enorm. QDASoftware enthält Zeichenprogramme, die es erlauben, qualitative modeling (Kuckartz 2009) zu betreiben, d. h. Grafiken zu erstellen, in denen Konzepte, Kategorien und Hypothesen in Zusammenhang gebracht werden. Auf diese Weise lassen sich Verbindungen, Ursachen und Wirkungen, die Gruppierung von Faktoren sowie Bestandteile von Daten sichtbar machen. Die integrierten Zeichenprogramme sind sicherlich Stand-Alone-Programmen zur Visualisierung im Funktionsumfang unterlegen, bestechen aber durch einen zentralen Vorteil: Die Grafikelemente bleiben dynamisch mit den Daten verbunden, d. h. durch einen Klick auf einen visualisierten Kode gelangt man z. B. zu einer Liste derjenigen Textstellen, die diesem Kode zugeordnet sind. Einige QDA-Programme stellen zudem grafische Darstellungen der Kodierungen zur Verfügung, die eine gezielte Erkundung, Hypothesenentwicklung und -überprüfung sowie detaillierte Auswertungen erlauben. Visualisierungen dieser Art können entweder aus den Daten eines Falls oder fallübergreifend konstruiert werden. Die chronologische Abfolge von Kodierungen eines Falls lässt sich z. B. als Codeline darstellen, wobei auf der X-Achse die einzelnen Absätze des Textes und auf der Y-Achse die Kodes aufgetragen werden. In der Codeline einer Therapiesitzung können – bei entsprechender Kodierung – Therapeut/in und Klient/in jeweils in einer Zeile visualisiert werden, sodass auf einen Blick die Sprecher/innenanteile ablesbar sind. Auch die Häufigkeiten von Kategorienzuordnungen können in Form einer Tabelle visualisiert werden, die auf der X-Achse ausgewählte Fälle (= Interviews) und auf der Y-Achse ausgewählte Kodes enthält (Abb. 1). Mithilfe einer solchen Darstellung lassen sich wichtige Themen, aber vor allem Kodier-Auffälligkeiten einzelner Fälle, unschwer identifizieren.
Computergestützte Analyse qualitativer Daten (CAQDAS)
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Abb. 1 Code-Matrix-Browser in MAXQDA
6.2
Mixed Data und Social Media Daten
Durch die rasant zunehmende Zahl von Online-Surveys erlangt das Thema Mixed Data eine stetig wachsende Bedeutung. Üblicherweise enthalten Online-Surveys sowohl standardisierte Fragen (geschlossene Antwortvorgaben) als auch Hybridfragen (Kombination von offenen und geschlossenen Antwortvorgaben) und offene Fragen ohne Antwortvorgaben. Einige Programme (ATLAS.ti, MAXQDA, NVivo und QDAMiner) erlauben bereits den Import solcher Daten, wie sie von OnlineUmfragetools wie Qualtrics, SurveyMonkey oder LimeSurvey erzeugt werden. Teilweise können die offenen Fragen gleich automatisch vorab kodiert werden (Silver und Lewins 2014, S. 101–104). Ein ebenfalls mit großer Geschwindigkeit wachsendes Feld empirischer Analysen ist der Bereich der Analyse von Twitter- und Facebook-Daten oder allgemeiner gesprochen von Social-Media-Daten (Kuckartz und Rädiker 2017). QDA-Software ermöglicht es mittlerweile, solche Daten zu importieren und automatisch zu kodieren. Damit wird der empirischen Sozialforschung ein völlig neues Feld der Analyse von großen Datenmengen erschlossen, und es ist kaum denkbar, wie die Analyse von 10.000 Tweets und mehr ohne computerunterstützte Filterungen und Zugriffe leistbar wäre.
6.3
Analyse visueller Daten und Multimedia Integration
Waren QDA-Programme in ihren Anfängen ausschließlich Programme zur Auswertung von Texten (im Nur-Text-Format), so hatte sich dieses bereits Anfang der 2000er-Jahre durch die Verbreitung des RTF-Formats als Standard-Datenformat von QDA-Software verändert. Nun ließen sich auch in den Daten enthaltene Tabellen, Bilder, Grafiken und andere „Objekte“ bearbeiten. Neuere Entwicklungen gehen erheblich weiter. Die generelle Tendenz der Softwareentwicklung zur Integration von Multimedia hat nun auch die QDA-Software erreicht. Insbesondere die Verzahnung von Text-Transkripten und Original-Audio- bzw. Videodateien für die Forschung hoch interessant. So können z. B. Text und Audio synchron dargestellt werden: Ähnlich wie die Untertitel eines Films werden die zu einer Audio-Sequenz gehörenden Transkriptionsabsätze „abgespielt“. Dies ermöglicht gerade für die
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U. Kuckartz und S. Rädiker
Psychologie einen völlig neuen Zugang zu den vorher allenfalls mühevoll transkribierten paraverbalen und non-verbalen Aspekten eines Interviews oder beispielsweise eines Klient/innengesprächs. Nachdem es inzwischen durch die fortschreitende Technologie auch immer leichter wird, digitale Videoaufnahmen selbst mit kleinsten Geräten in hochauflösender Qualität zu produzieren, haben sich auch die Analysemöglichkeiten für Videodaten mit QDA-Software weiterentwickelt. So lassen sich Gruppensituationen und Zweierinteraktionen hinsichtlich zahlreicher psychologischer Aspekte durch direkte Kodierung und Kommentierung auch ohne zusätzliche Transkription analysieren.
6.4
Mixed Methods
In den letzten Jahren sind Mixed-Methods-Ansätze ein ständig wachsendes Feld in der empirischen Sozialforschung. „Unter Mixed Methods wird die Kombination und Integration von qualitativen und quantitativen Methoden im Rahmen des gleichen Forschungsprojekts verstanden. Es handelt sich also um eine Forschung, in der die Forschenden im Rahmen von ein- oder mehrphasig angelegten Designs sowohl qualitative als auch quantitative Daten sammeln. Die Integration beider Methodenstränge, d. h. von Daten, Ergebnissen und Schlussfolgerungen, erfolgt je nach Design in der Schlussphase des Forschungsprojektes oder in bereits früheren Projektphasen.“ (Kuckartz 2014, S. 33)
Während sich QDA-Programme lange Zeit in ihrer Funktionalität ausschließlich auf die qualitative Datenanalyse konzentrierten, nehmen inzwischen die Möglichkeiten zur Kombination und Integration qualitativer und quantitativer Daten immer weiter zu. Zum einen können innerhalb der QDA-Programme zahlreiche quantitative Informationen angefordert und ausgewertet werden. Hierzu zählen zum Beispiel: • die Anzahl der Segmente, die einem Kode zugeordnet wurden, bei Bedarf aufgeteilt auf ausgewählte Fälle oder präsentiert in einer Kreuztabelle zum Vergleich von zwei Gruppen, etwa von Männern und Frauen; • der relative Anteil eines Kodes als Maß für seine (quantitative) Bedeutung und • die Anzahl der zu einem Fall gehörenden Verknüpfungen, Memos und Kodes. Zum anderen besteht die Möglichkeit, die quantifizierbaren Ergebnisse der qualitativen Datenanalyse zu exportieren und statistisch weiterzuverarbeiten, z. B. die Kodehäufigkeiten einer Cluster- oder Faktorenanalyse zu unterziehen (Anwendungsbeispiel bei Korte et al. 2007; vgl. Kuckartz 2009). Ergebnisse solcher Analysen, z. B. die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Cluster, können wiederum in die QDA-Software transferiert werden und so einen Hintergrund für qualitativinterpretative Analysen bilden. Die Mixed-Methods-Funktionen von QDA-Software unterstützen auch auf vielfältige Weise Triangulationsstrategien, insbesondere solche der Daten- und Methodentriangulation (Denzin 1978, 2012; Flick 2011).
Computergestützte Analyse qualitativer Daten (CAQDAS)
831
Tab. 1 Übersicht über die derzeit gebräuchlichen QDA-Programme mit Demoversion Name ATLAS.ti
Version 8
Webseite www.atlasti.de
Dedoose HyperResearch
webbasiert 4.5
MAXQDA NVivo
2020 12
QDA Miner
5
Transana
3.21
www.dedoose.com www.researchware. com www.maxqda.de www. qsrinternational.com www. provalisresearch.com www.transana.com
7
Demoversion Anzahl der Fälle, Kodes, Memos etc. begrenzt 30 Tage freie Nutzung Anzahl der Fälle, Kodes etc. begrenzt 14 Tage lauffähig; volle Funktionalität 14 Tage lauffähig; volle Funktionalität 30 Tage lauffähig; volle Funktionalität limitierte Funktionalität
Übersicht über QDA-Softwarepakete
In Tab. 1 sind die derzeit gebräuchlichsten Programme für die Analyse qualitativer Daten aufgelistet. Es wurden die Programme gelistet, die auch von Silver und Lewins (2014) in ihrem Überblickswerk besprochen wurden. Das Programm Transana stellt eine Besonderheit dar, denn es wurde speziell für die Videoanalyse entwickelt. Auf den Webseiten der Hersteller können zum Test der Funktionalität Demoversionen heruntergeladen werden, deren Einschränkungen in der letzten Spalte der Tabelle beschrieben sind. Alle Programme stehen für das Betriebssystem Windows zur Verfügung, ATLAS.ti, NVivo, MAXQDA und HyperResearch bieten auch eine native Mac-Version an, sodass eine Installation von Virtualisierungssoftware, etwa Parallels Desktop, nicht erforderlich ist.
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Transkription Implikationen, Auswahlkriterien und Systeme für psychologische Studien Thorsten Dresing und Thorsten Pehl
Inhalt 1 Entstehungsgeschichte und Relevanz von Transkription . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Prämissen und Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Anforderungen an Transkriptionssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Technische Hinweise für die Transkription . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausblick: Stand und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
836 837 842 847 851 851
Zusammenfassung
Mit der Öffnung der Psychologie gegenüber qualitativen Methoden gewinnt die Transkription als entscheidender Schritt bei der Analyse aufgezeichneter Daten an Bedeutung. Ziel der Transkription ist die Verschriftlichung von Audio- und Videoaufnahmen, vor allem von Interviews und Gesprächen, sodass diese für die wissenschaftliche Auswertung genutzt werden können. Der Beitrag thematisiert sowohl praktische als auch theoretische Aspekte des Transkriptionsprozesses. Er stellt heraus, dass es sich bei der Transkription nicht um eine neutrale Abschrift des Datenmaterials handelt, sondern vielmehr um einen aktiven, durch die Transkribierenden gesteuerten Prozess. Des Weiteren werden beispielhaft verschiedene Transkriptionssysteme vorgestellt sowie technische Hinweise zur Transkription gegeben. Schlüsselwörter
Transkription · Transkribieren · Verschriftlichung · Datenmaterial · Transkriptionssysteme T. Dresing (*) · T. Pehl dr. dresing & pehl GmbH, Marburg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Mey, K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_56
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T. Dresing und T. Pehl
Entstehungsgeschichte und Relevanz von Transkription
Transkription im Sinne einer Abschrift von Gesprächen wird schon seit langer Zeit praktiziert. Bereits in der Antike wurde der Verlauf von Gerichtsprozessen in Griechenland und Ägypten in schriftlichen Protokollen festgehalten (Palme 2002). Für eine wissenschaftliche Analyse von Gesprächsinhalten reichen jedoch in der Regel keine Zusammenfassungen: Es werden möglichst ausführliche und dem Gegenstand angemessene Protokolle benötigt. Die Nutzung von Transkriptionen als wortgenaue Dokumentationen sozialer Situationen ist somit erst mit der Verfügbarkeit von (mobilen) Aufnahmegeräten möglich geworden. Das flüchtige Gespräch konnte erst durch die Aufzeichnung festgehalten und einer exakten Verschriftlichung der späteren Analyse zugänglich gemacht werden. Carl Rogers nahm 1942 erste Tonaufnahmen von Psychotherapie-Sitzungen vor und transkribierte diese anschließend für die Analyse der so nachvollziehbar gewordenen Sitzungen (Rogers 1942, S. 265–434). Weitere Transkriptionen im klinischen Bereich folgten bald. Bei der Transkription geht es zunächst darum, „die flüchtige und flüssige Gestalt von Gesprächen und Diskursen dauerhaft in grafische Repräsentationen [zu] verwandeln“ (Dittmar 2004, S. 9). Ziel einer Transkription ist es, per Audio- oder Videoaufnahme aufgezeichnete Ereignisse so zu dokumentieren, dass sie sowohl für Auswertungsverfahren genutzt als auch den Lesenden der wissenschaftlichen Auswertung zugänglich gemacht werden können. Den Prozess der Verschriftlichung beschreiben Kowal und O’Connell (2007, S. 438) als „grafische Darstellung ausgewählter Verhaltensaspekte von Personen, die an einem Gespräch teilnehmen“. Wenn Kowal und O’Connell von „ausgewählten“ Verhaltensaspekten sprechen, wird deutlich, dass es sich bei der Transkription nicht um die Abschrift eines Sachverhalts, sondern um eine durch die Transkribierenden gesteuerte, aktive Herangehensweise an das aufgezeichnete Ereignis handelt. Seit den 1970er-Jahren gibt es Ansätze zur Entwicklung (teil-)standardisierter Regeln zur Transkription (Ehrlich und Switalla 1976). Daneben existieren gleichzeitig auch Ansätze zur Transkription, die weniger auf eine Standardisierung des Zeichensystems abzielen, sondern eher auf eine gegenstandsangemessene Reflexion und Anpassung des jeweils genutzten Zeichensystems. So beschreibt Dittmar (2004) eine Differenzierung der Regeln in „zweck- und leistungsbezogene Module“ (Dittmar 2004, S. 183) als wünschenswert. Fuß und Karbach (2014) stellen ein Strukturierungsraster vor, das die wesentlichen Entscheidungen bei der Wahl eines Transkriptionssystems systematisiert und Regeln in verschiedenen Ausprägungen für verschiedene Bereiche anbietet. Auch Lapadat (2000, S. 215) argumentiert, dass man davon absehen sollte, Transkripte „for all needs“ zu erstellen, da sie nicht für jeden Zweck geeignet sind. Sie hält es für sinnvoll, offen gegenüber der Möglichkeit zu bleiben, mehrere Versionen von Transkripten für mehrere Zwecke zu erstellen. Mit der Öffnung der Psychologie gegenüber qualitativen Methoden gewinnt Transkription als entscheidender Schritt bei der Analyse von Daten hier an Bedeutung. Obwohl Transkripte oft die Ausgangsbasis für die Datenauswertung darstellen, wurden die mit dem Transkriptionsprozess verbundenen theoretischen und metho-
Transkription
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dologischen Probleme zunächst wenig thematisiert (Fischer 2006; Murray 2008; Richardson 1996; Smith 2008). Dennoch lässt sich mittlerweile auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Transkriptionsprozess in der Psychologie beobachten. Howitt und Cramer (2011) widmen der Transkription sprachlicher Daten ein ganzes Kapitel und verweisen vor allem auf die unterschiedlichen Transkriptionssysteme. Hussy, Schreier und Echterhoff (2013) räumen der Transkription in ihrem Lehrbuch „Forschungsmethoden in Psychologie und Sozialwissenschaft“ ein kurzes Kapitel ein und weisen darauf hin, dass hierbei Entscheidungen bezüglich Umfang, Vollständigkeit und der Art der Wiedergabe der Daten getroffen werden müssen. Madill (2006, S. 47–48) diskutiert die Transkription eher unter den Aspekten Lesefreundlichkeit und Zeitaufwand und plädiert daher für eher einfache Transkripte. Frost (2011, S. 111) fordert hingegen „transcripts that present all conversational details of the interview interaction“, lässt jedoch dabei offen, wie dies umgesetzt werden kann. Smith (2015) thematisiert kurz verschiedene Transkriptionssysteme vor allem im Rahmen der Gesprächsanalyse. Einen umfassenden Einblick in die Transkription in der Psychologie liefern Howitt (2016) sowie Howitt und Cramer (2011), die auf die Bandbreite der Transkriptionsmöglichkeiten und Fehleranfälligkeit hinweisen und letztlich das Transkriptionssystem nach Jefferson (1972, 2004) genauer vorstellen.
2
Prämissen und Grundannahmen
Unter der Bezeichnung „qualitativ“ werden vielfältige, durchaus heterogene Methoden vereint (Breuer 2007; Flick 2007; Mey 2016; Mruck 2007). Bei allen Unterschieden bezüglich theoretischer Prämissen, Interpretationsmethodik und Forschungsgegenstand der verschiedenen Methoden werden häufig Gespräche und deren Transkript als Material verwendet. So stellen sich viele grundlegenden Herausforderungen einer Transkription methodenübergreifend, jedoch auch aus durchaus unterschiedlichen Perspektiven. Döring und Bortz (2016, S. 267–269) weisen auf verschiedene Transkriptionssysteme hin und darauf, dass es sich bei einem Transkript um ein „forschungsgeneriertes Artefakt“ handelt. Darüber hinaus wird das Transkript als Artefakt in sozialwissenschaftlicher Literatur teilweise sehr intensiv reflektiert. So stellt Duranti die grundlegende Frage: „What kind of entities are transcripts?“ (Duranti 2006, S. 302). Ähnlich fragt Breuer: „Was repräsentieren die Transkripte?“ (Breuer et al. 2014, S. 275)
2.1
Transkription ist Reduktion
Eine Transkription stellt bei allen Bemühungen um Genauigkeit stets eine Reduzierung dar. Ein niedergeschriebenes „Der Papagei ist tot“ dokumentiert nicht im Entferntesten die Intonation, Sprachmelodie, Emotionalität und Stimmung, mit der John Cleese diese Worte in dem entsprechenden Monty-Python-Sketch einsetzt, ganz zu schweigen von Mimik, Gestik und Körperhaltung.
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T. Dresing und T. Pehl
Für ein wissenschaftlich transparentes Vorgehen ist es unabdingbar, deutlich zu machen, wie das jeweilige Transkript entstanden ist, welche Elemente ausgelassen und welche berücksichtigt wurden. Für nicht-sprachliche Elemente wie Pausen, Betonung, Akzent etc. werden zudem Notationszeichen definiert (z. B. Großbuchstaben für Betonung oder Punkte . . . für Pausen). Die Kriterien der Auswahl und die genutzten Notationszeichen werden in sogenannten Transkriptionsregeln zusammengefasst. Diese machen den Entstehungsprozess nachvollziehbar und diskutierbar. Bereits vor dem Beginn der Transkription müssen Forschende Entscheidungen über die Art und Komplexität der Transkripte treffen: Welche Kontextinformationen sollen aufgenommen werden? Sind nicht-sprachliche Ereignisse festzuhalten? Wird Dialekt abgebildet? etc. Obwohl sich bereits einige Transkriptionssysteme etabliert haben (Dittmar 2004; Jefferson 1972, 2004), gibt es keines, das alle möglichen Bedarfe abdeckt (Lapadat 2000). Für eine nachvollziehbare Transkription ist es daher stets wichtig, die getroffenen Entscheidungen transparent zu machen und die Folgen für die eigene Auswertung zu reflektieren. Dafür ein fiktives Beispiel: Eine Geschäftsführerin wird gefragt, ob sie Entlassungen plane. Sie überlegt einige Zeit, schaut auf den Boden und antwortet ohne direkten Blickkontakt mit einem recht leisen „Nöö“. Eine rein semantische Abschrift würde die Antwort als „Nein“ festhalten. Eine Abschrift, die Pausen, Betonung und Verhalten berücksichtigt, enthält hingegen mehr Informationen. Dadurch wird offensichtlich, dass eine Transkription, die nur Wortinhalte verschriftlicht, weniger Kontextinformationen einbezieht. Gerade diese Kontextinformationen lassen in der Analyse und Interpretation jedoch andere Schlüsse und Interpretationen zu. Nicht-sprachliche Elemente können notwendige Details zum Verständnis des Textes liefern. Hingegen wäre es für die meisten Forschungsfragen wahrscheinlich unwesentlich, ob im Hintergrund des Gespräches eine Amsel zwitschert oder wie viele LKW zu hören sind. Dieses Beispiel zeigt, dass Transkription immer eine deutliche Informationsreduktion darstellt. Es ist nicht möglich, die aufgezeichnete Situation vollständig in eine schriftliche Form zu überführen. So muss stets abgewogen werden, welche sprachlichen und nicht-sprachlichen Elemente erfasst werden sollen. In dieser Abwägung spielt nicht nur der Arbeitsaufwand beim Erstellen der Transkripte eine Rolle, sondern auch die spätere Lesbarkeit und deren Verwendbarkeit für die Analyse mit Blick auf die jeweils ins Auge gefasste Forschungsfrage. Wie auch immer man sich entscheidet: Im Arbeitsschritt der Transkription werden stets selektiv nur bestimmte Aspekte der Aufnahme festgehalten. Als Orientierung für die Ausführlichkeit eines Transkripts schlägt Deppermann das Prinzip der „Granularitätsadäquatheit“ vor: „Damit ist gemeint, dass ein Transkript immer so genau sein muss, um uns in Bezug auf die verfolgte Fragestellung ein widerständiges Material zu bieten. Das heißt, es muss immer feinkörniger sein als die Ebene unserer Fragestellung“ (Deppermann in Breuer et al. 2014, S. 273). Duranti bewertet die Selektivität von Transkripten als positiven Aspekt: Zwar könnten Transkripte eine soziale Situation nie allumfassend repräsentieren, gerade der selektive Charakter helfe dabei, sich auf bestimmte Ausschnitte zu fokussieren (Duranti 2006, S. 303–309).
Transkription
2.2
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Transkription ist theoriegeleitet
Die Transkription ist daher ein für die spätere Analyse sehr bedeutsamer Transformationsprozess einer Audio- oder Videoaufzeichnung in die Schriftform. Da eine Transkription kein vollständiges Abbild der aufgezeichneten Situation liefert, gilt es, den Grad der Reduktion abzuwägen und mit Bezug auf die Forschungsfrage angemessen zu bestimmen. Elinor Ochs (1979, S. 44) prägte den Begriff der „transcription as theory“. Sie weist darauf hin, dass Transkripte über eine reine Dokumentation hinausgehen: Da Selektionen erforderlich sind und vor einem (zu bestimmenden) theoretischen Hintergrund geschehen, ist das Transkript keine „Abbildung“ der Wirklichkeit, sondern eine theoriegeleitete Re-Konstruktion. Seit Ochs wird der Prozess der Transkription in der qualitativen Forschung immer wieder thematisiert (Dittmar 2004; Duranti 2006; Lapadat 2000). Transkription wird weitgehend als theoretischer, selektiver und interpretativer Prozess anerkannt. Dennoch geht Literatur zur qualitativen Forschung oftmals noch zu wenig auf die Komplexität des Transkriptionsprozesses ein (Davidson 2009, S. 43). Breuer et al. (2014) argumentieren, dass Transkription von Theorie geleitet ist. Somit sind Abwägungen zur Frage „Was transkribiere ich?“ bereits Theoriearbeit, nicht nur Auswertungsarbeit oder Datenaufbereitung (Breuer et al. 2014, S. 278). Daher muss die Transkription selbst schon als Teil der Analyse (Ochs 1979) sowie auch der Theorie (Reichertz in Breuer et al. 2014, S. 278) gesehen werden. So resultieren Reduktionen in Transkripten in Abhängigkeit vom Erkenntnisinteresse und den impliziten Theorien der Forschenden. Auch die prinzipielle Sprachfixierung1 von Transkripten wird wenig reflektiert. Volpert (1996) spitzt die Problematik der Sprachfixierung anhand seiner Erfahrung eines kommunikativ schwierigen Interviews zu. Er macht deutlich, dass nicht nur implizite Annahmen ein Transkript beeinflussen, sondern, dass auch die Begrenzung auf das Medium Text zu Schwierigkeiten führen kann. Volpert verdeutlicht dieses Problem am Beispiel der Transkription eines Interviews mit einer Person, die aufgrund ihrer Schwerhörigkeit eine phonologisch, syntaktisch und semantisch fehlerhafte Sprache nutzte. Dies erforderte einen hohen Abstraktionsgrad, der bei „normalen“ Transkripten nicht bewusst wurde. Die Aussagen der Gesprächspartner/ innen Volperts wurden nur unter der Beachtung von Mimik und Gestik verständlich. Dies verdeutlicht, dass dem normalen Verständnis von Sprache viele implizite Annahmen zugrunde liegen, die sich nur schwer schriftlich abbilden lassen. „Das soziale Geschehen ist Voraussetzung für den Text, ist aber nicht eindeutig rückübersetzbar (man stelle sich vor, Schauspieler würden beauftragt, den Text interaktiv-handelnd wiederzubeleben). Die Verschriftlichung ist eine weitgehende Abstraktion und Konstruktion des Geschehens. Der Abstraktionsgrad mag unterschiedlich ausgeprägt sein, je nach Situation und gewähltem Notationsverfahren. Das So-tun-als-ob der Gleichsetzung des Textes mit
1
Auch wenn Ansätze zur systematischen bildhaften Transkription visueller Daten existieren (Corsten et al. 2010; Moritz 2009), sind Transkriptionen in der Regel auf die Darstellung der Sprache und einiger nonverbaler Äußerungen „limitiert“.
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dem ursprünglichen Geschehen erweist sich nur zu leicht als illusionäres Unterfangen. Es scheint angemessen, das Transkript als eine Heuristik zur Generierung von Les- und Verstehensarten aufzufassen, dessen Relativität als konstitutiven Bestandteil aller Schritte des Forschungsprozesses anzuerkennen.“ (Volpert 1996, S. 137)
Neben dem Erkenntnisinteresse haben auch die impliziten Annahmen und Sprachgewohnheiten der Transkribierenden einen maßgeblichen Einfluss auf das Transkript. Dies zeigt sich in einer Studie von Isabella Chiari (2006, 2007), die die Produktion von Fehlern in Transkripten jenseits von Rechtschreibfehlern genauer untersucht und Einblick in die Art und Häufigkeit von Fehlern gibt: In einem Testtranskript aus 400 kurzen Audioaufnahmen wurde von den 20 nicht trainierten Teilnehmenden in nahezu jeder Aussage ein Fehler produziert. Am häufigsten handelte es sich hierbei um Ersetzungen (45 %) und Auslassungen (43 %). Bei Ersetzungen wurde beispielsweise die Aussage „profondo cambiamento“ (tief gehende Veränderung) transkribiert als „grande cambiamento“ (große Veränderung). Was Auslassungen angeht wurden vor allem Funktionswörter (Artikel, Pronomen, Präposition, Konjunktion) nicht transkribiert. Eher selten waren Fehler durch Hinzufügen oder Verschieben von Wörtern. Insgesamt wurde der Sachinhalt durch 46 Prozent der Fehler nicht verändert. Aber immerhin 37 Prozent der Fehler produzierten inhaltlich falsche Aussagen. Interessant ist auch die Tendenz, dass ein Fehler meist weitere Fehler nach sich ziehen kann, um die Kohärenz des Geschriebenen zu erhalten. Bei einem fälschlich als Singular erkannten Subjekt werden meist auch die darauf bezogenen Verben fälschlich im Singular konjugiert. Diese lexikalischen Ersetzungen lassen sich nach Chiari nicht durch schlechtes Zuhören erklären, sondern zeigen sich als schlüssige Konsequenz dessen, was die Transkribierenden wahrgenommen und verstanden haben (s. auch Bond 1999; Voss 1984). Insgesamt ist somit beim Transkribieren die Tendenz erkennbar, den gehörten Text anzupassen. Dies geschieht zur Reproduktion eines kohärenten Textes, zur Einhaltung schriftlicher Konventionen, zur Korrektur von Fehlern in den Aussagen der aufgenommenen Personen oder als Reaktion auf die logischen Sprünge in spontaner Rede (Chiari 2006, S. 3). Die Untersuchung zeigt, dass der gehörte Text nicht einfach eins zu eins übertragen, sondern von den Transkribierenden entlang eigener Wahrnehmungsmuster und Sprachgewohnheiten (re-)konstruiert wird. Diese Tendenz zur kohärenten Rekonstruktion des Gehörten untermauert den Appell von Bird (2005), eigene Transkripte sehr kritisch zu kontrollieren, die produzierten semantischen Fehler zu reflektieren und als Hinweise auf eigene Denkmuster und implizite theoretische Annahmen zu nutzen. Um dieser Problematik zu begegnen, wird vorgeschlagen, die Reflektion in einer Forschungsgruppe vorzunehmen. Die eben aufgeführten Aspekte der Reduktion und Theoriegeleitetheit bedingen einander. Theoretische Vorannahmen über den Gegenstand wirken sich darauf aus, welche Aspekte als wichtig oder „Sinn tragend“ verstanden werden. Darüber hinaus bestehen stets auch (meist implizite) Vorannahmen durch den notwendigen Rückgriff auf kulturelles Wissen des Textverständnisses durch die Transkribierenden
Transkription
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(Hammersley 2010). Hammersley weist daher darauf hin, dass „strict transcription“ (wörtliche Transkription) sprachliche Fähigkeiten der Transkribierenden erfordert. Nur mit diesen ist ein adäquates Erkennen von Worten innerhalb einer Sprache, Wortgrenzen, Redebeiträgen oder orthografischen Einheiten (Sätze, Halbsätze) möglich. Für die Transkription dieser Informationen ist – häufig implizites – kulturelles Wissen über die Sprache erforderlich. Gerade diese impliziten Regeln bzw. Strukturlogiken der Kommunikation sind Grundlage einiger sozialwissenschaftlicher Forschungsperspektiven wie z. B. der objektiven Hermeneutik (Oevermann et al. 1979) oder der Diskursanalyse (Keller 2011). Als zweites Element der Transkription nennt Hammersley „description“ (beschreibende Transkription), bei denen es über die Identifizierung des Wortlauts hinausgeht, so wie bei Lachen, Husten etc. Die Entscheidungen darüber, wie diese Elemente als Zeichen abgebildet werden, sind u. E. einer rationalen methodischen Reflektion direkter zugänglich. Erkenntnisinteresse, implizite Theorien und Vorerfahrungen und die Anwendung impliziten kulturellen Wissens lassen sich somit als drei miteinander verwobene Aspekte verstehen, die die Theoriegleitetheit von Transkriptionen bedingen.
2.3
Transkription ist Datenmaterial
Für die qualitative Forschung stellen Transkripte häufig das Ausgangsmaterial der Analyse dar. Transkripte „ermöglichen die extensive und beliebig oft wiederholbare Analyse eines Datensegments während AV-Materialien aufgrund ihrer zeitlichen Dynamik und der Flüchtigkeit der Wiedergabe umständlicher zu handhaben (Vor- und Rückspulen) und mehr von schwankenden Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen der Analytiker abhängig sind.“ (Deppermann 2008, S. 40)
Die Reflexion des Transkriptionsprozesses führt wie eben gezeigt schnell zur Erkenntnis, dass es sich um einen theoriegeleiteten selektiven Prozess handelt. Davidson (2009) zeigt in seiner Literaturanalyse, dass es zu diesen Punkten in der Literatur – sofern Transkription reflektiert wird – weitestgehend Übereinstimmung gibt. Das so entstandene Datenmaterial kann daher als „neue Realität“ (Flick 2014, S. 392) verstanden werden. „Theorie schafft Formen der Transkription, und Theorie schreibt sich so in die Transkription ein, und sie schreibt sich über die Auswertung auch fort“ (Reichertz in Breuer et al. 2014, S. 273). Nicht nur die Transkription, sondern bereits die Audio- oder Video-Aufnahme der Daten stellt eine selektive und überaus voraussetzungsreiche Inszenierung dar. Die naive Vorstellung, Transkripte sind das Abbild einer „gegebenen“ Wirklichkeit, wird somit weitgehend abgelehnt (Flick 2014, S. 385; Hammersley 2010, S. 558). An dieser Stelle berührt die Transkription epistemologische Grundfragen (nicht nur) der qualitativen Forschung: Was ist Wirklichkeit, wie können wir zu gesicherten Erkenntnissen gelangen und wenn ja, auf Grund welcher „Daten“ etc. Die Mahnung vor der naiven Haltung, Tran-
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T. Dresing und T. Pehl
skripte als Abbildung einer gegebenen Wirklichkeit wahrzunehmen, ist seit Ochs Feststellung einer „transcription as theory“ (Ochs 1979) viel rezipiert worden (Davidson 2009). Die gezielte Verunsicherung, das Nicht-für-selbstverständlichNehmen des Verstehensprozesses kann als ein Merkmal qualitativer Forschung angesehen werden. „Das Herstellen von Offenheit und Ungewissheit – quasi Selbst-Verunsicherung – ist ein konstitutives heuristisches Prinzip unseres Forschungsstils“, resümiert Klute (1996, S. 172). Roller (2017) charakterisiert das Unbehagen gegenüber Transkriptionen als Datenmaterial als „elephant in the room“ und plädiert dafür, Transkriptionen nicht vorschnell als „the typical center of the analysis universe“ zu sehen (Roller 2017, unpag.). Ähnlich kann wahrscheinlich Glasers provokative Forderung des „do not tape“ (1986) in Zusammenhang mit den Grundproblemen der Transkription gesetzt werden (Mey in Breuer et al. 2014, S. 278). Gleichzeitig, darauf weist Hammersley hin, ist ein überzogener konstruktivistisch begründeter Skeptizismus den Transkripten gegenüber für konkrete Forschungsvorhaben wenig hilfreich. Letztlich wird ein Transkript nicht gänzlich frei konstruiert – im Sinne einer erfundenen Geschichte. „The transcriber treats the word heard as given.“ (Hammersley 2010, S. 563) Trotz aller konstruierenden Aspekte beim Herstellen eines Transkriptes werden diese auf der Grundlage einer als relevant akzeptierten Aufnahme mit dem Anspruch eines „wahren Transkriptes“ (Volpert 1996, S. 136) fixiert. Hierbei stellen sich dann stets pragmatische Fragen, welche Elemente mit welchem Transkriptionsdesign erfasst werden sollen.
3
Anforderungen an Transkriptionssysteme
Die Gesamtheit der Entscheidungen, welche Aspekte der Aufnahme wie festgehalten werden, bezeichnet man als Transkriptionssystem oder auch als Transkriptionsregel. Die Formulierung von Transkriptionsregeln hilft dabei, die Datenreduktion bei der Transkription transparent zu machen. Sie sind während der Transkription hilfreich, da sie Leitlinien geben, welche Elemente (nicht) berücksichtigt und welche Zeichen benutzt werden sollen.
3.1
Die Qual der Wahl – Auswahlkriterien für die Transkription
Die jeweilige Forschungsfrage gibt zunächst den wichtigsten Rahmen für die Wahl eines Transkriptionssystems vor. Viele Entscheidungen lassen sich relativ eindeutig aus dem Forschungsgegenstand ableiten. Leider lassen sich jedoch nicht immer alle Elemente eines Transkriptionssystems anhand klarer Kriterien bestimmen. Dies zeigt sich auch in der Literatur, da hier häufig eher Empfehlungen im Konjunktiv, („könnte“, „sollte“) ausgesprochen werden. Kowal und O’Connell (2007) empfehlen, im Transkript nur die Elemente zu berücksichtigen, die auch tatsächlich in der Auswertung genutzt werden, denn: Je genauer ein Transkript abgefasst wird, desto problematischer wird es bezüglich der
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intra- und intersubjektiven Reliabilität. Reliabilität erreiche man eher durch einfache, „flache“ Transkription (Deppermann in Breuer et al. 2014, S. 274; s. auch Breuer 2009, S. 67). Auch Ochs (1979, S. 44) plädiert für eine selektive Transkription des Materials. Ehrlich (1993) sieht es als erstrebenswert an, dass Transkriptionssysteme Einfachheit und Validität, gute Lesbarkeit und Korrigierbarkeit sowie einen geringen Trainingsaufwand für Transkribierende und Transkript-Benutzende gewährleisten. Dem Anspruch auf Lesbarkeit und Einfachheit des Transkripts steht, wie bereits diskutiert, der Anspruch entgegen, die aufgezeichnete Situation möglichst umfassend darzustellen und keine potenziell wichtigen Details zu vernachlässigen: „In praktischer Hinsicht sind einfache Lesbarkeit auch für Laien und schnelle Erlernbarkeit [. . .] wünschenswert, aus gegenstandsbezogen-theoretischen Gründen wünscht man sich dagegen Umfassendheit, Präzision und Repräsentation formbezogener Parameter, die das akustische Geschehen möglichst interpretationsarm und isomorph wiedergeben.“ (Deppermann 2008, S. 41)
Vor dem Hintergrund dieser Spannungsfelder gilt es, ein passendes Transkriptionssystem zu wählen oder zu entwickeln. Die Wahl eines Transkriptionssystems wird sich somit stets innerhalb der Antinomien bewegen, die im Abschn. 2 aufgezeigt wurden. Unabhängig vom konkreten Transkriptionssystem lassen sich jedoch verschiedene kommunikative Inhalte bestimmen, die ein Transkript abbilden kann (oder auch nicht).
3.2
Etablierte Transkriptionssysteme
In der Psychologie haben sich nach Howitt (2016) im anglo-amerikanischen Sprachraum vor allem zwei Transkriptionssysteme etabliert: a) orthografische Transkription als rein semantische Transkription mit „normaler“ Orthografie und b) die Transkriptionsmethode nach Jefferson (1972, 2004). Während es bei der orthografischen Transkription vor allem um die standardorthografische Wiedergabe des Gesagten geht und die Transkripte eher einfach gehalten werden, versucht man in der Transkriptionsmethode nach Jefferson vor allem auch darzustellen, wie etwas gesagt wird. Jeffersons Transkriptionssystem beinhaltet Methoden zur Kennzeichnung von Tonhöhe, Sprechlautstärke, Sprechgeschwindigkeit, Betonung, Pausen, überlappendem Sprechen, Lachen und nicht-verbalen Äußerungen (Howitt 2016, S. 143; Jefferson 2004, S. 13–31). Neben Jeffersons Transkriptionssystem (Jefferson 1972, 2004) gibt es weitere Notationsverfahren. Im angloamerikanischen Raum wurde hier die transaktionsanalytische Transkriptionsnotation (Psathas und Anderson 1990), im deutschsprachigen Raum die „halbinterpretative Arbeitstranskription“ (HIAT) formuliert (Ehrlich und Rehbein 1976; Kowal und O’Connell 2007, S. 439). Aufbauend auf Jeffersons Transkriptionssystem wurde im deutschsprachigen Raum das Gesprächsanalytische Transkriptionssystem GAT entwickelt (Selting et al. 1998). Diese Systeme haben eine explizit gesprächsanalytische Perspektive. Für Transkriptionen, die
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eher auf die Rekonstruktion subjektiver Sichtweisen (z. B. inhaltsanalytisch) abzielen, wurde von Dresing und Pehl (2015) aufbauend auf Kuckartz et al. (2008) ein „einfaches Transkriptionssystem“ entwickelt. Die genannten Transkriptionssysteme fokussieren jeweils sehr unterschiedliche Aspekte sozialer Situationen. Teilweise ergibt sich aus dem Forschungszusammenhang eine eindeutige Entscheidung für eines dieser Systeme, beispielsweise weil sich in der Fachdisziplin ein gewisses Regelsystem etabliert hat. Für ein Verständnis der Reichweite und Variationsbreite verschiedener Transkriptionssysteme ist es jedoch darüber hinaus notwendig, einen Schritt zurück zu gehen und die grundlegenden Unterschiede im Detail zu verstehen. Für die verschiedenen Transkriptionssysteme lassen sich verschiedene Ebenen identifizieren, auf denen Entscheidungen getroffen werden.2
3.3
Methodische und organisatorische Entscheidungsebenen der Transkription
Neben konkreten Vorschlägen für Transkriptionssysteme in verschiedenen Disziplinen existieren auch Arbeiten, die die verschiedenen methodischen Entscheidungen systematisieren: Dittmar (2004) stellt eine Unterscheidungsmatrix für den Vergleich verschiedener Transkriptionssysteme auf, die folgende Elemente enthält: zeitliche Ordnung, Transkriptionskopf, verbale Elemente, prosodische Phänomene, nonverbale Ereignisse, Extras, Kommentar. Kowal und O’Connell (2007) strukturieren die anstehenden Entscheidungen auf einer abstrakteren Ebene. Demnach beinhalten Transkriptionssysteme Regeln zu den zu transkribierenden Verhaltensmerkmalen in Abhängigkeit von Forschungsgegenstand, den verwendeten Notationszeichen, dem Transkriptformat, den Anforderungen an die Transkribierenden und der gewünschten Lesbarkeit für Rezipient/innen. Von Hammersley (2010) werden folgende Punkte genannt: Auswahl der zu transkribierenden Passage, Auswahl der zu transkribierenden Elemente, Adressat der Rede, nichtsprachliche Signale, Stille und Pausen, Gesten und Bewegung, Seitenlayout, Sprecherbezeichnungen, Zitationsmöglichkeit. Fuß und Karbach (2014) identifizieren acht Bereiche: Sprachglättung, Pausen, Sprachklang, Lautäußerungen, Wortabbrüche und Verschleifungen, nicht-sprachliche Ereignisse, Interaktion und Unsicherheiten/Unterbrechungen/Auslassungen. In den Darstellungen werden die wesentlichen Entscheidungsdimensionen der Transkription thematisiert. Es wird deutlich, dass die Systematiken bei vielen Ähnlichkeiten dennoch unterschiedlich bezüglich Detailgrad und Abstraktionsniveau sind. Dies scheint plausibel, da die Sinnhaftigkeit solcher Strukturierungen stets auch aus der Perspektive der jeweiligen Forschungszusammenhänge entstanden ist. 2
Die Frage nach der Transliteration, also dem Zeichensystem, wird hier vernachlässigt, da eine phonetische Transkription in der Regel nur im linguistischen Fachkontext von Bedeutung ist.
Transkription
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Da jedes Projekt für sich ein plausibles, gegenstandsangemessenes System zu wählen oder zu entwickeln hat, halten wir eine allgemein nutzbare Entscheidungsgrundlage für sinnvoll. Daher werden wir diese Elemente im Folgenden übergreifend (und ergänzt um einige bisher unerwähnte Aspekte) aufführen (Abb. 1). Aus der Kombination dieser Aspekte setzen sich etablierte oder neu zu entwickelnde Transkriptionssysteme zusammen. Die Reflexion der einzelnen Elemente hilft dabei, die Gegenstandsangemessenheit des Transkriptionssystems argumentativ zu begründen. Für die folgenden Aspekte müssen zwei Entscheidungen getroffen werden: Zum einen, ob dieser Aspekt berücksichtigt werden soll und anschließend wie, also mit welchen Zeichen, dies adäquat umgesetzt werden kann. Vor allem bei der Entwicklung eigener Transkriptionssysteme sind die genannten Aspekte hilfreich zur Reflexion der nötigen Entscheidungen. In der Regel muss das Transkriptionssystem jedoch nicht vollständig neu hergeleitet, sondern es kann auf bereits entwickelte Systeme zurückgriffen werden, für die wir im Folgenden ausschnittartig zwei Beispiele darstellen.
3.4
Etablierte Regelsysteme
In der qualitativen Sozialforschung haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte eine Reihe von Transkriptionssystemen etabliert. In der Diskurs- und Gesprächsanalyse werden in der Regel detailreiche Systeme eingesetzt, die mikrosprachliche Details, nonverbale Äußerungen und Überlappungen der Redebeiträge festhalten, so z. B. HIAT, die Gesprächsanalytische Arbeitstranskription GAT oder die Diskursdatenbank DIDA Ein Überblick über verbreitete (gesprächsanalytische) Transkriptionsregelsysteme findet sich in Dittmar 2004 (kritisch dazu: Brünner 2002; Koch 2006). GAT beispielsweise stellt ein Zeicheninventar für Pausen, Intonation, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit, Akzente, Rhythmus und nonvokale Phänomene zur Verfügung.3 Die Detailgenauigkeit lässt sich hierbei über die Differenzierung zwischen Grob- und Feintranskripten variieren (Selting et al. 1998). So kann zunächst ein eher grobes Transkript angefertigt und Details später gezielt hinzugefügt werden. Ein Basistranskript nach GAT könnte (nach dem hier ausgelassenen Transkriptionskopf) die Darstellung in Abb. 2 haben. Charakteristisch sind hier der Zeilenumbruch nach jeder rhythmischen Einheit, die Nummerierung von Zeilen und feste Formatvorgaben für Einrückungen der Sprechendenbezeichnungen. Das Transkript zeigt Betonungen von Silben („KÜNdigung“), Dehnungen („nee::“), Pausen („—“), leise Passagen („“) Ausatmen („hhh“), simultanes Sprechen („[Eigentlich] und [ABER das]“) und einen schnellen Anschluss („IST=doch“). So lassen sich also anhand von Sprachrhythmus und Akzenten auch parasprachliche Bedeutungsebenen darstellen. Ein interaktives Tutorial zu GAT von Pia Bergmann, Christine Mertzlufft und Uli Held findet sich unter http://paul.igl.uni-freiburg.de/GAT-TO/.
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Abb. 1 Übersicht der methodischen und organisatorischen Entscheidungen bei der Entwicklung/ Auswahl eines Transkriptionssystems
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Abb. 2 Ausschnitt aus einem GAT-Transkript
Abb. 3 Transkriptionssystem nach Dresing & Pehl
Dresing und Pehl (2015, S. 17–25) formulieren hingegen einfache Transkriptionsregeln, die die Sprache deutlich „glätten“ und den Fokus auf den semantischwörtlichen Inhalt des Redebeitrages setzen. Ein Transkript nach diesem Regelsystem hätte beispielhaft das in Abb. 3 dargestellte Erscheinungsbild: Die Sprache wird auf Standardorthografie „geglättet“ („ist doch“), Pausen („(. . .)“) und Unsicherheiten des/der Transkribierenden beim Abhören werden sichtbar gemacht („(zahlen?)“). Die Darstellung konzentriert sich auf wörtlich-semantische Inhalte und eignet sich so eher zur inhaltsanalytischen Erfassung von Sachaussagen und subjektiven Sichtweisen.
4
Technische Hinweise für die Transkription
4.1
Aufnahme und Aufnahmeformate
Eine wichtige Vorbereitung zur Transkription findet noch vor der Durchführung der Interviews bzw. des Gesprächs statt: die Wahl eines geeigneten Aufnahmegerätes und Datenformates. Früher gab es Kassettenrekorder mit externen Mikrofonen, heute liefern Smartphones und digitale Aufzeichnungsgeräte qualitativ gute Aufnahmen. Hier ist zwischen Diktiergeräten und Aufnahmegeräten zu unterscheiden: Digitale Diktiergeräte und das damit verbundene DSS-Datenformat (in Mono)4 sind nicht zu empfehlen, da die Qualität und Verständlichkeit der Aufnahmen deutlich reduziert sind. Hingegen gibt es mittlerweile viele digitale Aufnahmegeräte verschiedener Hersteller, die im mp3-Format aufzeichnen und sich für Einzel- und Gruppeninterviews sehr gut eignen. Gruppengespräche sollten immer im Stereofor-
Der „Digital Speech Standard“ (DSS) ist ein Dateiformat mit Fokus auf Diktate mit einer kleinen Dateigröße, vorrangig zum einfachen E-Mail-Versand. Durch die damit verbundene Komprimierung wird leider auch die Wiedergabequalität minimiert.
4
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mat aufgezeichnet werden, um später die einzelnen Sprecher/innen besser identifizieren zu können. Die Bedeutung der Aufnahmequalität wird leicht unterschätzt. Rauschen und Hintergrundgeräusche (beispielsweise bei einer Aufnahme in einem Café) erschweren die Transkription deutlich. Dies erhöht sowohl die Bearbeitungsdauer als auch die Fehleranfälligkeit des Transkripts (Poland 2007).
4.2
Transkriptionssoftware
Ist die Aufnahme erstellt, wird sie auf den Computer übertragen. Zum Abhören wird neben dem Kopfhörer auch eine Abspielsoftware benötigt. Statt Standard-Playern wie dem Windows-Mediaplayer oder iTunes sollte spezielle Transkriptionssoftware5 genutzt werden, die die Transkriptionsarbeit am Computer unterstützt. Sie ermöglicht die Verlangsamung der Wiedergabegeschwindigkeit ohne Änderung der Tonhöhe und besitzt ein automatisches Rückspulintervall, das die Aufnahme um einige Sekunden zurückspult und so beim Wiedereinstieg ein gutes Anknüpfen an das vorher Gehörte erlaubt. Die Nutzung von Tastenkürzeln oder einem Fußschalter kann zusätzlich Zeit sparen. Eine weitere Funktionalität, die Transkriptionssoftware anbieten kann, ist die Möglichkeit, den transkribierten Text mit Zeitmarken zu versehen und mit dem Audio- oder Videomaterial zu synchronisieren. Das bedeutet, dass Zeitinformationen in das Transkript eingefügt werden, deren Anklicken ein sofortiges Abspielen der Originalaufnahme bewirkt; so gelingt in wichtigen Passagen eine leichte Überprüfung anhand des Originalmaterials. Das hilft beispielsweise beim Korrekturlesen der Transkripte oder wenn das Transkript während der Analyse auf Plausibilität überprüft werden soll. So kann die Verlinkung von Text und Audiomaterial die Qualitätssicherung und Reliabilität der Transkripte unterstützen (Dresing und Pehl 2015; Poland 2007).
4.3
Gibt es Beschleunigungsstrategien?
Das Transkribieren ist ein zeitaufwendiger Prozess, der je nach Form durchaus das sechs- bis 20-fache der eigentlichen Aufzeichnungsdauer beanspruchen kann (Kuckartz et al. 2008, S. 29). Daher wird „diese Teiltätigkeit der wissenschaftlichen Beschäftigung [. . .] vor allem als lästig, weil zeitraubend und anstrengend, beurteilt. Man sieht die Notwendigkeit zwar ein, versucht aber, diese Bürde so schnell wie möglich hinter sich zu bringen“ (Volpert 1996, S. 135). Vor diesem Hintergrund stellen sich bei einer Transkription neben den methodischen durchaus auch zeitökomische Fragen. So kann abgewägt werden, ob die Transkription von den Forschenden selbst vorgenommen wird oder ob es ange5
Einen Überblick über aktuelle Transkriptionsprogramme gibt das Gesprächsanalytische Informationssystem des Institutes für Deutsche Sprache in Mannheim. http://prowiki.ids-mannheim.de/bin/ view/GAIS/TranskriptionEditoren.
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messen ist, die Transkription von (angelernten) Dritten durchführen zu lassen. Für eine externe Transkription sprechen in Anbetracht des Zeitaufwandes vor allem forschungsökonomische Gründe. Für eine selbst durchgeführte Transkription spricht der Erkenntnisgewinn aus der direkten Auseinandersetzung mit dem Material. Transkription ist wie oben bereits gezeigt Teil des Verstehensprozesses und damit Teil der Analyse und Auswertung. Durch die Reflexion des Transkriptionsprozesses lassen sich eigene, zunächst implizite theoretische und analytische Grundannahmen aufdecken. Forschende, die selbst transkribieren, erhalten somit ein deutlich tieferes Verständnis des Materials (Howitt und Cramer 2011, S. 333). In diese Richtung argumentiert auch Bird (2005), die in ihrem Artikel „How I stopped dreading and learned to love transcription“. Sie beschreibt hier, dass die Transkription wichtige Einblicke in den Text liefert und wie der Transkriptionsprozess die interpretativen, analytischen und theoretischen Muster der Transkribierenden sichtbar machen kann. Neben der Frage nach Notationszeichen und Transkriptionstiefe muss unter zeitpragmatischen Vorzeichen auch über die Materialauswahl entschieden werden. Häufig wird aus arbeitsökonomischen Gründen lediglich eine Teil-Transkription vorgeschlagen, d. h., es werden nach Hören des gesamten Materials lediglich jene Stellen komplett verschriftlicht, die für die Fragestellung als sinntragend eingeschätzt werden. Andere Teile des Materials werden thematisch zusammengefasst. Die Entscheidung für das Auslassen von Passagen ist nicht unproblematisch, da die Selektion von „bedeutsamen“ und „nicht bedeutsamen“ Passagen vom (häufig noch impliziten) Vorverständnis der Forschenden abhängt. Hier gilt es also, eventuelle Entscheidungen transparent zu begründen. Rosenthal thematisiert die Schwierigkeiten beim Formulieren klarer Auswahlkriterien für bestimmte Segmente, denn „Interviewsegmente, die auf den ersten Blick (besser: beim ersten Hinhören) als nicht zum Thema gehörend betrachtet werden, können sich bei genauerer Analyse plötzlich als relevant erweisen.“ (Rosenthal 1987, S. 149, zit. n. Mey 1999, S. 165) Bei einer Transkription am Computer liegt die Frage nach der Nutzung von Spracherkennungssoftware nahe, die gesprochene Sprache automatisiert in Schriftform überführt. Bisher ist keine Lösung bekannt, die ein fehlerfreies Transkript liefern kann. Problematisch ist beispielsweise, wenn mehr als eine Person auf der Aufnahme zu hören ist. Hier kann Spracherkennung häufig nur unzureichend zwischen mehreren Sprechenden differenzieren und in der Regel gleichzeitige Rede nicht erkennen. Zudem sind viele Spracherkennungssoftwares auf eine hochdeutsche und exakte Aussprache angewiesen und nicht auf Dialekt oder zögerliches Sprechen mit Planungspausen angepasst. Es ist ihr auch nicht möglich, bestimmte Annotationen für nonverbale Elemente wie Husten oder Lächeln oder besondere Betonung zu übernehmen (Dresing et al. 2008). Dennoch kann Spracherkennung ein Basistranskript erzeugen, welches durch Korrekturen und Ergänzungen vervollständigt werden kann. Allerdings ist bei manchen Spracherkennungsdiensten fraglich, wie weit diese für den Einsatz mit Interviews datenschutzrechtlich unbedenklich sind.
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T. Dresing und T. Pehl
Unter audiotranskription.de/f4x ist eine Spracherkennungssoftware verfügbar, die in Kooperation mit dem Fraunhofer Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme (IAIS) auf die datenschutzrechtlich-konforme Umsetzung von deutschsprachigen Interviews trainiert wurde.
4.4
Datenschutz
Eng verbunden mit der Transkription ist das Thema Datenschutz. Grundlage des Transkriptes ist eine AV-Aufnahme, die zunächst ohne Anonymisierung gespeichert wird. Das trifft auch auf Transkripte zu. Dieses Datenmaterial enthält somit in der Regel persönliche Daten, die besonderen rechtlichen Schutz genießen. Vor dem Hintergrund der Digitalisierung und Vernetzung der Arbeitsmittel ist die Frage der Datensicherheit für Forschende relevant (Fuß und Karbach 2014, S. 100–105). Leider gibt es für den konkreten Umgang mit digitalen Audiodaten und Transkripten vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtslage keine allgemeine rechtssichere Verfahrensbeschreibung. Im deutschen Datenschutzgesetz (insbesondere Anlage zu § 9) existiert eine Maßnahmenliste zur Sicherung persönlicher Daten. Diese Maßnahmen sollen laut Gesetz mit dem „angestrebten Schutzzweck“ abgewogen werden. Für Forschende bleibt jedoch unklar, für welche konkreten Daten beispielsweise eine biometrische Zugangskontrolle und Alarmanlagen zu installieren sind, welche Daten ausschließlich auf verschlüsselten Festplatten zu speichern sind etc. Einen ausführlichen Überblick über die rechtliche Situation in Deutschland liefert hierfür z. B. der von Tobias Gebel et al. (2015) publizierte Artikel mit dem vielsagenden Titel „Verboten ist, was nicht ausdrücklich erlaubt ist“ (s. auch Häder 2009; Kinder-Kurlanda und Watteler 2015; Liebig et al. 2014; Metschke und Wellbrock 2002;6 Müller et al. 2009). Diese Beiträge wurden jedoch deutlich vor dem Inkrafttreten der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) veröffentlicht. Somit fehlen hierin Hinweise auf wesentliche Informations- und Dokumentationspflichten, die durch die DSGVO neu geregelt wurden. Nach Art. 5 Abs. 2 DSGVO werden Verantwortliche künftig verpflichtet, jederzeit nachweisen zu können, dass sie die datenschutzrechtlichen Anforderungen einhalten (Rechenschaftspflicht). Um diesen Nachweis zu ermöglichen, ist eine ausführliche Dokumentation der bestehenden Prozesse erforderlich. Zusätzlich wurden die Rechte der Betroffenen durch die DSGVO noch einmal deutlich gestärkt wurden. Eine Checkliste zum Datenschutz und eine Vorlage für eine DSGVO-konforme Einverständniserklärung gibt es unter audiotranskription.de/DSGVO zum download.
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Erschien vor der Novellierung des Datenschutzgesetzes in 2009, daher wäre die Aktualität zu prüfen.
Transkription
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Ausblick: Stand und Perspektiven
Die Nutzung von Transkripten ist mittlerweile Selbstverständlichkeit in der qualitativen Forschung. Der schnelle Zugriff, die gemeinsame Arbeit an einem Transkript, der Rückbezug auf fixierte Textstellen sind alltagspraktisch. Transkriptionen dienen so der Transparenz der Auswertung und damit der Güte der gesamten Forschungsarbeit. Die zuweilen vorherrschende Omnipräsenz von Transkripten lässt vergessen, dass sie auch reflexionsbedürftige Artefakte sind, die nicht mit den dahinterstehenden Aufzeichnungen (dem Gesprochenen in Interviews oder Gruppendiskussionen, ebenfalls Artefakten) gleichgesetzt werden dürfen; beide verweisen nur auf die leibgebundenen Interaktionen, auf die sich letztlich unsere Auswertungen beziehen. Es kann gewinnbringend sein den Umgang mit Transkripten im Forschungsalltag viel häufiger zum Gegenstand der Reflexion zu machen, als es gemeinhin in der Forschungspraxis passiert. Entsprechend lassen sich einige Fragen herausheben, die Forschungsbedarf beinhalten: Welcher Detailgrad ist bei welchen Forschungsvorhaben wirklich notwendig und welche Inhalte können unbedenklich ausgelassen werden? Haben unterschiedliche Regelsysteme, nach denen Transkripte erstellt wurden, einen wesentlichen Einfluss auf das Forschungsergebnis? Welche Unterschiede ergeben sich, wenn man selbst transkribiert oder diese Arbeit durch Projektfremde durchführen lässt? Wann wäre es vertretbar (oder wie technisch realisierbar), auf ein Transkript komplett zu verzichten und nur mit den Audio- oder Videodaten zu arbeiten, oder bietet die Kombination aus schriftlichem Transkript und sofort verfügbarer „Originalquelle“ eine praktikable Verbesserung der Validität?
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