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German Pages 443 [466] Year 2009
Handbuch des Antisemitismus Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart
Handbuch des Antisemitismus Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart Im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin herausgegeben von Wolfgang Benz in Zusammenarbeit mit Werner Bergmann, Johannes Heil, Juliane Wetzel und Ulrich Wyrwa Redaktion: Brigitte Mihok
Band 1 Länder und Regionen Band 2 Personen Band 3 Begriffe, Ereignisse, Theorien Band 4 Organisationen und Periodika Band 5 Film, Theater, Literatur und Kunst
Handbuch des Antisemitismus Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart Herausgegeben von Wolfgang Benz
Band 1
Länder und Regionen
K . G . Saur München 2008
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ? *
Gedruckt auf säurefreiem Papier / Printed on acid-free paper © 2008 by K. G. Saur Verlag, München Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG Alle Rechte vorbehalten / All Rights Strictly Reserved Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlages ist unzulässig Karten: Michael Teßmer, Hamburg Satz: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Printed in Germany ISBN 978-3-598-24071-3
Vorwort
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Vorwort Ein Handbuch des Antisemitismus, das die Erkenntnisse interdisziplinärer Forschung zusammenführt, gilt seit langem als Desiderat. Im Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, dem weltweit einzigen Institut seiner Art, wurde der Mangel eines solchen Instrumentariums seit langem als Herausforderung empfunden. Gestützt auf die Expertise vieler Autoren in aller Welt soll theoretisches und praktisches Wissen zur Judenfeindschaft allen zugänglich gemacht werden, die als Wissenschaftler, als Lehrer, in den Medien, in der Politik oder in sozialer, administrativer, juristischer Praxis Information benötigen, die Vorurteile und Stereotypen gegen Juden, deren Instrumentalisierung und deren Wirkung – als Antisemitismus im weitesten Sinne – betreffen. Das Handbuch versammelt das vorhandene Wissen zum Phänomen der Judenfeindschaft ohne zeitliche und räumliche Begrenzung. Antisemitismus als ältestes religiöses, kulturelles, soziales und politisches Vorurteil wird in allen Erscheinungsformen dargestellt und erläutert: Als Vorurteil, als Politikmuster, als Instrumentalisierung von Emotionen, als Aggression vom Pogrom bis zum Genozid. Ohne historische Aspekte (Mittelalter, Frühe Neuzeit) zu vernachlässigen liegt der Schwerpunkt auf der Neuzeit bis zur Gegenwart. Alle Erscheinungsformen (religiös motivierter christlicher Antijudaismus, rassisch begründeter Antisemitismus, sekundärer Antisemitismus, Antizionismus) werden berücksichtigt. Als Nachschlagewerk konzipiert, behandelt das Handbuch von begriffsgeschichtlichen Stichworten über biographische Lemmata bis hin zu faktenorientierten Artikeln das Phänomen Antisemitismus in allen Dimensionen. Dazu muss auch die Wirkungsgeschichte des Antisemitismus in Beiträgen über Film, Theater, Literatur und Kunst berücksichtigt werden. Das Handbuch des Antisemitismus bietet konzentrierte Informationen über die unterschiedlichen Erscheinungsformen von Judenfeindschaft, historische und politisch-ideologische Entwicklungen, über Begriffe, Darstellungsformen und Medien (Sprache, Bild, Film, etc.), Ereignisse wie auch über Personen, die als Antisemiten hervorgetreten sind oder wie z.B. Alfred Dreyfus, Walther Rathenau, Bernhard Weiß, Mendel Beilis in besonderer Weise Ziele von Judenhass waren. Der erste Band beschreibt in 85 Artikeln die Geschichte und die aktuelle Situation der Judenfeindschaft in allen wichtigen Ländern und Regionen und skizziert dabei jeweils einleitend auch die Geschichte jüdischen Lebens und der Interaktion von Mehrheit und Minderheit. Dass nicht alle Länder der Erde behandelt sind – so erscheint der afrikanische Kontinent nur mit wenigen Nationen im Norden und im Süden – bedarf kaum der Erläuterung: In einigen Staaten ist das Phänomen der Judenfeindschaft nur marginal oder gar nicht vorhanden. Dafür erscheinen mit Barbados, Curaçao, Guyana, Jamaika oder Surinam kleine Nationen, die durch die europäische Einwanderung schon in der frühen Neuzeit Bedeutung im Zusammenleben von Juden und Nicht-Juden und die Entwicklung entsprechender Ressentiments bekamen. In Südamerika erhielt der aus Europa importierte Antijudaismus wie in Bolivien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Paraguay, Uruguay oder Venezuela neue Nahrung durch den Antisemitismus, als die NSDAP erfolg-
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Vorwort
reich um Sympathien warb und jüdische Flüchtlinge aus Hitlerdeutschland aus ökonomischen und sozialen Gründen Ängste oder Argwohn erregten. Der europäische Kontinent nimmt nach Umfang und Gewicht den größten Raum in der Topographie der Judenfeindschaft ein, hier wurden die Stereotype und Klischees entwickelt, mit denen Juden definiert und stigmatisiert wurden, ehe ihre Verfolgung einsetzte. Grenzverschiebungen, Nationenbildung und Untergang von Staaten erschwerten die Beschreibung oder machten Teilungen von Lemmata erforderlich. So findet man zum Antisemitismus in Osteuropa die Artikel Russland (bis 1917), Sowjetunion und Russland (nach dem Ende der UdSSR), Schnittmengen geben sich historisch auch mit der Ukraine und Weißrussland, mit Polen und den baltischen Ländern. Ebenso überschneiden sich partiell auch die Beiträge über Ungarn und Rumänien. Um speziellen regionalen Problemen gerecht zu werden, sind auch Siebenbürgen, Bessarabien, die Bukowina und Transnistrien in eigenen Artikeln behandelt, die ergänzend und übergreifend zu den Beiträgen der nationalen Ebene – Rumänien, Ungarn, Slowakei, Moldova – auf historische und kulturelle Traditionen und Zusammenhänge verweisen. Übergreifenden historischen Interessen dient auch der Beitrag zum Osmanischen Reich, der die Darstellung der Problematik in Nachfolgestaaten wie der Türkei, Syrien und Libanon, den Ländern Nordafrikas und auf dem Balkan ergänzt. Neben dem Stichwort Jugoslawien finden sich Informationen zur entsprechenden Region auch unter Kroatien, Serbien und Slowenien. Sieben Karten sollen die Orientierung erleichtern und die Geographie jüdischen Lebens in Lateinamerika, im Osmanischen Reich und in Russland verdeutlichen bzw. Schwerpunkte des Antisemitismus zeigen, der sich in Exzessen und Pogromen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts manifestierte. Eine Karte exemplifiziert Schauplätze der Judenverfolgung unter deutscher Herrschaft 1939-1945. Wie in jedem Handbuch standen Herausgeber und Redaktion auch vor dem Problem der Transkription fremdsprachiger Namen und Begriffe. Wir haben uns zugunsten der Lesbarkeit und im Interesse der Benutzer aus den verschiedenen Bereichen der Politik, Wirtschaft, Kultur, der Medien oder des Bildungswesens für die im deutschen Sprachgebrauch geltende Umschrift und gegen die (insbesondere von Slawisten geforderte) wissenschaftliche Transliteration entschieden. Wir rechnen mit dem Verständnis der Mehrheit und bitten die Minderheit der Philologen um Nachsicht. Die folgenden Bände sind Personen (Band 2), Begriffen, Ereignissen und Theorien (Band 3), Organisationen und Periodika (Band 4) und dem Antisemitismus in den Medien Film, Theater, Literatur und Kunst (Band 5) gewidmet. Sie sollen in rascher Folge erscheinen. Herzlicher Dank gilt allen Autoren und dem Verlag K.G. Saur, und dort insbesondere unserer Lektorin Barbara Fischer, die das Projekt von allem Anfang an mit größtem Engagement förderte.
Berlin im Juni 2008 Wolfgang Benz
Inhalt
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Inhalt Ägypten (Esther Webman) . . . . . . . . . . . . 9 Äthiopien (Marie-Luise Kreuter) . . . . . . 13
Indonesien und Malaysia (Clive S. Kessler) . . . . . . . . . . . . . . . 146
Albanien (Zuzana Finger) . . . . . . . . . . . 20
Irak (Amatzia Baram) . . . . . . . . . . . . . 150
Algerien (Götz Nordbruch) . . . . . . . . . . 24
Iran (Henner Fürtig) . . . . . . . . . . . . . . . 154
Argentinien (Graciela Ben-Dror) . . . . . . 29
Irland (Dermot Keogh) . . . . . . . . . . . . 161
Australien (Konrad Kwiet und Suzanne D. Rutland) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
Island (Markus Meckl) . . . . . . . . . . . . . 164
Barbados (Christian Cwik) . . . . . . . . . . 42
Jamaika (Christian Cwik) . . . . . . . . . . 172
Belarus ? Weißrussland
Japan (Yuji Ishida) . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Belgien (Lieven Saerens) . . . . . . . . . . . . 46
Jugoslawien (Holm Sundhaussen) . . . . 180
Bessarabien (Mariana Hausleitner) . . . . 51
Kanada (Charles Asher Small). . . . . . . 187
Bolivien (León E. Bieber) . . . . . . . . . . . . 54
Kolumbien (Luis Eduardo Bosemberg). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
Brasilien (Luís Edmundo Moraes) . . . . . 56 Bukowina (Mariana Hausleitner) . . . . . . 61 Bulgarien (Jens Hoppe) . . . . . . . . . . . . . 64 Chile (Stefan Rinke und Andrea Riedemann) . . . . . . . . . . . . . . 71
Italien (Ulrich Wyrwa) . . . . . . . . . . . . . 166
Kroatien (Ivo Goldstein) . . . . . . . . . . . 198 Kuba (Michael Zeuske) . . . . . . . . . . . . 202 Lettland (Leo Dribins) . . . . . . . . . . . . . 207 Libanon ? Syrien und Libanon
Costa Rica (Sebastian Huhn) . . . . . . . . . 75
Libyen (Liliana Picciotto). . . . . . . . . . . 213
Curaçao (Christian Cwik) . . . . . . . . . . . 77
Litauen (Darius Staliūnas) . . . . . . . . . . 217
Dänemark (Thorsten Wagner) . . . . . . . . 81
Luxemburg (Marc Schoentgen) . . . . . . 222
Deutschland (Werner Bergmann). . . . . . 84
Malaysia ? Indonesien und Malaysia
Dominikanische Republik (Hans-Ulrich Dillmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Marokko (Götz Nordbruch) . . . . . . . . . 227
Ecuador (Marie-Luise Kreuter) . . . . . . 107
Moldova (Diana Dumitru) . . . . . . . . . . 235
Estland (Anton Weiss-Wendt) . . . . . . . 109
Neuseeland (Friedrich Voit) . . . . . . . . . 237
Finnland (Eero Kuparinen) . . . . . . . . . 113
Niederlande (Jaap Tanja) . . . . . . . . . . . 240
Frankreich (Daniel Gerson). . . . . . . . . 116
Norwegen (Einhart Lorenz) . . . . . . . . . 245
Französisch-Guayana ? Guyanas
Österreich (Peter Pulzer) . . . . . . . . . . . 247
Griechenland (Hagen Fleischer) . . . . . 122
Osmanisches Reich (Malte Fuhrmann und Florian Riedler ) . . . . . . . . . . . . 253
Mexiko (Nina Elsemann) . . . . . . . . . . . 232
Großbritannien (Claus-Christian W. Szejnmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Palästina (Götz Nordbruch) . . . . . . . . . 259
Guyanas (Christian Cwik) . . . . . . . . . . 133
Panama (Christian Cwik). . . . . . . . . . . 264
Französisch-Guayana . . . . . . . . . . 134
Paraguay (Daniela Kraus) . . . . . . . . . . 268
Guyana (ehemals Britisch-Guyana) . . . . . . . . . . . . . . 135
Peru (Salomón Lerner Febres) . . . . . . . 272
Surinam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Portugal (Michael Studemund-Halévy) 284
Indien (Johannes H. Voigt) . . . . . . . . . . 141
Rumänien (Mariana Hausleitner) . . . . . 290
Polen (Gertrud Pickhan) . . . . . . . . . . . . 276
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Inhalt
Russland bis 1917 (John D. Klier †) . . Russland nach 1917 ? Sowjetunion Russland nach dem Ende der Sowjetunion (Matthias Vetter) . . . . . Schweden (Lars M. Andersson und Henrik Bachner) . . . . . . . . . . . . . . . . Schweiz (Georg Kreis) . . . . . . . . . . . . . Serbien bis 1917 (Milan Ristović) . . . . Siebenbürgen (Brigitte Mihok) . . . . . . Slowakei (Miloslav Szabó) . . . . . . . . . . Slowenien (Hannah Starman und Irena Šumi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sowjetunion (Matthias Vetter) . . . . . . . Spanien (Gonzalo Álvarez Chillida) . . Südafrika (Milton Shain) . . . . . . . . . . . Surinam ? Guyanas Syrien und Libanon (Götz Nordbruch) . . . . . . . . . . . . . . .
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Transnistrien 1941-1944 (Brigitte Mihok) . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Tschechien (Michal Frankl) . . . . . . . . . 364
306 311 317 323 327 330 335 337 345 350
356
Türkei (Malte Fuhrmann und Florian Riedler). . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Tunesien (Götz Nordbruch) . . . . . . . . . 374 Ukraine (Frank Golczewski) . . . . . . . . 379 Ungarn (Brigitte Mihok) . . . . . . . . . . . 388 Uruguay (Lasse Hölck) . . . . . . . . . . . . 394 USA ?Vereinigte Staaten von Amerika Vatikan (Ulrich Wyrwa) . . . . . . . . . . . . 397 Venezuela (Franka Bindernagel) . . . . . 403 Vereinigte Staaten von Amerika (Monika Schmidt und Juliane Wetzel) . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 Weißrussland (Petra Rentrop) . . . . . . . 415
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Register der Orte und Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
Kartenverzeichnis Karte 1 – Mittel- und Südamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Karte 2 – Osmanisches Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Karte 3 – Der jüdische Ansiedlungsrayon (1835-1917) und Birobidschan (seit 1934) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Karte 4 – Antijüdische Ausschreitungen nach 1815 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Karte 5 – Antijüdische Ausschreitungen nach 1878 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Karte 6 – Antisemitische Ausschreitungen 1919-1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Karte 7 – Orte der Judenverfolgung unter deutscher Herrschaft 1939-1945. . . . . . . . . . . . 99
Ägypten
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Ägypten Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die jüdische Gemeinschaft in Ägypten eine kleine und heterogene Minderheit, bestehend aus alten und neuen Gemeinden, Rabbaniten und Karaiten, Sepharden und Aschkenasen, arabischsprachigen Juden, die in der lokalen Kultur verwurzelt waren und europäisch orientierten Juden, die ihr eher fernstanden. Sie bestand aus einer großen Mittelschicht, wenigen Finanzmagnaten und sehr Armen. Die Schätzungen gehen von 38.635 Personen zu Beginn des Jahrhunderts und 65.639 Personen im Jahr 1947 aus. Bis in die 1930er Jahre genossen Juden ein großes Maß an Toleranz; ihre aktive politische Teilhabe war relativ marginal. Das Erstarken radikaler nationaler und islamistischer Bewegungen in den urbanen ägyptischen Mittelschichtseliten jedoch, das die Manifestationen von Nationalismus, Antikolonialismus und Antizionismus verstärkte, bedrohte ihren Status ebenso wie den ausländischer und anderer nichtmuslimischer Minderheiten. Die Juden reagierten im Allgemeinen auf antisemitische Vorfälle mit dem Bemühen um Unauffälligkeit. Solche Ausschreitungen gab es in Folge des Geschehens in Palästina, etwa der Zwischenfälle an der Klagemauer 1929 und des arabischen Aufstands 1936-1939, und des Aufkommens eines nationalsozialistisch geprägten Antisemitismus. 1933 wurde als Reaktion auf die Entwicklungen im nationalsozialistischen Deutschland eine „Liga für die Bekämpfung des Antisemitismus“ gegründet, an der sich zionistische ebenso wie linke nichtzionistische Juden beteiligten. Auch die Presse der jüdischen Gemeinde nahm an der Kampagne gegen den Nationalsozialismus teil, was zu einem größeren öffentlichen Bewusstsein hinsichtlich der negativen Aspekte des Nationalsozialismus in der allgemeinen Presse führte. Auf der anderen Seite maßen die „Muslimbruderschaften“ und die nationalistische Bewegung „Junges Ägypten“, gegründet in den späten 1920er bzw. frühen 1930er Jahren, in ihren Ideologien der Palästinafrage große Bedeutung bei. Sie organisierten antijüdische Demonstrationen im April 1938, gründeten im Juli 1939 ein Boykottkomitee gegen die Juden und waren auch an Sabotageakten gegen jüdische Geschäfte beteiligt. Der Krieg schuf neue innere Spannungen zwischen den diversen politischen und ideologischen Richtungen, was Auswirkungen auf die Situation der Juden hatte. Doch im Gegensatz zu anderen jüdischen Gemeinden, etwa im ? Irak oder in ? Libyen, war die ägyptische Gemeinde während des Krieges keinen diskriminierenden Maßnahmen oder Angriffen durch die muslimische Bevölkerung ausgesetzt, trotz der NS-Propaganda, die auch in Ägypten und dem Nahen Osten wirkte. Allerdings war das Vorrücken der deutschen Truppen in Nordafrika eine Bedrohung, und viele Juden verließen Alexandria und Kairo. Als 1942 massive Lebensmittelknappheit herrschte, wurden Juden aufgrund ihrer Arbeit in der Lebensmittelverteilung des britischen Militärhauptquartiers beschuldigt, Lebensmittel zu horten, Schiebergeschäfte zu machen und Geld aus dem Land zu schmuggeln. Al-Azhar-Studenten und Parlamentsabgeordnete demonstrierten im Frühjahr 1943 gegen die Erteilung von Transitvisa an jüdische Flüchtlinge aus Europa, die sich auf dem Weg nach Palästina befanden. Seit dem Sommer 1944 intensivierten die „Muslimbrüder“ (Anhänger der fundamentalistischen Bewegung „Muslimbruderschaft“)
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Ägypten
ihre antizionistischen Aktivitäten und verbreiteten Flugblätter, auf denen sie zum Krieg gegen die Juden und zum Boykott gegen die lokale jüdische Gemeinschaft aufriefen. Am Kriegsende und unmittelbar danach waren ägyptische Juden verbalen und physischen Attacken ausgesetzt. Im Oktober und am 2. November 1945 (Jahrestag der Balfour-Deklaration) fanden antizionistische und antijüdische Demonstrationen statt, in deren Verlauf fünf Juden ihr Leben verloren und hunderte weitere verletzt wurden. Obwohl die Aktivitäten auf Studenten und eine Front panarabischer und islamischer Organisationen beschränkt waren und die Regierung versprach, die Sicherheit der Juden zu garantieren, wiederholten sich diese Szenen anlässlich der Annahme des UN-Teilungsplanes am 29. November 1947, dann als Reaktion auf die Staatsgründung Israels und den Ausbruch des ersten arabisch-israelischen Krieges am 15. Mai 1948. Zugleich schwächte ein im Juli 1947 in Kraft getretenes Gesetz den Status der Juden weiter. Etwa 40.000 von ihnen wurden staatenlos und somit zu Ausländern erklärt, trotz der Tatsache, dass die meisten von ihnen seit Generationen gebürtige Ägypter waren. Die Regierung rief Notstandsgesetze und kurz vor dem gemeinsamen arabischen Angriff auf Palästina das Kriegsrecht aus, aber auch dies verhinderte nicht die wiederholten Angriffe auf jüdische Geschäfte und auf das jüdische Viertel in Kairo im Juni und Juli 1948. Die sich verschärfende Situation hatte zur Folge, dass bis zum Jahre 1951 15.000 bis 20.000 Juden nach Israel und in andere Länder emigrierten. Unmittelbar nach der Revolution der „Freien Offiziere“ im Juli 1952, die die Monarchie stürzte, verbesserte sich das Sicherheitsgefühl der Juden. Das neue Regime schien die Situation zu beruhigen, doch die Juden hatten sich bereits auf Emigration eingestellt. Allerdings setzte die Änderung des Nationalitätengesetzes Anfang 1956 den Trend der vorrevolutionären Phase fort und schränkte die Minderheitenrechte weiter ein. Juden verloren ebenso wie Ausländer ihre Rechte und ihr Eigentum wurde verstaatlicht. Der gemeinsame Angriff Großbritanniens, Frankreichs und Israels auf Ägypten Ende Oktober 1956 verschärfte die Lage der Juden weiter. Viele wurden interniert und gezwungen, das Land innerhalb von 48 Stunden unter Zurücklassung ihres Eigentums zu verlassen. Zwischen November 1956 und Juni 1957 emigrierten etwa 20.200 Juden, etwa ein Drittel der jüdischen Gemeinde. Die Verstaatlichung der Banken im Jahr 1960 und die Übernahme von Import-Export-Handelsgeschäften sowie lokalen Versicherungs- und Handelsgesellschaften durch den Staat trafen Juden, Ausländer und eingesessene wohlhabende ägyptische Familien schwer. Bis 1967 hatten bis zu 50.000 Juden Ägypten freiwillig oder unter Zwang verlassen. Zum Zeitpunkt des Junikrieges von 1967, der eine neue Phase im ägyptisch-arabisch-israelischen Konflikt eröffnete, gab es in Ägypten nur noch eine sehr kleine jüdische Gemeinde von etwa 2.500 bis 3.000 Mitgliedern, von denen die meisten bis 1970 ebenfalls Ägypten verließen und die einst so lebendige jüdische Gemeinde auflösten.
Hauptmotive im ägyptischen antisemitischen Diskurs Antisemitismus in Ägypten hat sich nach dem Exodus der ägyptischen Juden verschärft und ist somit ein Beispiel für Antisemitismus ohne Juden. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Palästina-Frage und die Frage der jüdischen Einwanderung nach Palästina auf der internationalen Agenda erschienen und auch die Entscheidungsträger
Ägypten
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in Ägypten beschäftigten, wurde eine heftige öffentliche Debatte entfacht über den Zionismus, sein Wesen, seine Ideologiegeschichte und politischen Bestrebungen, die seitdem nicht mehr zur Ruhe gekommen ist. Die zionistische Herausforderung anzugehen galt als Notwendigkeit und existentielle Aufgabe. Aus diesem Grund konzentrierte sich die Diskussion über Zionismus auf die vermeintlich rassistischen Elemente zionistischer Ideologie, die er mit dem Nationalsozialismus und dem Faschismus sowohl im Wesen als auch in der Praxis gemeinsam habe, auf die Verflechtungen zwischen Zionismus und westlichem Imperialismus sowie zwischen Zionismus und Kommunismus und auf den Zusammenhang zwischen Zionismus und Judaismus. Der „zionistische Nazismus“, entfacht durch Religion, wurde als Erbe des deutschen Nationalsozialismus dargestellt. Im Diskurs über den Zionismus wurde kaum zwischen den Begriffen „Zionismus“ bzw. „Zionisten“ und „Judaismus“ bzw. „Juden“ unterschieden. Die Unfähigkeit, diese Differenzierung aufrecht zu halten, hatte intensive Diskussionen über die Juden und ihr Schicksal seit der Vertreibung aus Palästina und ihrer Ablehnung des Propheten Mohammed zur Folge. Intellektuelle, die es als notwendig ansahen, für die totale Ablehnung des jüdischen Staates eine ideologische Basis zu liefern, versuchten, die Idee eines jüdischen Nationalismus und des historischen Rechts der Juden auf Palästina ebenso zu negieren wie die Verbindung des heutigen Judentums zu früheren Israeliten, alles zentrale Elemente des Zionismus. Allerdings wies dieser Diskurs eine interne Diskrepanz auf, da auf der einen Seite angeblich inhärente Charakteristika der Israeliten der Antike auf die moderne säkulare zionistische Bewegung übertragen wurden, auf der anderen aber jegliche Verbindung zwischen heutigen Juden und den historischen Juden geleugnet wurde. Der Diskurs bediente sich eines breiten Spektrums klassischer antisemitischer Bilder und Stereotype. Die stereotypen Referenzen in ägyptischen Schriften zu Juden im Allgemeinen und ägyptischen Juden im Besonderen spiegeln höchstwahrscheinlich in der lokalen Populärkultur gängige Meinungen. Eine frühe Äußerung von Anwar al-Sadat, damals Mitglied des Revolutionsrates, verdeutlicht dies in besonderer Weise: In einem Freitagsgebet im November 1955 vereinte er islamische und klassische antisemitische Motive. Er bezog sich auf den seit der Zeit des Propheten existierenden Hass auf die Juden, beschuldigte sie der Fälschung der Thora, des Bruchs von Verträgen, der Tötung der Propheten, der Absicht, die Welt zu kontrollieren und der Gier. Während die ersten drei Motive aus islamischen Quellen stammen, waren die letzten beiden typisch für westlichen Antisemitismus. Äußerungen dieser Art sind bis heute in großer Zahl in Resolutionen, Zeitungsartikeln und Büchern zu finden. Die Stereotypisierung von Juden, Zionisten und Israelis kann in vier Kategorien eingeteilt werden: . Zur ersten Kategorie zählen klassische antisemitische Themen, wonach Juden der Ursprung allen Übels und Verderbens sowie Verbreiter von AIDS, Drogen, Prostitution und destruktiven Ideen seien. Hinzu kommt der Hinweis auf die „jüdische bzw. zionistische Verschwörung“ zur Kontrolle über die Welt, wie sie in den „Protokollen der Weisen von Zion“ dargestellt werden, und der Vorwurf, die Juden würden danach streben, Religionen und moralische Werte zu vernichten. . Zur zweiten Kategorie zählen traditionelle islamische Verleumdungen, wonach Juden betrügerisch, blutdurstig, hasserfüllt, geldgierig und hinterhältig seien, was bereits
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Ägypten
der Koran erkannt und enthüllt habe. Die Juden würden historische und religiöse Überlieferungen fälschen, sie seien feindselig den Gläubigen gegenüber und die treibende Kraft hinter dem zeitgenössischen negativen Islambild in der Welt. Zur dritten Kategorie zählt die Gleichsetzung von Israel und Zionismus mit dem Nationalsozialismus, um zu beweisen, dass der jüdischen Selbstwahrnehmung als Gottes auserwähltem Volk Rassismus innewohnt. Zur vierten Kategorie zählt die Holocaustleugnung.
Antisemitismus seit dem ägyptisch-israelischen Friedensvertrag Ägypten unterzeichnete als erstes arabisches Land im September 1978 einen Friedensvertrag mit Israel. Die Friedensjahre brachten einen Wandel der offiziellen ägyptisch-israelischen Beziehungen, aber an den Einstellungen gegenüber Israel und Zionismus und am Bild von den Juden änderte sich wenig. Intellektuelle hatten nach wie vor eine Haltung gegenüber Israel, die Versöhnung und Normalisierung der Beziehungen unmöglich machte. Widerstand gegenüber der Normalisierung der Beziehungen nahm angesichts des Friedensprozesses mit anderen arabischen Ländern noch mehr zu. Der Friedensprozess begann in den frühen 1990er Jahren mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Konferenz von Madrid 1991 und fand seine Höhepunkte in den Osloer Verträgen mit den Palästinensern (1993, 1995) sowie dem Friedensvertrag mit Jordanien (1994). Zwei Lager scheinen sich unter ägyptischen Intellektuellen in Hinblick auf die Frage der Normalisierung gebildet zu haben: ein Anti-Normalisierungslager und ein Friedenslager, das erstere dominiert weitaus. Der Diskurs gegen die Normalisierung hat deutlich antisemitische Beiklänge, Verschwörungstheorien verbinden sich mit islamistischen Motiven. Folglich nahmen antisemitische Äußerungen in den ägyptischen Medien nicht ab – im Gegenteil, sie wurden durch regionale und internationale politische Ereignisse noch verstärkt. Sie rührten hauptsächlich aus der Unzufriedenheit über den Friedensprozess und aus der Angst vor einer angeblich drohenden israelischen Infiltration ägyptischen Lebens mit daraus folgendem Verlust nationaler und kultureller Identität sowie aus fundamentalistischen Versuchen, den Friedensprozess in einem Rückzugsgefecht zu beenden. Die zweite palästinensische Intifada, die Ende September 2000 ausbrach, der Angriff auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 durch eine Gruppe radikaler Islamisten, der darauf folgende Krieg in Afghanistan sowie der Irakkrieg führten zur weiteren Ausbreitung des antisemitischen Diskurses in Ägypten. Hinter all diesen Ereignissen wurden Zionisten und die lange jüdische Hand vermutet, antisemitische Meinungen und Stereotype tauchten verstärkt und in popularisierter Form auf. In gemäßigten ägyptischen Tageszeitungen fanden sich zahlreiche Bezüge zu Israel als einem „Nazi-Modellstaat“ und zum Zionismus als einer rassistischen Ideologie. Die alte Behauptung, Juden würden das Blut von Christen für ihre Pessach-Matzen verwenden, tauchte wieder auf, und die Fernsehserie „Reiter ohne Pferd“, die im November 2002 während des Ramadan ausgestrahlt wurde, basierte auf den „Protokollen der Weisen von Zion“. Die Juden wurden zugleich beschuldigt, hinter den Bombenanschlägen von Madrid im März 2004 und den Anschlägen auf die Ferienanlagen im Sinai 2004 und 2005 zu stecken, wobei Verlautbarungen islamistischer Gruppen, die für diese Aktionen die Verantwortung übernahmen, ignoriert oder abgetan wurden. Auch für den Genozid in
Äthiopien
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Darfur wurden „die Juden“ verantwortlich gemacht. Festzuhalten ist, dass während dieser Jahre der Antisemitismus als ein Phänomen der ägyptischen Gesellschaft ausgiebig diskutiert wurde; eine Diskussion, die sehr unterschiedliche Meinungen und sogar Kritik deutlich machte. Es zeigt sich, dass Manifestationen des Antisemitismus stets dann zunehmen, wenn das arabisch-israelische Verhältnis eine Krise erlebt. Der fortdauernde Prozess der Islamisierung des arabisch-israelischen Konflikts, der ihn mehr und mehr in einen endlosen Konflikt zwischen Juden und Muslimen verwandelt, hatte auch Auswirkungen auf die antisemitischen Einstellungen in Ägypten. Obwohl die Tiefgründigkeit antisemitischer Einstellungen in der ägyptischen Öffentlichkeit nicht gemessen werden kann, haben doch bestimmte antisemitische Vorstellungen ganz offensichtlich in der ägyptischen Gesellschaft Wurzeln geschlagen. Zwischen der offiziellen politischen Haltung und den populären Einstellungen, wie sie in den Medien und gelegentlich bei Protesten und Demonstrationen zum Ausdruck kommen, besteht eine zunehmende Disparität. Wenn in der Vergangenheit angenommen wurde, dass der Antisemitismus als ein Ergebnis des arabisch-israelischen Konfliktes von oben oktroyiert worden ist, so übte in den letzten Jahren eine weitverbreitete Ablehnung, einhergehend mit Antisemitismus, von unten bemerkenswerten Druck auf das Regime aus, eine militantere Haltung gegen Israel einzunehmen, dies zeugt zugleich von tiefer Unzufriedenheit mit dem Regime.
Esther Webman Übersetzt aus dem Englischen von Claudia Curio
Literatur Joel Beinin, The Dispersion of Egyptian Jewry. Culture, Politics, and the Formation of a Modern Diaspora, Berkeley 1998. Chapters on Arab Countries in: Dina Porat and Roni Stauber, Antisemitism Worldwide, 1994-2005. Gudrun Krämer, The Jews of Modern Egypt, 1914-1952, Seattle 1989. Bernard Lewis, Semites and Anti-Semites, London 1997. Rivka Yadlin, An Arrogant Oppressive Spirit. Anti-Zionism as Anti-Judaism in Egypt, Jerusalem 1989.
Äthiopien Während in Israel heute etwa 100.000 äthiopische Juden leben, zählt man sie in Äthiopien nur noch zu Hunderten. Nachdem das Sephardische Oberrabbinat in Jerusalem sie 1973 als Juden anerkannte und die israelische Regierung sie 1975 in das Rückkehrgesetz einbezog, wanderten zunächst in kleinerer Zahl, dann in zwei großen Luftbrückenaktionen 1984 und 1991 und in nachfolgenden Emigrationswellen insgesamt 75.000 aus. Über die Zahl der Juden, die einst in Tigray, Lasta, Kwara, Addis Abeba, Gondar Stadt sowie in der Provinz Gondar in den Simien-Bergen und um den Tana-See lebten, gibt es nur sporadische Schätzungen. Mitte des 19. Jahrhunderts wird eine Zahl zwi-
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schen 150.000 und 200.000 genannt. Ein Zensus in den 1970er Jahren, der entlegene Siedlungen nicht einbezog, ergab eine Gesamtpopulation von 28.189, die in 490 Dörfern lebte, in denen ihr Anteil 10 bis 50 Prozent der Dorfbewohner ausmachte. Sie unterschieden sich in Aussehen und Sprache nicht von ihren christlichen Nachbarn. Ihr religiöses Hauptwerk war das Alte Testament. Den Talmud und andere rabbinische Werke sowie Hebräisch kannten sie bis zu ihren Kontakten mit Juden außerhalb des Landes nicht. Im Laufe der Geschichte gab ihnen ihre Umwelt verschiedene, negativ belastete Namen, darunter der bekannteste: Falascha (Wanderer, Landloser, emigrieren). Sie selbst nennen sich Beta (Haus) Israel und sehen sich als Nachfahren aus der Verbindung des biblischen Königs Salomon mit der Königin von Saba. Bis heute ist ihr Ursprung umstritten. Verschiedene Theorien werden für ihre Abstammung angeboten, darunter die vom „verlorenen Stamm“ Dan, die der offiziellen Position Israels entspricht. Innerhalb der jüngeren Forschung besteht die Tendenz, Beta Israel als eine Volksgruppe zu sehen, die sich durch ein Bündel von Faktoren zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert herausgebildet hat, die – wie ihre christlich-orthodoxen Landsleute – ihre Identität aus dem äthiopischen Nationalepos bezog und sich erst durch die Ankunft protestantischer Missionare im 19. Jahrhundert selbst als Juden definierte. Während einige Forscher in Reiseberichten und legendären Erzählungen aus der Zeit vor dem 14. Jahrhundert Quellen sehen, die die Existenz von Juden nahe legen, werten andere sie als höchst zweifelhafte Versatzstücke ungewisser Authentizität. Bis heute ist die legendäre Gestalt der angeblichen Falascha Königin Judith im Bewusstsein der ländlichen Bevölkerung lebendig. Sie erscheint als Schreckensgestalt, die sich im 10. Jahrhundert aufmachte, das christliche Aksum (Stadt im Norden Äthiopiens) und die salomonische Königslinie zu zerstören. Mordend und brennend fegte sie mit ihren Truppen über das Land hinweg. Auch in der Tradition von Beta Israel lebt Judith fort. Hier ist sie eine Heldin, die die feindlichen Christen besiegte und ein Symbol für Zeiten, in denen Beta Israel Unabhängigkeit und Größe genoss. Ein allgemein anerkannter Hinweis auf Juden erscheint in den Kriegschroniken des Kaisers Amda Seyon I. (1314-1344). Die Quelle besagt, dass er viele Truppen gegen Rebellen in Gebiete schickte, die später als Hauptsiedlungsregion der Beta Israel identifiziert wurden. Von Leuten „wie Juden“ (Ayhud) ist die Rede, die den Glauben der Christen zugunsten jenem der Juden aufgaben. Ayhud war ein abschätziger Begriff, mit dem auch andere nichtchristliche Gruppen und Gegner des Kaisers bezeichnet wurden. Durch groß angelegte Feldzüge, vor allem gegen muslimisch dominierte Gebiete, gelang es Amda Seyon den Herrschaftsbereich der Monarchie erheblich zu erweitern. Unter ihm und seinen Nachfolgern wurden immer mehr selbständige Gruppen unterworfen, so auch Beta Israel, die von nun an als besonders rebellisch galten und in der Folgezeit immer wieder in Konflikt mit den christlichen Herrschern gerieten, die politische Unterwerfung einforderten. In die Regierungszeit Amda Seyons fällt die Entstehung des Nationalepos „Kebra Negast“ (Herrlichkeit der Könige), das die Geschichte der Königin von Saba als äthiopische Königin Makeda erzählt, die den Glauben an den Gott Israels annimmt und den von König Salomon gezeugten Sohn Menilek I. gebiert, den Gründer der „salomonischen“ Dy-
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nastie. Das Werk, das frühere Traditionen zusammenführt, diente der Legitimierung der 1270 zur Macht gelangten Dynastie amharischer Herkunft, die sich als Nachfahre der aksumitischen Könige betrachtete. Der Inhalt des Epos ist – wie die Judith-Legende – in der Volkstradition bis heute tief verwurzelt, wenn auch seit dem 1974 erfolgten Sturz der Monarchie durch eine am sowjetischen Modell orientierte Regierung die salomonische Tradition nicht mehr Staatsdoktrin ist. Juden erscheinen im „Kebra Negast“ als diejenigen, die den „Erlöser“ gekreuzigt haben und deren Auslöschung vorausgesagt wird. Gott hat sich von ihnen abgewandt und die Äthiopier zu seinem auserwählten Volk gemacht. Mit seinem Segen entwenden die Menilek mitgegebenen Erstgeborenen der israelischen Würdenträger die Bundeslade mit den Zehn Geboten und bringen sie nach Äthiopien. Die Äthiopier werden so zu den „guten“ Israeliten im Gegensatz zu den „bösen“ Juden. Sie bilden den lichten Gegensatz zur „Schlechtigkeit des verderbten Juda“. Erzwungene Konversion als offizielle Politik ist seit der Zeit Kaiser Yeshaqs (14131434) belegt. Yeshaq, der erste salomonische Herrscher, der persönlich gegen Beta Israel in den Krieg zog, fügte ihnen eine schwere Niederlage zu und erließ ein Dekret, das die Aberkennung althergebrachter Rechte zum Gegenstand hatte: „Der, der christlich getauft ist, darf das Land seines Vaters erben, wenn nicht lasst ihn ein Fälasi sein.“ Damit waren die Beta Israel gezwungen, zu konvertieren oder sie verloren ihr Recht auf „rest“ (Landbesitz). Möglicherweise hat der seit dem 16. Jahrhundert in diversen Quellen auftauchende Begriff Falascha hier seinen Ausgangspunkt. Wie rasch und umfangreich sich die Enteignung durchsetzte, lässt sich nicht sagen. Fest steht jedoch, dass es den Kaisern auf lange Zeit nicht gelang, die Gebiete von Beta Israel vollständig zu annektieren und bis ins 17. Jahrhundert immer wieder Revolten stattfanden. Im Laufe dieses Prozesses scheint Beta Israel ein ethnisch-religiöses Gruppenbewusstsein entwickelt zu haben. Als Folge ihrer sozialen und politischen Bedrängnis adaptierten sie einerseits religiöse Elemente der christlich-orthodoxen Kultur, wie ein Mönchtum als geistige Führerschaft, und formten diese andererseits zu einem spezifisch religiösen System um, das, ergänzt durch einen Kanon von Gesetzen zur rituellen Reinheit, sie deutlich von Personen außerhalb ihrer Gemeinschaft abgrenzte. Als im 16. Jahrhundert muslimische Truppen das Land überrannten, war Beta Israel zeitweise mit ihnen verbündet, wurde aber von den Eroberern in die Sklaverei verkauft. Nach der entscheidenden Niederlage der Muslime mit Hilfe portugiesischer Truppen setzten sich die Kriege zwischen den Kaisern und Beta Israel fort. Sarsa Dengel (15631596) und Susenyos (1607-1632) führten Feldzüge sowohl gegen die von Süden einfallenden Oromo wie gegen Beta Israel, die in den Simien-Bergen in einer Art halbautonomer Fürstentümer lebten und unter ihren Führern Kalef, Radai, Gweshan und Gedewon mehrere Aufstände probten. 1625 wurde Gedewon getötet und wenig später endete die politisch-militärische Unabhängigkeit von Beta Israel endgültig. Sofern sie noch Land besaßen, wurde es konfisziert. Viele wurden als Sklaven verkauft oder zwangsweise getauft. Mit dem zunehmenden Verlust ihres Rechtes auf „rest“ mussten sie für christliche Grundbesitzer als Pächter arbeiten und sich Handwerksberufen zuwenden, einer in der von Vieh- und Landwirtschaft geprägten Kultur verachteten wirtschaftlichen Nische. Bis
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heute sind Handwerker in Äthiopien marginalisierte Minderheiten. Da insbesondere die Berufe der Schmiede und Töpferinnen, deren Arbeit das Formen von Material mittels Feuer beinhaltet, mit zerstörerischen magischen Eigenschaften in Verbindung gebracht werden, führte dies zur sozialen Stigmatisierung. Wer Material mit Hilfe von Feuer verändern kann, hat auch selbst die Fähigkeit zur Verwandlung. Sie waren „buda“, im Besitz des „bösen Auges“, eine Vorstellung, die bei allen Ethnien und Religionsgemeinschaften verwurzelt ist. Man glaubt von „buda“, dass sie sich des Nachts in Hyänen verwandeln und menschliches Fleisch fressen. So wurden sie auch „jib“ (Hyäne) oder „jiratam“ (Schwanz) gerufen. Sie werfen ihr „böses Auge“ auf einen Menschen und „essen“ ihn, indem sie spirituell sein Blut aussaugen, ihr Opfer krankmachen und nach dem Tod dessen Seele wegnehmen. Im Falle Beta Israels verband sich die Vorstellung von den magischen Kräften des „buda“ mit ihren religiösen Differenzen gegenüber dem Christentum. Der Beta Israel als Schmied gilt als Nachfahre des Juden, der die Nägel für die Kreuzigung Jesu schmiedete. Mit seiner Arbeit zeigt er die Absicht, diesen Vorgang zu wiederholen. In diesem Sinne wurde auch das Schafsopfer an Pessach als jährliche Wiederholung der Kreuzigung gesehen. Da Beta Israel selten in Dörfern lebten, die nur von ihnen bewohnt waren und da sie ihre Produkte verkaufen mussten, entwickelte sich ein komplexes System des Umgangs zwischen ihnen und ihren meist christlichen Nachbarn, wobei Beta Israel streng darauf achteten, nicht in physischen Kontakt mit ihnen zu kommen. Geschah dies dennoch, musste eine rituelle Reinigung vorgenommen werden. Während die Reinheitsgebote Anfang des 19. Jahrhunderts verschärft wurden, lockerten sie sich in neuerer Zeit vor allem in der Gondar-Region. Gemeinsames Essen, ohne Fleisch, wurde möglich. Nachbarn tranken außerhalb ihrer Hütten gemeinsam Kaffee. In manchen Gegenden hielten Beta Israel wie Christen spezielles Geschirr für ihre Nachbarn bereit.
Gondar-Ära (1630-1760) Parallel zur wirtschaftlichen Ausgrenzung und den kriegerischen Auseinandersetzungen setzte im 16. Jahrhundert eine Entwicklung ein, die für Beta Israel von zwiespältiger Natur war. Mit Sarsa Dengel und Susenyos vollzog sich die allmähliche Abwendung der Kaiser von wechselnden Zeltlagern hin zu einem festen Regierungssitz in der Region des Tana-Sees, wo sie Schlösser bauen ließen, bis schließlich unter Fasiladas (16321667) die Entscheidung für die Hauptstadt Gondar fiel, im Hauptsiedlungsgebiet der Beta Israel. Während Beta Israel einerseits zu den wichtigsten politisch-militärischen Opponenten der Kaiser zählte und besonders Susenyos, der zum Katholizismus übergetreten war, eine brutale Konversionspolitik betrieb, wurden gleichzeitig ihre Mitglieder zunehmend als Soldaten und Handwerker in das kaiserliche Gefolge inkorporiert. Während sie weiter ihren Berufen als Schmiede, Gerber und Weber nachgingen, übten sie nun auch angesehenere Beschäftigungen aus. Als Maurer und Zimmerleute gelten sie als Haupterbauer von Gondar. Als Soldaten konnten sie zu militärischen Ehren gelangen, die ihnen Privilegien garantierten, darunter Landbesitz. Unter mehreren Kaisern bildeten sie eigene Schwadronen. So ging ein relativer wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg eines Teils der Beta Israel einher mit zunehmender Abhängigkeit vom Hof.
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Die Wohnquartiere von Beta Israel lagen größtenteils am westlichen Rand der Stadt. Diese Separation basierte auf Gewohnheit, wurde aber durch ein Kirchenkonzil unter Kaiser Yohannes I. im Jahre 1668 forciert, das „die Separation von Franken, Muslimen, Türken und auch der Fälasa, genannt Kayla, die jüdischer Religion sind, so daß sie nicht mit den Christen leben“, anordnete. Dass die Separation nicht durchgängig war, zeigt unter anderem die Tatsache, dass das Dekret 1676 erneuert wurde. In der einzigen Chronik der Beta Israel, die zur Zeit Menileks II. (1889-1913) geschrieben wurde, heißt es: „Während der Herrschaft aller Könige von Gondar lebte Israel in Frieden und Wohlstand.“ Unter Iyasus II. (1730-1755) setzte der Verfall der Zentralmacht ein, das Machtgefüge verschob sich zugunsten der Provinzfürsten. Diese Entwicklung wirkte sich besonders ungünstig für die in und um Gondar lebenden Beta Israel aus, da sie in hohem Maße von Aufträgen des Hofes abhängig waren. In der Zeit der „Herrschaft der Prinzen“ (17551855) gingen die Baumaßnahmen gegen Null, die Fertigkeiten der Beta Israel als Bauhandwerker waren nicht länger gefragt. Handwerke mit niedrigem Status wie Weben, vor allem aber Schmieden und Töpfern wurden jetzt zu ihren Haupttätigkeiten.
Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert begann die Missionierung von Beta Israel durch die „London Society for Promoting Christianity Amongst the Jews“ im Verein mit der Schweizer St. Chrischona Pilgermission ihre Lebensgrundlagen zu untergraben. Während die Kaiser eine Missionierung orthodoxer Christen untersagten, sahen sie in der Christianisierung von Beta Israel durch Protestanten ein probates Mittel, diese anschließend der orthodoxen Kirche einzuverleiben. Umgekehrt hielten die Missionare konvertierte Beta Israel für die besten Agenten einer Reformierung der orthodoxen Kirche. Auf diese Weise kamen Beta Israel zum ersten Mal mit der „modernen“ Welt in Berührung. Einige von ihnen wie Beru Webe und Gäbru Dästa setzten die Missionierung fort, nachdem die Missionare in den Konflikt zwischen Kaiser Tewodros II. (1855-1868) und der britischen Regierung gerieten und bis 1926 des Landes verwiesen wurden. Für die Zeit von 1860 bis 1910 liegt eine Schätzung von 1.700 bis 1.800 Konvertiten vor. Für die Gemeinschaft der Beta Israel hatte die Missionierung jedoch – unabhängig von der Zahl der Konvertierten – weitreichende Folgen. Einerseits wurden sie erstmals als Juden im universalen Sinne des Begriffs behandelt, andererseits unterzogen die Missionare ihr religiöses System, die Existenz des Mönchstums, der Reinheits- und Opfergesetze einer massiven Kritik im Sinne eines Verstoßes gegen jüdische wie biblische Traditionen. Die Missionare waren bestrebt, die Autorität der Führer und Priester der Beta Israel systematisch zu untergraben. In dieser Hinsicht unterschieden sich die – als Reaktion auf die christlichen Konvertierungsversuche – nach Äthiopien geschickten Vertreter jüdischer Organisationen nicht. Auch sie waren bestrebt, Traditionen von Beta Israel abzuschaffen, um sie zu „wahren“ Juden zu machen. Joseph Halévy reiste 1867 als Vertreter der „Alliance Israélite Universelle“ nach Äthiopien und setzte sich in Europa dafür ein, ihnen zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und gegen die christliche Missionierung beizustehen. Es dauerte
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aber noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, bis unter Jacques Faitlovitch Hilfsprogramme ins Leben gerufen wurden. Beta Israel, von Halévy noch auf etwa 200.000 geschätzt, waren bei der Ankunft von Faitlovitch 1904 durch eine Hungersnot von 1888-1892 und die 1885 bis 1892 andauernden Kämpfe zwischen Äthiopien und den aus dem Sudan kommenden Mahdisten in ihrer Zahl erheblich reduziert und verarmt. Unter dem Druck der Missionierung, der physischen Vernichtung und der demographischen Krise zerbrach das Mönchtum als geistige Führung weitgehend. Die Gründung jüdischer Schulen in Addis Abeba und in Dörfern von Beta Israel im Einverständnis mit Menilek II. und Haile Selassie (1930-1974) provozierte den Widerstand des orthodoxen Klerus und lokaler Beamter, die versuchten, die Eröffnung von Schulen zu verhindern. In den Provinzen wurden Lehrer ins Gefängnis gesteckt und Schüler auseinandergetrieben. Unter der italienischen Besatzung (1935-1941) erfuhren nicht-christliche Gruppen zunächst eine gewisse Förderung, um ihre Unterstützung gegen die Amharen zu gewinnen. Land wurde an diejenigen verteilt, die kein Recht auf „rest“ hatten. Schon bald führten die zum „Schutz der italienischen Rasse“ verabschiedeten Gesetze und Dekrete zur Diskriminierung aller Äthiopier und zu einer strengen Trennung und Ghettobildung nach Hautfarbe. Die Schulzeit für schwarze Kinder wurde auf drei Jahre beschränkt. Die kleine Jüdische Gemeinde, 1924 in Addis Abeba gegründet, verlor ihre Selbständigkeit, die von Beta Israel praktizierte Religion wurde per Verordnung abgeschafft und durch eine „neue“ ersetzt, die Lehrerausbildungsstätte in Addis Abeba geschlossen. Ihr Leiter Tamrat Amanuél, der wie einige andere Beta Israel aufgrund der Ausbildung im Ausland im nachkolonialen Äthiopien in staatliche Dienste aufsteigen konnte, verlegte sie nach Gondar, musste aber fliehen und das Land bis 1941 verlassen. Die Ausbildungsstätte wurde geschlossen, einige Schüler und Lehrer gefangen genommen. Nach der Niederlage der Italiener und der Rückkehr Haile Selassies sahen sich besonders jene Beta Israel bitter enttäuscht, die im Widerstand gekämpft hatten. Die Politik des Kaisers, der versichert hatte, jede Verfolgung von Beta Israel werde bestraft, favorisierte in ihren Augen die christlichen Missionare, um Beta Israel im Rahmen seiner Amharisierungspolitik mit der christlichen Mehrheit zu verschmelzen und ein Gegengewicht zur muslimischen Bevölkerung zu schaffen. Hierin sah man auch den Grund für die fehlende Bereitschaft, Emigration zuzulassen. Allerdings bestand auch von Seiten Israels kein Interesse hieran. Gegen eine Schule der Beta Israel nahe Gondar wurde 1958 ein Brandanschlag verübt. Die christliche Bevölkerung verdächtigte Beta Israel, ihr Land in Besitz nehmen zu wollen. Auch sahen sie sich weiterhin mit Anschuldigungen der Zauberei konfrontiert. Ende der 1950er Jahre listeten sie in Petitionen an den Kaiser die Namen von 13 Ermordeten auf, die der Zauberei beschuldigt worden waren. Sie würden nicht nur beschuldigt, sich nachts in Hyänen zu verwandeln, die ihre Nachbarn und das Vieh töteten, sondern auch, Tote zu exhumieren und zu essen. Drei Brandstiftungen, acht Friedhofsentweihungen und viele Beispiele für Vertreibung und überhöhte Abgaben wurden aufgeführt.
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An die Revolution 1974 knüpfte Beta Israel zunächst Hoffnungen, denn nun erhielten sie Anrecht auf Land, und zum ersten Mal in der Geschichte Äthiopiens wurde der gesellschaftliche Wert handwerklicher Arbeit und ihrer Produkte propagiert. Während das neue Regime die Hilfsprogramme der ausländischen jüdischen Organisationen zunächst nicht behinderte und kleine Gruppen ausreisen ließ, reagierte es mit Repression, als dies öffentlich wurde. Als Beta Israel zwischen die Fronten der Regierungstruppen mit linken Gegnern wie antimarxistischen Truppen gerieten und ab 1980 zu Tausenden in den Sudan flohen, suspendierte die Regierung die Hilfsprogramme. Beta Israel wurden in der Ausübung ihrer Religion behindert und junge Männer gezielt einberufen. Im Endstadium des Mengistu-Regimes, als 20.000 Beta Israel nach Addis Abeba geflohen waren, ermöglichte ein Stillhalteabkommen mit Regierung und Rebellen die „Operation Solomon“, mit der am 24./25. Mai 1991 binnen 36 Stunden über 14.000 Menschen nach Israel ausgeflogen wurden. Es folgten weitere Transporte, die auch Falascha Mura, einst zum Christentum Konvertierte, einbezogen. Ende 2007 war deren Ausreise abgeschlossen. Seitdem Nachrichten von den Schwierigkeiten der Integration ihrer ehemaligen Landsleute in Israel bekannt wurden, berichten äthiopische Zeitungen häufig von ihrer Diskriminierung als „Schwarze“ und betonen das „Äthiopiertum“ von Beta Israel, deren kulturelles Erbe als Teil äthiopischer Kultur in eminenter Gefahr sei. An der Universität in Addis Abeba wurden Beta-Israel-Studien als akademische Disziplin eingerichtet. Äthiopien hat „seine“ Juden entdeckt.
Marie-Luise Kreuter
Literatur Falasha Anthology. Translated from Ethiopic Sources with an Introduction by Wolf Leslau, New Haven, London 1979. Steven Kaplan, The Beta Israel (Falasha) in Ethiopia: From Earliest Times to the Twentieth Century, New York, London 1992. Steven Kaplan, Tudor Parfitt, Emanuela Trevisan Semi (Hrsg.), Between Africa and Zion. Proceedings of the Society for the Study of Ethiopian Jewry, Jerusalem 1995. David Kessler, The Falasha. A Short History of the Ethiopian Jews, London 1996³. James Quirin, The Evolution of the Ethiopian Jews. A History of the Beta Israel (Falasha) to 1920, Philadelphia 1992. Hagar Salamon, The Hyena People: Ethiopian Jews in Christian Ethiopia, Berkeley, Los Angeles, London 1999. Richard Chaim Schneider, Esaias Baitel, Der vergessene Stamm. Die äthiopischen Juden und ihre Geschichte, Wien 1995.
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Albanien Die ältesten jüdischen Spuren werden auf dem Territorium Albaniens in das 7. Jahrhundert datiert. So wird vermutet, dass eine Basilika in Saranda in Südalbanien früher als Synagoge gedient haben muss. Darüber hinaus gibt es weitere vereinzelte frühe Spuren bei Mati in Nordalbanien, und zwar so genannte jüdische Gräber der romaniotischen Juden, die sich nach der Vertreibung aus Judäa durch die Römer im 4. Jahrhundert im byzantinischen Reich angesiedelt hatten. Geschichtlich werden die Juden in Albanien im 13. Jahrhundert bezeugt. In der Hafenstadt Durrës sind Juden seit 1281 nachgewiesen. Es handelt sich wahrscheinlich um Einwanderer aus älteren griechisch sprechenden Gemeinden in Saloniki und Verria. In den Jahren 1501-1912 stand Albanien unter der Herrschaft der Osmanen, die die Fertigkeiten der Juden als Händler, Unternehmer und Verwalter hochschätzten. Im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert fanden in Albanien verfolgte sephardische Juden Zuflucht und über die Küstenstädte Durrës und Vlora zogen sie weiter ins Landesinnere nach Elbasan und Berat. Mitte des 16. Jahrhunderts kamen weitere Juden aus dem Kirchenstaat nach Albanien. 1519/1520 gab es in Vlora 609 jüdische Familien. Hier stand auch die einzige Synagoge in Albanien, die im Ersten Weltkrieg von der italienischen Armee als Lager genutzt und zerstört wurde. Die eingewanderten Juden übernahmen mit großem Erfolg den Handel in den Küstenstädten Lezha und Vlora, wo sie im 16. Jahrhundert die Mehrheit der Bevölkerung stellten. Da sie als osmanische Verbündete galten, wurden sie wiederholt Opfer der anti-osmanischen Aufständischen und flohen im 17. Jahrhundert aus Vlora in die Berge nach Berat. Im frühen 19. Jahrhundert zogen sich die Juden aus dem nördlichen und zentralen Albanien in die südlichen Landesteile zurück, die einen stärkeren Urbanisierungsgrad aufwiesen und damit bessere Bedingungen zur Ausübung ihrer Berufe boten. Doch auch hier waren sie vor Übergriffen, die teils kriminell, teils anti-osmanisch motiviert waren, nicht sicher, und ihre Zahl in Albanien blieb insgesamt klein. Wenig ist darüber bekannt, wie die albanischen Juden den Ersten Weltkrieg und die Turbulenzen des entstehenden albanischen Staates überstanden. Anfang der 1930er Jahre war die jüdische Gemeinde, die laut der nicht ganz zuverlässigen Volkszählung von 1930 aus 204 Personen bestand, wirtschaftlich wieder gefestigt. Sie musste sich mit einer Verordnung der Verwaltung von Vlora auseinandersetzen, nach der die jüdischen Läden samstags offen und sonntags geschlossen sein sollten. Die Zuwiderhandlung wurde mit Geldstrafen geahndet, die von Woche zu Woche erhöht wurden. Die ärmeren jüdischen Kaufleute hielten ihre Läden samstags offen und verkauften nicht, und die wohlhabenderen zahlten lieber die Strafe, bis ihrer Klage gegen die Stadtverwaltung stattgegeben wurde. Offiziell wurde die aus rund 300 Mitgliedern bestehende jüdische Gemeinschaft erst am 2. April 1937 anerkannt, was sich aus dem Prinzip der staatlich gewollten Nationalisierung der religiösen Institutionen und der Religionsausübung in Albanien erklärt, die in der Verfassung von 1928 und im Gesetz über religiöse Gemeinschaften festgehalten wurde. Die albanischen Sunniten, Bektashi und die Orthodoxen wurden schon früher an-
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erkannt, da sie ihre Gemeinschaften bereits in den 1920er Jahren für national selbständig erklärt hatten. Innenpolitisch steigerte sich im Laufe der 1930er Jahre der Druck auf die Minderheiten, der auch die Juden betraf: Die Zwischenkriegsverfassungen enthielten für die Exekutive, nicht aber für die Parlamente einen Rasseparagraphen. Der Kandidat musste „von albanischer Rasse“ bzw. „von albanischer Rasse und albanischem Blut sein“. Eingebürgerten Ausländern waren diese Positionen verwehrt. Diese Bestimmung richtete sich zwar vorrangig gegen die Slawen und Griechen, traf aber auch die Juden. Direkt gegen die Juden richtete sich das Statut der albanischen „Faschistischen Partei“, das ihren Beitritt ausschloss. Da die Ausübung bestimmter Positionen an die Parteimitgliedschaft geknüpft war, blieben ihnen diese Bereiche verschlossen. Außenpolitisch galt Albanien als ein Land, mit dem man über die Judenimmigration verhandeln konnte. Der amerikanische Diplomat Herman Bernstein, der 1930-1933 in Albanien tätig war, soll bei König Zogu erreicht haben, dass für Juden aus Mitteleuropa albanische Transit- und Touristenvisa ausgestellt wurden. 1933 wurde Albanien von den mitteleuropäischen Juden als ein Transitland in sichere Länder genutzt. 1934 verhandelten jüdische Organisationen mit der albanischen Regierung darüber, ob sie eine dauerhafte oder zeitweilige Immigration von Juden aus Deutschland genehmigen würde. Mitte 1935 lehnte Albanien die Gewährung von Asyl ab und forderte lediglich Juden (unabhängig von ihrem Herkunftsland) zur Einreise auf, die sich als Investoren betätigen wollten. Diese Initiative wurde unter dem Druck Italiens zurückgezogen. 1938/1939 verschärfte die albanische Regierung im Angesicht der Flüchtlingswelle aus Österreich die Auflagen für die Visavergabe: die Touristenvisa wurden von 60 auf 30 Tage verkürzt und die Summe, die die Einreisenden mit sich führen mussten, wurde erhöht. Die neuen Regeln wurden jedoch von den einzelnen, mitunter korrupten Konsularbeamten nicht konsequent angewendet, und noch am Anfang des Krieges war es möglich, ein Visum zu bekommen. Die Zahl derer, die Albanien erfolgreich als Transitland passierten, bewegt sich schätzungsweise zwischen 600 und 3.000. Auch nach der Besetzung Albaniens durch Italien am 7. April 1939 hielt der Zustrom der jüdischen Flüchtlinge an. Obwohl für Ausländer in Albanien ein Beschäftigungsverbot galt, und die Weiterreise im Krieg nicht mehr möglich war, war es für viele die einzige Möglichkeit, um mit dem nackten Leben davonzukommen. Bis zum Sommer 1943 sollen etwa 870 Juden nach Albanien geflohen sein, wobei die tatsächliche Zahl wegen falscher Identitäten kaum zu schätzen ist. Nicht allen ist die Einreise nach Albanien gelungen, da die Grenzer nur einen Teil der Aufgegriffenen passieren ließen. In den Kriegsjahren 1941-1944 umfasste Großalbanien Teile des Kosovo, Westmakedoniens und Südmontenegros, außerdem wurden die griechischen Bezirke Janina, Preveza und Thesprotia unter Sonderverwaltung gestellt. Nach der Kapitulation der Italiener im September 1943 wurde Großalbanien um das Gebiet Mitrovica im Nordkosovo erweitert und seine Souveränität wurde von den Deutschen pro Forma wiederhergestellt. Die Gesamtzahl der einheimischen Juden in Altalbanien, wie Albanien im Krieg als Teil von „Großalbanien“ genannt wurde, belief sich 1941 auf 200, was 0,02 Prozent der Bevölkerung entsprach. Im deutsch besetzten Teil des Kosovo wurden im April 1941 durch deutsche Truppen bereits etwa 500 Juden gefangen und in ein Durchgangslager
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nach Belgrad deportiert. Die Italiener beugten sich in ihrem Verwaltungsbereich dem deutschen Druck und fertigten Namenslisten der Juden an, die von nun an weiße Armbinden mit dem Wort „Jude“ in schwarzen Lettern tragen mussten und einen roten Stempel mit dem Buchstaben „J“ in ihren Ausweis bekamen. In Prishtina wurde ein Internierungslager errichtet. Im März 1942 wurden 51 jüdische Gefangene aus Serbien an die Deutschen überstellt, einige wurden erschossen und der Rest wurde in Lager nach Albanien deportiert, die seit der zweiten Hälfte des Jahres 1941 bestanden und in denen jüdische Flüchtlinge aus Serbien, Montenegro, Bosnien und dem Kosovo zusammengefasst wurden. Im April 1942 wurden aus dem Gefängnis in Prishtina 100 Juden nach „Altalbanien“ ins Lager Berat und 79 Juden nach Preveza deportiert. Im Juli 1942 wurden weitere 88 nach Kavaja, Burrel, Kruja und Shijak transportiert. Der Aufenthalt in den albanischen Internierungslagern konnte unter Umständen lebensrettend sein. Besonders in den Wirren nach der italienischen Kapitulation konnten die Lagerinsassen fliehen und untertauchen. Ein Teil von ihnen schloss sich den Partisanengruppen an, die auch von den einheimischen Juden unterstützt wurden. Der Alltag der in Albanien untergetauchten und gestrandeten Flüchtlinge war denkbar hart. Seit Juli 1940 gab es die Abschiebungsanordnung für alle ausländischen Juden. Um zu überleben, lebten sie mit falschen Dokumenten, wechselten oft ihre Unterkunft und mussten körperlich hart arbeiten. Nur mit viel Glück und dank der Hilfe albanischer Retter konnten sie bis zum Kriegsende auf freiem Fuß bleiben. Die altalbanischen Juden waren eine kleine und sprachlich assimilierte Gruppe, die im Alltag nicht auffiel. Im Juli 1940 mussten Juden einer italienischen Anordnung folgend die Hafenstadt Durrës verlassen und ins Landesinnere umziehen. Ihren Alltag gestalteten sie mit zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen, indem sie ihre Firmen über albanische Strohmänner betrieben und sich die Loyalitäten der politischen Akteure sicherten. Es sind wenige Deportationsfälle aus ihren Reihen dokumentiert: Die in Shkodra lebende Familie Ardit wurde im Herbst 1944 nach Prishtina deportiert und verschleppt, doch die in Tirana lebenden Familienangehörigen wurden gerettet. Nach der deutschen Besetzung erhöhte sich jedoch die Deportationsgefahr für sie. SS-General Joseph Fitzhum, der die formale Souveränität Albaniens in Frage stellte, soll im September 1944 angeordnet haben, die Juden von Vlora mit den sich zurückziehenden deutschen Truppen ins Reich abtransportieren zu lassen. Im Chaos der letzten Kriegstage wurden diese Pläne nicht mehr verwirklicht. Die an der Südgrenze Albaniens gelegenen jüdischen Gemeinden von Janina, Preveza, Arta und Agrinion wurden im März 1944 geräumt und die Menschen nach Norden abtransportiert. Die von Himmler im März 1944 organisierte 21. SS-Gebirgsdivision Skanderbeg, die im Kosovo operierte, verhaftete im Mai 1944 281 Juden und deportierte sie nach einem Aufenthalt in einem Lager bei Prishtina nach Bergen-Belsen. Andere nicht in Albanien ansässige Juden folgten. Von den 400 Menschen, die aus dem Kosovo deportiert wurden, überlebten nur 100. Die Zahl der jüdischen Deportierten aus „Großalbanien“ wird nach den Meldungen der Kriegsjahre auf 591 beziffert, von denen die Mehrheit aus dem Gebiet Kosovo
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stammte. Hierbei lässt sich nicht ermitteln, wie viele Flüchtlinge aus anderen Ländern darunter waren. Als mitentscheidend für das Überleben der Juden hat sich ausgewirkt, dass Albanien eine Zeit lang außerhalb der Aufmerksamkeit der Gestapo lag und die albanischen und italienischen Behörden gefälschte Dokumente ausgaben und die antisemitischen Verordnungen nur halbherzig ausführten. Somit wurde Albanien zum einzigen Land, in dem sich nach Kriegsende mehr Juden als vor dem Kriegsanfang in Freiheit befanden. Ausschlaggebend für die Rettung der Juden war jedoch die Menschlichkeit der Retter, deren Spektrum über alle soziale Schichten reichte. Zu Beginn des Jahres 1998 waren bei der Gedenkstätte Yad Vashem 53 Albaner registriert, die als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet waren. Albanien nahm damit unter den 34 Staaten, aus denen die Retter kamen, den 17. Platz ein. Die in Albanien überlebenden jüdischen Flüchtlinge verließen bis auf einige wenige nach dem Krieg das Land. Die im Land verbliebenen Juden wurden in den Volkszählungsergebnissen nicht mehr ausgewiesen. Offiziell gab es im kommunistischen Albanien keinen Antisemitismus, doch die Meinungen der Betroffenen gehen darüber weit auseinander. Im Allgemeinen waren die Juden nicht benachteiligt, wie z.B. beim Studium. Von schwerem Nachteil war vielmehr die bürgerliche Herkunft, weswegen sie nach der kommunistischen Machtübernahme im November 1944 Verhaftungen, Enteignungen und beruflichen Degradierungen ausgesetzt waren. Allein wegen der Fremdsprachenkenntnisse galten sie als verdächtig. Sie konnten jederzeit des Zionismus bezichtigt und bestraft werden und waren deshalb für die Zusammenarbeit mit dem Regime besonders erpressbar. Vor diesem politischen Hintergrund stellten an die 200 albanische Juden Anträge auf die Einbürgerung im neuen israelischen Staat. Da sie jedoch zusammen mit den jugoslawischen Juden ausreisen sollten, wurde wegen des 1948 erfolgten Bruchs zwischen der Sowjetunion und Jugoslawien ihre Ausreise verhindert. In den 1950er Jahren ist es nur wenigen Juden gelungen, über die Grenze nach Griechenland zu fliehen. Der antiisraelische Kurs der albanischen Regierung und ihr Einverständnis mit den Ärzteprozessen in Moskau 1953 galten an ihre jüdischen Bürger als deutliche Signale. Das Religionsverbot von 1967 traf gleichermaßen auch die Juden. Die religiösen Bestattungen – in Vlora noch bis 1965 auf dem alten, heute nicht mehr existierenden jüdischen Friedhof, sonst auf muslimischen Friedhöfen – wurden ebenso untersagt wie sonstige religiöse Versammlungen. In Tirana wurden die kulturellen und religiösen Wurzeln und der Zusammenhalt einer kleinen Gruppe im familiären Rahmen weiter gepflegt. Dank dieser stillen Arbeit war es möglich, dass Felicita und Joseph Jakoel zügig die Namenslisten der ausreisewilligen albanischen Juden erstellen und sie 1990 unter hohem persönlichen Einsatz der „Hebrew Agency“ übergeben konnten. 1990/1991 führte die israelische Regierung den Exodus der albanischen Juden als Aktion „Fliegender Teppich“ durch. Die meisten der etwa 320 Auswanderer emigrierten zwischen Dezember 1990 und Mai 1991 nach Israel. Eine kleine Gruppe verließ Albanien in Richtung USA. Die Massenausreise erfolgte vor dem Hintergrund der damaligen desolaten politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Nicht ausgereist sind einzelne, in Mischehen lebende Juden, die sich an der Gründung der albanisch-israelischen Freundschaftsgesellschaft beteiligten. Nach dem politischen Wechsel wurden Forschungen zur jüdischen Geschichte
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in Albanien ermöglicht, und zum Tag des Holocausts wird im Parlament der Rettung der Juden in Albanien gedacht. Der Antisemitismus in Albanien ohne Juden ist in Form von Stereotypen über vermeintliche jüdische Charaktereigenschaften vereinzelt in den literarischen Werken und zur Verunglimpfung und Einschüchterung der politischen Gegner als „Kryptojuden“ anzutreffen. Von den Fachleuten und Politikern werden weder der Anstand und der Mut der Retter der Juden ausreichend gewürdigt, noch werden die begangenen Verbrechen aufgearbeitet, so dass die albanische Öffentlichkeit in die Lage versetzt würde, den unreflektierten Antisemitismusäußerungen ausreichend begegnen zu können.
Zuzana Finger
Literatur Pavle Dželetović Ivanov, Jevreji Kosova i Metohije [Die Juden von Kosovo und Metohija], Belgrad 1988. Katherine Morris (Hrsg.), Escape through the Balkans: The Autobiography of Irene Grünbaum, Lincoln University of Nebraska Press 1996. Albert Ramaj, Rettung von Juden in Albanien, in: G2W – Glaube in der 2. Welt, 2(2007), S.17-19. Michael Schmidt-Neke, Albanien – ein sicherer Zufluchtsort?, in: Wolfgang Benz und Juliane Wetzel (Hrsg.), Solidarität und Hilfe für Juden während der NS-Zeit, Regionalstudien Band 3, Berlin 1999, S.247–270. Karl-Josef Schukalla, Nationale Minderheiten in Albanien, in: Klaus-Detlev Grothusen (Hrsg.), Albanien, Südosteuropa-Handbuch, Band VII, Göttingen 1993, S.514–516.
Algerien Die Geschichte der jüdischen Bevölkerung Algeriens unterscheidet sich in wichtigen Aspekten von anderen nordafrikanischen Ländern. Die formelle Eingliederung Algeriens in das französische Territorium im Jahr 1848 und die spezifische französische Siedlungsund Einbürgerungspolitik prägten das Verhältnis zwischen Muslimen, Juden und europäischen Siedlern in Algerien in besonderer Weise. Die Anfänge einer größeren jüdischen Ansiedlung in der Region des heutigen Algeriens gehen bis in die Zeit des Römischen Reiches zurück. Die beginnende islamische Herrschaft im 7. Jahrhundert bedeutete für die jüdische Bevölkerung die Zuweisung eines Status als „Schutzbefohlene“ des islamischen Herrschers. Der Status als „dhimmi“ beinhaltete neben der Verpflichtung zur Zahlung von Kopfsteuern weitere rechtliche und soziale Benachteiligungen. Im Gegenzug wurden Juden – ebenso wie Christen – körperliche Unversehrtheit sowie eine relativ freie Ausübung der Religion zugesichert. Abweichend von dieser Tradition verschärfte sich unter der Herrschaft der Almohaden im späten 12. Jahrhundert der Druck zur Konversion. Kleidervorschriften und andere Diskriminierungen, in denen sich das Misstrauen gegenüber Nicht-Muslimen ausdrückte, zwangen viele Juden zur Annahme des islamischen Glaubens oder zur Emigration. Erst mit
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der Vertreibung der Juden aus ? Spanien ab dem späten 14. Jahrhundert kam es wieder zu einer Vergrößerung der jüdischen Bevölkerung. Die relative Stabilität in der Zeit des ? Osmanischen Reiches begünstigte eine weitere Einwanderung aus dem südlichen Europa.
„Algérie française“, 1830-1940 Die französische Besetzung Algiers im Jahr 1830 und die anschließende Eroberung des Landes, die erst in den 1870er Jahren abgeschlossen wurde, markiert einen wesentlichen Einschnitt in der algerischen Geschichte. Starker Widerstand der muslimischen Bevölkerung gegen die Kolonialisierung des Landes und hohe Verluste der Kämpfe prägten die Beziehungen der Muslime zur Kolonialmacht. Dagegen verbanden die etwa 25.000 in Algerien ansässigen Juden mit der französischen Herrschaft die Hoffnung auf ein Ende der fortwährenden Unsicherheit, von der auch die osmanische Herrschaft phasenweise geprägt wurde. Das Projekt eines „Algérie française“, das mit der territorialen Eingliederung des Landes vorangetrieben wurde, beinhaltete eine Politik der kulturellen Assimilation der einheimischen Bevölkerung an Frankreich. Vor diesem Hintergrund erhielten Juden und Muslime ab 1865 die Möglichkeit, die französische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Für die jüdische Bevölkerung bedeutete das so genannte Crémieux-Dekret von 1870 eine weitere Verbesserung: Es brachte die kollektive Übertragung der französischen Staatsbürgerschaft für die algerischen Juden. Die Einbürgerung von 34.000 Juden kam einer deutlichen Stärkung der französischen Position gleich. Ähnliche Projekte einer kollektiven Einbürgerung der muslimischen Bevölkerung, die zwar Subjekte Frankreichs, aber keine vollen Staatsbürger waren, stießen unter den französischen Siedlern in Algerien auf Widerstand. Aus muslimischer Sicht sprach vor allem die notwendige Unterwerfung unter das französische Zivilrecht, welches sich in verschiedenen Punkten vom islamischen Recht unterschied, gegen eine Einbürgerung. Die Ausweitung der Rechte der jüdischen Bevölkerung seit 1830 und die folgende Einbürgerung drückten sich in einer Säkularisierung und kulturellen Assimilation der Juden aus. Die politische und kulturelle Bindung an Frankreich spiegelte sich in einem vergleichsweise geringen Zulauf zur zionistischen Bewegung. Anders als in ? Marokko oder ? Tunesien bot die rechtliche Emanzipation der Juden in Algerien Alternativen zur Emigration nach Palästina. Rechtliche Sicherheit war dennoch nicht gleichbedeutend mit gesellschaftlicher Akzeptanz. Die schrittweise Emanzipation der Juden stieß insbesondere unter den europäischen Siedlern, den „pieds-noirs“, auf entschiedene Ablehnung. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es wiederholt zu antisemitischen Kampagnen. Antisemitisches Denken gehörte zu den „grundlegenden Elementen der Geisteshaltung“ der „pieds-noirs“, wie es der Historiker Michel Abitbol formuliert. Im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre in ? Frankreich gelangten auch in Algerien zahlreiche Vertreter antisemitischer Strömungen in führende politische Funktionen. Zwischen 1894 und 1902 gerieten die Städte Oran, Algier und Constantine unter den Einfluss explizit antisemitischer Gruppierungen. Bei den Parlamentswahlen von 1898 gingen vier von sechs Mandaten an Vertreter, in deren Kampagnen antisemitische Hetze im Mittelpunkt stand. So
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gewann Edouard Drumont, der Autor des antisemitischen Werkes „La France Juive“ (1886) und Gründer der „Ligue antisémitique de France“, das Mandat von Algier. In der Folgezeit fanden in Algier und anderen Städten Ausschreitungen gegen Juden statt, die durch antisemitische Kampagnen in der Presse angetrieben wurden. Trotz des vorübergehenden Abflauens dieser Kampagnen wiederholten sich auch in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und erneut während der 1930er Jahre antisemitische Agitationen. Die Forderung nach der Abschaffung des Crémieux-Dekrets stand dabei vielfach im Mittelpunkt. In der muslimischen Bevölkerung fanden diese Strömungen wenig Unterstützung. Die Bemühungen antisemitischer Organisationen, gegen die Juden aufzustacheln, stießen in weiten Teilen der muslimischen Bevölkerung auf Ablehnung. Wie in der Vergangenheit bestanden allerdings auch unter Muslimen antijüdische Ressentiments fort, die im Zusammenhang mit den Entwicklungen in Palästina und während ökonomischer Krisen sporadisch und örtlich begrenzt in Gewalt umzuschlagen drohten. Die antijüdischen Ausschreitungen in Constantine Anfang August 1934, bei denen über 20 Juden getötet wurden, standen für eine Eskalation dieser Spannungen. Die Untätigkeit der französischen Behörden und die antijüdischen Kampagnen der „pieds-noirs“ begünstigten die Übergriffe. Die nationalsozialistische und faschistische Propaganda, in denen gezielt auf antisemitische Themen gesetzt wurde, taten ein Weiteres, um Angriffe gegen die jüdische Bevölkerung zu schüren.
„Algérie française“ – Die Zeit des Vichy-Regimes Die Niederlage Frankreichs im Juni 1940 und die Etablierung des Vichy-Regimes hatten weitreichende Folgen für die Situation der jüdischen Bevölkerung Algeriens. Anders als unter den „pieds-noirs“ und in Teilen der muslimischen Bevölkerung stießen das VichyRegime und der Waffenstillstand mit Deutschland unter den algerischen Juden auf Ablehnung. Die antijüdischen Gesetze, die vom Vichy-Regime bereits im Herbst 1940 erlassen wurden, fanden auch in Algerien Anwendung. Neben den Regelungen des „Juden-Statutes“ vom 3. Oktober 1940, mit denen die Definition der Juden nach rassischen Kategorien festgeschrieben wurde, stand vor allem die Aufhebung des Crémieux-Dekrets am 7. Oktober 1940 für die explizit antisemitische Politik der neuen französischen Regierung. Bis auf wenige Ausnahmen verloren die über 100.000 algerischen Juden jegliche Rechte, die mit der französischen Staatsbürgerschaft verbunden waren. Der weitgehende Ausschluss der Juden aus öffentlichen Ämtern und die Einführung von Quoten für Anwälte und Hebammen standen exemplarisch für den Versuch, die algerischen Juden aus dem gesellschaftlichen Leben zu verdrängen. Mit einem Gesetz vom 2. Juni 1941 wurden diese Regelungen schließlich weiter verschärft. Die Liste der Berufe, die für Juden verboten waren, umfassten nun auch Tätigkeiten im Bankwesen, Immobilienhandel und Journalismus. Im Herbst 1941 folgte ein weiteres Dekret, das auf die „Arisierung“ der Wirtschaft abzielte. Der Generalgouverneur war danach berechtigt, Firmen, Geschäfte und Grundstücke, die sich in jüdischem Besitz befanden, der Verwaltung eines Treuhänders zu unterstellen. Diese Regelungen gingen in vielen Aspekten über ähnliche Verordnungen in den beiden französischen Protektoraten ? Marokko und ? Tunesien hinaus.
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Auch bezüglich der Umsetzung der Dekrete unterschied sich der Eifer der algerischen Verwaltung deutlich von den Maßnahmen der Behörden in Marokko und Tunesien. Auf muslimischer Seite stieß diese Politik auf wenig Unterstützung. Neben Ferhat Abbas und Messali Hadj, zwei Führern der nationalistischen Bewegung, äußerten sich prominente islamische Persönlichkeiten kritisch über die antijüdischen Maßnahmen. So stießen die Angebote der französischen Verwaltung, als Treuhänder für jüdisches Eigentum zu fungieren, in der muslimischen Bevölkerung auf Ablehnung. Von Seiten der Imame wurden die Gläubigen aufgefordert, das Elend der Juden nicht zum eigenen Vorteil zu nutzen. Das Ausmaß der antijüdischen Diskriminierungen seitens der Behörden spiegelte sich in der Bereitschaft der jüdischen Bevölkerung, eine aktive Rolle im Widerstand gegen das Vichy-Regime und die Achsenmächte zu übernehmen. Juden stellten die große Mehrheit der Mitglieder einer örtlichen Widerstandsgruppe, die im November 1942 die Landung der Alliierten in Algier unterstützten. Trotz der erfolgreichen Landung der Alliierten hatten die antijüdischen Gesetze in Algerien zunächst weiterhin Bestand. Es dauerte bis zum 14. März 1943 ehe die französische Verwaltung ein Dekret erließ, das diese Gesetze aufhob. Dennoch blieb das Crémieux-Dekret zunächst außer Kraft, um – so die offizielle Begründung – eine Ungleichbehandlung von Juden und Muslimen zu verhindern. Am 22. Oktober 1943 folgte schließlich eine offizielle Erklärung, in der die Aufhebung des Crémieux-Dekrets rückgängig gemacht wurde. Erst der zunehmende Einfluss Charles de Gaulles im „Comité Français de la Libération Nationale“ und die Verdrängung der ehemaligen Repräsentanten des Vichy-Regimes, die auch nach der Landung der Alliierten in führenden Positionen verblieben waren, setzten der antijüdischen Politik der französischen Verwaltung ein Ende.
Nachkriegszeit und Algerienkrieg, 1945-1962 Die hohen Verluste des antikolonialen Kampfes in Algerien prägten das Verhältnis der muslimischen Bevölkerung zu Frankreich auch über das Jahr 1962 hinaus, in dem die Unabhängigkeit des Landes erreicht wurde. Die deutliche politische und soziale Benachteiligung der algerischen Muslime sowohl gegenüber den „pieds-noirs“ als auch gegenüber den algerischen Juden gab der nationalen Unabhängigkeitsbewegung zusätzlichen Zulauf. Die militärischen Angriffe auf nationalistische Demonstranten in den Tagen um den 8. Mai 1945, bei denen zwischen 20.000 und 45.000 Zivilisten getötet wurden, markierten den Beginn einer Eskalation des Konfliktes mit der französischen Kolonialmacht. Für die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung boten weder die algerischen Nationalisten noch die französischen Siedler eine Alternative. Angesichts der Erfahrung mit dem Vichy-Regime gewann die zionistische Bewegung daher in den späten 1940er Jahren an Bedeutung. Dennoch blieb Frankreich ein wesentlicher Bezugspunkt der algerischen Juden. Die Ereignisse während des Algerienkrieges, der im November 1954 mit dem Beginn des bewaffneten Widerstandes der „Front de libération nationale“ (FLN) seinen Anfang nahm, bestärkten diese Bindung an Frankreich. Im Oktober 1956 wendete sich die FLN in einer öffentlichen Erklärung an die über 130.000 algerischen Juden. Der Appell an die „compatriotes israélites“, der an die anti-
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jüdischen Diskriminierungen in Frankreich unter dem Vichy-Regime erinnerte, mahnte die jüdische Bevölkerung, sich dem antikolonialen Kampf gegen Frankreich anzuschließen. Angesichts der Geschichte der antijüdischen Verfolgungen in Europa, so hieß es in dem Aufruf, hoffe die FLN auf ein Bekenntnis der Juden zur algerischen Nation. Trotz der Sympathien, die der muslimischen Bevölkerung noch während der französischen Repressionen im Mai 1945 von führenden Vertretern der algerischen Juden entgegengebracht wurden, stieß dieser Appell nur bei einer Minderheit der jüdischen Bevölkerung auf Zustimmung. Angesichts wiederholter Anschläge und Übergriffe, denen bereits in den ersten Jahren des Krieges zahlreiche Juden zum Opfer fielen, erschien für viele eine Parteinahme zugunsten der Nationalisten undenkbar. Berichte über eine wachsende Bereitschaft de Gaulles, in Verhandlungen mit der FLN einer Änderung des Status der algerischen Juden zuzustimmen, bestärkten vielmehr die Sorgen, die mit der Unabhängigkeit eines muslimischen Algeriens verbunden waren.
Unabhängigkeit und die Zeit des Bürgerkrieges Bereits wenige Monate nach der Unterzeichnung des Abkommens von Evian am 18. März 1962, mit dem der algerischen Bevölkerung das Recht auf Selbstbestimmung zugesprochen wurde, hatte ein Großteil der jüdischen Bevölkerung das Land in Richtung Frankreich verlassen. Von den 130.000 bis 140.000 Juden blieben im Herbst 1962 nur noch einige Tausend. Als französische Staatsangehörige genossen die verbliebenen Juden einen rechtlichen Status, der sich deutlich von jenem der Bürger anderer nordafrikanischer Staaten unterschied. Dennoch kam das kulturelle und religiöse Leben der jüdischen Gemeinden in Algerien in den folgenden Jahren fast vollständig zum Erliegen. Die ökonomischen Reformen, die ab 1964 mit dem Ziel einer sozialistischen Selbstverwaltung durchgeführt wurden, verschlechterten die Lebensbedingungen der meisten jüdischen Familien. Anfang der 1970er Jahre sank die Zahl der algerischen Juden schließlich auf weniger als 1.000 Personen. Mit dem Beginn des algerischen Bürgerkrieges, der seit Ende 1991 zwischen der Regierung und islamistischen Gruppierungen geführt wurde, verließen sie bis auf wenige Dutzend das Land. Die Bildung verschiedener islamistischer Organisationen in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren spiegelte sich in einer zunehmenden Verbreitung antisemitischer Ideologie. Verschwörungstheorien zählen bis heute insbesondere im islamistischen Spektrum zum Repertoire politischer Agitation. Die radikale „Groupe Islamique Armé“ (GIA), aus der Ende der 1990er Jahre die „Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat“ (GSPC) hervorging, wird zudem für Anschläge verantwortlich gemacht, die sich gegen jüdische Ziele im Ausland richteten. Die algerische Regierung zeigte sich in den vergangenen Jahren bemüht, Besuche algerischer Juden, die nach Frankreich emigriert waren, zu ermöglichen. Ein Besuch von 130 jüdischen Emigranten im Mai 2005 stieß in der Öffentlichkeit allerdings auf sehr unterschiedliche Reaktionen. In der arabischsprachigen Presse wurde der Besuch von Juden angesichts der Ereignisse in Israel/Palästina teilweise heftig kritisiert.
Götz Nordbruch
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Literatur Michel Abitbol, The Jews of North Africa during the Second World War, Detroit 1989. André Chouraqi, Histoire des Juifs en Afrique du Nord, vol.1-2, Paris 1998. Michael M. Laskier, North African Jewry in the twentieth century, New York 1994. Robert Satloff, Among the righteous. Lost stories of the Holocaust’s long reach into Arab lands, New York 2006. Benjamin Stora, Les Trois Exils. Juifs d’Algérie, Paris 2006.
Argentinien Argentinien ist das lateinamerikanische Land mit der größten jüdischen Gemeinde, deren Geschichte bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Damals war Argentinien eine oligarchische Republik von Landbesitzern, die sich zur Hauptaufgabe die Förderung der Einwanderung aus Europa unter dem Slogan „Civilizar es poblar“ (Regieren heißt bevölkern) machte. Die Verfassung garantierte Freiheit von Religion, Ritus und Rede für alle, und die Möglichkeiten für Arbeit und Handel waren sehr gut. 1876 wurde das Einwanderungs- und Niederlassungsgesetz verabschiedet, das die Rechte der Immigranten festlegte und von ihnen als Gegenleistung erwartete, dass sie arbeitsam waren und sich moralisch einwandfrei verhielten. Das Gesetz sicherte die Bereitstellung von Mitteln zur Niederlassung und zur Anschaffung von Produktionsmitteln. Das Ausbildungsgesetz von 1884 etablierte ein säkulares Bildungssystem. 1881/82 lösten die Pogrome in Russland eine Massenauswanderung aus, etwa 70.000 Juden ließen sich in Argentinien nieder. Ab 1889 folgte eine weitere jüdische Migration, die durch die Reorganisation der argentinischen Einwanderungsagenturen in Europa gefördert war. Zu dieser Zeit suchte Baron Maurice de Hirsch langfristige Möglichkeiten der Auswanderung der Juden aus Osteuropa. Juden wurden ermuntert, sich in landwirtschaftlichen Siedlungsprojekten niederzulassen. Doch insgesamt arbeiteten nur etwa 35.000 Juden in solchen Agrokolonien, weniger als ein Drittel der gesamten jüdischen Bevölkerung, die im Jahr 1914 115.600 Personen umfasste. 1925 betrug die Zahl der jüdischen Einwohner bereits 162.000 Personen und nur 33.135 waren in landwirtschaftlichen Siedlungsprojekten tätig. In den 1890er Jahren setzte die Immigration sephardischer Juden aus dem osmanischen Reich und den arabischen Ländern (Syrien, Libanon, Marokko) ein, ihre Gesamtzahl betrug nur ein Zehntel der Zahl der aschkenasischen Juden. Nach dem Ersten Weltkrieg, als die USA Immigrationsbeschränkungen einführten, verstärkte sich insbesondere bei Juden aus Polen das Interesse an Argentinien als Einwanderungsland. Ab 1930 ließ die Immigration infolge restriktiver Gesetze nach und 1938 kam sie vollkommen zum Erliegen. 1934 hatte Argentinien knapp eine Viertelmillion jüdische Einwohner, mehr als die Hälfte der jüdischen Wohngegenden konzentrierten sich in Buenos Aires und seinen Vorstädten. Trotz politischer Beschränkungen konnten zwischen 1933 und 1945 etwa 30.000 Juden zumeist aus Mittel- und Osteuropa nach Argentinien einwandern.
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Antisemitismus in Argentinien Neben der grundsätzlichen Bereitschaft seit dem 19. Jahrhundert, Juden in Argentinien aufzunehmen, entwickelten sich zeitgleich antisemitische Einstellungen, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer wieder zum Vorschein kamen. Die erste öffentliche Manifestation von Antisemitismus war das 1890 publizierte Buch „La Bolsa“ (Die Börse). Darin wurden Juden als Bankiers, Wucherer und Kapitalisten gezeichnet, die das Volk ausbeuteten. Von da an kam es oft im Zusammenhang mit Äußerungen sozialer Unzufriedenheit zu antisemitischen Ausschreitungen. 1910 erschoss ein Anarchist jüdischer Herkunft, Simon Radovitzky, während eines Arbeiterstreiks einen Polizisten. Infolge dieses Ereignisses wurden Juden pauschal beschuldigt, linke Anarchisten und Kommunisten zu sein, die das gesellschaftliche und politische Establishment in Argentinien zerstören wollten. Die Tendenz, Juden der linken subversiven Aufwiegelei zu beschuldigen, fand einige Jahre später, unter der liberalen Herrschaft von Präsident Marcelo Alvear, einen weitaus gewalttätigeren Ausdruck. In Argentinien herrschte, wie in den USA, Furcht vor der Ausbreitung des Kommunismus, die schließlich zu den als „La Semana Tragica“ (Die tragische Woche) bekannten Ereignissen im Januar 1919 führte. Eine Arbeiterdemonstration wurde mit Gewalt niedergeschlagen, in der Folge kam es in Buenos Aires zum Generalstreik, der sich bis in die Städte im Landesinneren ausbreitete. Die Regierung beschloss, zur Zerschlagung des Streiks das Militär einzusetzen, und die bewaffneten Kräfte wurden durch Trupps „patriotischer“ Bürger unterstützt. Diese drangen in die Wohnviertel der Juden (die als „Russen“ bezeichnet und mit Kommunisten gleichgesetzt wurden) ein, schlugen wahllos Anwohner nieder und zerstörten öffentliches und privates Eigentum, soziale Vereine und Bibliotheken. Während des Ersten Weltkrieges gab es Forderungen, die Einwanderung zu beschränken, und in den 1920er Jahren erhielten argentinische Konsuln im Ausland die Anweisung, Einwanderungsgenehmigungen nur an „geeignete“ Immigranten, insbesondere an Landwirte auszustellen. Die bis dahin möglich gewesene unbeschränkte jüdische Einwanderung war weder von den Organisatoren der Siedlungsprojekte noch von den jüdischen Einwanderungshilfsstellen voll ausgenutzt worden. In den 1930er und 1940er Jahren, während der Diktatur des Generals Jose P. Uriburu und der oligarchischen bzw. liberalen Regimes der Präsidenten General Agustin P. Jusot, Roberte M. Ortiz und Ramon Castillo, nahm der Antisemitismus zu. Ein durch General Jose P. Uriburu geführter Militärputsch machte 1930 dem seit 1916 herrschenden demokratisch-populistischen Regime ein Ende. 1932 wurden die Tore Argentiniens für die unbeschränkte Immigration geschlossen. Die neue Gesetzgebung zielte auf die Auswahl von Landwirten und von Personen ab, die bereits Familien im Land hatten und die die Verantwortung für die Neuankommenden übernehmen sollten. Eine andere Möglichkeit für Juden, in das Land zu kommen, war die illegale Einreise. Diese Tendenz, die Tore speziell für jüdische Flüchtlinge aus Europa zu schließen, verschärfte sich nach der Evian-Konferenz im Juli 1938. Durch zwei nach der Konferenz verabschiedete Gesetze wurden die Grenzen Argentinien hermetisch geschlossen, trotz der Tatsache, dass der argentinische Repräsentant in Evian, Le Breton, die liberalen Gesetze und die Gastfreundschaft seines Landes gegenüber Flüchtlingen betont hatte – wie übrigens die meisten anderen Gesandten aus Lateinamerika auch. In jenen Jahren war
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Antisemitismus einer der Gründe dafür, dass potentielle Aufnahmeländer wie Argentinien ihre Grenzen schlossen. Argentinien blieb während des Zweiten Weltkrieges aus wirtschaftlichen und politischen Gründen fast bis ans Kriegsende neutral. Dagegen hatte die Abweisung jüdischer Flüchtlinge ihre Ursache hauptsächlich in Vorbehalten ethnischer, kultureller und religiöser Natur. Es kam zu einer offenen politischen Debatte zwischen „Neutralisten“ und „Interventionisten“ über die Position, die Argentinien im Krieg einnehmen sollte. Die „Neutralisten“, hauptsächlich, aber nicht ausschließlich Nationalisten, Faschisten und Repräsentanten der katholischen Kirche, waren gegen eine Beteiligung Argentiniens. Die „Interventionisten“, meist Liberale und Sozialisten, forderten den Kriegseintritt auf Seiten der Alliierten. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 stimmten auch Kommunisten in diese Forderung ein. Die katholische Kirche hatte in den 1930er und 1940er Jahren enormen öffentlichen Einfluss. Maßgebliche katholische Intellektuelle, Priester wie Laien, waren mit Predigten und antisemitischen Reden, Artikeln und Büchern entscheidend an der Verbreitung antisemitischer Trends beteiligt und beeinflussten die argentinische Gesellschaft durch Schriften, die von katholischen und nationalistischen Verlagen gedruckt wurden und bis heute Neuauflagen erfahren. Die traditionellen katholischen Aussagen über Juden waren ambivalent bis feindselig. Zu diesen Bildern kamen nun dem modernen Antisemitismus entstammende ideologische, rassistische und religiöse Motive hinzu, darunter die Beschuldigung der jüdischen Weltverschwörung mit dem Ziel der Weltherrschaft. Antisemitismus war in den höheren Rängen der katholischen Kirche, die entscheidenden Einfluss auf die öffentliche Meinung hatte, eine anerkannte Norm. Während der 1930er und 1940er Jahre taten sich einige Priester und Laien in Veröffentlichungen durch radikalen Antisemitismus hervor, darunter Julio Meinvielle, Leonardo Castellani, Virgilio Filippo, Martinez Zuviria (alias Hugo Wast). Die Ansichten dieser Intellektuellen standen im Einklang mit den Normen der argentinischen Kirche. Die Auswirkungen der Ereignisse im nationalsozialistischen Deutschland und in Europa waren in Argentinien deutlich zu spüren. In Reaktion auf die neuen Herausforderungen entwickelte sich eine neue katholische Ideologie, bekannt als „catolicismo integral“ (integraler Katholizismus), die für sich in Anspruch nahm, alle Sphären des Lebens einzuschließen und katholischen Gläubigen Führung in allen Lebensfragen zu bieten. Diese katholische Ideologie war aufgrund ihres anti-pluralistischen, antiliberalen und antikommunistischen Ansatzes besonders feindselig gegenüber Juden, denn diese wurden mit Liberalismus und Kommunismus identifiziert und somit als Bedrohung für die katholischen Ideale gesehen. Ihre wachsende Bedeutung und ihren Einfluss nutzte die argentinische Kirche nicht, um humanitäres Engagement für die Juden zu zeigen. Ebenso wenig hielt sie ihre antisemitischen intellektuellen Priester und Intellektuelle davon ab, die Gesellschaft weiterhin mit antijüdischen Schriften und Predigten zu beeinflussen. Antisemitismus war auch eines der Elemente der Ideologie der nationalistischen Bewegung und verband sich mit deren charakteristischen antiliberalen, antidemokratischen und antikommunistischen Haltungen, die zum Teil faschistische Tendenzen aufwiesen. In allen Schriften über die Ideologie und politische Einstellung der hochgradig ausdiffe-
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renzierten nationalistischen Rechten in Argentinien wird übereinstimmend festgestellt, dass deren ideologische Inspiration aus Europa kam. Die verschiedenen Gruppen übernahmen Positionen, die zum Teil lateinamerikanisch, zum Teil faschistisch und zum Teil nationalsozialistisch waren. Den Antisemitismus teilten sie fast alle. Die antisemitische Dimension tauchte in nationalistischen Publikationen als obsessiv verfolgtes Thema auf. In vielen Bereichen bestand zwischen den Gruppen vollkommener Konsens, und die meisten definierten sich als katholisch. Sie sahen Juden als gefährliche Fremde, denen der Zugang nach Argentinien verweigert werden müsse. Sie schöpften dabei aus den antijüdischen Traditionen des Christentums und den Schriften der europäischen Rechten. Die 1943 bis 1946 herrschende Militärregierung, in der nationalistische und katholische Persönlichkeiten Schlüsselpositionen besetzten, führte die katholische Lehre in Schulen als Pflichtfach wieder ein und etablierte vorübergehend antisemitische Maßnahmen. So wurden das Schächten und der Verkauf von koscherem Fleisch untersagt, jiddische Zeitungen wurden verboten. Im Oktober 1943 intervenierte die amerikanische Regierung, was zu einer Verbesserung der Situation führte.
Antisemitismus seit 1946 In der Geschichte Argentiniens während des 20. Jahrhunderts wechselten sich demokratische und diktatorische Regierungen häufig ab: 1930, 1943, 1966 und 1976 kam es zu Staatsstreichen, und die letzte Diktatur dauerte von 1976 bis 1983. Nach einigen Jahren der Militärdiktatur kehrte das Land stets wieder zu demokratischen Wahlen und liberalen Regierungen zurück, bis zur nächsten militärischen Intervention. Die historische Forschung zeigt, dass Antisemitismus nicht nur in den Zeiten der Diktaturen in Argentiniens Politik und Gesellschaft präsent war, sondern auch in den demokratischen Phasen. Einer der Gründe ist, dass antisemitisch eingestellte Persönlichkeiten auch in demokratischen Regierungen in Schlüsselpositionen saßen. Aus dieser Position heraus konnten sie Einschränkungen gegenüber der jüdischen Einwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg durchsetzen und nationalistische Ideen verbreiten, in denen Antisemitismus ein Kernelement war. Einige Historiker meinen, dass die Duldung und politische Integration nationalistisch-faschistischer Ideen und Gruppierungen durch liberale und demokratische Regierungen eine Strategie war, Hürden für linke Gruppen und deren soziale und politische Forderungen zu errichten. Während der demokratisch gewählten peronistischen Regierung (1946-1955) kamen viele Nationalsozialisten nach Argentinien. Diese Regierung war nicht antisemitisch: sie hatte ein Interesse daran, Wissenschaftler und Fachleute nach Argentinien zu bringen. Allerdings besetzten Antisemiten während der Peron-Regierung wichtige Positionen in den Einwanderungsbehörden. Antisemiten hatten auch während der Militärregierung von 1955 wichtige Stellen besetzt, ebenso unter dem demokratischen Präsidenten Arturo Frondizi in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren, als in Militärkreisen antikommunistische Ideen gelehrt wurden, unter anderem mit einem Textbuch des Nationalisten und Antisemiten Jordan Bruno Genta. Eines der Hauptthemen dieses Buches aus dem Jahr 1965 war der Kampf gegen den Kommunismus, wobei Juden und Kommunisten als die gefährlichsten Personengruppen beschrieben wurden. Durch solche Kanäle verbreiteten sich antisemitische Ideen sowohl in der Zivilgesellschaft als auch im Militär.
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Nach der Festnahme Adolf Eichmanns durch den israelischen Mossad im Jahr 1961 kam es zu einer Welle gewalttätigen Antisemitismus, die mehrere Tote und Verletzte forderte. In diesen Tagen war „Tacuara“ sehr aktiv, eine seit den 1930er Jahren bestehende rechte katholische Organisation, deren Berater einer der antisemitischsten und bekanntesten katholischen Priester, Pater Julio Meinvielle war. „Tacuara“ führte gewalttätige Aktionen durch, darunter die Gefangennahme und Ermordung eines Juden. Antisemitische Ideen wurden während der Diktatur von General Juan Carlos Ongania (ab 1966) weiter verbreitet, als zahlreiche ultrarechte und antisemitische Persönlichkeiten in der Regierung saßen. Eine davon war Horacio Enrique Green, der für die „Reinigung der moralischen Atmosphäre“ zuständig war. Er unterstützte rechte nationalistische und antisemitische Gruppen, die nun ganz offen in Erscheinung traten. 1971 tauchte ein Pamphlet mit dem Titel „Plan Andinia“ (Andenplan) auf, eine auf die argentinische Realität zugeschnittene Adaption der „Protokolle der Weisen von Zion“. Das von dem antisemitischen rechten Journalisten Walter Beveraggi Allende verfasste Werk wurde in politischen Kreisen ebenso aufgenommen wie in der Öffentlichkeit und beim Militär. In „Plan Andinia“ ging es um die Idee einer jüdischen Verschwörung mit dem Ziel der Eroberung von Südargentinien zum Aufbau eines eigenen jüdischen Staates. Diese Verleumdung wurde in Militärkreisen wie eine für die bewaffneten Kräfte relevante Tatsache zur Kenntnis genommen. Auf diese Weise versuchte man die Ansicht zu etablieren, dass alle Juden für das Land gefährlich seien. Als 1973 die peronistische Partei die Wahlen gewann, eine demokratische Regierung eingesetzt wurde und der legendäre Juan D. Peron aus dem Exil in Madrid zurückkehren durfte, in dem er seit 1955 gewesen war, folgten turbulente Jahre. Ideologische und politische Konflikte innerhalb der peronistischen Bewegung und zwischen verschiedenen polarisierten rechten und linken Gruppen eröffneten eine Phase inneren Aufruhrs, die bald zu einem bewaffneten Guerilla-Konflikt wurde. Auf der einen Seite kämpften bewaffnete linke Gruppen („Montoneros“ und „Ejercito Revolutionario del Pueblo“, ERP) mit Guerilla-Methoden für die Durchsetzung sozialer und politischer Ziele. Auf der anderen Seite, und hauptsächlich während der Amtszeit von Perons zweiter Frau, Maria Estela de Peron, die nach seinem Tod ab 1974 regierte, führte Jose Lopez Rega, der starke Mann des Regimes, einen blutigen Krieg gegen jegliche Opposition mit Hilfe einer bewaffneten, rechten paramilitärischen Truppe namens „La triple A“. Dieser Staatsterror beendete den größten Teil des linken bewaffneten Guerillakampfes. Die Organisation „La triple A“ war nicht nur antikommunistisch, sondern auch massiv antisemitisch. In dieser Phase begannen Menschen zu „verschwinden“, das heißt, sie wurden wegen ihrer Ideen oder weil sie zu einer bestimmten ideologischen oder bewaffneten Gruppe gehörten, ermordet. Juden waren das Ziel dieser antikommunistischen und antilinken blutigen, durch Regierungskreise geführten Kampagne. Es kam zu Dutzenden antisemitischen Gewalttaten, die sich insbesondere im Jahr 1975 häuften. Die Feierlichkeiten zur Erinnerung an den Warschauer Ghettoaufstand und den Holocaust, die am 14. April 1975 stattfinden sollten, wurden verboten. Als Vorwand für das Verbot diente die Begründung, dass die Sicherheit von Versammlungen nicht gewährleistet werden könne.
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1976 folgte ein Militärputsch, der diese Regierung beendete, aber eine weitaus blutigere Phase folgen ließ. Eine bis 1983 währende Militärregierung wurde errichtet. Die Militärjunta installierte den Staatsterrorismus. Eine Periode begann, die die Junta „Guerra Sucia“ (Schmutziger Krieg) nannte und die bis heute unter diesem Namen bekannt ist. Das bedeutete die Beseitigung und Ermordung jeglicher Opposition. Menschen „verschwanden“ und wurden umgebracht, nicht nur, weil sie zu Guerillagruppen gehörten. Es reichte schon, wenn man ihren Namen im Adressbuch eines Freundes fand, der einer Guerillagruppe angehörte und verhaftet worden war. Über die Gesamtzahl der Verschwundenen besteht bis heute kein Konsens, und die Angaben zu den Zahlen dieser zumeist jungen Opfer schwanken zwischen 15.000 und 30.000. Nach Auskunft von Menschenrechtsorganisationen waren 1.800 bis 2.000 der Verschwundenen Juden, die als Mitglieder linker Organisationen oder als unschuldige Bürger verhaftetet wurden. Antisemitismus in Argentinien manifestiert sich bis heute in unterschiedlichen Formen. Der Bombenanschlag 1994 auf das jüdische Gemeindezentrum AMIA (Associacion Mutual Israelita Argentina), als Höhepunkt antisemitischer Gewalt, bei dem fast 100 Menschen starben und mehr als 200 verwundet wurden, führte dazu, dass Antisemitismus an sozialer Akzeptanz verlor. Obwohl an dem Anschlag iranische Fundamentalisten beteiligt waren, wäre er nicht möglich gewesen ohne ein argentinisches Netz von Menschen, die nicht vor Gericht gebracht worden sind. Straffreiheit antisemitischer Manifestationen war in Argentinien die Regel. 2005 wurden mehr als 500 antisemitische Vorfälle gezählt, die meisten davon Graffiti und Propagandadelikte, aber auch einige Gewalttaten, verübt von antisemitischen Gruppierungen oder Einzelpersonen. Zwei antisemitische Gruppen, „Partido Nuevo Orden Social“ und „Partido Nuevo Triunfo“, waren noch 2007 in Argentinien mit neonazistischen Programmen aktiv. Argentinien kann im Großen und Ganzen nicht als eine antisemitische Gesellschaft bezeichnet werden, doch antisemitische Vorfälle sind nicht bestraft worden und die Täter genossen Straffreiheit. Zwei wichtige religiöse und ideologische Strömungen haben sich in Argentinien entwickelt: Die erste ist das Ergebnis einer tief verwurzelten antisemitischen Tradition, die sich aus den katholischen theologischen Lehren und dem bis zur Nostra-Aetate-Erklärung von 1965 verbreiteten katholischen Antijudaismus speiste. Die zweite Strömung antisemitischer Ideen entstammt dem Einfluss rechter und faschistischer Intellektueller aus Europa, insbesondere aus Frankreich und Spanien seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Der intellektuelle Einfluss aus Europa (etwa von Maurice Barres und Charles Maurras) in der Zwischenkriegszeit ergänzte den fest etablierten theologischen Antijudaismus in der argentinischen Gesellschaft um eine neue Dimension, den modernen Antisemitismus. Der nationalsozialistische Rassenantisemitismus hatte in Argentinien keinen besonderen Einfluss, da er nicht mit der offiziellen katholischen Lehre vereinbar war. Für die geistlichen Intellektuellen war er nicht akzeptabel. Viel einflussreicher waren der traditionelle katholische Antijudaismus und der moderne Antisemitismus mit Topoi, die Juden als Gefahr und Urheber einer internationalen Verschwörung gegen die Menschheit zeichneten, die die Welt als Kommunisten und zugleich als Kapitalisten beherrschen wollten. Graciela Ben-Dror Übersetzt aus dem Englischen von Claudia Curio
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Literatur Haim Avni, Argentina y la historia de la immigración judía, 1810–1950, Jerusalem 1983. Graciela Ben-Dror, La Iglesia Catolica ante el Holocausto. Espana y America Latina, Madrid 2003. Graciela Ben-Dror, Catolicos, Nazis y Judios. La Iglesia Catolica en los Tiempos del Tercer Reich, Buenos Aires 2003. Graciela Ben-Dror, Argentina, in: Dina Porat and Roni Stauber (Hrsg.), Antisemitism Worldwide, The Stephen Roth Institute for the Study of Antisemitism and Racism, Tel-Aviv University 2005. Edy Kaufman, Jewish Victims of Repression in Argentina under Military Rule (1976-1983), in: Holocaust and Genocide Studies, 4(1989), S. 479-482. Sandra McGee Deutsch, Las Derechas. The Extreme Right in Argentina, Brazil and Chile 1890–1939, California 1999. David Rock, Sandra Mc Gee Deutsch u.a., La derecha argentina. Nacionalistas, neo-liberales, militares y clericales, Buenos Aires 2001. Leonardo Senkman (Hrsg.), El antisemitismo en Argentina, Buenos Aires 1989.
Australien Die Ankunft der „First Fleet“ im Jahre 1788 signalisierte den Beginn der europäischen Besiedlung Australiens, von den Engländern als „terra nullius“ (herrenloses Land) deklariert. Kolonialismus und Rassismus sanktionierten den Umgang mit den indigenen Landesbewohnern. Die Aborigenes wurden zu Sklaven degradiert, missioniert, vielfach ihrer Kinder beraubt, in „Strafaktionen“ massakriert, in einigen Gebieten sogar gänzlich ausgerottet. Für die Juden ebnete die Kolonisierung den Weg, sich am Rand der Diaspora anzusiedeln. Zwischen Aborigenes und Juden haben sich, von Ausnahmen abgesehen, keine engen Beziehungen entwickelt. Einzigartig ist ein Ereignis, an das sich Juden und Aborigenes erst jüngst erinnert haben – auf einer gemeinsamen Gedenkfeier im Melbourner Holocaust Museum: Im November 1938 protestierten Aborigines vor dem deutschen Generalkonsulat in Melbourne gegen die Pogrome der „Reichskristallnacht“. Jüdische Gesten der Solidarität, Rückblicke auf den Völkermord und Proteste gegen die fortschreitende Diffamierung und Diskriminierung der „First Australians“ zeichneten sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab. Entfernung und Isolierung haben die geographischen und politischen, sozialen und kulturellen Landschaften Australiens geprägt. Die „tyranny of distance“, von der der Historiker Geoffrey Blainey spricht, spiegelt sich auch in der Geschichte des australischen Antisemitismus wider. In Australien hat es zu keinem Zeitpunkt einen institutionellen Antisemitismus gegeben, geschweige denn eine „Judenfrage“, die mit Judengesetzen oder Vorschriften, Verfolgungen oder Vertreibungen, Pogromen oder Morden beantwortet wurde. Antisemitismus im öffentlichen Leben gilt heute als „un-acceptable“, im Selbstverständnis der meisten Australier als „un-Australian“.
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Jüdische Gruppen, die seit 1788 in Schüben ankamen, wurden schnell in die Einwanderungsgesellschaft integriert. Von Beginn an bis heute beträgt ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung nicht mehr als 0,5 Prozent. Ein ungeschriebenes Reglement legte fest, das Ansteigen der jüdischen Bevölkerung der allgemeinen Wachstumsrate anzupassen. Umstritten ist, ob dieser demographische Befund die Marginalität des Antisemitismus erklärt. Judenfeindliche Kampagnen setzten erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein. Sie richteten sich vorwiegend gegen die Einwanderung osteuropäischer Juden und beinhalteten fremdenfeindliche Ressentiments. Die Verbindung von Judenhass und Fremdenhass bestimmte fortan die Funktion und Ausrichtung des Antisemitismus. Er beschränkte sich auf einen „Straßen-Antisemitismus“, der auf die Diffamierung der Einwanderer abzielte. Die sporadischen Agitationen blieben nicht ohne Folgen: Sie wurden bei den Entscheidungsprozessen in der staatlichen Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik berücksichtigt, wenn es darum ging, Quoten und Auswahlkriterien festzulegen. An diesem Grundprinzip hat sich bis heute nichts geändert. Die Behauptung, dass Australien ein „offenes“ oder „freies“ Einwanderungsland ist, fällt in den Bereich der historischen Legende.
Historischer Rückblick: Der alte Antisemitismus Unter den insgesamt 151.000 Sträflingen (convicts), die ab 1788 ankamen, waren 800 jüdischer Herkunft, die in England verurteilt worden waren und zur Verbüßung der Haftstrafen in die neuen Strafkolonien von New South Wales und Van Diemen Land deportiert wurden. Die meisten stammten aus London, rekrutierten sich aus unteren, ärmlichen Schichten. Die jüdischen Sträflinge besaßen nicht mehr das Recht, die alten Gesetze und Gebräuche ihrer sephardischen und aschkenasischen Vorfahren zu befolgen. Die christlichen Kirchen verspürten damals keine Neigung, die Entfaltung eines jüdischen Lebens zu tolerieren, geschweige denn zu propagieren. Ihre traditionelle Strategie schrieb vor, die religiöse „Judenfrage“ mit christlichen Taufen und Eheschließungen zu lösen. Erst sehr viel später meldeten sich Repräsentanten der Kirchen zu Wort, verurteilten das Aufflammen des Antisemitismus, plädierten für die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge und beteiligten sich nach Auschwitz an den christlich-jüdischen Dialogen. Religiös motivierte Stereotypen wurden jedoch weiter tradiert, vor allem in fundamentalistischen Gemeinden und Sekten. In den 1830er Jahren trafen die freien Siedler (free settlers) aus England ein, die den Grundstein für die Etablierung kleiner, verstreuter Gemeinden legten. Synagogen, Friedhöfe und Gemeindeeinrichtungen wurden in Sydney und Melbourne, Hobart und Launcheston, dann in Adelaide und einigen anderen Orten errichtet. Der Rhythmus und die Riten des jüdischen Lebens orientierten sich an den Vorbildern des angelsächsischen Judentums, das jüdische Tradition und britische Kultur verband und sich als moderne Orthodoxie präsentierte. Bis zum Zweiten Weltkrieg dominierte die Bindung an das britische Judentum. Es dauerte nicht lange, bis die freigelassenen Sträflinge und freie Siedler den Prozess der Akkulturation abschlossen und sich als Australier jüdischer Herkunft verstanden und dabei oft betonten, dass sie mehr „australisch“ als „jüdisch“ waren. Anders als in Europa
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mussten die jüdischen Einwanderer nicht aus dem Ghetto ausbrechen und für ihre Bürgerrechte kämpfen. Emanzipation und Integration vollzogen sich im Zuge des allgemeinen Demokratisierungsprozesses. Insofern konnte es keine „moderne“ Judengegnerschaft geben, die gegen Emanzipationsgesetze gerichtet war. Zudem hat es auf dem entfernten Kontinent weder blutige Revolutionen noch nationale Katastrophen gegeben, für die die Juden zur Verantwortung gezogen werden konnten. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Einwanderer aus Mitteleuropa aufgenommen. Etliche versuchten in ländlichen Gebieten Fuß zu fassen. Die Entfernungen und Isolierungen begrenzten schnell die Entfaltung eines australischen „Landjudentums“. In den urbanen Zentren von Melbourne und Sydney konzentrierten sich die „Stadtjuden“. Im Jahre 1841 lebten in Melbourne nicht mehr als 57 Juden, 1850 waren es 200, zehn Jahre später bereits 2.000. Um die Jahrhundertwende lag die Zahl bei knapp 6.000, 1921 stieg die Gesamtzahl auf 21.615. Im Jahre 1933 betrug sie 23.000 und entsprach einem Anteil von 0,5 Prozent. Ende des 19. Jahrhunderts traf die vierte Einwanderergruppe ein, Flüchtlinge aus Osteuropa, vertrieben von Armut und Not, Verfolgungen und Pogromen im russischen Zarenreich. Der Exodus der Ostjuden setzte sich nach den revolutionären Umwälzungen und Ausschreitungen in Russland und dem Aufflammen des polnischen Judenhasses Ende des Ersten Weltkrieges fort. Etwa 3.000 Juden aus Polen und Russland fanden bis 1923 in Australien eine neue Heimat. Sie mussten familiäre Beziehungen und besondere berufliche Qualifikationen nachweisen und über beträchtliche finanzielle Ressourcen verfügen, um die teuren Schiffspassagen und Einreisepapiere zu bezahlen. Die Ankunft der Ostjuden löste die erste antisemitische Welle aus. Eine wirtschaftliche Depression, soziale Unzufriedenheit und das Erwachen des australischen Nationalismus bereiteten den Nährboden für die juden- und fremdenfeindliche Rhetorik. Ab 1891 erschienen in der Presse Artikel, Pamphlete und Karikaturen, wobei sich das „Bulletin“ und „Smith Weekly“ besonders auszeichneten. In vielen Fällen fehlte der direkte Hinweis auf Juden. Die verbalen und visuellen Darstellungen ließen jedoch keinen Zweifel aufkommen, gegen wen die Attacken gerichtet waren. Besonders eindrucksvoll wurde das in der Bildsprache der Karikaturen dargestellt – mit widerwärtigen Gestalten, krummen Nasen, geographischen Hinweisen und dem „Juden-Jargon“, der die Aussprüche und Dialoge markierte. Die Palette der Stereotypen reichte von „gottlosen Kreaturen“, „Anti-Christen“ über „Geldverleiher“, „Wucherer“ bis zu „Ausbeutern“ und „Weltverschwörern“. Nur gelegentlich tauchten Begriffe auf, die aus dem Vokabular des modernen Rassismus stammten. Im Zentrum der Attacken standen die aktuellen xenophoben Symbolisierungen. Den fremdartigen Ostjuden wurde die Fähigkeit und Bereitschaft abgesprochen, sich in die australische Gesellschaft zu integrieren. Man warf ihnen vor, australische Wertvorstellungen zu unterminieren, Arbeitsplätze zu zerstören und – von Profitgier getrieben – sich mit finanziellen Spekulationen und unlauteren Geschäftspraktiken auf Kosten der Australier zu bereichern. Sie wurden als „bedrohlich“, „untauglich“ und „unerwünscht“ klassifiziert. Diese Begriffe des „Straßen-Antisemitismus“ fanden Einzug in die Amtssprache der staatlichen Einwanderungspolitik. Im Jahre 1901 etablierte sich die Australische Föderation, die die fünf britischen Kolonien (in Australien) in einen Bundesstaat integrierte. Die Herausbildung des National-
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staates wurde durch die Verkündung einer neuen Doktrin zementiert, die unter dem Namen „White Australia Policy“ in die Geschichte eingegangen ist und bis Mitte des 20. Jahrhunderts tonangebend blieb. Oberste Priorität wurde britischen Immigranten eingeräumt. Quoten und Auswahlkriterien entschieden über Aufnahme oder Ablehnung von Bewerbern aus anderen Ländern. Die Leitlinien der „White Australia Policy“ untersagten die Einwanderung von Gruppen, denen man auf Grund ihrer Hautfarbe oder Verhaltensweisen die Fähigkeit zur Assimilierung absprach. In die Kategorie der „untauglichen“ und „unerwünschten“ Immigranten fielen jüdische Bewerber, vor allem mittellose und unqualifizierte Juden aus Polen. Die Weltwirtschaftskrise brachte Ende der 1920er Jahre die Einwanderung fast völlig zum Stillstand. In dieser Krisenphase sozialer Unruhe und politischer Proteste formierte sich in Australien ein organisierter Rechtsradikalismus, der im politischen Leben bis heute eine marginale Erscheinung geblieben ist. Die Nachrichten aus Europa über den Aufstieg des Faschismus und Nationalsozialismus beflügelten die Wortführer und Gefolgsleute der neuen Bewegungen. In New South Wales etablierte sich 1931 die „New Guard“ (Neue Garde), kommandiert von Eric Campbell. Die „Social Credit Movement“ (Soziale Kreditbewegung), unter der Führung eines pensionierten britischen Offiziers, eröffnete den Feldzug gegen die Banken, die – von Juden kontrolliert – angeklagt wurden, durch ihr Kreditmonopol Not und Elend verursacht zu haben. Die Parolen stießen auf wenig Resonanz. Das galt auch für die antisemitischen Botschaften der „Guild of Watchmen“ (Gilde der Wächter) oder „Australia Unity League“ (Australische Einheitsliga). Scharfe rassistische Töne wurden in der „British Australia Association“ (BritischAustralische Vereinigung) und „Australia First Movement“ (Australien Über Alles) angeschlagen. In diesen Kreisen wurde die Hetzschrift „Die Protokolle der Weisen von Zion“ verbreitet, die nun auch in Australien zum Beweis der „jüdischen Weltverschwörung“ benötigt wurde und schon längst in englischer Übersetzung vorlag. Australische Juden haben bis zum Zweiten Weltkrieg keinen Anlass gesehen, sich gegen das sporadische Aufflammen des „Straßen-Antisemitismus“ zur Wehr zu setzen. Sie hatten sich fest in die Gesellschaft integriert und fühlten sich in den mittleren und oberen Schichten des Bürgertums zu Hause und sicher. Vielen ist der Aufstieg in Spitzenpositionen gelungen. Zwei Paradebeispiele belegen das: Sir John Monash – Sohn einer Einwandererfamilie aus Preußen und Polen – kommandierte im Ersten Weltkrieg die „Australian Imperial Forces“. Sir Isaac Albert Isaacs – Sohn armer polnischer Emigranten – wurde 1930 zum Generalgouverneur ernannt und war der erste in Australien geborene höchste Repräsentant der britischen Krone. So wie die meisten Australier begrüßten und unterstützten auch die Juden die „White Australia Policy“. Das manifestierte sich auch in der Zurückhaltung, die australische Regierung zu bitten, die restriktiven Einwanderungsquoten und Auswahlkriterien zu verändern. Erst in den Vorkriegsjahren änderte sich diese Einstellung, am Vorabend des Holocaust. Die fünfte jüdische Einwanderergruppe rekrutierte sich aus den Flüchtlingen aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei. Auch ihre Aufnahme wurde durch Restriktionen begrenzt. 1933 proklamierte die australische Regierung, alles zu unternehmen, um den „ernsthaften Zustrom“ von Flüchtlingen zu verhindern. Weniger als 1.000 Einreiseerlaubnisse (landing permits) wurden bis 1938 verteilt. Auf der internationalen
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Flüchtlingskonferenz von Evian (1938) rechtfertigte der Delegierte Australiens, Thomas W. White, die Restriktionen mit dem viel zitierten Satz: „Da wir kein wirkliches Rasseproblem haben, verspüren wir auch keine Neigung, durch eine ausländische Masseneinwanderung eines zu importieren.“ Knapp 9.000 Flüchtlinge fanden bis Ausbruch des Krieges Zuflucht in Australien. Als sie ankamen, gerieten sie gelegentlich ins Schussfeld antisemitischer, rassistischer und antideutscher Angriffe: Sie galten als Juden und Deutsche, Flüchtlinge und Fremde. Im Volksmund wurden sie als „reffos“ (Umgangssprache, Abkürzung für „refugees“), „bloody reffos“ oder „reffo-Jews“ tituliert und von den australischen Juden eindringlich ermahnt, sich schnellstens zu assimilieren. Mit Kriegsbeginn wurden die Neuankömmlinge als „feindliche Ausländer“ (enemy aliens) deklariert und im „Interesse der nationalen Sicherheit“ einer Reihe von Restriktionen unterworfen, die von der Beschlagnahme von Ferngläsern und Photoapparaten über die Postzensur bis zur Einschränkungen der persönlichen Bewegungsfreiheit und der beruflichen Aktivität reichten. Einige fielen Denunziationen zum Opfer und wurden in Internierungslager eingesperrt, wo sie wieder deutsche Nazis und Antisemiten trafen. Diese Erfahrungen machten auch die „Dunera Boys“, mehr als 2.000 deutsch-jüdische Flüchtlinge, die 1940 in England verhaftet und zur Internierung nach Australien abgeschoben wurden. Als sich die Nachrichten aus Europa über die Judenmorde verbreiteten, schloss sich die Regierung den alliierten Deklarationen an, die die deutsche Vernichtungspolitik verurteilten und ankündigten, die Kriegsverbrecher zur Verantwortung zu ziehen. In der jüdischen Gemeinde beeilte man sich, Rettungskommissionen zu errichten und sich auf die Aufnahme der Überlebenden der „jüdischen Katastrophe“ vorzubereiten. In der breiten Öffentlichkeit hingegen dominierte nach wie vor der Unwille, jüdischen Flüchtlingen Asyl zu gewähren. Im Jahre 1943 sprachen sich einer Meinungsumfrage zufolge 75 Prozent aller Befragten gegen eine „Masseneinwanderung“ aus. Die sechste jüdische Einwanderergruppe waren die Überlebenden des Holocaust. Auch sie wurden mit Protesten begrüßt, die die Einwanderungswege verengten. 1945 einigten sich Regierung und Repräsentanten der jüdischen Gemeinde auf ein „humanitäres Programm“, das die Aufnahme von 2.000 Holocaust-Opfern vorsah, unter der Bedingung, dass Familienangehörige bereits im Ausland lebten. Schon die Ankündigung löste Proteste aus, die sich schnell zu einer Anti-Flüchtlings-Hysterie ausweiteten. Sie manifestierte sich in Reden und Resolutionen, in Vereinen und Verbänden, in der Tagespresse und in den beliebten Karikaturen. Als Reaktion führte die Regierung ein Quotensystem ein, wonach nicht mehr als 25 Prozent der Schiffspassagiere Juden sein durften. Auf den Antragsformularen musste eine alte, diskriminierende Frage beantwortet werden: „Are you Jewish?“ Im Jahre 1947 wurden 500 jüdische Flüchtlinge aus den DP Lagern in das offizielle Einwanderungsprogramm der Internationalen Flüchtlingsorganisation (IRO) aufgenommen. Trotz dieser Barrieren fanden etwa 27.000 Überlebende des Holocaust in Australien eine neue Heimat, 17.000 bis 1954, weitere 10.000 bis 1961. Mit den 9.000 HitlerFlüchtlingen der Vorkriegszeit beträgt die Gesamtzahl der in Australien eingewanderten jüdischen Flüchtlinge 34.000.
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Die jüdischen Einwanderungsschübe setzten sich fort. Etwa 2.000 sephardische Juden trafen ein, vertrieben aus Ägypten und anderen Ländern in Nordafrika oder im Mittleren Osten im Zuge der Verschärfung des israelisch-arabischen Konflikts. 14.000 bis 15.000 Juden kehrten dem Apartheidsystem in Südafrika den Rücken. Über 6.000 russische Juden wanderten nach Australien aus, hinzu kamen noch etwa 7.000 Israelis. Diese Einwanderungswellen haben die demographischen, kommunalen und religiösen Strukturen der kleinen, pluralistischen und vibrierenden australisch-jüdischen DiasporaGemeinde entscheidend verändert. Ihr gehören heute 105.000 Juden an. Das entspricht bei einer australischen Gesamtbevölkerung von 21 Millionen einem Anteil von 0,5 Prozent.
Der „neue“ Antisemitismus In den letzten Jahren werden in Australien Debatten geführt, die sich nicht nur an den alten Fragen der Einwanderung oder der Behandlung der Aborigines, sondern auch an den neuen Problemen der muslimischen Radikalisierung und der terroristischen Bedrohung entzünden. Im kleinen, politisch unbedeutenden Lager der Rechtsradikalen versuchen sich neue Agitatoren zu profilieren: Neben der „Australian League of Rights“, der größten Organisation, stehen die „Australians Against Further Immigration“, „Australian National Action“, „Australian National Socialist Movement“ und die „White Supremacy Movement“. Bei allen Nuancen in der politisch-ideologischen Programmatik richten sich ihre Anfeindungen gegen Juden und Zionisten, Aborigenes und Asiaten, Fremde und Flüchtlinge – gegen das Modell der multikulturellen Gesellschaft. In den rechtsradikalen Kreisen fühlen sich Australiens Holocaust-Leugner zu Hause. Die Speerspitze repräsentiert der deutschstämmige Frederick Toben, der mit seinem „Adelaide Institute“, seinen Websites und internationalen Netzwerken die sattsam bekannten Geschichtsfälschungen verbreitet. Über mehrere Jahre erstreckte sich ein Verfahren, das Repräsentanten der jüdischen Gemeinde gegen ihn beantragt hatten. Im Jahre 2003 verkündete der Bundesgerichtshof das Urteil, das eine Zäsur markierte. Zum ersten Mal wurde die Leugnung des Holocaust als antisemitisch und rassistisch deklariert und verkündet, dass die Verbreitung von Juden- und Rassenhass strafbar ist. Damit wurde das Recht auf Meinungsfreiheit eingeschränkt und den verleumdeten Personen und Gruppen das Recht zugesprochen, gegen Hasstiraden künftig gerichtlich vorzugehen. Ungestraft blieben hingegen Vorfälle wie Brandanschläge auf Synagogen und andere Gemeindeeinrichtungen, Friedhofsschändungen, Morddrohungen gegen jüdische Repräsentanten oder die geplanten Terroranschläge auf die Israelische Botschaft in Canberra. Wiederholt wurden Juden auf der Straße, in Restaurants oder auf dem Gelände von Universitäten und Schulen angegriffen – mit Worten, Schlägen oder Wurfgeschossen. Den stärksten Anstieg antisemitischer Rhetorik verzeichneten Websites und Internet-Botschaften. Seit 1990 hat sich die judenfeindliche Rhetorik in Kreisen der muslimischen Gemeinde verschärft. Im Zentrum stehen antizionistische Feindbilder, die sich mit antisemitischen und antiwestlichen Stereotypen vermischen. Dabei werden die historischen Legenden von Ritualmorden, Weltverschwörungen und Weltherrschaft wieder aufgefrischt. In
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die Strategie fügt sich nahtlos die Gleichsetzung von Nazis und Juden sowie die Analogie vom deutschen Holocaust und „israelischem Holocaust“ gegen Araber ein. An der Spitze der radikalen Wortführer steht der Mufti von Australien, Sheikh Tay Eldine ElHalaly. Die moderne Geschichte Australiens zeigt, dass Kolonialismus und Rassismus in einigen Gebieten zum Völkermord an den Aborigenes führten. Sie dokumentiert aber auch, dass der Antisemitismus nur eine Randerscheinung war, der seit Ende des 19. Jahrhunderts sporadisch auftauchte, immer dann, wenn jüdische Flüchtlinge um Asyl baten. In Australien ist jüngst ein „Memory War“ ausgebrochen, in dem es um die Aufarbeitung der Vergangenheit und damit um nationale Identität geht. In diesem Streit wird eine These vertreten, die die Marginalität des Antisemitismus mit dem Hinweis erklärt, dass die Aborigenes in Australien dieselbe Rolle gespielt haben wie die Juden in Europa. Dieser Vergleich der „tyranny of distance“ wurde architektonisch dokumentiert: In Canberra wurde ein Nationales Museum errichtet. Der zentrale Trakt, der die Geschichte der „First Australians“ erzählt, kopiert den berühmten Bau, den Daniel Libeskind für das Jüdische Museum in Berlin entworfen hat.
Konrad Kwiet und Suzanne D. Rutland
Literatur Jeremy Jones, Confronting Reality: Anti-Semitism in Australia Today, in: Jewish Political Studies Review, 16(2004), 3-4, S. 89-103. Jeremy Jones (Hrsg.), Report on Antisemitism in Australia (10 October 2005–30 September 2005), Sydney: Executive Council of Australian Jewry 2006. Konrad Kwiet, The Second Time Around, Re-acculturation of German Jews in Australia, in: The Journal for Holocaust Education, 10(2001), 1, S. 34-49. Geoffrey Braham Levey, Philip Mendes (Hrsg.), Jews in Australian Politics, Sussex 2004. Suzanne D. Rutland, Edge of the Diaspora: Two Centuries of Jewish Settlement in Australia, Sydney 2001. Suzanne D. Rutland, The Jews in Australia, Melbourne 2005.
Barbados Bevor Barbados 1625-1628 für England erobert wurde, zählte die Insel der kleinen Antillen in offiziellen Kartenwerken zur kastillisch-spanischen Welt. Die in britischen Diensten stehenden Eroberer trafen in Barbados auf Kariben (Karynas), nicht jedoch auf spanische Kolonisten, da die Insel von der spanischen Krone zu keiner Zeit systematisch besiedelt worden war. Die atlantische Wanderung in den karibischen Raum im 17. und 18. Jahrhundert war nicht mehr ausschließlich auf die Vertreibung aus Spanien und Portugal zurückzuführen, sondern beruhte auf dem gefragten Know-how im Bereich von ökonomischen Fach- und Sprachkenntnissen sowie auf den weitreichenden Beziehungen jüdischer und neuchristlicher Kaufleute. Wie aus einem Briefwechsel mit dem Earl of Carlisle hervorgeht, dürfte Abraham Jacob als erster Jude 1628 Barbados erreicht haben.
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die Strategie fügt sich nahtlos die Gleichsetzung von Nazis und Juden sowie die Analogie vom deutschen Holocaust und „israelischem Holocaust“ gegen Araber ein. An der Spitze der radikalen Wortführer steht der Mufti von Australien, Sheikh Tay Eldine ElHalaly. Die moderne Geschichte Australiens zeigt, dass Kolonialismus und Rassismus in einigen Gebieten zum Völkermord an den Aborigenes führten. Sie dokumentiert aber auch, dass der Antisemitismus nur eine Randerscheinung war, der seit Ende des 19. Jahrhunderts sporadisch auftauchte, immer dann, wenn jüdische Flüchtlinge um Asyl baten. In Australien ist jüngst ein „Memory War“ ausgebrochen, in dem es um die Aufarbeitung der Vergangenheit und damit um nationale Identität geht. In diesem Streit wird eine These vertreten, die die Marginalität des Antisemitismus mit dem Hinweis erklärt, dass die Aborigenes in Australien dieselbe Rolle gespielt haben wie die Juden in Europa. Dieser Vergleich der „tyranny of distance“ wurde architektonisch dokumentiert: In Canberra wurde ein Nationales Museum errichtet. Der zentrale Trakt, der die Geschichte der „First Australians“ erzählt, kopiert den berühmten Bau, den Daniel Libeskind für das Jüdische Museum in Berlin entworfen hat.
Konrad Kwiet und Suzanne D. Rutland
Literatur Jeremy Jones, Confronting Reality: Anti-Semitism in Australia Today, in: Jewish Political Studies Review, 16(2004), 3-4, S. 89-103. Jeremy Jones (Hrsg.), Report on Antisemitism in Australia (10 October 2005–30 September 2005), Sydney: Executive Council of Australian Jewry 2006. Konrad Kwiet, The Second Time Around, Re-acculturation of German Jews in Australia, in: The Journal for Holocaust Education, 10(2001), 1, S. 34-49. Geoffrey Braham Levey, Philip Mendes (Hrsg.), Jews in Australian Politics, Sussex 2004. Suzanne D. Rutland, Edge of the Diaspora: Two Centuries of Jewish Settlement in Australia, Sydney 2001. Suzanne D. Rutland, The Jews in Australia, Melbourne 2005.
Barbados Bevor Barbados 1625-1628 für England erobert wurde, zählte die Insel der kleinen Antillen in offiziellen Kartenwerken zur kastillisch-spanischen Welt. Die in britischen Diensten stehenden Eroberer trafen in Barbados auf Kariben (Karynas), nicht jedoch auf spanische Kolonisten, da die Insel von der spanischen Krone zu keiner Zeit systematisch besiedelt worden war. Die atlantische Wanderung in den karibischen Raum im 17. und 18. Jahrhundert war nicht mehr ausschließlich auf die Vertreibung aus Spanien und Portugal zurückzuführen, sondern beruhte auf dem gefragten Know-how im Bereich von ökonomischen Fach- und Sprachkenntnissen sowie auf den weitreichenden Beziehungen jüdischer und neuchristlicher Kaufleute. Wie aus einem Briefwechsel mit dem Earl of Carlisle hervorgeht, dürfte Abraham Jacob als erster Jude 1628 Barbados erreicht haben.
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Das Ende des englischen Königs Charles I. am Schafott (1649) brach endgültig die Vormachtstellung der katholischen Kirche in England, und eine liberale Glaubensausübung begünstigte nicht nur die Einwanderung sephardischer Kaufleute in London und anderen englischen Handelsstädten sondern auch in die ersten englischen Kolonien im atlantischen Raum, wie Barbados, Nevis und ab 1655 auch ? Jamaika. Dem von Richard Dunn aufgearbeiteten Zensus von 1679/80 zufolge haben um 1650 rund 250 Juden auf Barbados gelebt, was einem Anteil von weniger als ein Prozent an der Gesamtbevölkerung von 30.000 Menschen entsprach. 1679/80 lassen sich 317 Personen in der Gemeinde „Kahal Kadosh Nidhei Israel“ feststellen. Daneben gab es auf der Insel noch 16 weitere jüdische Haushalte, 14 davon in Speightstown, wo sich kurze Zeit später die zweite jüdische Gemeinde „K. K. Semah David“ formierte. 1715 sind 411 Personen registriert, 292 davon in Bridgetown (vgl. Karte 1). Trotz der „Navigation Act“ (Verbot des Handels mit ausländischen Mächten) baten jüdisch-niederländische Kaufleute, wie Benjamin de Caseres, Henry de Caseres und Jacob Fraso, mit Unterstützung des dänischen Königs im Jahr 1661 den englischen König um das Siedlungs- und Handelsrecht in den Kolonien Barbados und „Willoughby-Land“ (? Surinam). Im Jahr 1664 wanderten Sepharden aus Cayenne nach Barbados, drei Jahre später folgte eine beträchtliche Zahl sephardischer Einwanderer aus Surinam. Da in Europa und Afrika die Tabak- und Zuckernachfrage im 17. Jahrhundert deutlich gestiegen war, reagierte England mit einem ersten großen Kolonialprojekt: im Sinne von „Cash Crops“ wurde der Anbau von Tabak und Zuckerrohr in den vom tropischen Klima begünstigten Kolonien gefördert. Barbados entwickelte sich ab 1640 zu Englands reichster Kolonie, was einen Bevölkerungsanstieg auf 66.170 Einwohner im Jahr 1683 zur Folge hatte, jedoch mit demographisch weitreichenden Folgen: nahezu 70 Prozent davon (46.602 Personen) waren zwangsverschleppte Sklaven meist afrikanischer Herkunft. Richard B. Sheridan errechnete, dass von 1623-1775 rund 140.000 Sklaven nach Barbados importiert wurden. Durch das erfolgreiche Engagement sephardischer Kaufleute in Brasilien und den anderen holländisch-karibischen Besitzungen änderte auch die Regierung von Oliver Cromwell ihre Politik gegenüber Juden. Bekannte jüdische und neuchristliche Familien, wie die Navarros, nutzten als erste die Möglichkeiten, um von Barbados aus mit anderen Gebieten Handel zu treiben. Nachdem der seit 1635 in Brasilien im Zucker- und Tabakgeschäft tätige Moseh Navarro im Jahr 1654 unfreiwillig von Recife nach Amsterdam zurückkehren musste, baute er gemeinsam mit seinen Brüdern Aaron und Jacob einen florierenden Zuckerhandel mit Barbados auf. Ab 1655 sind mehrere Ansuchen von „brasilianischen Sepharden“ um Siedlungs- und Handelsrechte auf Barbados bekannt. In erster Linie erwartete sich die englische Krone durch die sephardischen Siedler und deren Kontakte zu spanischen, holländischen und französischen Handelspartnern wirtschaftliche und politische Vorteile im atlantischen Raum. Innerhalb der weltweiten Märkte wurden sie in verschiedenen Funktionen, etwa als Kulturvermittler (Interpreter, Cultural Broker, Interloper), Zuckerfachkräfte oder Schmuggler unersetzbar.
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Rechtliche Situation und Antisemitismus Die Ansiedlung von Juden auf den britischen Inseln bedeutete nicht, dass jüdische Einwanderer englischen Bürgern gleichgestellt waren, sondern Beschränkungen bestimmten fast alle Lebensbereiche. Je entfernter jedoch vom Zentrum, desto gröβer die Freiheiten. Dieser Grundsatz galt mehrheitlich für die britischen Kolonien und Peripherien. Im Fall von Barbados sah sich die jüdische Minderheit allerdings mehrfach gezwungen, den Gouverneur um Schutz vor den permanenten Angriffen christlicher Kaufleute zu bitten. Da die Regierung von Barbados die Nachteile der beiden „Navigation-Acts“ von 1651 und 1660 kannte und auf die Möglichkeiten jüdischer Handelsbeziehungen nicht verzichten wollte, konnte und wollte sie den antisemitischen Forderungen einiger englischer Kaufleute nicht nachgeben. Es waren gerade die Vorteile einer Partizipation an spanischen und portugiesischen Beziehungen, die Barbados seine gute Stellung sicherten. Die Maßnahmen der englischen Krone hinsichtlich der Präsenz jüdischer Kolonisten waren höchst widersprüchlich: Einerseits erhielten sie ökonomische Privilegien (steuerfreier Landkauf und Immobilienerwerb), andererseits verbot die Kolonialregierung 1668 jüdischen Einzelhändlern das Gewerbe. Während die freie Ausübung des mosaischen Glaubens (Errichtung von Synagogen und Friedhöfen sowie die Sabbatruhe) durch den Gouverneur Willoughby 1671 garantiert blieb, war die politische Partizipation weiterhin ausnahmslos verboten (Exklusion bei Wahlen). Aufgrund der existierenden Privilegien begann die lokale Administration von den jüdischen Kaufleuten und Pflanzern ab 1680 eigene Steuern (Land-, Haus- und Handelssteuern) einzutreiben. Diese Fiskalpolitik wurde bis 1761 fortgeführt, und alleine im Zeitraum 1680 bis 1729 stieg die Besteuerung der Juden von 20 auf 57 Prozent. Das den in den britischen Kolonien geborenen Nachkommen versprochene Recht auf einen „Denizenship“ (Einbürgerungsstatus für Ausländer) wurde jüdischen Nachkommen in den meisten Fällen entweder gänzlich verweigert oder teuer verkauft. Ein Beispiel für diese Schwierigkeiten liefert der Fall der jüdischen Siedler Daniel Bueno Henriques und Manuel Martinez Dormido, die zwar 1661 ihre „Denizenship“ erhalten hatten, sie jedoch 1677 wegen eines Verfahrensfehlers wieder verloren. Ab 1674 war es Juden untersagt, in handelsrechtlichen Angelegenheiten als Zeugen auszusagen, da sie keinen verpflichtenden Schwur auf die christliche Bibel mit dem Neuen Testament ablegen durften. Auf dem Weg vom amerikanischen Festland nach Europa strategisch günstig gelegen, entwickelte Barbados sich nicht nur zu einem Zentrum des Sklaven-, sondern auch des Gold- und Silberzwischenhandels, woran auch jüdische Kaufleute beteiligt waren. In den Jahren 1681 und 1691 erlieβ die Kolonialregierung eigene Gesetze gegen die angeblichen „jüdischen Geldfälscher“ auf Barbados. Für jüdische Kolonisten galt von 1679 bis 1703 eine Beschränkung des Besitzes von Feld- und Haussklaven auf fünf bis zehn Arbeitskräfte, außer die Siedler besaßen bereits Bürgerrechte. Diese wirtschaftliche Benachteiligung trieb viele Juden direkt in den Handel, wo der Sklavenbesitz behördlich schwieriger überprüfbar war. Angriffe „gegen das Böse, das von herumziehenden und armen Juden über die Insel gebracht wurde“, blieben weiter bestehen. Alle erwähnten Gesetze beschränkten sich nicht nur auf die sephardische Minderheit, sondern betrafen auch andere Minderheiten, wie irische und schottische Katholiken so-
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wie Quäker. Diese Minderheiten waren teilweise auch anderen rechtlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Im Vergleich zu Katholiken und Quäkern waren die jüdischen Siedler für die britische Regierung weitaus ungefährlicher, da ihnen einerseits die Missionierung untersagt war und sie sich andererseits politisch stets loyal verhielten. Prinzipiell erhielten die ersten Juden bereits 1656 sogenannte Privilegien als Commonwealth-Bürger der Insel, wie dies die Gesetze für Ausländer und Fremde vorsahen. Doch die Realität, vor allem der Neid konkurrierender Händler, verhinderte oft die Umsetzung vor Ort. Es dauerte noch bis 1802, als die antijüdischen Gesetze gelockert, und bis 1820, als sie vom britischen Parlament endgültig abgeschafft wurden. Die Jahre 1761 bis 1831 gelten als die prosperierendste Phase jüdischen Lebens auf Barbados. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlor die Gemeinde viele ihrer Mitglieder durch Emigration in die USA und nach England. 1848 zählte die Gemeinde nur noch 70 Mitglieder, 1925 verließen die letzten Juden Barbados und wanderten in die USA aus. Die verfallende Synagoge wurde 1929 verkauft, die religiösen Gegenstände und Artefakte nach England verschifft. Infolge der Wirtschaftskrise der 1920er und 1930er Jahre und insbesondere infolge des Holocaust kamen rund 30 osteuropäische aschkenasische Familien nach Barbados, wo sie mit Hilfe einiger aus Trinidad stammenden Juden nach 1945 eine neue Gemeinde errichteten. Nicht alle Flüchtlinge wurden aufgenommen, wie etwa der Fall des Schiffes „Königstein“ im Februar 1939 beweist. Den mit diesem Schiff geflüchteten 165 österreichischen Juden wurde nicht nur in Barbados, sondern auch in Curaçao und British Guyana das Asyl verweigert, bevor die verzweifelte Gruppe schließlich von Venezuela aufgenommen wurde. 1968 umfasste die jüdische Gemeinde von Barbados rund 80 Personen. 1983 kaufte sie die Überreste der alten sephardischen Synagoge und ließ sie restaurieren. Mittlerweile zählt die Synagoge zu den wichtigsten Touristenattraktionen der Insel. Heute leben noch etwa 40 Juden auf Barbados. Christian Cwik
Literatur Christian Cwik, Neuchristen und Sepharden als cultural broker im karibischen Raum, in: Zeitschrift für Weltgeschichte, 8(2007), 2, S.153-175. Edward S. Daniels, Extracts from Various Records of the Early Settlement of the Jews in the Island of Barbadoes, West Indies, privately printed, Bridgetown 1899. Richard Dunn, The Barbados Census of 1680: Profile of the Richest Colony in English America, in: William and Mary Quarterly, 26(1969), 3, S. 3-30. Robert H. Schomburgk, History of the Barbadoes, London 1847. Pedro L. V. Welch, Celebrating Bridgetown: The First 100 Years, in: Marshall Woodville, Pedro L. V. Welch (Hrsg.), Beyond the Bridge: lecturers commemorating Bridgetown’s 375th anniversary, Bridgetown 2005, S. 4-36.
Belarus? Weißrussland
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Belgien Das heutige Belgien entstand erst 1830. Vor diesem Zeitpunkt wurde das Gebiet die Südlichen Niederlande genannt, eine über Jahrhunderte hinweg traditionell katholische Region, die lange Zeit mit den Nördlichen Niederlanden (den heutigen Niederlanden) eine Einheit bildete. Die jüdische Präsenz in den Südlichen Niederlanden reicht bis in das hohe Mittelalter zurück, als der Herzog von Brabant, der Graf von Hennegau, der Fürstbischof von Lüttich und der Graf von Flandern über die meisten jener Gebiete herrschten, die man heute als Belgien bezeichnet. Allerdings handelte es sich bis Anfang des 19. Jahrhunderts um eine zahlenmäßig äußerst kleine jüdische Bevölkerung. Von Beginn des 13. Jahrhunderts an erhielten Juden Zuflucht in den Südlichen Niederlanden. Sie kamen aus Deutschland und Frankreich, zum Teil aus England. Sie wurden als „usuraria pravitas“ (unerbittliche Gläubiger), als „Wucherer“ bezeichnet; in der homogen katholischen Umgebung galten sie als Fremde. Einige politische Machthaber gewährten ihnen aus ökonomischen Gründen zwar Schutz und Privilegien; die Möglichkeit, sich gesellschaftlich zu integrieren, erhielten sie jedoch nicht. Juden blieben von den Zünften, der Armee und Positionen im Staatsdienst ausgeschlossen. Von dem Zeitpunkt an, als sich in den Südlichen Niederlanden jüdische Einwanderer niederließen, rückten die klassischen, populären Anschuldigungen in den Vordergrund. Südniederländische Autoren warfen den Juden vor, Christenkinder getötet sowie Marien- oder Christusbilder geschändet zu haben. Ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts taucht auch die Beschuldigung der Brunnenvergiftung auf. Der Kreuzzug von 1309 hatte auch in Brabant Pogrome ausgelöst, so etwa in den Städten Leuven (Löwen) und Tienen. Danach waren es die Pestepidemie von 1348/49 und die Pilgerzüge der Flagellanten, die zu antijüdischen Ausschreitungen führten. Die wenigen Überlebenden aus dem Herzogtum Brabant wurden 1370 in Brüssel der Hostienschändung angeklagt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ende des 15. Jahrhunderts wurden die Südlichen Niederlande Teil des SpanischHabsburgischen Reiches. Zwei Erlasse Kaiser Karls V. aus dem Jahr 1526 und 1536 begünstigten die Niederlassung von so genannten Neuchristen aus Portugal, insbesondere in Antwerpen, wo sie dem Handel wichtige Impulse gaben. Die Toleranz war jedoch von kurzer Dauer. Allmählich überwog der Vorwurf, dass sich unter den Neuchristen „Krypto-Juden“, „falsche Christen“ bzw. „Marranen“ befänden und dass viele von ihnen mit den Türken – den Feinden der Habsburger – gemeinsame Sache machten. 1540 und 1544 erließ Karl V. Edikte, wonach „Juden und diejenigen, die nach dem israelitischen Ritus leben“ gemeldet und festgenommen werden sollten. 1549 erließ Karl V. eine weitere Verfügung, die den Neuchristen das Aufenthaltsrecht in den Niederlanden entzog: Alle Neuchristen, die sich dort weniger als sechs Jahre aufhielten, hatten innerhalb eines Monats das Territorium zu verlassen. Gegen Ende des 16. Jahrhundert sind aus Antwerpen, wo um 1570 noch rund 400 Neuchristen bzw. Portugiesen ansässig waren, praktisch alle Juden in die protestantischen Nördlichen Niederlande (Amsterdam) ausgewichen, die sich 1581 von der spanischen Herrschaft befreit hatten. Als 1648 die Unabhängigkeit der Nördlichen Niederlande offiziell anerkannt wurde, stieg auch in den Südlichen Niederlanden die Zahl der jüdi-
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schen Einwanderer wieder an. Trotz des Drucks von Seiten des lokalen Klerus, des päpstlichen Nuntius und der spanischen Machthaber nahm in Antwerpen die Toleranz gegenüber Juden zu. Unter der österreichischen Herrschaft (1713-1794) wurden die Juden in den Südlichen Niederlanden toleriert; sie lebten hauptsächlich in Brüssel. Ihnen waren eine Reihe von Verpflichtungen auferlegt worden, u.a. die Zahlung von Sondersteuern für ihr Niederlassungsrecht in Städten und der Eid „More judaico“, den sie vor Gericht abzulegen hatten. Politische Rechte oder das Bekleiden öffentlicher Ämter blieben ihnen versagt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist eine Verlagerung antijüdischer Positionen feststellbar: Im Gegensatz zu früheren Epochen ließen sich nun lokale Behörden von antijüdischen Vorurteilen leiten, während die höheren Autoritäten und die Regierung relativ wohlwollend und reformorientiert eingestellt waren. Als die Südlichen Niederlande 1795 durch die französische Republik erobert wurden, wurde der Gleichheitsstatus der Juden mit anderen Staatsbürgern eingeführt. 1808 erfolgte auch die Anerkennung des jüdischen Kultus durch Napoleon. Die holländische Regierung (1815-1830) verfolgte weiter den emanzipatorischen Weg. Als 1830 der Staat Belgien entstand, wurde eine liberale Verfassung verabschiedet, die die Religionsfreiheit garantierte und die vom Staat anerkannten Religionsgemeinschaften subventionierte. Auf juristischer Ebene gab es für die in Belgien ansässigen Juden keine Schlechterstellung mehr; es wurde nun nur noch zwischen belgischen Staatsbürgern und Nicht-Belgiern, „Ausländern“, unterschieden. Nach 1880 setzte erstmals eine massive jüdische Einwanderung vornehmlich aus Osteuropa ein. Von ungefähr 1.100 bis 1.900 im Jahr 1832 stieg ihre Anzahl auf 40.000 bis 42.000 im Jahr 1914. Zwar hatte seit Mitte der 1880er Jahre auch in Belgien die Verbreitung von Broschüren mit antijüdischen Positionen zugenommen, doch eine radikale, rassistisch motivierte antisemitische Propaganda wie in Frankreich, Deutschland und Österreich existierte überhaupt nicht. Bis in die 1920er Jahre hinein waren Organisationen und Presse, deren alleiniger Zweck der Antisemitismus war, ein unbekanntes Phänomen in Belgien. Außerdem wurde bis in die 1920er Jahre – mit Ausnahme Antwerpens gegen Ende des 19. Jahrhunderts – kaum gegen die lokal ansässige jüdische Gemeinschaft gehetzt. In katholischen Kreisen war indes eine antijüdische Voreingenommenheit feststellbar. Diese war nicht auf spezifisch belgische Verhältnisse zurückzuführen, sondern beruhte auf der allgemeinen Grundhaltung der Institution Kirche gegenüber den Juden. Sozialistische antisemitische Politiker wie der Brüsseler Rechtsanwalt Edmond Picard nahmen innerhalb des Sozialismus eine isolierte Position ein. Ihnen standen Parteimitglieder gegenüber, die den Antisemitismus vehement bekämpften, wie etwa der international renommierte Camille Huysmans. In den 1930er Jahren erhielt der Antisemitismus Auftrieb. Dies ist auf einen Komplex aufeinander einwirkender Faktoren zurückzuführen, u.a. auf die ökonomische Krise, das Erstarken der Gruppierungen der „Neuen Ordnung“, die politische Polarisierung, die Ereignisse im nationalsozialistischen Deutschland und die Flüchtlingsproblematik. In den 1930er Jahren wurden immer mehr „Nieuwe Orde“-Gruppierungen gegründet, in denen eine Mischung aus Nationalismus, reaktionärem Katholizismus, Antikapitalismus, Antikommunismus und Antisemitismus zusammentraf. Innerhalb der spezifisch belgischen
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Verhältnisse muss jedoch beim Stichwort Nationalismus unterschieden werden zwischen dem flämischen und dem (französischsprachigen) belgischen Nationalismus. Der belgische Nationalismus war bereits in den 1920er Jahren auf antijüdischen Kurs umgeschwenkt, wobei er zunächst noch zwischen „guten und schlechten Juden“ unterschied. Unter „guten Juden“ verstand er Juden belgischer Staatsangehörigkeit, insbesondere Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg und jene, die ihren „Verpflichtungen gegenüber dem belgischen Vaterland“ nachgekommen waren. Im Gegensatz dazu verhielt sich der flämische Nationalismus lange Zeit tolerant gegenüber Juden, insbesondere in und um Antwerpen. In den 1930er Jahren vollzog sich ein grundlegender politischer Wandel in der flämisch-nationalistischen Haltung, die sich nunmehr auf ein völkisches Kriterium stützte. Repräsentanten des flämischen Nationalismus waren der 1931 gegründete „Verband der Großniederländischen Nationalsolidaristen“ (Verdinaso, Verbond van Dietsche Nationaalsolidaristen) sowie der 1933 ins Leben gerufene „Vlaams Nationaal Verbond“ (VNV). Aus dem belgisch-nationalistischen Umfeld entstand 1936 die „Rex“-Partei, die insbesondere im französischsprachigen Landesteil Anhänger hatte. Sowohl der VNV als auch „Rex“ war im belgischen Parlament vertreten. Anfangs stand bei „Rex“ – insbesondere in Flandern – der antijüdische Diskurs noch nicht auf der Tagesordnung und sie wandte sich gegen den Rassismus im nationalsozialistischen Deutschland. In den 1930er Jahren wurde Belgien dann erstmals mit zweierlei Arten von neuen politischen Splittergruppen konfrontiert: zum einen mit Einthemenparteien, die sich auf den Antisemitismus – inklusive den biologischen Rassismus – konzentrierten, zum anderen mit explizit nationalsozialistischen Splittergruppen, die ihre Hochburg in Antwerpen hatten. Auch bei ökonomischen Interessenverbänden kam im Laufe der 1930er Jahre eine zunehmend antijüdische Haltung auf. Dies betraf sowohl die mit der katholischen Partei verbündeten Organisationen, als auch die so genannten neutralen – „Nieuwe Orde“orientierten – Mittelstandsorganisationen. Gegen Ende der 1930er Jahre näherten sich die Standpunkte der traditionellen katholischen Partei und der „Nieuwe Orde“-Parteien zunehmend einander an. Der Antisemitismus blieb in jener Periode jedoch nicht auf die politische Rechte beschränkt. Auch aus sozialistischen Gewerkschaftskreisen, deren Mitglieder unter der Wirtschaftskrise zu leiden hatten, wie etwa Arbeiter aus der Diamantenindustrie (Antwerpen) und der Textilindustrie (Brüssel), waren damals antijüdische bzw. xenophobe Äußerungen zu vernehmen. Nur die Kommunisten schienen gegen den Antisemitismus immun zu sein. Daneben waren es vor allem sozialistische Politiker, die den Antisemitismus vehement bekämpften. Kurz nach dem deutschen Überfall auf Belgien am 10. Mai 1940 wurden auf Anordnung der belgischen Behörden Tausende „Verdächtige“ – Personen, die aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrer politischen Gesinnung eine Gefahr für den belgischen Staat darstellten – festgenommen und in Internierungslager nach Frankreich gebracht. Darunter befanden sich hauptsächlich jüdische Flüchtlinge aus dem Dritten Reich, die später überwiegend über das Sammel- und Durchgangslager Drancy (vgl. Karte 7) nach Auschwitz deportiert wurden. Während der Besatzung gingen die meisten „Nieuwe Orde“-Organisationen geschlossen zur Kollaboration über, in Flandern der VNV, im französischsprachigen Belgien die „Rex“-Partei. Zugleich wurde die „Allgemeine SS Flandern“ gegründet. Mitglieder der flämischen SS und Rexisten waren gezielt bei der Fahn-
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dung nach versteckten Juden eingesetzt; die Parteispitze des VNV rief zur Denunziation von Juden auf. Auch belgische Staatsbeamte, die nicht zum offiziellen Kollaborationslager zählten, wie etwa Generalsekretäre und Bürgermeister, spielten eine Rolle bei der Judenverfolgung. Am weitesten ging die Kollaboration in Antwerpen, wo die städtische Polizei im August 1942 an den Judenrazzien teilnahm. In Ausführung einer deutschen Verordnung und nach der Zustimmung durch die Generalsekretäre legten alle Gemeindeverwaltungen Ende 1940 ein Judenregister an. 1944 waren in ganz Belgien 55.670 Juden in deutschen Registern erfasst, von denen 25.134 deportiert wurden. In der Nachkriegszeit wurde die Beteiligung belgischer Behörden an der Judenverfolgung juristisch nicht geahndet. Im Gegensatz zum französischsprachigen Belgien, wo die Kollaborateure angespuckt und aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht wurden, wurden sie in Flandern von einem breiten, aber nicht mehrheitlichen, öffentlichen Spektrum, das von Anti-Kollaborationisten bis zu flämischen Nationalisten reichte, im Nachhinein noch verteidigt. Die Kollaboration der flämischen Nationalisten wurde im Nachhinein sogar als Aktivität von Idealisten dargestellt, die keineswegs mit den nationalsozialistischen Exzessen zu vergleichen sei. Dies hatte zur Folge, dass die tatsächliche Rolle der offiziellen belgischen Staatsträger und (flämischen) Kollaborateure bei der Judenverfolgung nicht aufgedeckt wurde. Darüber hinaus wurde bis etwa Ende der 1950er Jahre in rechten (katholischen) Kreisen an der vor dem Holocaust bestehenden antijüdischen Einstellung wieder angeknüpft. Die Standpunkte, die der (rechtsextreme) flämische Nationalismus gegenüber dem Holocaust einnimmt, lassen sich in drei – einander oft überlappende – Strömungen einteilen: Die erste ist die Negierung jeglicher Verantwortung des flämischen Nationalismus für die Judenverfolgung. Die zweite relativiert und bagatellisiert den Holocaust. Die dritte leugnet schlichtweg jegliche Judenvernichtung. Den Negationismus (Leugnung des Holocaust), der oft gepaart mit einem ausgesprochenen Antisemitismus einhergeht, findet man nicht nur in rechtsextremen flämisch-nationalistischen Kreisen, sondern auch bei der französischsprachigen extremen Rechten. Es handelt sich hierbei um ein Relikt flämischer und wallonischer nationalsozialistischer Hinterlassenschaft, dessen Befürworter ihre Impulse zum großen Teil von Holocaust-Leugnern aus Frankreich beziehen. Im französischsprachigen Belgien gelingt es den Negationisten nicht, größere Bedeutung zu erlangen, doch in Flandern scheint dies anders zu sein. Mitte der 1970er Jahre war unter den Negationisten insbesondere der paramilitärische, flämisch-nationalistische „Vlaamse Militanten Orde“ (VMO) aktiv. Einer seiner Mitglieder gründete 1985 die negationistische Arbeitsgruppe „Vrij Historisch Onderzoek“ (VHO, Freie Historische Forschung). Anklang fand der Negationismus auch im Umfeld der ehemaligen Ostfrontkämpfer. In den 1980er Jahren begann der extrem rechts angesiedelte „Vlaams Blok“ (seit 2007 „Vlaams Belang“) einen bis heute anhaltenden Aufstieg. Er verfolgt eine fremdenfeindliche Politik, die sich vor allem gegen „die Muslime“ bzw. „die Araber“ (Türken und Nordafrikaner) richtet. Der „Vlaams Blok“ streitet ab, überhaupt irgendetwas mit Antisemitismus zu tun zu haben und distanziert sich nach außen hin vom Negationismus. Im Senat hatte die vollzählige „Vlaams Blok“-Fraktion dem Gesetz gegen die Leugnung des Holocaust vom 30. März 1995 zugestimmt; im belgischen Abgeordnetenhaus des Parlaments hatte sich der „Vlaams Blok“ allerdings enthalten. Andererseits
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trifft es zu, dass die Partei – insbesondere in Antwerpen, der Hochburg des „Vlaams Blok“ – eine „Charme-Offensive“ in Richtung jüdische Gemeinde begann, wobei sie „die Araber“ als gemeinsamen Feind präsentierte. Diese Initiative konnte durchaus einigen Erfolg verbuchen, was damit zusammenhängt, dass die Nahost-Problematik gewissermaßen zunehmend auch nach Belgien exportiert wurde, wodurch Juden in mehreren Fällen durch junge Muslime belästigt oder körperlich angegriffen wurden. Die Haltung des „Vlaams Blok“ ist indes doppeldeutig. Es trifft nämlich ebenso zu, dass nahezu alle rechtsextremen, flämisch-nationalistischen Holocaust-Revisionisten im „Vlaams Blok“ aktiv gewesen waren und einige dort sogar Führungspositionen bis hinein in den belgischen Senat und im belgischen Abgeordnetenhaus bekleidet hatten. Ferner veröffentlichte 1951 der Gründer und erste Vorsitzende des „Vlaams Blok“, Karel Dillen, eine Übersetzung des Buches des französischen Faschisten Maurice Bardèche, „Nuremberg ou la Terre promise“ (Paris 1948). Generell trifft es zu, dass der „Vlaams Blok“ einen Teil seiner Anhängerschaft aus dem ehemaligen Kollaborationsumfeld rekrutierte. Im französischsprachigen Belgien wurde 1985 eine politische Partei namens „Front National“ gegründet, in der sowohl Antisemiten als auch Negationisten und Neo-Nazis versammelt sind. Im Gegensatz zum „Vlaams Blok“ hatte sie – aufgrund fortwährender interner Streitigkeiten und mangelnder Organisationsfähigkeit – keinen nennenswerten Stimmenzulauf. Im Laufe der 1990er Jahre hatte sich eine Reihe Frankophoner aus Brüssel aus dem rechtsextremen Spektrum der Brüsseler Abteilung des „Vlaams Blok“ angeschlossen. Das 1993 von der belgischen Regierung gegründete „Zentrum für Chancengleichheit und Rassismusbekämpfung“ arbeitet mit jüdischen Dachorganisationen zusammen. Im Jahr 2004 wurde auf Wunsch der Regierung innerhalb dieses Zentrums eine „Waakzaamheidscel Antisemitisme“ (Arbeitsgruppe Wachsamkeit in Bezug auf Antisemitismus) eingerichtet. Der aktuelle Antisemitismus existiert nicht isoliert, sondern muss in engem Zusammenhang mit einer zunehmend negativen Haltung gegenüber „Fremden“ im Allgemeinen gesehen werden.
Lieven Saerens Übersetzt aus dem Niederländischen von Marianne Kröger
Literatur Manuel Abramowicz, Extrême-droite et antisémitisme en Belgique. De 1945 à nos jours, Bruxelles 1993. Rudi van Doorslaer (Hrsg.), Emmanuel De Bruyne, Frank Seberechts, Nico Wouters, in Zusammenarbeit mit Lieven Saerens, La Belgique docile. Les autorités belges et la persécution des Juifs en Belgique durant la Seconde Guerre Mondiale, Bruxelles 2007. Lieven Saerens, Antisemitisme, in: Nieuwe Encyclopedie van de Vlaamse Beweging, Tielt 1998, S.299-316. Lieven Saerens, Etrangers dans la cité. Anvers et ses juifs (1880-1944), Bruxelles 2005. Lieven Saerens, De Jodenjagers van de Vlaamse SS. Gewone Vlamingen?, Tielt 2007.
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Jean-Philippe Schreiber, L’immigration juive en Belgique du Moyen Age à la Première Guerre Mondiale, Bruxelles 1996. Georgi Verbeeck (Hrsg.), De verdwenen gaskamers. De ontkenning van de Holocaust, Leuven, Amersfoort 1997.
Bessarabien Die historische Region Bessarabien wird im Nordosten durch den Fluss Dnjestr und die Schwarzmeerküste begrenzt, im Süden von der Donau und im Westen vom Fluss Pruth. 1812 kam der unter osmanischer Herrschaft stehende Nordosten des Fürstentums Moldau zu ? Russland und erhielt die Bezeichnung Bessarabien. Die dortigen Juden wurden unter die rechtlichen Bedingungen des „Ansiedlungsrayons“ gestellt, das bedeutete die Möglichkeit des Zuzugs. Bis dahin lebten in der Region wenige Juden, nun kamen viele Handwerker und Händler aus anderen Teilen Russlands. Die Zahl der Juden stieg von 83.900 (1859) mit einem Anteil von 7,9 Prozent an der Bevölkerung auf 288.168 (1897) mit 11,8 Prozent. Zwischen 1836 und 1853 entstanden durch private Förderungen auch 17 landwirtschaftliche Kolonien, in denen über 10.000 Juden lebten. Durch die Pogromwelle von 1881 (? Russland und ? Ukraine) gerieten diese Kolonien unter starken Druck, da die Behörden die Juden für die Unruhe unter der ländlichen Bevölkerung verantwortlich machten. Viele Juden zogen in die Städte. Odessa war das wichtigste Handelszentrum, es lag zwar außerhalb der Region, doch der dortige Hafenausbau förderte die Modernisierung Bessarabiens, weil nun landwirtschaftliche Überschüsse vermarktet werden konnten. 1897 lebte über die Hälfte der bessarabischen Juden in den Städten im Norden: Sie stellten 37,2 Prozent der Stadtbewohner und in Kischinew hatten sie sogar einen Anteil von 45 Prozent. Von den städtischen Juden waren 45,6 Prozent Ladenbesitzer und 26,8 Prozent Handwerker. Um ärmere Juden vom Druck der Geldverleiher zu befreien, gründeten Intellektuelle um Jakob Bernstein-Kogan 1901 die erste genossenschaftliche Darlehenskasse. Durch die gegenseitige Unterstützung hatten jüdische Handwerker bald bessere Bedingungen als die russischen. Deren Unzufriedenheit nutzte Pavel Kruschewan aus, der seit 1903 in seinen Zeitungen gegen Juden hetzte. Nach seiner Agitation mit einem angeblichen Ritualmord kam es am Ostersonntag 1903 in Kischinew (vgl. Karte 3) zu einem Pogrom. Da das Militär mit Verspätung eingriff, wurden 49 Juden ermordet und 800 Gebäude beschädigt. Bezeichnend für die Herrschaftsstrukturen ist, dass Kruschewan vom Zaren geehrt wurde. In Kruschewans Zeitung wurde die russische Version der „Rede des Rabbiners“ publiziert, die später als Ingredienz der „Protokolle der Weisen von Zion“ im Repertoire aller Antisemiten einen zentralen Platz einnahm. Von der Geheimpolizei Ochrana unterstützt, agitierte Kruschewan nach 1905 gegen das Wahlrecht der Juden, das diese durch die neue Verfassung erhalten hatten. Im Kreis Akkerman wurde der Gutsbesitzer Vladimir M. Purischkewitsch in die 3. Duma gewählt, der die antisemitische „Union des russischen Volkes“ leitete. Er sah Russland vom „jüdischen Kapitalismus“ und „jüdischen Sozialismus“ bedroht. Ange-
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sichts der schwierigen Lage der Juden hatten die Zionisten Resonanz. Sie warben für die Auswanderung nach Palästina, wohin aber nur wenige Juden gelangten. Zehntausende Juden emigrierten in die USA. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurden die Juden im Grenzgebiet als potentielle Unterstützer der Zentralmächte verfolgt. Das Jiddische war in der Öffentlichkeit verboten. Aufgrund ihrer bedrängten Lage begrüßten viele Juden den Sturz des Zaren. Nach der Februarrevolution 1917 erhielten sie die volle Gleichberechtigung und konnten sich politisch organisieren. In der provisorischen Regierung Bessarabiens war zum ersten Mal ein Jude als Kommissar für Arbeit und Handel vertreten. Nach der Machtübernahme der Bolschewiken in Petersburg sahen sich die Großgrundbesitzer durch die Forderungen des bessarabischen Bauernrates nach einer radikalen Landreform bedroht. Sie riefen die Armee Rumäniens zur Hilfe und im Januar 1918 verdrängten vier rumänische Divisionen die bolschewistischen Einheiten über den Dnjestr. Die Sprecher einiger jüdischer Organisationen protestierten gegen die Bestrebungen, Bessarabien an Rumänien anzuschließen. Im März 1918 befand sich die Mehrheit der Juden in ? Rumänien mit dem Status als Staatenlose in einer völlig rechtlosen Situation. Wegen ihres Eintretens für eine föderale Lösung im Rahmen des Russischen Reiches wurden viele Sprecher der Minderheiten von den neuen rumänischen Machthabern verfolgt und ausgewiesen. Die sozialdemokratische Führerin Nadja Grinfeld wurde ermordet. Durch das Kriegsrecht, das bis 1928 durchgehend in Kraft blieb, wurde vor allem die politische und kulturelle Tätigkeit der Juden und Russen behindert. Sie stellten weiterhin einen sehr großen Anteil der Stadtbevölkerung: Diese verteilte sich 1930 auf 31,5 Prozent Rumänen, 26,6 Prozent Juden, 26,8 Prozent Russen und andere kleine Gruppen. In Kischinew (Chişinău) wurden 42,2 Prozent Rumänen, 37,3 Prozent Juden und 17,1 Prozent Russen gezählt. Die von Bukarest delegierten Chefs der Militärverwaltung hielten alle Linken für Sympathisanten Sowjetrusslands, obwohl Sozialdemokraten und Poale-Zionisten entschiedene Gegner des Bolschewismus waren. Die Sozialdemokraten wirkten in dem 1919 zugelassenen „Jiddischen Kulturbund“ (Yidishe kulturlige), er wurde von der Sicherheitspolizei ständig kontrolliert und 1925 verboten. Die Zionisten wurden auch mit Misstrauen verfolgt, konnten sich aber behaupten. Die jiddische Tageszeitung „Unzer tsayt“ erreichte 1928 eine Auflage von 15.000 Exemplaren. Ihr Chefredakteur Michael Landau wurde im rumänischen Parlament von Antisemiten tätlich angegriffen. Deren Organisation „Liga für Christlich-Nationale Verteidigung“ wurde bei den Wahlen im November 1928 aus dem Parlament gedrängt und die „Nationale Bauernpartei“ kam an die Macht. Sie bemühte sich um die Integration der Minderheiten und hob den Belagerungszustand sowie die Zensur auf, der jiddische „Kulturbund“ war bis 1934 legal tätig. Durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise nahm seit 1930 erneut der Einfluss rechtsradikaler Kräfte zu, welche die sich ausbreitende Armut den Juden anlasteten. In Bessarabien bearbeiteten etwa 3.000 jüdische Familien 20.000 ha Land recht erfolgreich, weil sie Unterstützung von ausländischen Organisationen erhielten. Bei den periodisch in dem Gebiet auftretenden Dürrezeiten starben in benachbarten rumänischen Ortschaften oft Einwohner, weil die staatliche Hilfe versagte. Die Agitation der Antisemiten, welche
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die Enteignung der Juden verlangten, stieß nicht nur bei vielen Rumänen auf Resonanz, sondern auch bei einem Teil der deutschen und russischen Minderheit. Seit Mitte der 1930er Jahre waren Attacken auf Juden an der Tagesordnung. Die Polizei schützte die Juden nicht gegen Angreifer, daher bildeten sich Selbstwehreinheiten, deren Mitglieder verschiedenen politischen Strömungen angehörten. Obwohl die antisemitische NationalChristliche Partei von Alexandru C. Cuza und Octavian Goga landesweit bei den Wahlen im Dezember 1937 nur 9,15 Prozent der Stimmen errang, übergab der König ihr die Regierung. Diese verbot sofort viele demokratische Zeitungen, so auch die jiddische Tageszeitung „Unzer tsayt“, die über die Übergriffe der Antisemiten berichtet hatte. Nun wurden Juden aus vielen Berufssparten herausgedrängt und durften keine staatlichen Schulen mehr besuchen. Im Januar 1938 wurde das Dekretgesetz zur Überprüfung der Staatsbürgerschaft der Juden erlassen, durch das bis 1939 fast die Hälfte der Juden Rumäniens ihre Bürgerrechte verlor. Besonders betroffen waren jene aus den erst 1918 angeschlossenen Regionen Bessarabien, Siebenbürgen und Bukowina. Die Perspektivlosigkeit der bessarabischen Juden in Rumänien nach 1937 veranlasste einige Juden, den Rückzug der Armee und Verwaltung Rumäniens zu begrüßen, den diese infolge eines sowjetischen Ultimatums Ende Juni 1940 vollziehen mussten. Die einjährige sowjetische Herrschaft brachte aber auch für viele Einschnitte. Die sowjetischen Behörden deportierten nicht nur jüdische Sozialdemokraten und Zionisten wegen ihrer politischen Gesinnung nach Sibirien, sondern auch viele Ladenbesitzer und Kaufleute mitsamt ihren Familien. Unmittelbar nach Rumäniens Eintritt in den Zweiten Weltkrieg auf der Seite des Deutschen Reiches gerieten alle Juden in eine auswegslose Lage. Beim fluchtartigen Rückzug der sowjetischen Verwaltung wurden nur Juden im wehrdienstpflichtigen Alter oder die Arbeiter verlagerter Betriebe mitgenommen. Die Mehrheit blieb zurück und war der deutschen Einsatzgruppe D und rumänischen Sondereinheiten ausgeliefert, die im Juni/ Juli 1941 viele Juden töteten. Auf Befehl von General Ion Antonescu wurden die Überlebenden in Gewaltmärschen in Richtung Dnjestr getrieben und viele starben an Hunger sowie Typhus in provisorischen Lagern. In der ? Transnistrien genannten rumänischen Besatzungszone kamen etwa 70 Prozent der bessarabischen Juden um. Nach dem Vorrücken der Roten Armee im Frühjahr 1944 wurde das Gebiet zwischen der Moldauischen SSR (? Moldova) und der Ukrainischen SSR (? Ukraine) aufgeteilt.
Mariana Hausleitner
Literatur Mariana Hausleitner, Deutsche und Juden in Bessarabien 1814-1941. Zur Minderheitenpolitik Russlands und Großrumäniens, München 2005. Edward H. Judge, Ostern in Kischinjow. Anatomie eines Pogroms, Mainz 1995. Paul A. Shapiro, The Jews of Chisinau (Kishinev): Romanian Reoccupation, Ghettoization, Deportation, in: Randolph L. Braham (Hrsg.), The Destruction of Romanian and Ukrainian Jews During the Antonescu Era, New York 1997, S. 135-194.
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Bolivien Abgesehen von getauften Juden, darunter vor allem „Marranen“ aus der Kolonialzeit und einzelne Immigranten, gibt es bis ins dritte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts keine erwähnenswerten Spuren jüdischen Lebens in Bolivien. Im Jahr 1917 sollen etwa zwei Dutzend Juden im Land gelebt haben, eine Zahl, die bis 1938 durch Einwanderer vor allem aus Osteuropa auf 200 bis 300 zugenommen haben soll. Bis zu diesem Zeitpunkt gibt es keine Anzeichen für Antisemitismus. Mit der Absicht, Landwirte, aber auch Kapital und Know-how ins Land zu holen, verkündete die Regierung Boliviens am 9. Juni 1938 ein Dekret, das all denjenigen die uneingeschränkte Einwanderung ermöglichte, die Agrarwirtschaft betreiben wollten. Ausdrücklich konnten auch Juden von diesem Recht Gebrauch machen. Da dieses Dekret zu einem Zeitpunkt erlassen wurde, an dem die Judenverfolgung im Dritten Reich sich immer mehr zuspitzte und die Bereitschaft zur Aufnahme von Juden in anderen Ländern immer geringer wurde, wanderten in den Jahren 1938 bis 1941 zwischen 5.000 und 7.000 Juden vor allem aus Deutschland und Österreich in das südamerikanische Land ein. Bedingt durch die Charakteristika dieser Masseneinwanderung erlebte Bolivien die erste Phase von Antisemitismus in seiner Geschichte. Mit unterschiedlicher Intensität dauerte sie seit dem Ende der 1930er Jahre etwa ein Vierteljahrhundert an. Dieser Judenfeindlichkeit lagen zwei wesentliche Ursachen zu Grunde. Erstens, weil nur knapp zwei bis drei Prozent aller Immigranten aufs Land gingen, trotz der Tatsache, dass ein hoher Anteil Einreisevisa (zum größten Teil gefälschte) als Landwirte erhalten hatten. Und zweitens, damit eng verbunden, weil sich etwa 90 Prozent in den zwei größten Städten des Landes, nämlich La Paz und Cochabamba (vgl. Karte 1), niederließen, wo sie mit Straßenhandel und kleinen Geschäften nicht nur bald die Stadtzentren beherrschten, sondern auch einen starken Anstieg der Preise von Lebensmitteln und Wohnraum bewirkten. Infolge davon kursierte der Vorwurf, dass die Juden schlechthin Händler und Spekulanten seien, die außerdem zu einer starken Verbreitung der Bestechung beigetragen hätten. Diese Schuldzuweisungen fielen in einem Land auf fruchtbaren Boden, das einen starken Inflationsprozess erlebte und das Trauma des verlorenen Krieges gegen Paraguay (1932-1935) nicht überwunden hatte. Misstrauen bis hin zur Feindschaft gegenüber den jüdischen Einwanderern entstanden auch als Folge der Sprachbarriere sowie des Zusammenpralls unterschiedlicher Lebensgewohnheiten, Weltbilder und Wertvorstellungen. All dies führte zur Abkapselung der Juden in eigenständigen Organisationen, wodurch sich die Distanz zu den Einheimischen vertiefte, was wiederum antisemitische Ressentiments verstärkte. Die bereits zwischen 1938 und 1940 unter der streng katholischen, weitgehend provinziellen Bevölkerung der zwei größten Städte des Landes verbreitete Antipathie gegen die Juden wurde von der katholischen Kirche und der 1941 gegründeten „Nationalistisch-Revolutionären Bewegung“ (Movimiento Nacionalista Revolucionario, MNR) weiter geschürt. Priester in Kirchen und Schulen verbreiteten, dass die Juden Christus ermordet hätten, sowie alle möglichen anderen antijüdischen Vorurteile. Die MNR, die 1952 die Regierung übernahm, hatte sich in ihrem Gründungsprogramm von der NSDAP inspirieren lassen und dabei deren antisemitischen Postulate übernommen. Von
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zwei der MNR nahe stehenden Zeitungen sowie von einem der wichtigsten Presseorgane des Landes, „El Diario“, wurden ebenfalls antisemitische Klischees verbreitet. Die deutschen Schulen, die deutsche Gesandtschaft und Teile der deutschen Gemeinde, vor allem die, die sich der Auslandsorganisation der NSDAP angeschlossen hatten, haben durch die Propagierung von nationalsozialistischem Gedankengut ebenfalls zur Verbreitung des Antisemitismus beigetragen. Die drei zwischen 1938 und 1943 aufeinanderfolgenden Regierungen haben zwar zeitweilige Verbote weiterer Einwanderung erlassen und wiederholt Kritik an der massenhaften Präsenz von Juden in La Paz und Cochabamba geübt. Dennoch und trotz des verbreiteten und zunehmenden Unbehagens unter der Bevölkerung über die jüdische Einwanderung haben sie zu keinem Zeitpunkt die Immigration ernsthaft unterbunden. Dadurch hat Bolivien Tausenden Juden das Leben gerettet. Antisemitische Massenkundgebungen oder Kampagnen blieben Ausnahmen. Sie müssen dennoch erwähnt werden: So hat bei einer Debatte über gefälschte Visa im Abgeordnetenhaus im Jahre 1940 das anwesende Publikum „Nieder mit den Juden“ gebrüllt, während an die Hauswände von La Paz zuhauf antisemitische Texte gemalt wurden. Als zwölf Jahre später, im Jahre 1952, bei einer Massenkundgebung von etwa 20.000 Menschen, der Staatspräsident der MNR versicherte, dass er drastisch gegen diejenigen Händler vorgehen werde, die Waren gehortet hätten, um die Preise in die Höhe zu treiben, hallte es aus der Menge: „Die Juden“. Monate zuvor und auch noch danach erschienen massenweise Flugblätter mit Karikaturen von Juden im schlimmsten „Stürmer“-Stil, die die Inschrift trugen „Tötet den Juden“. Zur gleichen Zeit machten nationalistische Vereine und Handelsverbände die Juden für die Wirtschaftsprobleme des Landes verantwortlich und forderten die Regierung auf, sie aus dem Handel zu verbannen oder plädierten sogar dafür, ihre Geschäfte zu plündern. Zu diesem Zeitpunkt, der offensichtlich den Höhepunkt antisemitischer Ausschreitungen in Bolivien markiert, hatten bereits Tausende Juden das Land wieder verlassen, ein Prozess, der in den darauffolgenden zwei Jahrzehnten rasant weiterging. Diese Auswanderung einerseits, Mischehen und völlige Assimilation andererseits hatten zur Folge, dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts nur noch ca. 650 Juden in Bolivien lebten. Im Vergleich zu den 1940er und 1950er Jahren gingen antisemitische Manifestationen immer weiter zurück und sind inzwischen so gut wie völlig verschwunden. Die Judenfeindlichkeit in dem Vierteljahrhundert nach 1938 hat jedoch unter breitesten Bevölkerungsschichten das Stereotyp hinterlassen: Jude gleich Händler, gleich Wucherer. Nicht selten wird in der Bevölkerung derjenige als Jude bezeichnet, der nach Ansicht des Anderen einen zu hohen Preis verlangt, auch wenn es sich um einen waschechten Bolivianer katholischen Glaubens handelt. Der Antisemitismus hat in Bolivien zu keinem Zeitpunkt gewalttätige Formen angenommen. Geprägt vor allem durch antijüdische katholische Vorurteile und Xenophobie unter der einheimischen Bevölkerung und genährt durch den Einfluss nationalsozialistischen Gedankengutes sowie das Fehlverhalten einzelner Immigranten (Verwicklung in Korruptionsaffären, Missachtung nationaler Sitten u.ä.) hat er sich im Wesentlichen in Anpöbelungen, Beleidigungen und antisemitischen Presseartikeln und vor allem in Wandschmierereien manifestiert. Es ist niemals zur Plünderung jüdischer Geschäfte oder zur Gefährdung jüdischen Lebens gekommen.
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Keine einzige bolivianische Regierung hat sich judenfeindlich verhalten, nicht einmal die der MNR, die bereits zwei Monate nach ihrem Machtantritt den Führern der jüdischen Organisationen versicherte, dass sie keine antisemitischen Ziele verfolge, was sie in der Praxis auch einhielt. Hieraus erklärt sich auch, dass die Massenauswanderung von Juden aus Bolivien, die bereits 1945 einsetzte, nur marginal Folge des Antisemitismus war. Sie war vor allem Ergebnis der großen Schwierigkeiten und Probleme, die die Juden hatten, sich in einem Land zurechtzufinden und einzuleben, das einen ganz anderen Entwicklungsstand sowie ganz andere Gewohnheiten, Sitten und Kultur hatte, als es die Immigranten kannten, und das darüber hinaus permanent durch heftige politische Unruhen heimgesucht wurde.
León E. Bieber
Literatur Haim Avni, Perú y Bolivia. Dos naciones andinas y los refugiados judíos durante la era nazi, en: Beatriz Gurevich, Carlos Escudé, El Genocidio ante la Historia y la Naturaleza Humana, Buenos Aires 1994, S. 327-361. Florencia Durán de Lazo de la Vega, Efectos de la Migración Judía en Bolivia, in: historias … de la ciudad de La Paz. Revista de la coordinadora de historia, (3)1999, S. 157-178. León E. Bieber, Colonización agrícola judía en Bolivia, 1939-1952, in: Ibero-Amerikanisches Archiv, 25(1999), 3-4, S.269-306. Leo Spitzer, Hotel Bolivia. The Culture of Memory in a Refuge from Nazism, New York 1998, S. 161-181.
Brasilien Die Präsenz der Neuchristen (cristãos-novos) in Brasilien ist seit der Ankunft der Portugiesen im Jahr 1500 belegt. Brasilien wurde in dieser Zeit zu einem Verbannungsort für die von den Inquisitionstribunalen verurteilten Kryptojuden sowie zum Fluchtziel für diejenigen, die seit dem Ende des 15. Jahrhunderts in ? Portugal Opfer staatlicher Verfolgung und Judenfeindschaft waren. Die besondere Rolle, die die Neuchristen bei der Besiedlung und Bewirtschaftung der Kolonie spielten, bedeutete aber nicht, dass sie von Anfeindungen verschont blieben. 1579 übertrug Portugal dem Bischof von Salvador inquisitorische Vollmachten, die er zur Verfolgung der Juden systematisch einsetzte. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hat sich die Lage infolge des Angriffs der niederländischen Kolonialgesellschaft „West Indian Company“ (WIC) auf Bahia (1624) und der Inbesitznahme von Pernambuco (1636) teilweise geändert. Bahia fiel nach ungefähr einem Jahr wieder in die Hände der Portugiesen, wohingegen ein großer Teil der nördlichen Provinz Pernambuco bis 1654 im niederländischen Besitz blieb. Johann Moritz von Nassau-Siegen wurde als Gouverneur der Kolonie „Neue Niederlande“ ernannt. Die Gesellschaft, die von den Niederländern in Pernambuco aufgebaut wurde, hat sich durch religiöse Toleranz ausgezeichnet und eine große Anziehungskraft auf viele Neuchristen aus dem portugiesischen Süden und auf Juden ausgeübt, die direkt aus Europa kamen
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und dort die erste jüdische Gemeinde bildeten. Die Wiederaufnahme des Krieges durch die Portugiesen führte schließlich zur Vertreibung der Niederländer, und viele Juden Pernambucos wanderten nach ? Guyana, auf die Antillen, in die britischen Kolonialgebiete Nordamerikas oder zurück in die Niederlande. Zwischen Mitte des 17. und Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die Neuchristen wieder zur Zielscheibe inquisitorischer Verfolgung, die um die Jahrhundertwende in Massenverhaftungen, Deportationen und Verurteilungen gipfelte. Auch wenn viele dieser Neuchristen keine Verbindung mehr mit dem Judentum pflegten, wurden sie immer wieder des Kryptojudaismus beschuldigt. Erst mit Marquês de Pombal, dem „aufgeklärten Despoten“ Portugals (1750-1777), wurden alle Unterscheidungen zwischen Alt- und Neuchristen aufgehoben und die Verfolgungen per Gesetz untersagt. Mit der Ankunft der königlichen Familie Portugals 1808 – die vor der Armee Napoleons mit Unterstützung Englands nach Brasilien flüchten konnte – und der 1822 erklärten Unabhängigkeit Brasiliens wurden Möglichkeiten für die Ausübung nicht-katholischer Religionen eröffnet. Die erste Verfassung des brasilianischen Kaiserreichs hat zwar den katholischen Glauben zur Staatsreligion erhoben, sie erlaubte aber auch andere Religionen, sofern ihre Kulte privat durchgeführt wurden (d.h. in Häusern, die kein äußerliches Zeichen eines Tempels zeigten). Die Einwanderungspolitik des brasilianischen Kaiserreiches zielte darauf ab, durch die Ansiedlung von europäischen Einwanderern Agrarkolonien in Grenzgebieten zu bilden und später auch die Sklavenarbeit auf den Kaffeeplantagen durch die Arbeitskraft der Immigranten ersetzen zu können. Die wichtigsten Einwanderergruppen während des Kaiserreiches waren Deutsche, Italiener und Portugiesen. Jüdische Einwanderer waren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zahlenmäßig von geringer Bedeutung, 1900 betrug die jüdische Bevölkerung in Brasilien offiziellen Angaben zufolge 300 Personen. Die 1889 ausgerufene Republik brachte die Trennung zwischen Kirche und Staat und somit religiöse Freiheit, Prinzipien, die durch die erste republikanische Verfassung von 1891 anerkannt wurden. Das führte dazu, dass Brasilien zu einem Zielland privater Kolonisationsprojekte von Nicht-Katholiken wurde, darunter auch das der 1891 gegründeten „Jewish Colonization Association“ (JCA). Anfang des 20. Jahrhunderts fand der erste Versuch einer von der JCA organisierten Einwanderung in Südbrasilien statt, nachdem ein Kolonisationsprojekt in Argentinien ab 1893 positiv verlaufen war. Die erste ländliche Kolonie der JCA im Bundesstaat Rio Grande do Sul wurde 1904 gegründet. Insgesamt war die jüdische Einwanderung vor dem Ersten Weltkrieg noch gering. Zwischen 1881 und 1914 haben 9.750 Juden das Land erreicht, das waren 0,07 Prozent der 2.906.979 Menschen, die im gleichen Zeitraum ins Land kamen. Zwischen 1936 und 1942 sind weitere 14.576 Juden nach Brasilien eingewandert. Mit der Einwanderung von Juden, die bis zum Ende der 1920er Jahre fast ausschließlich aus Osteuropa stammten, waren erste Stimmen zu hören, die sich gegen diese Immigration wandten. Dies kann als Teil eines breiteren nationalistischen und nativistischen Phänomens betrachtet werden, welches die staatliche Einwanderungs- und Kolonisationspolitik in Frage stellte. Die Einwanderung war seit Ende des 19. Jahrhunderts für viele Intellektuelle und Politiker ein wichtiges Instrument, um Brasilien in die „zivilisierte Welt“ zu führen. Von der Diagnose ausgehend, dass Brasilien wegen der großen
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Zahl von Schwarzen und „Dunkelhäutigen“ ein rückständiges Land war, wurden Pläne für das Branqueamento – „Weißwerdung“ der brasilianischen Nation – durch die Aufnahme von Europäern und ihre „Mischung“ mit der brasilianischen Bevölkerung entworfen. Dieses Konzept hat u.a. Japaner und Schwarzafrikaner für Kolonisationsprojekte ausgeschlossen. Bei diesem Konzept wurde der Begriff „Europäer“ nicht als geographische Kategorie verstanden, sondern er bezog sich hauptsächlich auf die christlichen Westeuropäer, die desto positiver bewertet wurden, je größer ihre Neigung zur Assimilation in die brasilianische Gesellschaft war. Anfang der 1920er Jahre formulierten immer mehr Intellektuelle und Politiker in der Sprache des Nativismus das Thema der idealen Einwanderungsgruppen. Dabei handelte es sich um einen Versuch, die Aufmerksamkeit der Gesellschaft darauf zu lenken, dass bestimmte Gruppen von Europäern, hauptsächlich die Deutschen, wegen ihrer gesellschaftlichen Isolation und ihres Widerstandes gegen die „Mischung“ mit der brasilianischen Bevölkerung eine Gefahr für die Einheit Brasiliens darstellten. Anders als bei den Deutschen ging es bei den Juden nicht unbedingt um die Juden, die in Brasilien lebten. Es handelte sich vielmehr um die Übernahme eines aus Europa eingeführten Bildes der Juden im Kontext einer Einwanderungsgesellschaft mit sehr wenigen und vielerorts gar keinen Juden. Trotz der Tatsache, dass der Antisemitismus in der Öffentlichkeit immer mehr an Bedeutung gewann und dieser auf europäischen Rassenparadigmen basierte, gab es eine Besonderheit: Einerseits wurden die in Brasilien lebenden Juden zwar aufgrund dieser rassistischen Gedanken als Nicht-Schwarze gesehen – eine positive Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie – andererseits wurden die einwandernden Juden in die negative Kategorie der „Nicht-Weißen“ eingeordnet, d.h. sie wurden als Nicht-Europäer betrachtet. Das heißt, die „jüdische Frage“, die ab Anfang der 1920er Jahre in Brasilien entstand, bezog sich vor allem auf die Einwanderungsdebatte, ohne dabei den Alltag der jüdischen Gemeinden in Brasilien zu beeinträchtigen. Nativistische und antisemitische Äußerungen waren immer häufiger in der Presse zu lesen, und die Rhetorik gegen die Einwanderung im Allgemeinen und insbesondere gegen die Juden breitete sich aus. Gleichzeitig erfuhren aber die jüdischen Gemeinden in Brasilien in den 1920er Jahren einen bis dahin unbekannten Aufschwung und eine stärkere Institutionalisierung. In vielen Gemeinden entstanden soziale Einrichtungen wie Schulen, Synagogen, Hilfsorganisationen, die ihrerseits Voraussetzungen für eine weitere Zuwanderung schufen. Mit der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre, welche die Einwanderung insgesamt beeinträchtigte, ergab sich eine Intensivierung der antisemitischen Rhetorik in der Öffentlichkeit, und während der 1930er Jahre wurden restriktive Maßnahmen auch gegen jüdische Einwanderer erlassen. 1930 brach ein Militäraufstand im Lande aus, der die „Revolution von 30“ einleitete. Das Land erlebte eine tiefgreifende Umwandlung in seinen institutionellen Strukturen: Die Verfassung wurde außer Kraft gesetzt und gesetzgeberische Kompetenzen wurden in die Hände des „Übergangspräsidenten” Getúlio Vargas gelegt. Diese autoritäre Staatsumbildung wurde von einem Aufschwung des Nationalismus begleitet und bot ein ideales Klima für die rassistischen Parolen der Nativisten. Die klassischen antisemitischen
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Motive aus Europa fanden sowohl durch publizistische Importe als auch durch im Lande verfasste Bücher und Pamphlete starke Verbreitung. Diese Stimmung stieß bei der neuen Regierung auf Gehör und wurde zur Staatspolitik erhoben. Was am Anfang auf die Begrenzung der Einwanderung im Allgemeinen zielte, richtete sich allmählich gegen die Einwanderung von Juden. Ab 1930 wurde die Einwanderung durch Maßnahmen der neuen Regierung stark erschwert. Die Wirkung dieser Maßnahmen entsprach den Erwartungen der Staatsfunktionäre: die Einwanderung wurde um etwa 50 Prozent reduziert und erholte sich in den 1930er und 1940er Jahren nicht wieder. Dennoch, anders als bei anderen Gruppen, zeigte die Einwanderung von Juden in diesem Zeitraum keine drastische Senkung im Vergleich zu den Zahlen von 1930. Nicht nur die Zunahme der Zahl der Anträge von jüdischen Auswanderern aus Europa, die in Verbindung mit der Machtübernahme und der Ausbreitung des Nationalsozialismus stand, sondern auch der internationale Druck, dass Brasilien sein Einwanderungsquotengesetz lockere, trugen entscheidend dazu bei. In diesem Zusammenhang verfertigten Gesandte, Botschafter und Politiker Denkschriften und Berichte an die Adresse der Regierung, in denen mitunter massiv vor der jüdischen Einwanderung gewarnt und eine Reglementierung in dieser Hinsicht verlangt wurde. Aber die Juden wurden von der Regierung erst nach dem gescheiterten Putsch der Kommunisten Ende 1935 als „echte Gefahr“ wahrgenommen. Die aktive Teilnahme von Komintern-Agenten, einige von ihnen Juden, ermöglichte es, dieses Ereignis im Sinne der nativistischen Idee der „unerwünschten Ausländer“, in deren Mittelpunkt die Juden standen, propagandistisch auszuschlachten. Antisemitische Tendenzen innerhalb der Regierung haben im Zuge dieser Radikalisierung die Oberhand gewonnen. Ab 1937 wurden insgesamt 30 geheime Schreiben des brasilianischen Außenministeriums (unter Minister Oswaldo Aranha) an Botschaften und Gesandtschaften geschickt, in denen ausdrücklich untersagt wurde, Einreiseerlaubnisse für Juden auszustellen. Im November 1937 putschte der bis dahin verfassungsmäßige Präsident Vargas und leitete eine Diktatur ein, den „Neuen Staat“, die erst 1945 beendet wurde. Der angestrebte Aufbau einer kulturell homogenen brasilianischen Nation fand in der Nationalisierungskampagne und in dem damit verbundenen Bundesdekret Nr. 383 vom April 1938 seinen Ausdruck. Mit diesem Dekret waren die Tätigkeiten aller ausländischen Organisationen (Schulen und fremdsprachige Presse eingeschlossen) auf brasilianischem Boden sowie jede Art politischer Betätigung von Ausländern im Land verboten. Aber obwohl jüdische Schulen und Vereine sich an die nationalistische Gesetzgebung anpassen mussten, waren sie viel weniger betroffen als die Einrichtungen anderer Einwanderergruppen wie etwa die der Deutschen, Japaner und Italiener. Trotz aller restriktiven Maßnahmen der Regierung Vargas und der Verbreitung des Antisemitismus gibt es keine Belege dafür, dass der Antisemitismus konkrete Konflikte mit sich brachte, die das alltägliche Leben der jüdischen Gemeinden in irgendeiner Form beeinträchtigten. Dieses gesellschaftliche Umfeld trug im Wesentlichen dazu bei, dass Volkszählungen zufolge die jüdische Bevölkerung in Brasilien zwischen 1940 und 1980 ein ständiges Wachstum erfahren hat. Lebten in den 1940er Jahren gegen 50.000 Juden
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in Brasilien, so waren es 1980 etwa 90.000 Personen. Danach war eine Abnahme festzustellen: 1991 waren es 86.000, 4.000 weniger als zehn Jahre zuvor. Seit dem Ende des Vargas-Regimes, abgesehen von bis in die 1950er Jahre bestehenden Einwanderungseinschränkungen, gibt es kein Anzeichen dafür, dass es staatlich durchgeführte Maßnahmen gegen Juden gegeben hat. Antisemitismus zeigt sich aber im zeitgenössischen Brasilien sowohl anlässlich von seltenen Zwischenfällen wie der Entweihung eines jüdischen Friedhofs in Südbrasilien Mitte der 1960er Jahre, als auch in Phänomenen wie der Entstehung kleinerer Gruppen von Skinheads und Neonazis, die rassistische und antisemitische Parolen verbreiten. Institutionalisierter Antisemitismus wird durch den vor Kurzem verbotenen kleinen rechtsextremistischen Verlag Revisão repräsentiert, der die revisionistische Literatur von Holocaustleugnern herausbrachte.
Luís Edmundo Moraes
Literatur Maria Luíza Tucci Carneiro, O Anti-semitismo na Era Vargas, São Paulo 2001. Maria Luíza Tucci Carneiro, O Veneno da Serpente, São Paulo 2003. Marcos Chor Maio, Qual anti-semitismo? Relativizando a questão judaica no Brasil dos anos 30, in: Dulce Pandolfi (Hrsg.), Repensando o Estado Novo, Rio de Janeiro 1999. Roney Cytrynowicz, Além do Estado e da Ideologia. Imigração Judaica, Estado-Novo e Segunda Guerra Mundial, in: Revista Brasileira de História, 22(2002), 44, S. 393-423. René Daniel Decol, Judeus no Brasil: explorando os dados censitários, in: Revista Brasileira de Ciências Sociais, 16(2001), 46, S. 147-160. Jeffrez Lesser, O Brasil e a Questão Judaica: Imigração, Diplomacia e Preconceito, Rio de Janeiro 1995. Jacob Letschinsky, Migrações Judaicas: 1840-1956, in: Henrique Rattner (Hrsg.), Nos Caminhos da Diáspora, São Paulo 1972. Arnold Witznitzer, Os Judeus no Brasil Colonial, São Paulo 1966. Egon e Frieda Wolf, Os Judeus no Brasil Imperial, São Paulo 1975.
Bukowina Die historische Region Bukowina hatte außer dem Dnjestr im Norden keine natürlichen Grenzen. Sie entstand, weil Joseph II. nach der Eingliederung Galiziens 1772 in das Habsburger Reich eine direkte Verbindung zwischen Lemberg und den Garnisonen in Siebenbürgen angeregt hatte. 1774 besetzten österreichische Truppen den Nordteil des Fürstentums Moldau. Die Hohe Pforte trat dieses Gebiet nach dem osmanisch-russischen Krieg ab, es wurde Bukowina („Buchenland“) genannt. Im 18. Jahrhundert lebten wenige Juden in der Bukowina, die Mehrheit der Bevölkerung bildeten rumänische und ukrainische Bauern. Joseph II. förderte die Ansiedlung von deutschen und anderen Kolonisten und Handwerkern. Anfangs reagierten die Militärbehörden ablehnend auf den Zuzug vieler Juden aus Galizien. Doch bald erkannten sie, dass nur die jüdischen Gewerbetreibenden die Versorgung der Städter sicherstellen
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konnten. Seit 1812 konnten sich Juden mit einem Duldungsschein in der Bukowina niederlassen; die Bevölkerungszahl stieg von den im Jahr 1776 geschätzten 70.000 Bewohnern auf über eine halbe Million im Jahr 1880. Nach der Revolution von 1848 entfiel die Einschränkung der Freizügigkeit der Juden und so stieg ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung weiter an: von 3,8 Prozent (1850) auf 11,8 Prozent (1880). 1900 hatten sie ihren höchsten Anteil mit 13,17 Prozent erreicht, er ging bis 1910 auf 12,8 Prozent zurück, da der Anteil der Ukrainer schneller wuchs. Die starke Konzentration von Juden in bestimmten Branchen führte zu Spannungen, die den Nährboden für Antisemitismus boten. In den 1880er Jahren waren 98 Prozent der Schankstuben in jüdischen Händen und besonders rumänische Geistliche machten die Juden dafür verantwortlich, dass manche Bauern durch Alkoholkonsum Hab und Gut verloren. Als 1867 die Beschränkungen der Besitzrechte aufgehoben wurden, begannen einige Juden, verschuldete Höfe von Rumänen zu kaufen. Einige Juden pachteten auch Waldflächen und ließen das Holz in Sägewerken verarbeiten. Die Bauern der umliegenden Dörfer mussten nun das nötige Brennholz und Baumaterial zu für sie kaum erschwinglichen Preisen kaufen. Viele produzierten nur für den Eigengebrauch und erlebten den Einbruch der Warenbeziehungen in ihrer Welt als Verdrängung aus ihren traditionellen Strukturen. Einige rumänische und ukrainische Dorflehrer verfestigten ideologisch die Sicht, dass die Juden am sich ausbreitenden Elend schuld seien. Neben diesem latenten Antisemitismus gab es in den Städten manifeste Abgrenzungen. Dies soll vor allem an der Lage in der Landeshauptstadt Czernowitz skizziert werden, in der die Juden mit 32,8 Prozent die größte Einwohnergruppe stellten. Da es weniger deutsche Stadtbürger gab, hatten diese im 19. Jahrhundert alle Kulturvereine und Bildungseinrichtungen zusammen mit Juden aufgebaut. Besonders die 1875 gegründete Universität ermöglichte auch Söhnen aus der Mittelschicht den sozialen Aufstieg. Die Anzahl der jüdischen Studenten wuchs von 33,3 Prozent (1901/02) auf 41 Prozent (1905/06). An die Universität wurden Professoren aus allen Teilen des Habsburger Reiches berufen. Unter ihnen waren einige, welche die Beschäftigungen der Juden als Gefahr für den sozialen Frieden darstellten. In diesem Sinn argumentierte etwa der Jurist Julius Platter in seiner 1878 publizierten Schrift „Der Wucher in der Bukowina“. 1897 gründeten Professoren den „Verein der christlichen Deutschen“, in ihm wirkten vor allem Staatsbeamte, Lehrer, Studenten und Kaufleute. Er versuchte seine Basis zu erweitern, indem er in seiner Zeitschrift „Bukowiner Bote“ dazu aufrief, Aufträge nur an deutsche Handwerker und Gewerbetreibende zu vergeben. Der „Verband deutscher landwirtschaftlicher Genossenschaften“ sollte Deutsche durch Kredite vor jüdischen „Wucherern“ schützen. Es erfolgte eine Abgrenzung von den „Sprachdeutschen“, unter die die Mehrheit der Juden fiel, da Jiddisch bei Volkszählungen nicht als Sprache gewertet wurde. Dieser Prozess der Separierung bewirkte, dass auch die Juden eigenständige Vereine bildeten. Der „Jüdische Volksverein“ unterstützte die Wahl von Benno Straucher in den Stadtrat und Reichsrat. Dessen „Jüdische Nationalpartei“ vertrat einen Diaspora-Nationalismus. Gemeinsam mit jüdischen Abgeordneten aus Galizien versuchte er die kulturelle Situation der Juden zu verbessern. Er setzte sich für das allgemeine Wahlrecht ein und sammelte Mittel für das „Jüdische Haus“ in Czernowitz. Die Zionisten kritisierten
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Strauchers Eintreten für die Assimilation der Juden, sie propagierten die Auswanderung nach Palästina. Die dritte Gruppe bildeten die Jiddischisten, die vor allem aus dem Kreis der Sozialdemokraten und Poale-Zionisten kamen. Sie verlangten die Anerkennung des Jiddischen als landesübliche Sprache und förderten Kulturveranstaltungen in dieser Sprache. Die Juden, die sozial aufsteigen wollten, begriffen sich als deutsche Kulturträger. Ohne sie hätte es vor dem Ersten Weltkrieg nicht die ca. 200 deutschen Presseorgane in diesem kleinen Kronland gegeben. Von der gesellschaftlichen Integration der Juden zeugt auch, dass in Czernowitz zweimal Juden Bürgermeister wurden: Eduard Reiss (1905-1907) und Salo von Weisselberger (1912-1918). Als nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie im November 1918 die rumänische Armee in der Bukowina einmarschierte, begann für die Juden eine schwierige Zeit. Rumänen propagierten den bedingungslosen Anschluss an das Königreich Rumänien und organisierten eine so genannte Nationalversammlung von geladenen Honoratioren. Vertreter der Ukrainer, die im Norden die Mehrheit der Bevölkerung stellten und eine Vereinigung mit der Westukrainische Republik angestrebt hatten, waren nicht eingeladen worden. Der Jüdische Volksrat, in dem alle politischen Strömungen vertreten waren, machte die Zustimmung zum Anschluss davon abhängig, dass die Versammlung die Bürgerrechte für alle Juden garantieren würde. Im Königreich Rumänien waren die meisten Juden damals Staatenlose ohne Rechte. Da der Volksrat keine Zusage erhielt, schickte er keine Delegierten zur Anschlussfeier, dafür aber zur Pariser Friedenskonferenz. Die Delegierten des Deutschen Volksrates nahmen an der Anschlussfeier teil, nachdem ihnen versprochen wurde, dass die deutschsprachige Universität in Czernowitz erhalten bliebe. Die Zusage wurde von dem aus Bukarest eingesetzten Verwaltungsleiter nicht respektiert: 1919 verließen 31 der 35 Professoren Czernowitz, weil sie nicht sofort in rumänischer Sprache lehren konnten. Auch das deutschsprachige Stadttheater, das Juden und Deutsche zusammen aufgebaut hatten, wurde eine rumänische Institution. Die Gleichberechtigung der Juden wurde aufgrund des Drucks der Friedenskonferenz zwar in die neue Verfassung Großrumäniens 1923 aufgenommen. Doch die „Liga zur Christlich-Nationalen Verteidigung“ hetzte dagegen. Durch das neue Staatsbürgerschaftsgesetz von 1924 wurden auch Juden aus der Bukowina Staatenlose. Für die Belange der Juden trat im Bukarester Parlament der Czernowitzer Abgeordnete Jakob Pistiner auf, der auch Führer der Bukowiner Sozialdemokraten war. Als 1926 nach einem Schulkonflikt ein rechter Rumäne in Czernowitz einen jüdischen Oberschüler erschoss, protestierten gemeinsam mit Pistiner auch Vertreter der Deutschen und der Ukrainer. Der Innenminister lobte aber den Attentäter und die Richter sprachen ihn auf Druck von Demonstranten frei. Seit Mitte der 1920er Jahre zogen Vertreter der „Liga“ auch durch die Bergdörfer im Süden der Bukowina. Während die „Liga“ im Landesdurchschnitt nur 4,67 Prozent der Stimmen erhielt, lagen die Anteile in den Bukowiner Wahlbezirken im Schnitt bei etwa 20 Prozent. In den Jahren der Weltwirtschaftskrise führten die Antisemiten die sich ausbreitende Armut auf die „jüdischen Wucherer“ zurück und verlangten die Enteignung aller Juden. Bereits 1931 zirkulierten Flugblätter mit Hakenkreuzen, in denen die Regierung als „verjudet“ diffamiert wurde. 1931 schnitt die „Liga“ mit 22,3 Prozent der Stimmen besonders gut in der Bukowina ab. Der Stimmenrückgang 1932 auf 14,2 Prozent
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beruhte auf einer Aufsplitterung der rechten Wähler, weil nun auch die „Eiserne Garde“ dort warb. Ihre zumeist jungen Anhänger bedienten sich besonders radikaler Kampfmethoden. Sie waren die Urheber eines Großbrandes, bei dem 1930 in Borşa 230 Häuser zerstört wurden. Wegen ihrer terroristischen Aktionen wurde 1931 die „Eiserne Garde“ verboten, doch sie wirkte unter anderen Bezeichnungen weiter. Das langjährige Bündnis der Nichtrumänen gegen die Zwangsrumänisierung zerfiel. Nach der Machtübergabe an Hitler in Deutschland hatten jüdische Organisationen zum Boykott von Waren aus Deutschland aufgerufen und die Bukowiner beteiligten sich daran. Diese Aktion wurde von Sprechern der deutschen Minderheit in Rumänien heftig kritisiert. Auch unter den Ukrainern wuchs der Anteil jener, die antisemitische Vorurteile verbreiteten und eine Großukraine mit homogener Bevölkerung anstrebten. Wegen der Attacken von Rechtsradikalen schlossen sich junge Juden zu Selbstwehrgruppen zusammen. Als in Czernowitz rechte Rumänen Juden den Besuch des Volksgartens verwehrten, kam es 1936 zu einer Prügelei, bei der ein Rumäne tödlich verletzt wurde. An der Beerdigung des Rumänen beteiligten sich 1936 auch Deutsche und Ukrainer, die Presse verzeichnete dies als neue „christliche Abwehrfront“. Die verhafteten jüdischen Jugendlichen wurden gefoltert, Edi Wagner kam im Polizeirevier zu Tode. Im Anschluss wurden viele Linke verhaftet und das Versammlungshaus der jüdischen Sozialdemokraten „Haus Morgenrot“ geschlossen. Als im Dezember 1937 der König der „National-Christlichen Partei“ die Regierung übergab, waren die Juden der Bukowina politisch isoliert. Durch das Dekret zur Überprüfung der Staatsbürgerschaft verloren viele Bukowiner Juden ihre Bürgerrechte. Sie wurden aus vielen Berufssparten verdrängt. Nach einem sowjetischen Ultimatum räumten die rumänische Verwaltung und die Armee die Nord-Bukowina Ende Juni 1940. Der sowjetische Sicherheitsdienst deportierte etwa 10.000 Juden, darunter politisch Missliebige (Zionisten, Sozialdemokraten) sowie jüdische Kleinhändler und Gutsbesitzer samt ihren Familien nach Sibirien. Viele starben dort an Hunger und Erschöpfung. Nach dem Einmarsch der rumänischen Armee im Juli 1941 wurden in vielen Orten Juden ermordet. Auch in Czernowitz erschossen deutsche und rumänische Soldaten Juden. 45.000 wurden im Herbst 1941 nach ? Transnistrien deportiert. In Czernowitz gelang es dem Bürgermeister Traian Popovici durch eine Intervention bei General Antonescu zu erwirken, dass 20.000 Juden in der Stadt verblieben. Nach der Amtsenthebung von Popovici wurden von den als „wirtschaftlich notwendig“ Eingestuften im Sommer 1942 noch einmal ca. 5.000 deportiert. Die Zurückgebliebenen konnten ein Hilfsnetz für die Deportierten organisieren. Nach dem Vormarsch der Roten Armee kehrten im Frühjahr 1944 die Deportierten aus Transnistrien zurück. Da die Existenzmöglichkeiten der meisten Juden zerstört waren, nutzten viele 1946 die Möglichkeit zur Ausreise. Der Norden des Gebietes wurde Teil der Ukrainischen SSR, der Süden verblieb bei Rumänien.
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Literatur Andrei Corbea-Hoisie (Hrsg.), Jüdisches Städtebild Czernowitz, Frankfurt am Main 1998. Gaby Coldewey u.a. (Hrsg.), Zwischen Pruth und Jordan. Lebenserinnerungen Czernowitzer Juden, Köln 2003. Mariana Hausleitner, Die Rumänisierung der Bukowina. Die Durchsetzung des nationalstaatlichen Anspruchs Großrumäniens 1918-1944, München 2001. Julius Wolfenhaut, Nach Sibirien verbannt. Als Jude von Czernowitz nach Stalinka 19411994, Frankfurt am Main 2005.
Bulgarien Juden haben bereits in der Antike im Raum des historischen Bulgarien gelebt. Dort waren sie im Zuge der Religionspolitik Theodosius I., die sich vor allem gegen innerchristliche Häretiker richtete, um das Jahr 379 lokalen Verfolgungen ausgesetzt, bei denen auch Synagogen zerstört wurden. Im ersten Bulgarischen Reich (bis 1396) lebten Juden in verschiedenen Städten des Herrschaftsgebietes. Sie stammten aus unterschiedlichen Teilen Europas sowie Kleinasiens und unterlagen keiner direkten Verfolgung. Vor den Verfolgungen in Byzanz unter Leo III. dürften sich Juden ebenso hierher geflüchtet haben wie während der Kreuzzüge. Vermutlich löste sich etwa die aus Romanioten bestehende Gemeinde in Monastir aufgrund der antijüdischen Verfolgungen der Kreuzzügler Anfang des 12. Jahrhunderts auf. Im 14. Jahrhundert gerieten die Juden in die Auseinandersetzungen der bulgarischen Kirche mit Häretikern. Besonders das Konzil von 1352 hatte eine antijüdische Ausrichtung, weil Juden Häretikern gleichgestellt und entsprechend behandelt wurden. Infolgedessen kam es zu Übergriffen gegen Einzelpersonen, aber zu keiner landesweiten Verfolgung.
Osmanische Herrschaft (1396-1878) Ende des 15. Jahrhunderts wanderten sephardische Juden nach deren Vertreibung von der iberischen Halbinsel in die Städte der Region ein, sodass zu dieser Zeit drei jüdische Gruppen mit eigenen Traditionen nebeneinander bestanden: Aschkenasen mit einer im Mittelalter herausgebildeten mitteleuropäisch geprägten Kultur und deutschem Sprachgebrauch, Romanioten mit seit der Antike bestehenden Gebräuchen unter Verwendung der griechischen Sprache sowie Sepharden mit auf der iberischen Halbinsel geprägtem Hintergrund und spanischem Sprachgebrauch. Unter osmanischer Herrschaft gab es keine explizite antijüdische Verfolgung. Allerdings unterlagen Juden wie Christen diskriminierenden Regelungen. Als „dhimmis“ (Schutzbefohlene) waren sie Untertanen zweiter Klasse und hatten neben der „dschizya“ (Kopfsteuer) weitere diskriminierende Steuern und Abgaben zu entrichten. Daneben mussten sie durch eine spezifische Kleidung erkennbar sein, andere Namen tragen, durften keine Waffen mit sich führen und waren den Muslimen rechtlich untergeordnet. Ende des 15. und im 16. Jahrhundert wurden zahlreiche Juden (vor allem Romanioten) zwangsweise aus ihren Orten in das ehemalige venezianische Viertel Istanbuls oder
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in andere Städte des Osmanischen Reiches verschleppt. Diese als „sürgün“ bezeichnete Bevölkerungsumsiedlung betraf etwa Juden aus Adrianopel (Edirne), Saloniki und Philippopolis (Plovdiv). Letztlich führte die Zwangsumsiedlung zur Zerstörung ganzer Gemeinden und brachte zudem für die Einzelpersonen erhebliche ökonomische und soziale Probleme mit sich. Ihnen war beispielsweise untersagt, den neuen Wohnort ohne Sondergenehmigung wieder zu verlassen, und sie konnten nicht frei heiraten. Allerdings traf die Verschleppung nicht nur Juden, sondern auch andere ethnische Gruppen.
Von der Unabhängigkeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (1878-1944) Die ersten antisemitischen Aktionen in Bulgarien gingen von russischen Soldaten aus, die im Gefolge des Krieges gegen die Osmanen 1878 unter Mithilfe von Bulgaren in Nikopol, Vidin, Svištov und an weiteren Orten Juden vertrieben. Ab den 1880er Jahren traten die latent vorhandene christliche Judenfeindschaft auf dem Lande und wirtschaftlich motivierter Antisemitismus auf. Erstmals wurde Ostern 1884 in Varna eine Ritualmordbeschuldigung verbreitet. In dieser Stadt kam es ein Jahr darauf zu einem Pogrom. Parallel entwickelte sich ein antisemitischer Buchmarkt, auf dem auch Übersetzungen einschlägiger Werke aus dem Deutschen oder Russischen zu finden waren. Im folgenden Jahrzehnt entstanden Zeitungen und Zeitschriften, die zur Verbreitung des Antisemitismus erheblich beitrugen. Nikola Mitakov gründete 1893, ein Jahr nach einem Pogrom in Vraca, das erste derartige Blatt namens „Bălgaria bez evrei“ (Bulgarien ohne Juden), später „Bălgaria za bălgarite“ (Bulgarien den Bulgaren) genannt. Außerdem begann 1897 Stojan Šangov mit der Publikation der Tageszeitung „Nov otziv“ (Neues Echo), die einen ländlich-traditionellen christlichen Antisemitismus propagierte und als Boulevardzeitung erfolgreich war. Wiederum ein Jahr darauf setzte eine antisemitische Welle ein. In Tatar Pazardžik, Plovdiv und Jambol ereigneten sich Pogrome. Erzbischof Medoij Kusevič, Metropolit von Plovdiv, organisierte einen Pogrom in Kjustendil. Er leitete zudem das antisemitisch ausgerichtete Blatt „Otbrana“ (Verteidigung). 1899 folgten weitere Pogrome in Dupnica, Lom und Pleven. Eine Ursache lag in der ökonomischen Krise, unter denen besonders das ländliche Bulgarien damals litt. Im folgenden Jahr erreichten die antisemitischen Agitationen Sofia. Gleichzeitig entstand mit „Večerna pošta“ (Abendpost) ein weiteres, von Šangov geleitetes antisemitisches Boulevardblatt. Parallel entwickelte sich ein ebenso ausgerichtetes lokales Pressewesen: In Vidin erschien die Zeitschrift „Zaštitnik“ (Verteidiger) und in Burgas „Golgota“ (Golgatha). Am 13. April 1901 erfolgte in Kjustendil das schwerste Pogrom in Bulgarien: Die Synagoge wurde niedergebrannt und das jüdische Viertel geplündert. Dabei sind zahlreiche Juden misshandelt und sechs gelyncht worden. Im selben Jahr litten erneut Juden in Vraca unter gewalttätigen Übergriffen in Folge einer Ritualmordbeschuldigung. Im April 1904 folgten weitere Pogrome in Lom und Vidin. Danach ebbte diese Welle ab. Nunmehr überwogen gewalttätige Übergriffe auf griechische Bewohner bulgarischer Orte. Bei den nachgewiesenen Pogromen in 14 Städten seit 1885 wurden viele Juden verletzt und etwa 20 ermordet. Daneben existierte ein spezifisch antisemitischer Buch- und Zeitschriftenmarkt. Es gab Diskriminierungen im Staatsdienst sowie in einigen gesellschaftlichen Bereichen wie dem Militär. Besonders die in der Armee und unter den in Bulgarien lebenden Exilmakedoniern verbreiteten antisemitischen Einstellungen
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Karte 5: Antijüdische Ausschreitungen nach 1878
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führten in den Balkankriegen und im Ersten Weltkrieg zu gewalttätigen Übergriffen auf Juden. Nach dem verlorenen Weltkrieg bezogen vor allem die Organisationen mazedonischer Emigranten Stellung gegen Juden in Bulgarien. Gegen Ende der 1920er Jahre traten schließlich zahlreiche rechtsextreme Splittergruppen offen antisemitisch auf. Diese pflegten enge Kontakte in das Deutsche Reich und zur NSDAP. Anfang April 1934 kam es zu Massenprotesten, über die sogar die ausländische Presse (etwa die „Liverpool Post“) berichtete, nur weil die Enkelin eines Generals einen Juden ehelichen wollte. 1938 verwüsteten Antisemiten im Zentrum der Hauptstadt jüdische Geschäfte, ohne dass die Polizei energisch eingegriffen hätte. Den Abschluss der Zwischenkriegsphase markiert ein Ausweisungsdekret für ausländische Juden, das im September 1939 erlassen wurde. Da eine Abschiebung lediglich in Staaten möglich war, die an Bulgarien grenzten, waren davon vor allem türkische und griechische Staatsbürger betroffen. Einige Juden mit anderer Staatsbürgerschaft entschieden sich zur Emigration nach Palästina, die Mehrzahl verblieb jedoch im Lande. Nachdem Petăr Grabovski, Mitglied der rechtsextremen „Ratnici za napredăka na bălgarštinata“ (Vorkämpfer für den Fortschritt des Bulgarentums), im Februar 1940 zum Innenminister berufen worden war, gelangten zahlreiche Ratniki in das Ministerium. Damit wurde Antisemitismus zu einem Leitgedanken der Innenpolitik Bulgariens. Der Ratnik Aleksandăr Belev leitete ab 1940 die anfangs inoffizielle Abteilung für Judenfragen. Wenige Monate später reiste er zur Vorbereitung einer antijüdischen Gesetzgebung ins Deutsche Reich. Nach seiner Rückkehr schuf Belev den Entwurf des „Zakon za zaščita na nacijata“ (Gesetz zum Schutz der Nation, ZZN), der im Oktober 1940 vom Ministerrat genehmigt wurde. Bereits im November und Dezember folgten die Lesungen im Parlament, bevor das Gesetz im Januar 1941 vom Innenminister und dem Zaren Boris III. unterzeichnet sowie im Gesetzblatt veröffentlicht wurde. Die grundlegende Entscheidung, ein antijüdisches Gesetz nach deutschem Muster zu erlassen, trafen der Zar und die von ihm abhängige Regierung im Frühsommer 1940, also nach dem militärischen Sieg Deutschlands über Frankreich, und zwar aufgrund der Annahmen, dass das Reich die dominierende Kraft in Kontinentaleuropa sein würde und allein mit dessen Hilfe die Staatsgrenzen Bulgariens verändert werden könnten. Es hat keines deutschen Drucks auf Bulgarien bedurft, weil der Antisemitismus seit der Berufung Grabovskis zum Innenminister handlungsleitend geworden war. Auf der Grundlage des ZZN erfolgten alle weiteren Schritte auf dem Weg zur Ermordung der bulgarischen Juden. Den Anfang markierte die rechtliche Minderstellung. Das ZZN sah vor, dass Juden nicht mehr wählen oder gewählt werden durften, keine Staatsbedienstete mehr sein konnten, statt des Militärdienstes einen besonderen Arbeitsdienst leisten mussten, keine Nichtjuden mehr heiraten konnten, ihr Vermögen registrieren lassen mussten und ihren Grundbesitz verloren sowie den Wohnsitz ohne polizeiliche Genehmigung nicht mehr wechseln durften. Letztlich finden sich hier Elemente, die Juden zu Bürgern minderen Rechts mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit sowie kontrolliertem und verringertem Besitz machten. Zudem wurden sie im Hinblick auf ihre Arbeitskraft zur unbegrenzten Ausbeutung freigegeben.
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Noch im Juli 1941 erließ die Regierung eine besondere Steuer für Juden (unter Einschluss der außerhalb Bulgariens lebenden jüdischen Staatsbürger). Für Vermögen über 200.000, aber unter 3 Millionen Leva mussten 20 Prozent, für Vermögen über 3 Millionen Leva 25 Prozent gezahlt werden. Bereits diese Strafsteuer führte dazu, dass zahlreiche jüdische Unternehmer aufgrund fehlender Mittel ihre Firmen aufgeben mussten. Ab August 1941 leisteten jüdische Männer einen speziellen Zwangsarbeitsdienst. Sie wurden in gesonderten Lagern interniert, arbeiteten beim Ausbau der Infrastruktur des Landes und wurden einer brutalen Behandlung durch Lagerleiter und Bewachungspersonal unterworfen. Im Arbeitsdienst kamen zahlreiche Juden ums Leben oder wurden als vermeintliche Feinde der bulgarischen Ordnung erschossen. Eine erhebliche Verschärfung der antijüdischen Politik erfolgte mit dem Erlass des Dekrets vom 26. August 1942. Dadurch wurde die Regierung ermächtigt, jüdische Angelegenheiten ohne Zustimmung des Parlaments zu regeln. Entsprechend entstand eine eigene Agentur, das „Komisarstvo za evrejskite văprosi“ (Kommissariat für jüdische Fragen, KEV). Eine seiner Hauptaufgaben war die Liquidierung bzw. „Bulgarisierung“ jüdischer Unternehmen. Dies trug maßgeblich zur Verarmung aller Juden bei. Daneben war festgelegt worden, dass die Juden der Hauptstadt in die Provinz oder ins Ausland abgeschoben werden konnten. Angesichts der im Sommer 1942 europaweiten Deportationen in die Vernichtungslager war offensichtlich, was eine Abschiebung ins Ausland bedeuten würde. In welche Richtung die bulgarische Politik unter Zar Boris III. zielte, ist evident: Im Juli 1942 hatte die Regierung ihr Desinteresse an Juden mit bulgarischer Staatsbürgerschaft in den deutsch besetzten Gebieten erklärt, sodass diese den deutschen Verfolgungsmaßnahmen unterlagen. Allein aus Frankreich und dem Deutschen Reich unter Einschluss der annektierten und angeschlossenen Gebiete wurden mehrere Hundert bulgarische Juden deportiert und ermordet. Außerdem sah das August-Dekret die Kennzeichnungspflicht für Juden vor, eine Maßnahme die der weiteren Ausgrenzung diente. Ab Oktober 1942 begannen Ghettoisierungsmaßnahmen in den einzelnen Städten. Z.B. wurde in Sofia das Viertel Juč Bunar zum Wohnbezirk für die Juden erklärt. Auch andernorts erfolgte die Einrichtung von speziellen Wohnbereichen, wurden Ausgangsbeschränkungen erlassen und ähnliche Verfolgungsmaßnahmen ergriffen. Am 2. November 1942 erklärte das bulgarische Außenministerium in einer Verbalnote, dass Bulgarien zur Deportation seiner Juden bereit sei, aber eine bestimmte Anzahl noch für öffentliche Baumaßnahmen benötige. Es wurde um die Überstellung eines deutschen Judenberaters gebeten. Dies entsprach dem überall im deutsch dominierten Europa vorzufindenden Muster vor Deportationen. Anschließend arbeitete Theodor Dannecker mit Aleksandăr Belev, dem Leiter des KEV, zwischen Dezember 1942 und Februar 1943 die Basisvereinbarung über die Deportation von 20.000 bulgarischen Juden aus, die am 22. Februar von beiden unterzeichnet wurde. Belev gedachte, die Juden aus den annektierten Gebieten Thrakiens und Makedoniens sowie des Pirot-Distrikts und eine bestimmte Anzahl aus dem Kernland zu deportieren. Am 2. März 1943 beschloss das Kabinett unter Zustimmung Boris III. auf der Basis des August-Dekrets vom Vorjahr eine Reihe von Deportationsdekreten. Sogleich begannen am 4. März die Festnahmen der Ju-
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den in Thrakien. 4.058 Juden aus diesem Gebiet wurden über Gorna Džumaja und Dupnica nach Lom verschleppt, um im besetzten Polen ermordet zu werden. Am 11. März wurden die Juden im Pirot-Distrikt und in Makedonien festgenommen. 158 aus Pirot und 7.167 aus Makedonien sind anschließend ebenfalls ins besetzte Polen deportiert worden. Die Gesamtzahlen der Deportierten schwanken nach unterschiedlichen Quellen zwischen 11.343 und 11.459. Damit wurden weit weniger als die vereinbarten 20.000 deportiert. Dies hängt damit zusammen, dass die am 10. März 1943 in Haskovo, Plovdiv, Pazardžik, Šumen und anderen Orten auf „altbulgarischem“ Boden festgenommenen Juden wieder freigelassen worden waren. Dimitŭr Pešev, Vizepräsident des Parlaments, hatte bei Innenminister Grabovski mit Hilfe weiterer Abgeordneter erfolgreich interveniert. Nach Rücksprache mit Ministerpräsident Filov ließ Grabovski mitteilen, dass die Deportationspläne nicht revidiert werden könnten, aber ein Aufschub möglich sei. Pešev organisierte weiterhin den Protest gegen die Deportation aus Altbulgarien und übersandte am 17. März eine von 42 Abgeordneten unterzeichnete Protestnote an Filov. Obgleich in der Parlamentssitzung am 24. März der Protest überstimmt, also ein positives Votum des Parlaments zugunsten der Deportationen abgegeben wurde, kam es zu keiner weiteren mehr. Letztlich hatte der militärische Sieg der Westalliierten in Nordafrika und ihr Vormarsch in Italien sowie das Zurückdrängen der Wehrmacht aus der besetzten UdSSR durch die Sowjetarmee im Sommer 1943 die weitere Übergabe jüdischer Bulgaren an die Deutschen verhindert. Insgesamt wurden jedoch mehr als die rund 11.400 Deportierten ermordet. Zu den Opfern der bulgarischen Politik zählen auch die im Arbeitsdienst umgekommenen oder ermordeten jüdischen Zwangsarbeiter und Hunderte aus den deutsch besetzten Gebieten aufgrund des Desinteresses der bulgarischen Regierung in die Vernichtungslager verschleppte Staatsbürger im Ausland. Nach dem Aussetzen der Deportationen wurde die antisemitische Politik indes fortgesetzt. Die ökonomische Ausplünderung einschließlich der Zwangsarbeit dauerte ungebremst an. Darüber hinaus wurden die Juden in Sofia ab Mai 1943 zwangsweise in andere Städte mit jüdischen Gemeinden umgesiedelt. Dabei verloren sie fast ihr gesamtes Hab und Gut, das nach Verlassen der Wohnungen an Nichtjuden versteigert wurde. In den neuen Orten mussten sie unter schwierigsten Bedingungen (kaum Wohnraum, mangelhafte Versorgung mit allen Gütern, schlechte Ernährungslage) bis zum Seitenwechsel der bulgarischen Regierung 1944 ausharren.
Unter kommunistischer Herrschaft (1945-1989) Kurz vor dem Einmarsch der Sowjetarmee im September 1944 wurden die antijüdischen Gesetze aufgehoben. Es begann eine Politik der Wiederzulassung jüdischer Organisationen, der Wiederherstellung des jüdischen Schulwesens, der erneuten Einrichtung jüdischer Institutionen wie dem Jüdischen Krankenhaus und dem Jüdischen Wissenschaftlichen Institut. Daneben wurde Anfang 1945 vor einem eigenen Senat des Volksgerichtshofes in Sofia ein Verfahren gegen Personen, die Verbrechen gegen Juden im Rahmen des Zwangsarbeitsdienstes begangen hatten, durchgeführt. Auch Rückerstattungen entzogenen Eigentums fanden statt. Doch bereits mit Festigung der kommunistischen Diktatur begann ab 1946 ein Prozess der Auflösung, Behinderung oder Kontrolle aller jüdischen Institutionen und Organisationen. Der erneute politische und ökonomische Druck
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führte dazu, dass nach der erteilten Genehmigung zur Auswanderung nach Israel im Jahr 1948 rund 39.000 Juden Bulgarien verließen. Es blieben schätzungsweise 10.000, darunter auch solche, die sich selbst nicht als Juden empfanden, sondern jegliche Bindung an die jüdischen Gemeinden verloren hatten oder als Kommunisten den Glauben an Gott ablehnten. Die in Bulgarien verbliebenen Juden besaßen, besonders unter der Führung von Todor Živkov (1956-1989), die Protektion der Staatsführung. Daher kam es zu keinen weiteren antijüdischen Verfolgungen oder einseitigen Maßnahmen, wie sie die in Bulgarien lebenden Türken oder Roma trafen.
Entwicklungen seit 1990 Mit dem Ende der kommunistischen Herrschaft im November 1989 entfiel die Vorzugsbehandlung der Juden unter gleichzeitigem Wegfall des Schutzes vor antisemitischen Angriffen. Entsprechend kam es in den 1990er Jahren wieder zu publizistischen Angriffen, zu Hakenkreuzschmierereien an Synagogen, aber auch an Wohnungen von Juden, zu Drohungen gegenüber bekannten Persönlichkeiten und im März 1990 zu einer Brandstiftung in der Synagoge der Hauptstadt sowie im Oktober 1991 im jüdischen Kulturhaus. In Folge des gesellschaftlichen Wandels, aber auch des erneut spürbaren Antisemitismus wanderten bulgarische Juden vor allem nach Nordamerika und Australien aus, sodass nur rund 4.000 im Land verblieben. In den letzten Jahren gibt es nunmehr eine geringe Rückwanderung von Juden aus Israel. Letztlich ist der Antisemitismus in Bulgarien nach 1990 eine Randerscheinung geblieben.
Jens Hoppe
Literatur Leontina Arditti, An meinem Ende steht mein Anfang. Ein jüdisches Leben in Bulgarien, Wien 2002. Frederick B. Chary, The Bulgarian Jews and the Final Solution 1940-1944, London 1972. Hans-Joachim Hoppe, Bulgarien, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991, S.275-310. Jens Hoppe, Zwangsarbeit von Juden in Bulgarien während des Zweiten Weltkriegs. Die jüdischen Arbeitsbataillone 1941-1944, in: Südost-Forschungen 63/64(2004/2005), S.311338. Jens Hoppe, Juden als Feinde Bulgariens? Zur Politik gegenüber den bulgarischen Juden in der Zwischenkriegszeit, in: Dittmar Dahlmann, Anke Hilbrenner (Hrsg.), Zwischen großen Erwartungen und bösem Erwachen. Juden, Politik und Antisemitismus in Ost- und Südosteuropa 1918-1945, Paderborn 2007, S.217-252. Oceljavaneto. Sbornik ot dokumenti 1940-1944. The Survival. A Compilation of Documents 1940-1944, ed. by David Koën, Sofija 1995. Stefan Troebst, Antisemitismus im „Land ohne Antisemitismus“. Staat, Titularnation und jüdische Minderheit in Bulgarien 1878-1993, in: Mariana Hausleitner, Monika Katz (Hrsg.), Juden und Antisemitismus im östlichen Europa, Berlin 1995, S.109-125.
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Chile Eine quantitativ bedeutende jüdische Bevölkerung hat es in Chile in der Kolonialzeit nicht gegeben. Juden war der Aufenthalt in den Kolonien Spaniens grundsätzlich verboten. Doch auch die Neuchristen (oft zwangsgetaufte Juden) stießen auf Ablehnung, da sie nach Kriterien der Geburt und Abstammung nicht über die „limpieza de sangre“ („Reinheit des Blutes“) verfügten, d.h. nicht rein spanischer Abstammung waren. Allerdings gab es bereits unter den ersten Konquistadoren zum Christentum konvertierte Juden bzw. Männer mit jüdischen Vorfahren, die ihre Herkunft erfolgreich verschleiern konnten. Mit der Einrichtung der Inquisition in Lima 1570 nahmen die Verfolgungen zu und die Judenfeindschaft wurde institutionalisiert. 1639 kam es dort zu einem spektakulären Prozess und Autodafé gegen den in Chile ansässigen Arzt Francisco Maldonado de Silva wegen „judaisierender“ Praktiken. Einzelne Konvertiten und deren Nachkommen, die im 16. Jahrhundert nach Portugal ausgewandert waren, kamen über Brasilien auch weiterhin nach Chile. Die Unabhängigkeit von Spanien ab 1810 brachte das Ende der Inquisition. Mit der Einwanderung des 19. Jahrhunderts kamen im Zuge des sich verdichtenden Handelsaustausches zwischen Chile und Europa sowie den USA vermehrt Juden ins Land, vorwiegend Händler und Vertreter europäischer Exportfirmen. Staatsreligion des unabhängigen Chile war der Katholizismus. Während einige jüdische Einwanderer konvertierten, um heiraten zu können, taten es andere, um sich der Stigmatisierung in der vorurteilsgeladenen chilenischen Gesellschaft zu entziehen. Der traditionelle Antijudaismus blieb in Chile in der Tat bestehen. Antijüdische Feindbilder fanden Eingang in das kulturelle Brauchtum etwa im Rahmen der österlichen Volksfeste. So wurden den zur Verbrennung bestimmten Judas-Figuren bewusst die Züge jüdischer Mitbürger gegeben. Diese Puppen brachte man vor den Häusern jüdischer Familien an. Aufgrund der Diskriminierung vermieden die in Chile lebenden Juden die Verwendung jüdischer Bezeichnungen z.B. für ihre frühen Organisationen, um nicht auf sich aufmerksam zu machen. Der Aufstieg des auf rassistischen Ideologien basierenden Antisemitismus, der im frühneuzeitlichen Konzept der „limpieza de sangre“ viele Anknüpfungspunkte fand, zeigte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch in Chile und schlug sich in der Politik nieder. So wies die chilenische Regierung 1895 die für die zu diesem Zeitpunkt aktiv betriebene Einwandererwerbung zuständigen Stellen an, die Zuwanderung von „rassisch“ unerwünschten Gruppen und darunter auch jüdischen Familien zu verhindern. Um 1900 war die Zahl der in Chile lebenden Juden noch sehr gering. Trotz der Einwanderungsbestimmungen setzte in diesem Zeitraum eine neue Immigrationswelle vorwiegend aus Russland – teils auf dem Umweg über Argentinien – ein, die den jüdischen Bevölkerungsanteil stark anwachsen ließ. Gleichzeitig begann sich die jüdische Bevölkerung durch die Zuwanderung sephardischer Juden aus dem Balkanraum nach Herkunft und Glaubensausrichtung zu differenzieren. Um 1930 lebten Schätzungen zufolge zwischen 3.700 und 6.000 Juden in Chile. Mit der ersten größeren öffentlichen Feier des jüdischen Neujahrsfests gilt das Jahr 1906 als Beginn des organisierten Lebens der jüdischen Gemeinschaft in Chile. In der
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Folgezeit entstanden in Santiago und anderen Städten Chiles zahlreiche jüdische Vereine zu gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Zwecken sowie zum Einwandererschutz. In diesem Zeitraum entstand eine jüdische Presse in Spanisch und in Jiddisch. Wichtig war insbesondere die Gründung des „Ersten Kongresses der chilenische Juden“ 1919, der später in „Erster Zionistischer Kongress“ umbenannt wurde und eine „Zionistische Föderation Chiles“ ins Leben rief. Sie spiegelte den Aufstieg der zionistischen Ideen auch in der jüdischen Gemeinschaft Chiles, deren neu gegründete Organisationen zunehmend selbstbewusst in der Öffentlichkeit auftraten. Die dynamische Entwicklung der chilenischen Juden stand im Schatten der Zunahme des Antisemitismus, der sich in zahlreichen verbalen Angriffen in Teilen der Presse und selbst im Parlament niederschlug. Unter dem Eindruck der katastrophalen Folgen der Weltwirtschaftskrise nahmen diese in den 1930er Jahren stark zu. Als Initiatoren taten sich neben den traditionellen Konservativen auch arabisch-antizionistische Kräfte sowie die seit 1932 im „Movimiento Nacional-Socialista“ (Nationalsozialistische Bewegung) organisierten chilenischen Rechtsradikalen hervor, die von der deutschen Botschaft und der Auslandsorganisation der NSDAP Schützenhilfe erhielten. Teils als Reaktion darauf erschwerte die chilenische Regierung die Einwanderung bestimmter unerwünschter Personengruppen. Juden wurden erneut dazu gezählt und sahen sich insbesondere während der Präsidentschaft Arturo Alessandris (1932-1938) Restriktionen ausgesetzt, die 1937/ 38 in einer antisemitischen Pressekampagne und der weiteren Verschärfung der Gesetzgebung gipfelte. Eine vollständige Verhinderung jüdischer Einwanderung bedeutete dies jedoch nicht. Als sich die Situation der europäischen Juden infolge der nationalsozialistischen Machtübernahme und Kriegspolitik verschärfte, kam es seit 1933 zu einer wachsenden Flucht nach Südamerika, deren Ziel auch Chile war. Das Land nahm nach ? Argentinien und ? Brasilien das drittgrößte Flüchtlingskontingent in Lateinamerika auf. Besonders in den Jahren 1938 bis 1941 explodierte die Einwandererzahl förmlich, sie stieg nach einer Schätzung des „American Jewish Congress“ bis 1941 auf rund 20.000 Menschen. Nach inoffiziellen Schätzungen lag sie zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich höher. Unter der auf Alessandri folgenden Volksfront-Regierung zeichnete sich ab 1938 eine Liberalisierung der Einwanderungspolitik ab, zumal gesellschaftliche Kräfte und bekannte Intellektuelle, wie etwa der Dichter Pablo Neruda, sich öffentlich für die Ächtung der nationalsozialistischen Judenverfolgung stark machten und die Abschaffung der Immigrationshindernisse forderten. In der Tat förderte die vergleichsweise liberale Haltung der Regierung die Einwanderung. Allerdings wurden die jüdischen Flüchtlinge zum Politikum. Die Opposition beschuldigte Regierungsmitglieder, sich an der Visavergabe zu bereichern. Der innenpolitische Druck gegen die Visapolitik der Volksfrontregierung führte zum Sturz des zuständigen Ministers. An der Affäre und der Polemik, die damit einherging, zeigten sich antisemitische Vorurteile, die gegen die vielfach als fremdartige Bedrohung wahrgenommenen Flüchtlinge mobilisiert werden konnten. Dagegen wehrten sich die Neuankömmlinge, indem sie bereits 1936 das „Comité Contra el Antisemitismo“ gründeten und Aufklärungsarbeit betrieben. Allerdings war man bemüht, öffentliche Aufmerksamkeit zu vermeiden, um sich nicht den mit antijüdischen Klischees arbeitenden Angriffen der Einwanderungsgegner auszusetzen. In den Krisenjahren war
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aber durchaus auch eine spontane Aufnahmebereitschaft für die Flüchtlinge seitens breiter Teile der chilenischen Bevölkerung erkennbar. Von einem radikalen, geschweige denn breitenwirksamen Antisemitismus wie in Europa konnte in Chile in dieser Phase nicht die Rede sein. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam es zunächst zur Einwanderung kleinerer Gruppe jüdischer Migranten, häufig Überlebende der Konzentrationslager. In den späten 1950er und 1960er Jahren fand dann nochmals eine größere Gruppe jüdischer Flüchtlinge aus Ungarn und der Tschechoslowakei Aufnahme in Chile. Wichtig für die Situation der jüdischen Bevölkerung war die Gründung des Staates Israel, der von der chilenischen Regierung 1949 anerkannt wurde. Die Gründung des Chilenisch-Israelischen Kulturinstituts und der Chilenisch-Israelischen Handelskammer sowie regelmäßige Staatsbesuche hochrangiger israelischer Politiker unterstrichen die Bedeutung der Beziehungen. Sporadisch waren in der chilenischen Presse in diesem Zeitraum antisemitische Äußerungen zu vernehmen. Stereotype Darstellungen und Karikaturen von jüdischen „Spekulanten“ und „Agenten“, die vermeintlich Chile unterwanderten, entsprachen international verbreiteten antijüdischen Vorurteilen. Derartige Darstellungen blieben allerdings in der Öffentlichkeit nicht unkommentiert, sie wurden verurteilt. Eine neue Dimension des Antisemitismus zeichnete sich dagegen ab, als im Februar 1948 ein Bombenattentat auf den Israelischen Verein Santiagos verübt wurde, das Sachschäden verursachte. Die Vermutung, arabische Kräfte könnten hinter dem Attentat gestanden haben, ließ sich nicht erhärten, zumal der Präsident des Arabischen Zentralkomitees die Tat öffentlich verurteilte. Problematisch war die Lage eines Teils der jüdischen Bevölkerung in Chile zu Beginn der 1970er Jahre unter der „Unidad Popular“ (Volkseinheit) mit dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Allerdings handelte es sich dabei nicht um Prozesse, die auf antisemitische Tendenzen zurückzuführen waren. Chilenische Juden waren wie Mitglieder anderer Religionen auch je nach sozialer Schicht von den Umwälzungen betroffen. Laut Schätzungen verließen in dieser Zeit einige tausend Personen jüdischer Herkunft das Land. Das Hauptmotiv war die Furcht vor der Errichtung eines kommunistischen Regimes und der Sozialisierung des Privatbesitzes. In der Tat wurden zahlreiche Verstaatlichungen in Industrie, Dienstleistungen und Handel durchgeführt, von denen auch Unternehmen im jüdischen Besitz betroffen waren. Der bekannteste Fall war die Enteignung der „Banco Israelita“, die viele jüdische Geschäftsleute dazu veranlasste, die Gegner von Allende und die Errichtung eines neuen Regimes nach dem Putsch vom 11. September 1973 zu unterstützen. In die Regierungszeit Allendes fiel auch eine Affäre, die Anlass zu Spekulationen über den vermeintlichen Antisemitismus des Politikers gab. Es handelte sich um den Fall des deutschen Kriegsverbrechers Walter Rauff, der sich 1958 auf Umwegen im Süden Chiles niedergelassen hatte. Ein Auslieferungsbegehren der Bundesrepublik Deutschland war in den 1960er Jahren von chilenischen Gerichten wegen Verjährung abgewiesen worden. 1972 appellierte daraufhin Simon Wiesenthal direkt an den Präsidenten, der sich jedoch nicht über die Entscheidung der Gerichte hinwegsetzen konnte, wenngleich er die Taten Rauffs verurteilte. Die Antwort auf eine zweite Anfrage Wiesenthals wurde dann durch den Militärputsch von 1973 vereitelt.
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In der Zeit der Militärdiktatur (1973-1990) suchte und fand General Augusto Pinochet, der enge Beziehungen zu Israel pflegte, die Unterstützung von Vertretern der jüdischen Gemeinde. Als es einige Jahre nach dem Ende der Diktatur 1998 zur Festnahme Pinochets in London und zur Anklage wegen Menschenrechtsverbrechen kam, setzten sich jüdische Organisationen wie vor allem das „Comité Representativo de las Entidades Judías en Chile“ für den Ex-Diktator ein. Dabei berief man sich vor allem auf die effektive Unterdrückung öffentlicher antisemitischer Äußerungen und die Freiheit religiöser, kultureller und pädagogischer Arbeit der jüdischen Gemeinschaft während der Diktatur. Ein Ende antisemitischer Tendenzen in Chile war damit allerdings nicht verbunden. Seit den 1990er Jahren hat es neueren Studien zufolge einen Anstieg des Antisemitismus in Lateinamerika gegeben, von dem Chile nicht unberührt geblieben ist. Dabei sind weniger der „esoterische Hitlerismus“ des Ex-Diplomaten Miguel Serrano oder die Splittergruppe mit dem Namen „Partido Nacional Socialista“ (Nationalsozialistische Partei) als vielmehr die zunehmende Verbreitung antisemitischer Äußerungen in der Öffentlichkeit von Bedeutung. Ein wesentlicher Faktor ist die Rolle der neuen Medien, die die Verbreitung antisemitischen Gedankenguts fördert. Der antisemitischen Propaganda kommt zugute, dass es in Lateinamerika anders als in Europa keine umfassende Auseinandersetzung mit dem Thema gegeben hat, das als europäisches Problem galt. Der Antisemitismus bedient sich heute auch des Nahostkonflikts, um über alte und neue Medien altbekannte Vorurteile zu verbreiten. Dies geht einher mit der zunehmenden öffentlichen Präsenz von Neonazis in Chile, die mit der Organisation von öffentlichkeitswirksam propagierten, wenn auch in der Durchführung eher bescheidenen Kongressen und mit brutalen Überfällen auf Punks und Transvestiten von sich reden machen, wobei noch nicht klar ist, inwiefern hier eine dezidiert antisemitische Motivierung erkennbar ist. Auch die Feiern zum 100-jährigen Jubiläum der jüdischen Gemeinschaft in Chile 2006 konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Land keineswegs frei von antisemitischen Strömungen ist, obschon diese nach wie vor kein Massenphänomen sind.
Stefan Rinke und Andrea Riedemann
Literatur Günter Böhm, Inmigración judía a Chile durante los siglos XIX y XX, in: LateinamerikaStudien, 25(1990), S.163-178. J. X. Cohen, Jewish life in South America. A survey study for the American Jewish Congress, New York 1941. Cristián Garay Vera, Pinochet y los judíos, in: Razón Española, 34(2000), 102, S.59-72. Moshe Nes-El, La colonización agrícola judía en Chile, in: Judaica Latinoamericana, 2 (1993), S.29-41. David Schidlowsky, Die jüdischen Gemeinden in Chile und Argentinien und ihre Antworten auf den antisemitischen Diskurs. Eine Analyse des intellektuellen, politischen und institutionellen Feldes (1990-2000), in: Sandra Carreras (Hrsg.), Der Nationalsozialismus und Lateinamerika. Ibero-online.de, Heft 3, II, 2005, S.47-52. Moisés Senderey, Historia de la colectividad israelita de Chile, Santiago de Chile 1956.
Costa Rica
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Paul Treutler, Andanzas de un alemán en Chile, Santiago de Chile 1958. Irmtrud Wojak, Exil in Chile: Die deutsch-jüdische und politische Emigration während des Nationalsozialismus, 1933–1945, Berlin 1994.
Costa Rica Die Geschichte der Juden in Costa Rica nahm ihren Anfang nach der Eroberung Lateinamerikas und während der kolonialen Epoche (1502-1821). Allerdings lebten damals nur vereinzelt Juden im Gebiet des späteren Costa Ricas, denn Spanien hatte sie zunächst während der Reconquista verfolgt und aus dem Land vertrieben. In der folgenden Kolonialzeit wurden sie von der spanischen Inquisition abermals verfolgt. Folglich gehörten sie nicht zu den Eroberern und Kolonisten Zentralamerikas und entsprechend gering war ihre Zahl in den jungen Kolonien. Obwohl also kaum Juden auf dem Gebiet des heutigen Costa Ricas lebten, tauchen in der kolonialen Gesetzgebung bereits vereinzelt judenfeindliche Elemente auf. So war jüdischen Kindern zum Beispiel zeitweise der Schulbesuch verboten. Nach dem Zusammenbruch des spanischen Kolonialreichs siedelten sich im späten 19. Jahrhundert etwa zehn bis zwanzig Juden in Costa Rica an. Sie waren Händler, die vor allem aus Nord- und Südamerika sowie der Karibik kamen, sich in San José niederließen und dort in die bürgerliche Mittelschicht aufstiegen. Einige von ihnen bekleideten auch politische Ämter. Der aus Panama stammende Alfredo Sasso Robles etwa wurde Vorsitzender der Handelskammer; Max Fischel, Immigrant aus den USA, gründete die heute größte Apothekenkette des Landes. Enrique Yankelewitz schließlich, ein österreichischer Jude, der aus Argentinien einwanderte, gründete „Mil Colores“, die später größte Bekleidungsfirma des Landes. Gleichwohl blieb die Zahl der Juden im 19. Jahrhundert gering. Erst zwischen 1929 und 1939 fand die erste umfangreichere Einwanderung von Juden nach Costa Rica statt – als Folge der verschärften Einwanderungsgesetze in den USA und Argentinien. Etwa 600 Juden aus Polen wanderten in dieser Zeit nach Costa Rica aus. Viele von ihnen verfügten über kleinere Geldsummen, die es ihnen ermöglichten, kleine Handwerks-, Manufaktur- oder Handelsbetriebe zu gründen. Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Herkunft und Auswanderungserfahrung entstand so im nördlichen Zentrum der Hauptstadt die erste jüdische Gemeinde. 1941 waren 95 Prozent der 743 Juden polnischer Herkunft. Zeitgleich mit dem Entstehen der jüdischen Gemeinde kam in der costaricanischen Gesellschaft eine anti-jüdische Stimmung auf. Die Kinder der jüdischen Einwanderer etwa besuchten zwar staatliche Schulen, im dortigen streng katholischen Umfeld begegnete man ihnen aber oft feindselig. Und in costaricanischen Zeitungen erschienen zahlreiche antisemitische Artikel. Die Impulse für diese Judenfeindschaft hatten ihre Wurzeln zumeist in anderen Einwanderergemeinschaften wie etwa der spanischen oder der deutschen, die schon länger in Costa Rica lebten und sehr einflussreich waren.
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Costa Rica
Als in den 1930er Jahren schließlich der Regierung des liberalen Präsidenten Ricardo Jiménez von der Opposition vorgeworfen wurde, sie begünstige die jüdische Einwanderung und schade damit der einheimischen Bevölkerung, wurde Antisemitismus Teil der Staatsräson. Einwanderung sollte nach dem Willen der Öffentlichkeit ausschließlich im landwirtschaftlichen Sektor gefördert werden. Zudem wurde spekuliert, bei den polnischen Juden handele es sich um Kommunisten, die Propaganda gegen den costaricanischen Staat machten. Die Zahl der polnischen Einwanderer wurde in dieser öffentlichen Debatte teilweise maßlos übertrieben, um ihre scheinbare Bedrohung zu unterstreichen. Bei den Präsidentschaftswahlen 1936 setzte sich der konservative León Cortéz durch, der für seine anti-jüdische Haltung bekannt war. Beeinflusst durch seinen Vater, der in Deutschland Medizin studiert hatte, sympathisierte Cortéz offen mit den Nationalsozialisten und wollte die wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen mit dem nationalsozialistischen Deutschland stärken. Seine Amtsperiode von 1936 bis 1940 und die Amtsjahre seines Nachfolgers gelten als Höhepunkt des Antisemitismus in Costa Rica. Die Juden standen zwar nicht im Zentrum der Regierungspolitik, doch ernannte Cortéz den deutschen Antisemiten Max Effinger zum Verantwortlichen für Einwanderungsfragen. Der erklärte öffentlich, die „arische Einwanderung“ fördern zu wollen und ließ gleichzeitig prüfen, ob die in Costa Rica lebenden Juden gegen Einwanderungsgesetze verstoßen hatten. Außerdem legte Effinger fest, dass Einwanderer künftig bei der Einreise den Nachweis über ein Vermögen von 5.000 colones erbringen mussten, um so mittellose jüdische Flüchtlinge aus Europa fernzuhalten. Diese Regierungspolitik stieß allerdings auch auf massive Kritik in Teilen der costaricanischen Bevölkerung. Viele einflussreiche Politiker und Geschäftsleute nahmen die Juden in Schutz. Es gelang der Regierung daher nur in Ansätzen, ihre antisemitische Politik umzusetzen. Nach der Amtszeit Cortéz’ setzte dessen Nachfolger Rafael Ángel Calderón, Mitbegründer des costaricanischen Sozialstaats und Präsident zwischen 1940 und 1944, die anti-jüdische Politik fort und kritisierte Cortéz sogar als zu nachlässig gegenüber den Juden. Kurz nach seinem Amtsantritt berief Calderón eine Kommission ein, die alle Juden im Land registrieren sollte. Diese legte dem Kongress im März 1941 einen Bericht vor, in dem sie empfahl, den Aufenthalt von Juden nur dann für legal zu erklären, wenn sie zusicherten, nicht im Handel, sondern in der Landwirtschaft oder Industrie zu arbeiten. Außerdem wurde empfohlen, alle Juden ein Jahr nach dem Ende des Krieges in Europa auszuweisen. Dabei wurde von einem Sieg der Alliierten ausgegangen, denn Costa Rica stand auf Seiten der USA und erklärte Deutschland im Dezember 1941 selbst formal den Krieg. Die Vorschläge der Kommission wurden allerdings nie umgesetzt. Juden wurde die Einwanderung zwischen 1936 und 1944 zwar nicht gänzlich verwehrt, Costa Rica konnte aber nicht mehr als ein Land gelten, in dem die diskriminierten, verfolgten und vom Tod bedrohten europäischen Juden wohlwollend aufgenommen wurden: Lediglich 159 polnische Juden ließen sich zwischen 1936 und 1940 in Costa Rica nieder. 1948 führten die Anhänger von Ex-Präsident Calderón und von Sozialreformer José Figuerez einen sechswöchigen Bürgerkrieg. Antisemitismus war unter beiden Kriegsparteien verbreitet. Nach dem Sieg von Figuerez versprach dieser der jüdischen Gemeinde zwar, Diskriminierungen zukünftig zu unterbinden. Dieses Versprechen hielt ihn aber nicht davon ab, das Amt des Staatspräsidenten 1949 mit dem bekennenden Antisemiten
Curaçao
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Otilio Ulate zu besetzen. Unter dessen Regierung kam es 1951 und 1952 zur letzten Welle des Antisemitismus. Im Frühjahr 1952 demonstrierten in Costa Rica aufgebrachte Bürger gegen jüdische Geschäftsleute, im Juni wurden sogar Bombenattentate auf zwei jüdische Geschäfte verübt. Die costaricanische Regierung wurde angesichts dieser Ausschreitungen von den USA und dem Jüdischen Weltkongress scharf angegriffen. Das zwang sie dazu, sich öffentlich gegen die antisemitischen Proteste und Übergriffe auszusprechen. 1953 wurde José Figuerez Präsident. Er stärkte die in der Verfassung von 1949 festgeschriebene rechtliche Gleichheit und den Schutz aller Menschen. Damit endete die Zeit des staatlich geförderten Antisemitismus in Costa Rica. Heute leben etwa 3.000 Juden in Costa Rica. Es gibt mehrere Synagogen, jüdische Schulen und eine Vielzahl kultureller jüdischer Einrichtungen. 1982 verlegte die costaricanische Regierung ihre Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem und war damit neben El Salvador das einzige Land mit einer diplomatischen Vertretung in der Hauptstadt Israels. 2006 wurde die Botschaft nach Tel Aviv zurückverlegt, weil Costa Rica bessere Beziehungen mit den islamischen Staaten anstrebt.
Sebastian Huhn
Literatur Lowell Gudmundson, Costa Rican Jewry: An Economic and Political Outline, Miami 1984. Rudy Guerrero Portales, Costa Rica y los Estados Unidos en la Segunda Guerra Mundial, San José 1994. Jacobo Schifter, Lowell Gudmundson, Mario Solera, El Judío en Costa Rica, San José 1979. Ronald Soto Quirós, Inmigración e identidad nacional en Costa Rica. 1904-1942. Los „otros” reafirman el „nosotros”, San José 1998.
Curaçao Nur 38 Meilen von der venezolanischen Küste entfernt liegt die Insel Curaçao als größte niederländische Kolonie gemeinsam mit den Inseln Aruba und Bonaire (auch als ABCInseln bekannt). Die Spanier nutzten die Insel bis zur Eroberung durch die „West Indian Company“ (WIC) im Juli 1634 als Weidefläche für ihre Viehwirtschaft. Unter dem Expeditionscorps von General Johannes van Walbeek befand sich auch der erste Jude Curaçaos, Samuel Cohen, der als „interkultureller Interpreter“ (cultural broker) bereits Erfahrungen bei der Eroberung Pernambucos 1630 gesammelt hatte. Seine Loyalität zur WIC belohnte Walbeek, indem er Cohen zum „Chief Steward“ ernannte. Doch die erfolglose Suche nach Edelmetallen zwang Cohen zur Rückkehr nach Amsterdam, noch bevor Peter Stuyvesant 1641 sein Amt als Gouverneur auf Curaçao antrat. Die neuen Optionen quasi vor der Haustür motivierten auch neuchristliche Siedler der Städte Riohacha, Maracaibo und Caracas, mit der WIC in illegale wirtschaftliche Beziehungen zu treten. So finden sich 1642-1649 einige der Inquisition bekannte Namen in den Hafenbüchern der WIC. Um den unter Stuyvesant ausgebauten Handelsumschlagplatz Curaçao zu beleben, benötigte man mutige Kolonisten und bewarb das Siedlungs-
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Curaçao
projekt öffentlich. Der bereits seit Jahren im Brasilienhandel seines Onkels Joseph Frances in Pernambuco tätige João de Yllan organisierte 1651 den ersten Transport jüdischer Siedler und erreichte für sie den ausdrücklichen Schutz durch die WIC. Obwohl Yllans Versprechen, insgesamt 50 Familien auf Curaçao anzusiedeln, schon nach dem ersten Transport scheiterte, erreichten immer mehr jüdische Atlantikkreolen, wie Abraham Drago, quasi halb-legal Curaçao, wo sie schon bald neue Handelsnetze mit den guyanesischen Kolonien aufbauten. Der neue Gouverneur Matthias Beck verlängerte den Vertrag von João de Yllan nicht, vergab aber 1652 eine neue Konzession an den Amsterdamer Sepharden David Nassy, worin er die Bedingungen für den Zuzug jüdischer Siedler nach Curaçao noch verbesserte, indem er Landtitel, Sklaven, Vieh und Saatgut versprach. Die erste Erwähnung der jüdischen Gemeinde „Mikve Israel“ geht bereits auf das Jahr 1654 zurück. Die WIC entschied, 1659 Isaac da Costa mit einem neuen jüdischen Siedlungsprojekt zu beauftragen, da Beck eine weitere Abwanderung nach Barbados und Martinique fürchtete, wo die Tabak- und Zuckerwirtschaft ihren ersten großen Boom erlebte. Um möglichst viele Siedler anzulocken, versprach Beck umfassende religiöse Freiheiten, Erlass von Steuern für einen Zeitraum von zehn Jahren, freien Landkauf sowie uneingeschränkten Sklavenbesitz. Der erste von der WIC erwähnte jüdische Farmer war David Levy (1679), es folgten Eliah de Vale (1680) und Jacob Nunes da Fonseca (1682). Anfang des 18. Jahrhunderts dürfte es rund 25 jüdische Plantagen auf Curaçao gegeben haben. Die meisten befanden sich in der Nähe des jüdischen Friedhofs „Beth Haim“ am Schottegat. Die Gegend wurde volkstümlich „Jooden Kwartier” bzw. „Jewish Quarter” genannt. Trotz der widrigen Umstände der drei englisch-niederländischen Kriege im 17. Jahrhundert förderte die Kriegssituation den „illegalen“ interimperialen maritimen Handel im Atlantik. Johannes Postma beschreibt diesen „Schmuggelhandel“ als einen für die WIC überlebensnotwendigen alltäglichen Akkumulationsprozess. Die WIC verstärkte den Sklavenhandel mit der senegambischen Küste Afrikas und erhielt in Folge 1662 das spanische Sklavenhandelsmonopol (asiento de los negros). Unter den afrikanischen Sklavenhändlern befanden sich auch einige „Lançados“ jüdischer Herkunft, deren Verbindungen schon seit dem 16. Jahrhundert bis in die spanischen Kolonien reichten. Mit Hilfe sephardischer Händler drang die WIC rasch ins Sklavengeschäft ein. Zwischen 1646 und 1706 erreichten 160.000 afrikanische und afrokreolische Sklaven die Sklavenmärkte der WIC in der Neuen Welt. Curaçaos Hauptstadt Willemstad (vgl. Karte 1) wurde 1675 zum Freihafen erklärt, wickelte zwischen 1700 und 1725 mehr als 50 Prozent des gesamten niederländischen Atlantikhandels ab und wurde zu einem wichtigen Sklavenumschlagsplatz. Die Einwohnerzahl der Insel stieg rapide an, und mit ihr der Zuzug sephardischer Kolonisten und Händler. Unter Admiral Jacques Cassard nutzten die Franzosen die Wirren der Friedensschlüsse zwischen Frankreich und den Niederlanden (1713) und erpressten mit militärischen Mitteln eine Geldsumme von 115.000 Pesos von den Einwohnern Curaçaos. Der in die Defensive gedrängte Gouverneur Jeremias van Collen bat die jüdische Gemeinde um Hilfe, die schließlich 40 Prozent des Lösegeldes aufbrachte. Dem dazu notwendigen Berechnungsschlüssel lässt sich entnehmen, dass 1713 bei einer Gesamtanzahl von 460 Familien insgesamt 140 jüdische Familien auf Curaçao gesiedelt haben
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müssen. Nur dreißig Jahre später hatte sich die Zahl der Familien verdoppelt und ca. 1.500 Juden lebten auf der Karibikinsel. Von 1750 bis 1780 erreichte die jüdische Einwohnerzahl 2.000 Personen, damit war Curaçao die größte jüdische Gemeinde der Neuen Welt. Viele Juden waren Kaufleute, bekleideten wichtige wirtschaftliche Positionen innerhalb der niederländischen Handelskammern und übten politischen Einfluss aus. Obwohl die katholische Kirche immer wieder versuchte, den jüdischen Schmuggelhandel zu unterbinden, scheiterten sie schließlich an der Nachfrage der Märkte. Die antijüdische Kirchenpolitik sowie ihr antisemitisches Vorgehen gegen Neuchristen wurden von weltlichen Realitäten überlagert. Gerade der Handel mit der spanischen Kontinentalwirtschaft war in jüdischer Hand. Die napoleonischen Wirren der Batavischen Republik ab 1795 taten der niederländischen Politik im karibischen Raum nicht besonders gut, spätestens seit 1795 zerbrachen viele der alten atlantischen Geschäftsbeziehungen. Neue innerkaribische und inneramerikanische Vernetzungen entstanden. Ab 1790 unterstützten jüdische Kaufleute verdeckt die Aufstandsbestrebungen am venezolanischen Festland. Curaçao wurde während der Unabhängigkeitskriege 1805-1823 zum Rückzugsgebiet für Simón Bolívar. Der „Libertador“ rüstete u.a. mit finanziellen Mitteln einiger jüdischer Kaufleute seine Truppen aus und garantierte den Juden im Gegenzug die freie Religionsausübung in der neuen Republik von Großkolumbien. Die Rechte der jüdischen Kolonisten waren durch Verträge zwischen der WIC und einer Einwanderergruppe (z.B. Yllan, Nassy, da Costa) bzw. Einzelpersonen oder Gesellschaften definiert. Der Vertrag, den David Nassy 1652 für „seine 50 jüdischen Familien” abschloss, beinhaltete 50 parzellierte Grundstücke in der Länge von „two leagues“ (10 km) entlang der Nordküste, zehnjährige Steuerfreiheit sowie vollständige Religionsfreiheit. Trotz dieser Privilegien blieben die jüdischen Siedler als Ausländer im Vergleich zu den Niederländern benachteiligt. Die ersten Restriktionen gegenüber Minderheiten betrafen den Besitz von Sklaven, den die WIC nicht nur erstmals 1653 für „Juden und andere Ausländern“ hinsichtlich der Anzahl beschränkte, sondern Juden war es prinzipiell verboten, christliche Sklaven zu besitzen. Ebenfalls galt für Juden das Verbot der Sonntagsarbeit. Der rasche Zusammenschluss zu einer eigenen jüdischen Gemeinde und die guten Beziehungen zur Stammsynagoge in Amsterdam riefen in den 1680er Jahren massiven Widerstand bei den protestantischen Kolonisten hervor, die sich von der WIC gegenüber den jüdischen Siedlern benachteiligt sahen. Richter Balthazar Beck nahm sich 1681 einer Gruppe antisemitischer Händler an und ließ den angesehenen sephardischen Kaufmann Moshe Henrique Coutinho wegen einer angeblichen Intrige gegen Gouverneur Van Liebergen 1681 einkerkern. Schließlich einigten sich der Parnassim von „Mikve Israel“ und der Inselrat auf eine „gütliche Regelung“, indem die jüdische Gemeinde von nun an jedem neuen Gouverneur ein Willkommensgeschenk (Geld, Silber, Gold) machen musste. In zahlreichen Petitionen beklagten sich die Mitglieder von „Mikve Israel“ bei ihrem obersten Parnassim in Amsterdam über die massiven Benachteiligungen ökonomischer und politischer Natur durch die mehrheitlich protestantischen Siedler. Dies veranlasste den Parnassim wiederum, das Direktorium der WIC („Heren X“) über die antisemitischen Umtriebe auf Curaçao zu informieren. Die Lage beruhigte sich wieder,
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bis es 1701 unter dem neuen Gouverneur Jacob Beck erneut zu antisemitischer Agitation kam. Beck befahl, dass ausnahmslos alle Sklaven, auch die der Juden, künftig auch samstags für die Verteidigung der Insel eingezogen werden, was der eigentlichen Gewährleistung laut Kolonialvertrag widersprach. Zwei Mitglieder und zugleich Aktionäre der WIC, Baron de Belmonte und Alexander Nunes da Costa sprachen beim Direktorium des WIC vor, um die Aufhebung der Anordnung zu erwirken, da ansonsten „Handel und Bevölkerung Curaçaos einen erheblichen Schaden erleiden würden“. Entgegen antisemitischer Agitation in den USA kann in Bezug auf die Juden auf Curaçao nicht davon gesprochen werden, dass sie die größten Sklavenhalter der Insel gewesen wären. Dies belegen Zahlen aus dem Jahr 1720: Der Besitz der sechs größten jüdischen Sklavenhalter belief sich auf 165 Sklaven, jener der sechs größten protestantischen Sklavenhalter im Vergleich dazu auf 497 Sklaven. Die strenge Familienstruktur sicherte den jüdischen Kolonisten in Krisenzeiten ein funktionierendes Netzwerk. Damit blieb in Zeiten steigenden Antisemitismus zumindest die Möglichkeit der Auswanderung in andere Zentren jüdischen Lebens bestehen. Im Gegensatz zu den englischen Inselautoritäten unterstützten niederländische Gouverneure und Richter weit häufiger die von protestantischen Kaufleuten und Farmern erhobenen antisemitischen Vorwürfe, traten andererseits aber auch als Teilhaber jüdischer Firmen auf. Als sich zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Vereinigten Staaten von Amerika stärker in den karibischen Handel einbrachten, sahen viele Juden ihre Chance in der Emigration in die USA. 1880 zählte die jüdische Bevölkerung nur noch 1.050 Mitglieder und sank im 20. Jahrhundert auf 600 Gemeindemitglieder ab. Viele jüdische Unternehmen blieben in Curaçao ansässig und ihre Geschäfte prägen bis heute das Stadtbild von Willemstad. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nahm die Einwanderung aschkenasischer Immigranten auf Curaçao zu. Als im Mai 1940 die deutsche Wehrmacht die Niederlande besetzte, reagierte die Kolonialregierung rasch und konfiszierte alle deutschen Handelsschiffe. Die rund 500 deutschen Staatsbürger wurden in einem Gefangenenlager auf Bonaire interniert. Unter den Gefangenen befanden sich auch deutsche und österreichische Juden. Wie in einigen Fällen jüdischer Flüchtlingstransporte (Schiffe „St. Louis“, „Königstein“, „Caribia“) verhielten sich die Behörden auch auf den niederländischen Antillen nicht immer kooperativ und erschwerten bzw. untersagten manchmal die Aufnahme der vornehmlich aschkenasischen Flüchtlinge. Heute zählen die Gemeinden der Sepharden und Aschkenasen auf Curaçao rund 600 Mitglieder bei einer Gesamtbevölkerung von 140.000 Einwohnern.
Christian Cwik
Literatur Günther Böhm, Los Sefardíes en los dominios holandeses de América del Sur y el Caribe 1630-1750, Frankfurt am Main 1992. Joseph Corcos, A Synopsis of the History of the Jews of Curaçao, Curaçao 1897. Isaac Emmanuel, History of the Jews of the Netherlands Antilles, Cincinnati 1970.
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Frances Karner, The Sephardics of Curacao. A Study of Socio-cultural Patterns in Flux, Assen 1969. Johannes Postma, The Dutch in the Atlantic Slave Trade, Cambridge 1990.
Dänemark Die ersten Juden wanderten im Laufe des 17. Jahrhunderts ein, angelockt von günstigen Niederlassungsbedingungen. Vor allem als Kaufleute, Hoflieferanten und Manufakturunternehmer tätig, blieben sie von einschränkenden Judenreglements verschont. Dabei bildeten sie die einzige größere Minderheit in einer ethnisch-religiös weitgehend homogenen, von der lutherischen Staatskirche dominierten Monarchie. Daran änderte auch die sprachlich-kulturelle Vielfalt im dänisch-norwegisch-schleswigholsteinischen Gesamtstaat wenig. Während die sich nun zunehmend in Kopenhagen konzentrierende jüdische Bevölkerung um 1800 gut 2.000 Personen umfasste, trat gegen Ende des Jahrhunderts ein demographischer Rückgang ein, der erst durch die verstärkte osteuropäische Einwanderung nach 1900 aufgefangen wurde. Bis auf die Landwirtschaft unterschied sich die Berufsstruktur der etwa 6.000 dänischen Juden (1930) nur geringfügig von der nichtjüdischen Bevölkerung. Auch in späteren Jahrzehnten blieb die Zahl der dänischen Juden recht konstant. Zahlreiche Kirchenfresken und theologische Schriften evozierten antijüdische Vorstellungswelten, bevor es überhaupt zu einer jüdischen Niederlassung kam. Die dänischen Reformatoren verzichteten darauf, auf die Ausfälle Luthers gegen die Juden Bezug zu nehmen. Als jedoch Ende des 17. Jahrhunderts die tatsächliche Ansiedlung von Juden zur Diskussion stand, sah die Kirche die konfessionelle Einheit des Reichs gefährdet, wobei die Juden nicht nur als konkurrierende Glaubensgemeinschaft, sondern als Feinde Gottes und Verfolger der Christenheit bekämpft wurden. Nach dem Scheitern der Bemühungen, ihre Niederlassung oder Religionsausübung zu verhindern, waren die Geistlichen bestrebt, möglichst lange die Errichtung einer Synagoge zu verhindern und soziale Kontakte zwischen Christen und Juden zu minimieren. Auch im 18. Jahrhundert prangerte vor allem der Klerus die vermeintliche moralische Verderbtheit und Schädlichkeit der Juden an. Zudem wurden seitens des Kopenhagener Stadtbürgertums Forderungen nach einer Ghettoisierung, Kennzeichnung und Enteignung der Juden laut. Trotz dieses Drucks seitens des Magistrats, des Polizeidirektors und der Bischöfe hielt die Dänische Kanzlei an ihrer wirtschaftspolitisch motivierten Ansiedlungsförderung fest. Der Verbreitungsgrad antijüdischer Einstellungen, wie sie sich vorrangig in Petitionen, theologischen Gutachten und Predigten artikulierten, lässt sich schwer einschätzen. Die jüdische Gemeinde wandte sich jedoch wiederholt mit Klagen über tätliche Übergriffe und Steinwürfe auf offener Straße an die Kanzlei: Rhetorik und Praxis der Ausgrenzung gingen so einher mit konkreter Gewalt, spezifische Interessenkonflikte wurden
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Frances Karner, The Sephardics of Curacao. A Study of Socio-cultural Patterns in Flux, Assen 1969. Johannes Postma, The Dutch in the Atlantic Slave Trade, Cambridge 1990.
Dänemark Die ersten Juden wanderten im Laufe des 17. Jahrhunderts ein, angelockt von günstigen Niederlassungsbedingungen. Vor allem als Kaufleute, Hoflieferanten und Manufakturunternehmer tätig, blieben sie von einschränkenden Judenreglements verschont. Dabei bildeten sie die einzige größere Minderheit in einer ethnisch-religiös weitgehend homogenen, von der lutherischen Staatskirche dominierten Monarchie. Daran änderte auch die sprachlich-kulturelle Vielfalt im dänisch-norwegisch-schleswigholsteinischen Gesamtstaat wenig. Während die sich nun zunehmend in Kopenhagen konzentrierende jüdische Bevölkerung um 1800 gut 2.000 Personen umfasste, trat gegen Ende des Jahrhunderts ein demographischer Rückgang ein, der erst durch die verstärkte osteuropäische Einwanderung nach 1900 aufgefangen wurde. Bis auf die Landwirtschaft unterschied sich die Berufsstruktur der etwa 6.000 dänischen Juden (1930) nur geringfügig von der nichtjüdischen Bevölkerung. Auch in späteren Jahrzehnten blieb die Zahl der dänischen Juden recht konstant. Zahlreiche Kirchenfresken und theologische Schriften evozierten antijüdische Vorstellungswelten, bevor es überhaupt zu einer jüdischen Niederlassung kam. Die dänischen Reformatoren verzichteten darauf, auf die Ausfälle Luthers gegen die Juden Bezug zu nehmen. Als jedoch Ende des 17. Jahrhunderts die tatsächliche Ansiedlung von Juden zur Diskussion stand, sah die Kirche die konfessionelle Einheit des Reichs gefährdet, wobei die Juden nicht nur als konkurrierende Glaubensgemeinschaft, sondern als Feinde Gottes und Verfolger der Christenheit bekämpft wurden. Nach dem Scheitern der Bemühungen, ihre Niederlassung oder Religionsausübung zu verhindern, waren die Geistlichen bestrebt, möglichst lange die Errichtung einer Synagoge zu verhindern und soziale Kontakte zwischen Christen und Juden zu minimieren. Auch im 18. Jahrhundert prangerte vor allem der Klerus die vermeintliche moralische Verderbtheit und Schädlichkeit der Juden an. Zudem wurden seitens des Kopenhagener Stadtbürgertums Forderungen nach einer Ghettoisierung, Kennzeichnung und Enteignung der Juden laut. Trotz dieses Drucks seitens des Magistrats, des Polizeidirektors und der Bischöfe hielt die Dänische Kanzlei an ihrer wirtschaftspolitisch motivierten Ansiedlungsförderung fest. Der Verbreitungsgrad antijüdischer Einstellungen, wie sie sich vorrangig in Petitionen, theologischen Gutachten und Predigten artikulierten, lässt sich schwer einschätzen. Die jüdische Gemeinde wandte sich jedoch wiederholt mit Klagen über tätliche Übergriffe und Steinwürfe auf offener Straße an die Kanzlei: Rhetorik und Praxis der Ausgrenzung gingen so einher mit konkreter Gewalt, spezifische Interessenkonflikte wurden
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aufgeladen durch grundsätzliche religiöse und ökonomische Motive der Judenfeindschaft. Die erste Phase der dänischen Emanzipationsdebatte vollzog sich seit den 1780er Jahren weitgehend ohne Vorbedingungen und mündete im Edikt von 1814. Sie war getragen von der Bereitschaft einer aufgeklärten bürgerlichen Öffentlichkeit und absolutistischen Reformbürokratie, die Juden in den Korpus nützlicher Untertanen aufzunehmen. Das Leitbild der kulturell und ethnisch homogenen Gemeinschaft generierte jedoch weiterhin einen erheblichen Akkulturationsdruck, und vor dem Hintergrund der militärischen Niederlage und des Staatsbankrotts kam es 1813 zu einem längeren, heftigen Pamphletenstreit. Gefordert wurde, die Integration der Juden rückgängig zu machen und damit die Nation vor deren parasitärer und betrügerischer Geldgier zu schützen. Das sich hier bereits ankündigende Unbehagen an der Integration der Juden entlud sich dann wenige Jahre später mit dem Übergreifen der Hep-Hep-Krawalle (vgl. Karte 4) in Gewalt. Die Forderung nach einer Vertreibung der Juden verschränkte sich mit einem allgemeinen politischen Protest. Die Niederschlagung der tagelangen Unruhen führte zu Hasstiraden gegen den „Judenkönig“ Frederik VI. Trotz voranschreitender Gleichberechtigung blieb die Frage der Zugehörigkeit der Juden zur Nation prekär und wurde in Konfliktsituationen wiederholt zum Problem. In den Ständeversammlungen der 1830er und 1840er Jahre, die den Weg zur parlamentarischen Demokratie ebneten, stellte die Mehrheit der Abgeordneten fest, als Nichtchristen könnten Juden weder Dänen sein noch werden. Obgleich mit der Verfassung von 1849 die volle politische Emanzipation durchgesetzt worden war, wurden Juden auch weiterhin nicht uneingeschränkt als vollwertige Mitglieder der nationalen Gemeinschaft akzeptiert. Als der dänisch-jüdische Dichter Meir Goldschmidt sich 1848/49 in die Debatte um die Zukunft des Gesamtstaates einbrachte, wurde er vom Pastor und Politiker N. F. S. Grundtvig, einem der Väter des Grundgesetzes, zurechtgewiesen: Als Jude sei er lediglich Gast im Lande und es gebühre ihm daher nicht, sich zu Fragen von nationaler Bedeutung zu äußern. Das Ringen um einen homogenen christlichen Nationalstaat vor dem Hintergrund der komplexen politischen Realität eines dynastischen Gesamtstaates spitzte sich in der Ablehnung jüdischer Integration und Partizipation zu: die Konstruktion der Nation erfolgte gegen die Deutschen und die Juden. Trotz eines solchen partiell exklusiv-ethnizistisch definierten Verständnisses von Nation und der damit einhergehenden Ausgrenzungsmechanismen nationaler Vergemeinschaftung und Identitätsstiftung vermochte ein moderner, rassistischer Antisemitismus jedoch in Dänemark kaum Fuß zu fassen, weder als parteipolitisches Programm noch als ideologischer Kitt von Massenorganisationen. Mitverantwortlich hierfür war vermutlich die stete und stabile Demokratisierung der dänischen Gesellschaft: Der Ende des 18. Jahrhunderts eingeleitete Prozess allmählicher politischer Reformen ermöglichte eine recht späte, aber letztlich konfliktarme Modernisierung der dänischen Gesellschaft im Zeichen einer genossenschaftlich organisierten Landwirtschaft sowie der gesellschaftlich-politischen Partizipation breiter Bevölkerungsschichten. Es war insbesondere die exponierte Stellung einzelner jüdischer Intellektueller in der literarischen Moderne und in den „progressiven“ radikal-liberalen Strömungen der letz-
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ten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, allen voran Georg Brandes, die den Ansatzpunkt der ersten antimodernistischen Angriffe auf Juden in der dänischen Gesellschaft nach dem formalen Abschluss der Emanzipation boten. Theologen wie der seeländische Bischof Hans Lassen Martensen ließen die herkömmliche Kritik an den vermeintlich sinnentleerten Ritualen des gesetzestreuen Judentums hinter sich und argumentierten, das zersetzende Judentum mache nun gemeinsame Sache mit individualistischem Hedonismus, materialistischem Kapitalismus und antiklerikalem Liberalismus und ziele auf die Zerstörung des organisch gewachsenen christlichen Staates ab: die früheren Gäste seien zu despotischen Herrschern geworden. Martensen hatte mit der Verklammerung von modernem Judentum mit säkularem Großstadtleben und moderner Kultur auch die dominanten Topoi der Zwischenkriegszeit geliefert. Hinzu kam, verstärkt durch die Russische Revolution, ein antikommunistischer Diskurs in bürgerlichen wie in bäuerlichen Milieus: Zum jegliche Sittlichkeit zersetzenden Großstadtintellektuellen gesellte sich nun das Judenbild des gottlosen, gewalttätigen Revolutionärs. Dänemark wurde erst post factum zu einem Volk von Gegnern des Nationalsozialismus. In den 1930er Jahren gab es weit verbreitete Sympathien für den deutschen Nationalsozialismus. Dies ging in der Regel mit einer Rationalisierung oder Verharmlosung des rassistischen Antisemitismus einher. Verwaltungsbeamte und Diplomaten begründeten den außerordentlich restriktiven Umgang mit deutsch-jüdischen Flüchtlingen häufig mit judenfeindlichen Stereotypen. Wenige Hundert wurden ins Land gelassen, illegal Eingereiste wieder ausgewiesen. Beides wurde in der Regel mit dem Hinweis begründet, Dänemark habe kein Judenproblem und folglich kaum Antisemitismus, weil es wenig Juden gebe und selbst diese sich stark assimiliert hätten. Dementsprechend sei der nationalsozialistische Antisemitismus angesichts der „Macht“ der deutschen Juden nachvollziehbar und legitim. Den als Fremdkörper wahrgenommenen dänischen nationalsozialistischen Parteien gelang es dennoch nie, breitere Teile der Bevölkerung zu mobilisieren und so über das Dasein als Splitterpartei hinauszuwachsen. Dies galt auch für die DNSAP, die den Antisemitismus kaum zu einem Thema ihrer Propaganda machte. Für den Binnendiskurs und den inneren Zusammenhalt war er jedoch von größter Bedeutung, und es ist kaum zu bezweifeln, dass eine DNSAP-Marionettenregierung eifrig bei der „Endlösung“ mitgewirkt hätte. Die rigorose Ablehnung der Regierung und Verwaltung auch unter den Bedingungen der Besatzung seit 1940, diskriminierende „Judengesetze“ zu erlassen, sowie das breite Engagement der Bevölkerung bei der Flucht der dänischen Juden nach Schweden im Oktober 1943 schienen das Narrativ einer von Antisemitismus unbelasteten dänischen Nation zu bestätigen. Dabei wurde leicht übersehen, in welch hohem Maße die Rettungsaktion primär ein Projekt nationaler Selbstvergewisserung nach Jahren der Kollaboration war. Darauf deuten auch die zahlreichen antisemitischen Äußerungen sogar der Retter selbst sowie der anderen nach Schweden geflohenen dänischen Widerstandskämpfer hin. Der selbstzufriedene Mythos eines quasi nicht-existenten dänischen Antisemitismus, zementiert durch die Rettungsaktion und verstärkt durch den Vergleich mit dem nun
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durch Auschwitz definierten deutschen Antisemitismus, beendete eine kritische Durchleuchtung der eigenen nationalen Geschichte, bevor sie beginnen konnte. Einer der Folgen war die besonders zugespitzte Form eines linken Antisemitismus, der sich nur notdürftig in das Gewand des Antizionismus hüllte, die dänische 68er-Generation massiv prägte und intellektuell-akademische Kreise in den 1970er und 1980er Jahren dominierte. „Anti-imperialistische“ internationale Solidarität mit dem vermeintlich schwachen Part des Nahostkonflikts erwies sich dabei als durchaus kompatibel mit unkritisch fortgeführten antijüdisch-antikapitalistischen Einstellungen. Am anderen Ende des politischen Spektrums überwinterten lange christlich gefärbte, ethnozentrische Orientierungen, um schließlich in den 1990er Jahren erneut aufzuleben und mittlerweile in Gestalt eines rechtspopulistischen Nationalismus sogar im Parlament vertreten zu sein. Die dabei mit transportierten und sich regelmäßig artikulierenden Traditionsbestände des Antijudaismus werden dabei jedoch vom xenophoben Rassismus dieser gesellschaftlichen Strömungen noch in den Schatten gestellt.
Thorsten Wagner
Literatur Sofie Lene Bak, Dansk antisemitisme 1930-1945, Kopenhagen 2004. Martin Schwartz Lausten, Oplysning i kirke og synagoge. Forholdet mellem kristne og jøder i den danske Oplysningstid (1760-1814) [Aufklärung und Synagoge. Das Verhältnis von Christen und Juden im Zeitalter der dänischen Aufklärung (1760-1814)], Kopenhagen 2002. Thorsten Wagner, Demokratiets akilleshæl. Jødehad og antisemitisme i brydningsfeltet mellem social- og kulturhistorie [Die Achillesferse der Demokratie. Judenhass und Antisemitismus in sozial- und kulturhistorischer Perspektive], in: Michael Mogensen (Hrsg.), Antisemitisme i Danmark?, Kopenhagen 2002, S.7-41. Thorsten Wagner, Ein vergebliches Unterfangen? Der Antisemitismus und das Scheitern des dänischen Nationalsozialismus, in: Hermann Graml, Angelika Königseder, Juliane Wetzel (Hrsg.), Vorurteil und Rassenhaß. Antisemitismus in den faschistischen Bewegungen Europas, Berlin 2001, S.275-296. Thorsten Wagner, Belated Heroism. The Danish Lutheran Church and the Jews, in: Kevin P. Spicer (Hrsg.), Antisemitism, Christian Ambivalence, and the Holocaust, Published in association with the United States Holocaust Museum, Washington D.C., Bloomington/Indianapolis 2007, S.3-25.
Deutschland Die geographischen Grenzen des regnum teutonicum variieren über das hier betrachtete Jahrtausend ganz erheblich. Das mittelalterliche Reich der Deutschen schloss seit dem Imperium Romanum (962), über das Sacrum Imperium (1157), das Heilige Römische Reich deutscher Nation (1484-1806) und den Deutschen (1815-1866) bzw. Norddeutschen Bund (1866-1871) jeweils unterschiedliche Gebiete ein, die jeweils auch nur in
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der spezifischen Periode der Zugehörigkeit in die Betrachtung eingehen. Auch die Grenzen des deutschen Nationalstaates waren nicht stabil, doch bleiben die bis 1945 jeweils nur kurzzeitig zugehörigen Gebiete (wie Elsass-Lothringen oder die neu angeschlossenen Gebiete des Großdeutschen Reiches seit 1940) ausgeschlossen. Für die Zeit nach 1945 bilden die Bundesrepublik und die DDR den Gegenstand der Analyse. Mit der christlichen Durchdringung des Abendlandes und den innerkirchlichen Reformbewegungen, insbesondere mit den Missionsbestrebungen der Bettelorden, verbreitete sich die Judenfeindschaft über den Kreis der Theologen hinaus und wurde Teil der Volksfrömmigkeit. Damit nahmen die Konflikte zu und die zuvor überwiegend friedliche Koexistenz wurde immer häufiger, etwa im Verlauf der Kreuzzüge 1096, 1146/47 und 1188/89, durch Gewaltausbrüche der christlichen Mehrheit bedroht. So wurden die jüdischen Gemeinden in Worms, Mainz, Speyer, Trier und Köln 1096 Opfer der durchziehenden Kreuzfahrerheere. Die Verschlechterung der gesellschaftlichen Stellung der Juden hatte mehrere Ursachen. Eine war der Wandel des Judenschutzes. Juden standen seit dem Frühmittelalter unter königlichem Schutz und erhielten ihre Privilegien vom König. Seit dem 13. Jh. wurden sie mit ihrer Person und ihrem Vermögen zum Eigentum des Herrschers, im Reich 1236 zu „Kammerknechten“ des Kaisers. Dieser Eigentumsgedanke und die Tatsache, dass die Zentralgewalt ihr „Judenregal“ immer häufiger an die Landes- oder Stadtherrn ganz oder teilweise abtrat, machten die Juden zu einem Finanzobjekt, das als „königliche Melkkuh“ willkürlich ausgebeutet und auch abgeschlachtet werden konnte. Ihre Position verschlechterte sich auch, weil sie mit ihrer Nichtzulassung zu den christlichen Zünften ihre Stellung in Warenhandel und Handwerk verloren und auf den von der Kirche als „Wucher“ verdammten Geld-, Pfand- und Kleinhandel eingeschränkt wurden. Schließlich wurden sie durch die Bestimmungen des IV. Laterankonzils (1215) sowohl zu einer ausgegrenzten Gruppe (Kennzeichnung der Kleidung durch einen „gelben Ring“, Ausschluss von öffentlichen Ämtern) als auch – mit der Verkündigung der Transsubstantiationslehre – zum Ziel von Blutbeschuldigungen. Obwohl die kirchliche Hierarchie die Ritualmord- und Hostienfrevellegenden bekämpfte, entwickelten sie sich in der Volksfrömmigkeit zusammen mit der Beschuldigung der Brunnenvergiftung zu wirkungsmächtigen Vorstellungen, die vor allem im 15. Jahrhundert Anlässe für Gewalt gegen Juden im Reich lieferten und mit der Hinrichtung der Beschuldigten und Ausweisung aller Juden aus dem Territorium endeten. Diese religiöse und soziale Stigmatisierung der Juden sowie ihre ökonomische Spezialisierung, die ihnen den Vorwurf des Wuchers eintrug und sie zu lohnenden Opfern in politischen Konflikten machte, führten zu den großen Verfolgungswellen des 13. und 14. Jahrhunderts (Rintfleisch-Verfolgungen, Armlederbewegung 1336-1338, Pestpogrome 1348-1350), in denen viele jüdische Gemeinden in Mitteleuropa vernichtet wurden. Im Spätmittelalter ging der Judenschutz im Heiligen Römischen Reich vollständig auf die Städte über, die gegen Entgelt befristete Schutzbriefe ausstellten. Ihre „Judenordnungen“ zielten letztlich darauf, den Handlungsspielraum der Juden immer mehr einzuengen und sie schließlich zu vertreiben. Zu einer schärferen Ausgrenzung der Juden (Ghettobildung, Wucherverbot) trugen im 15. Jahrhundert auch der zu einem neuen Höhepunkt ge-
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langte Kampf gegen die Ketzerei sowie die Kirchenreform bei, die einen „christlichen Fundamentalismus“ entstehen ließen. Die Vertreibungen aus fast allen größeren Städten und einigen Territorien des Reichs ließen im 15. und frühen 16. Jahrhundert viele Juden nach Osteuropa bzw. in kleinere Städte und ländliche Gemeinden abwandern. Erst mit Beginn der 17. Jahrhunderts wurden sie wieder in einigen Städten und Territorien zugelassen. Die Abdrängung vom städtischen Markt veränderte seit Mitte des 16. Jahrhunderts die Berufsstruktur der Juden. Sie lebten als Mittler zwischen Dorf und Stadt mehr schlecht als recht vom Hausier- und Trödelhandel, der Pfandleihe und als kleinere Kornund Viehhändler. Da die Landesherren, für die Judenpolitik vor allem Fiskalpolitik war, ihre Schutzbriefe an Besitz und Zahlungen banden, gab es neben den „Schutzjuden“ eine durch den Verarmungsprozess immer mehr anwachsende Zahl „unvergleiteter“ Juden. Diese wandernden, häufig in die Kriminalität abgedrängten „Betteljuden“ machten um 1780 im Reich einen Anteil von ca. zehn Prozent der jüdischen Bevölkerung aus. Nur einer dünnen Schicht von Kaufleuten und Händlern gelang seit dem 16. Jahrhundert der Aufstieg zu Lieferanten an Fürstenhöfen (Hofjuden), denen ihre exponierte Stellung aber auch wie im Fall von Joseph Süß Oppenheimer (1698-1738) gefährlich werden konnte. Die mit der Reformation ausgelöste konfessionelle Krise und das anschließende Zeitalter der Konfessionalisierung änderten die antijudaistische Position der Kirchen kaum. Humanismus und Reformation brachten keine Wende, denn zu ihrem Kampf für die Erneuerung von Kirche und Gesellschaft gehörte eine „geistige Generalabrechnung mit Juden und Judentum“, die für die Veräußerlichung innerer Werte, Orthodoxie und geistige Verwirrung der Zeit standen. Die Ambivalenz zwischen dem Bekehrungsauftrag und dem Hass auf die Juden, deren Verstockung den Weg zum endzeitlichen Reich blokkierte, spiegelt sich in der Haltung Martin Luthers, der zunächst in seiner Schrift „Dass Jesus Christus ein geborner Jude sei“ (1523) die Blutbeschuldigungen und Zwangsbekehrungen zurückgewiesen hatte, dann aber, als sich eine Bekehrung auch mit der Reformation nicht einstellte, vehement antijüdische Schriften publizierte (Von den Juden und ihren Lügen, 1543), die über theologische Verdammungen hinaus der Obrigkeit vorschlugen, man solle jüdische Häuser und Synagogen verbrennen, ihre Schriften konfiszieren. Dass die Juden das Gemeinwohl bedrohten, war Konsens auch unter den weniger grob judenfeindlichen Reformatoren (Zwingli, Bucer) und Humanisten. Osianders Widerlegung der Blutbeschuldigung von 1529 bildete eher eine Ausnahme. Das Ende des starren Gegensatzes zwischen den christlichen Konfessionen entspannte im 17. bis 18. Jahrhundert auch das christlich-jüdische Verhältnis. So fiel das für die antijüdische Traditionsbildung wichtige Werk des Orientalisten Johann Andreas Eisenmenger „Entdecktes Judenthum“ (1700/1710), das den religiösen Gegensatz betonte, aus einer eher „judenfreundlichen“ Zeitstimmung heraus. Die katholischen Theologen ebenso wie die protestantische Orthodoxie schrieben die antijudaistische Tradition der Alten Kirche bis ins 19. Jahrhundert fort. Das Christentum sah sich im 18. Jahrhundert seinerseits der radikalen Religionskritik seitens der Aufklärungsphilosophie ausgesetzt, in die auch das Judentum als Religion und Basis des Christentums eingeschlossen wurde. Doch mit dieser Kritik und den Ideen der Aufklärung stellte sich auch die Frage nach der Rolle der Juden neu. In Deutschland drückte sich das neue Denken in der Belletristik
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und Staatsphilosophie des 18. Jahrhunderts etwa bei Gotthold Ephraim Lessing, Christian Wilhelm Dohm und Moses Mendelssohn aus.
Der Widerstand gegen die Judenemanzipation Die mitteleuropäischen Mächte verfolgten in ihrer Judenpolitik im 18. Jahrhundert das Ziel, die Zahl der Juden eng zu begrenzen sowie die anwesenden finanziell auszubeuten und in ihrem Gemeindeleben zu reglementieren. Judenfeindschaft hinderte die Fürsten nicht, reiche Juden aus ökonomischen Gründen einzubürgern. Hatten um die Mitte des 18. Jahrhunderts auf dem Gebiet des späteren deutschen Kaiserreichs ungefähr 70.000 Juden gelebt, so stieg sie um 1815 im mitteleuropäischen Raum auf ca. 400.000-500.000 an (für die deutschen Staaten ca. ein Prozent der Bevölkerung). Die Judenemanzipation war Teil des allgemeinen Emanzipationsprozesses, der auf rechtliche Gleichstellung, größere politische und wirtschaftliche Freiheit für alle Bürger und auf kulturelle Homogenisierung innerhalb des Staates zielte. Sie wurde in Deutschland von einer kleinen Schicht von Aufklärern und aufgeklärten Staatsbeamten verfochten, die in Büchern und kleineren Schriften, wie in Christian Wilhelm Dohms berühmtem Werk „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ (1781), ab 1780 die Reformdiskussion auf den Weg brachten. Der Politik ging es um die Eingliederung und „Nutzbarmachung“ der unterprivilegierten Juden, was vom Gros der Gesellschaft, insbesondere von den Kirchen, bestimmten Berufsgruppen, etwa Kaufleuten und der Landbevölkerung, abgelehnt wurde, die jede Statusverbesserung als eine weitere Stärkung des als übermächtig angesehenen Judentums ansahen. In der Diagnose eines „verdorbenen Nationalcharakters“ der Juden herrschte breiter Konsens, uneinig war man sich nur über die Ursachen und die Therapie: Machten die Reformer die jahrhundertelange Diskriminierung der Juden für ihre „Verdorbenheit“ verantwortlich und erhofften von der Besserung der Lebensbedingungen auch eine des „Charakters“, so war nach Meinung ihrer Gegner umgekehrt die Diskriminierung die notwendige Folge der „Gemeinschädlichkeit“ der Juden. Als Integrationshindernisse wurden von christlicher Seite die abweichende Berufsstruktur und die jüdische Religion betont, welche die Juden zu kulturell Fremden machten, die sich ihrem religiösen Separatismus gemäß nicht integrieren wollten. So hielt sich der Eindruck, das Netz der Gemeinden bilde einen „Staat im Staate“ bzw. es existiere so etwas wie eine „jüdische Internationale“. Die Gegner der Emanzipation benutzten neben diesen religiösen und ökonomischen Vorbehalten bereits kulturelle, nationalistische und protorassistische Argumente. Mit Rücksicht auf die Bevölkerungsstimmung setzte man in den deutschen Staaten auf schrittweise staatlich gelenkte Reformen. Diese sollten dem Staat nützliche Bürger schaffen und die christliche Bevölkerung vor der schädlichen Handelstätigkeit der Juden bewahren, und sie sollten die Lage der Juden verbessern und ihre Sozialstruktur der Mehrheitsgesellschaft angleichen. Beide Ziele konnten in Widerstreit geraten. Der Erziehungsgedanke zielte in letzter Konsequenz auf das Aufgehen der Juden in die christliche Gesellschaft. Die Emanzipationsdiskussion zeitigte zunächst kaum politische Folgen. In den deutschen Staaten kam es zu Emanzipationsgesetzen entweder durch den Import der fortschrittlichen französischen Gesetze im Zuge der Besetzung durch napoleonische Trup-
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pen oder durch die Reformen, die den nach den Kriegsniederlagen offenbar gewordenen Reformstau beseitigen sollten. Mit dem Ende des Alten Reiches wurden zuerst in einigen Rheinbundstaaten Reformgesetze erlassen, in denen die wirtschaftliche und politische Gleichstellung der Juden ganz (in Westfalen 1808) oder mit Abstrichen realisiert wurde (1808 in Württemberg, 1809 in Baden, 1813 in Bayern). In Preußen wurde 1812, verbunden mit den Hardenbergschen Reformen, ein Juden-Edikt erlassen, das Juden zu „Einländern und preußischen Staatsbürgern“ machte. Der Reformschub kam mit dem Ende der napoleonischen Herrschaft zum Erliegen oder wurde zurückgeschraubt, denn der Wiener Kongress und die anschließende Phase der Restauration schufen mit ihrer anti-französischen, antiaufklärerischen, christlichen und romantisch-nationalen Orientierung ein für die weitere Judenemanzipation ungünstiges Klima. So traf die Gleichstellung der Juden auf breiten Widerstand, der vom Adel über die Kaufmannschaft und das kleinbürgerliche Handwerk bis zu den Bauern, von den Kirchen bis zu Teilen eines national gestimmten Bürgertums reichte. Deren gemeinsamer Nenner war das im Kampf gegen Napoleon erwachte Nationalbewusstsein, sodass ein nationaler Gegensatz von Juden und Deutschen konstruiert wurde, was manche als „Germanomanie“ (Saul Ascher) und „Deutschtümelei“ verspotteten. Die jüdische Religion implizierte nach Auffassung vieler einen politischen Anspruch auf Weltherrschaft sowie Religionshochmut, Intoleranz und Hass gegen die Christen. Emanzipationsgegner, darunter prominente Philosophen wie Johann Gottlieb Fichte (1793), Christian Friedrich Rühs (1816) und Jakob Friedrich Fries (1816), Schriftsteller wie Ernst Moritz Arndt (1814) oder der „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn verwiesen zu ihrer Legitimation auf die judenfeindliche Haltung der Bevölkerung, die sich dagegen sträube, Christen und Juden „in einem Volk zusammenzuschmelzen“. Die Abwehr der Judenemanzipation äußerte sich in literarischen Debatten mit giftigen antijüdischen Angriffen wie in der Broschürendebatte von 1803 (Karl Friedrich Wilhelm Grattenauer, Friedrich Buchholz) und in den Publikationen der Jahre 1816-1821 (Christian Ludwig Paalzow, Hartwig von Hundt-Radowsky: Judenspiegel, 1821), aber auch in zahllosen Petitionen und politischen Entscheidungen. Vor allem die radikale nationale Bewegung in den Turnvereinen und Burschenschaften begegnete Juden feindlich. Die judenfeindliche Stimmung nach dem Wiener Kongress entlud sich gewaltsam in den 1819 in Würzburg ausbrechenden, nach dem antijüdischen „Hep-Hep“-Ruf benannten Unruhen, denen in vielen deutschen Städten Ausschreitungen folgten. Während der revolutionären Unruhen 1830 und 1832 sowie zu Beginn der Revolution von 1848 gab es immer wieder teils politisch, teils volksreligiös von Ritualmordgerüchten, etwa 1834 in Neuenhoven, motivierte antijüdische Gewalt. Waren die Unruhen zumeist von Kleinkrämern und Zunfthandwerkern getragen, so gab es im Zuge der Agrarreform auch antijüdische Protestaktionen unterbäuerlicher Schichten, die sich gegen jüdische Geldverleiher richteten. Die „Judenfrage“ war im Vormärz allerdings auch ein breit diskutiertes Thema unter Juden und im fortschrittlichen, die Judenemanzipation unterstützenden demokratischen und sozialrevolutionären Lager. In den Kontroversen um die literarische Bewegung des „Jungen Deutschland“ (Karl Gutzkow, Heinrich Laube) sowie in der unter den Junghegelianern ausgefochtenen Kontroverse um Bruno Bauers (1809-1882) Schrift „Die Ju-
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Karte 4: Antijüdische Ausschreitungen nach 1815
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denfrage“ (1843) wurde der Status der Juden als korporative Gruppe, die sich im Verlauf der Emanzipation eben nicht aufgelöst oder zur reinen Konfession umgebildet hatte, kritisiert. In seiner einflussreichen religionsphilosophischen Schrift versuchte Bauer nachzuweisen, dass die Juden als Gruppe nicht emanzipiert werden könnten, sondern dass auch die aufgeklärtesten Juden dem Wesen des Judentums mit seinem Exklusivitäts- und Auserwähltheitsanspruch und dem Streben nach „Alleinherrschaft“ verhaftet blieben und damit letztlich Krieg gegen die Menschheit führten. Der einzelne Jude könnte nur in die Gesellschaft integriert werden, wenn er sein Judentum zu Gunsten eines allgemeinen Menschentums aufgäbe (das gleiche gilt nach Bauer auch für die Christen). Diese mit antijüdischen Vorurteilen unterfütterte Schrift veranlasste Karl Marx zu seiner Replik „Zur Judenfrage“, in der er die religionsphilosophische in eine sozioökonomische Frage umformulierte und das Judentum mit Geld und Kapitalismus identifizierte, sodass eine freie, klassenlose Gesellschaft nur entstehen könne, wenn sie sich vom Judentum, verstanden als die antisozialen Elemente der bürgerlichen Gesellschaft, emanzipiert. Hier sehen manche den Ausgangspunkt eines antikapitalistisch argumentierenden linken, sozialistischen Antisemitismus. Es waren gerade ehemalige radikale Demokraten und Emanzipationsbefürworter wie Richard Wagner (Das Judentum in der Musik, 1850) oder Wilhelm Marr (Der Judenspiegel, 1862), die nach der gescheiterten Revolution von 1848 zu Vordenkern des Rassenantisemitismus wurden. Ab den 1860er Jahren wurde dann die rechtliche Gleichstellung der Juden fast ohne Kontroversen und laute Opposition durchgesetzt, was nicht bedeutet, dass die Judenemanzipation populär war. Die Juden erreichten schließlich 1869 im Norddeutschen Bund die volle Gleichstellung, 1870/71 dann im neu gegründeten Deutschen Reich. In dieser Hochphase des Liberalismus verschwand die Judenfeindschaft nicht, trat aber in den Hintergrund.
Das Kaiserreich Mit der als Gründerkrise bezeichneten tiefen wirtschaftlichen Depression von 18731879 und dem Kulturkampf kam es zu einer antiliberalen Wende. Diese Krisen trafen einen noch ungefestigten Nationalstaat, sodass sich als Reaktion eine völkische Integrationsideologie herausbildete, die nicht nur die Juden, sondern auch die ultramontanen Katholiken und die internationale Arbeiterbewegung als „Reichsfeinde“ brandmarkte. In dieser Depressionsphase erschienen Mitte der siebziger Jahre parallel in der protestantisch-konservativen „Neuen preußischen Zeitung“ (Kreuz-Zeitung) und in der katholischen „Germania“ Artikelserien gegen den „jüdischen Wirtschaftsliberalismus“, und eine von Otto Glagau in der Familienzeitschrift „Gartenlaube“ (Auflage 382.000) publizierte antisemitische Artikelreihe erhob gegen die „Börsen-Juden“ den Vorwurf wirtschaftlicher Ausbeutung (Gründerschwindel), weltweiter Herrschaft und schlechter Rassenmerkmale, verbunden mit dem Aufruf zur Eingrenzung ihres Handlungsspielraums. Wilhelm Marr sah 1879 schon den „Sieg des Judenthums über das Germanenthum“ vollendet. In diesem Klima wurde Adolf Stoecker, protestantischer Prediger am preußischen Königshof, zum Begründer der antisemitischen Bewegung. Mit dem überraschenden Erfolg seiner Reden zum Judentum in den unteren Mittelschichten im September 1879 brachte er eine öffentliche Diskussion über die Stellung der Juden in Deutschland in
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Gang und entdeckte den Antisemitismus als probates Mittel parteipolitischer Agitation. Für eine Verbreitung in bildungsbürgerliche Schichten hinein sorgte der angesehene Historiker Heinrich von Treitschke, der in seinem berühmten Aufsatz „Unsere Aussichten“ (1879) die antisemitische Bewegung rechtfertigte und die „Judenfrage“ zum nationalen Problem erklärte („die Juden sind unser Unglück“). Im anschließenden „Berliner Antisemitismusstreit“ warf ihm sein berühmter Historikerkollege Theodor Mommsen, dem sich 75 Wissenschaftler und Prominente anschlossen, vor, die antisemitische Bewegung hoffähig gemacht zu haben. Mit der Verknüpfung nationaler und christlicher Vorstellungen entwickelte sich der Antisemitismus zu einer allgemeinen Weltanschauung, die die Juden als „Symbol der Zeit“ benutzte, das für die als bedrohlich erlebten Züge der Modernität insgesamt stand: für Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie, Atheismus, Materialismus, Kosmopolitismus, Entsittlichung usw. Mit dieser Generalisierung der „Judenfrage“ wurden politische, soziale und ökonomische Interessengegensätze aus ihrem Kontext gelöst und zu einem prinzipiellen Gegensatz von Deutsch-/Germanentum versus Judentum gemacht. Die frühe „Berliner Bewegung“, die als soziale Reformbewegung auf die ökonomisch bedrohten unteren Mittelschichten zielte und die „soziale Frage „als „Judenfrage“ umdefinierte, war monarchistisch und konservativ-christlich orientiert. Neben der „Christlichsozialen Partei“ Stoeckers (1878-1918), die von 1881-1896 als selbständige Gruppe der Deutschkonservativen Partei angehörte, bildeten sich ab 1879 um einzelne Agitatoren radikale antisemitische Splittergruppen, etwa Wilhelm Marrs „Antisemitenliga“ oder der „Socialitäre Bund“. Dieser Strang der Bewegung definierte aufgrund eines sich explizit antichristlich und wissenschaftlich verstehenden Ansatzes die religiöse und soziale „Judenfrage“ als „Rassenfrage“. Besonders krass wurde diese Position in der viel beachteten Schrift Eugen Dührings „Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage“ (1881) formuliert. Es gab eine Spannung zwischen dem christlich-nationalen Antijudaismus, vertreten vor allem von konservativen Protestanten mit Verbindung zur Aristokratie (Alexander Pinkert, Carl Friedrich Reichsfreiherr von Fechenbach-Laudenbach), und dem antichristlich-rassistischen Antisemitismus der politisch radikalen Radau- und Rassenantisemiten wie Hermann Ahlwardt, Ernst Henrici, Otto Böckel, Paul und Bernhard Förster sowie mit Einschränkungen Max Liebermann von Sonnenberg, deren Agitation wie 1881 in Neustettin antijüdische Ausschreitungen auslösen konnte. Die Spannung verhinderte eine wirksame ideologische und organisatorische Vereinigung der in eine Vielzahl von Vereinen und kleinen Parteien mit oft neutralen Namen wie „Deutscher Bürgerverein“, „Deutscher Reformverein“ oder „Sozialer Reichsverein“ differenzierten Szene. Aufgrund der gegensätzlichen Auffassungen in ökonomischen, sozialen und religiösen Fragen kam die erstrebte Aktionsgemeinschaft auch auf den internationalen Antisemiten-Kongressen 1882, 1883 und 1886, an denen Delegierte aus Deutschland, Österreich, Ungarn, Russland, Frankreich und Serbien teilnahmen, nicht zustande. Auch die Zusammenschlüsse zur „Allgemeinen Vereinigung zur Bekämpfung des Judentums“ (1883) und zum „Deutschen Antisemitenbund“ im Jahre 1884 konnten die Differenzen nicht überdecken. Ab 1882 flaute der Antisemitismus als politische Bewegung für einige Zeit ab, doch begann eine Phase der Infiltration anderer Organisationen. Die Antisemiten traten einer-
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seits als Vertreter von Mittelstandsinteressen auf, agitierten andererseits unter der Landbevölkerung (gegen „jüdischen Wucher“), indem sie die soziale Frage als „Judenfrage“ definierten und dabei zum Teil klassenkämpferische Töne anschlugen („Gegen Junker und Juden!“). Als folgenreich erwies sich die Übernahme des Antisemitismus in die nationalistischen „Vereine deutscher Studenten“, die, angeregt durch die „Antisemitenpetition“ in den Jahren 1880-81, eine Unterschriftensammlung, in der von der Regierung (vergeblich) eine Rücknahme der völligen staatsbürgerlichen Gleichstellung der Juden gefordert wurde, zunehmend eine antijüdische Tendenz erkennen ließen. In den frühen neunziger Jahren übernahmen weitere Vereine den Antisemitismus in ihr Programm, etwa der „Deutsche Turnerbund“. Im modernen Antisemitismus blieb aber auch eine antijudaistische Strömung wirksam, die sich wie beim Hauptprotagonisten August Rohling (Der Talmudjude, 1873) in scharfer Kritik des Talmuds äußerte und die an der Verbreitung von Ritualmordgerüchten mitwirkte. In Xanten (Fall Buschhoff 1890) und Konitz (1900) kam es zu Ritualmordprozessen bzw. Ritualmordvorwürfen und gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden (vgl. Karte 5). Zur Revitalisierung der antisemitischen Bewegung trug der sensationelle Wahlsieg prominenter Antisemiten bei der Reichstagswahl 1887 bei. Die Zahl antisemitisch-völkischer Vereinigungen, wie „Deutsche Reformvereine“, „Deutschsoziale Vereine“, stieg 1893 auf über 200 an. Diese lokalen Netze waren wichtige Hilfstruppen für die Organisation von Wahl- und Propagandakampagnen. Mit dem Ernst Schmeitzner Verlag (Leipzig) und dem Hammer Verlag von Theodor Fritsch, in dem etwa die „Antisemitische Correspondenz“ erschien, besaß man breitenwirksame Publikationsorgane. Der Hammer Verlag soll jährlich eine Million antisemitische Flugblätter und Schriften versandt haben, und Fritschs „Antisemiten-Katechismus“ (später: „Handbuch der Judenfrage“) erlebte von 1886-1893 fünfundzwanzig Auflagen. Die antisemitischen Vereine förderten auch die Gründung antisemitischer Turn-, Kegel- und Bürgervereine und Antisemiten beteiligten sich aktiv an der Gründung von Berufsverbänden, etwa des „Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes“ (DHV) 1893. Die Erfolgsphase antisemitischer Parteien zwischen 1886-1893, in der sie 1893 mit der Entsendung von 16 Abgeordneten in den Reichstag ihr bestes Wahlergebnis erzielten, war jedoch auch von vergeblichen Einigungsversuchen sowie Parteigründungen und -abspaltungen (Deutsche Antisemitische Vereinigung, 1886; Deutschsoziale antisemitische Partei, 1889; Antisemitische Volkspartei, 1889) geprägt, in denen sich antikapitalistisch-antikonservative und stärker völkisch gesinnte Gruppierungen gegenüberstanden. Der Zusammenschluss zur „Deutschsozialen Reformpartei“ stellte 1894 ebenfalls nur eine prekäre Einheit her. Dieser zweite Höhepunkt der antisemitischen Agitation fiel mit der Wendung der radikalen Nationalisten und Imperialisten gegen die Reichspolitik zusammen, die nicht mehr ihrem hochgespannten Großmachtdenken entsprach. In diesen Jahren wurden viele betont völkisch-imperialistische Organisationen gegründet, die sich als „völkische Opposition“ zur gemäßigten Reichspolitik verstanden. Bis zum Ersten Weltkrieg existierten zwei völkische Strömungen: diejenige, die das Volkstum als kulturell-geistige Einheit definierte, vom „Seelenadel“ der Deutschen sprach und den Rassenbegriff als materiali-
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stisch ablehnte (etwa Friedrich Lienhard), und diejenige, die es als Rasseneinheit begriffen. 1890 reagierten liberale Juden und Nicht-Juden auf die antisemitische Bedrohung mit der Gründung des „Vereins zur Abwehr des Antisemitismus“, der schon im Gründungsjahr zwölftausend Mitglieder hatte, darunter Reichstagsabgeordnete und prominente Wissenschaftler und Künstler, etwa der Schriftsteller Gustav Freytag. Daneben waren es vor allem die liberalen Parteien und die Sozialdemokratie, von denen die jüdische Minderheit Unterstützung erhielt. Die gesellschaftlich inzwischen etablierten Juden gründeten 1893 den „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, dessen Hauptaufgabe die Öffentlichkeitsarbeit war. Der parteipolitische Antisemitismus verlor nach dem Höhepunkt in den 1890er Jahren an Bedeutung, wenngleich Antisemiten über Bündnisse mit anderen Parteien weiterhin in den Reichstag gelangten. Der Antisemitismus wurde zum programmatischen Bestand eng vernetzter Parteien und Interessengruppen, zu denen die Konservative Partei, die 1892 in den ersten Paragraphen ihres Parteiprogramms eine antijüdische Erklärung aufnahm, der „Bund der Landwirte" (BdL), der „Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband“ (DHV) und eine Vielzahl völkischer Splittergruppen gehörten. Andere Organisationen, wie der 1890 gegründete „Alldeutsche Verband“ (AV), die das „reine Deutschtum“ zum Leitbegriff nationaler Politik machten und zahlreiche prominente Antisemiten in ihren Reihen hatten, verzichteten aus taktischen Gründen zumindest bis zum Ersten Weltkrieg auf offenen Antisemitismus. Der Radauantisemitismus und seine Verquickung mit materiellen Interessen machten im national gesinnten Bürgertum des Kaiserreichs einem „idealen Antisemitismus“ Platz, der die Judenfrage auf das „völkisch-sittliche“ Gebiet übertragen wollte. Eine zentrale Rolle spielten dabei die im „Kyffhäuserverband“ zusammengeschlossenen „Vereine Deutscher Studenten“ (VdSt). Antisemitismus wurde zum verbindlichen Bestandteil einer „nationalen Haltung“ in weiten Kreisen der Korporierten und der Nichtkorporierten. Es kam zum Ausschluss von Juden aus völkischen Organisationen (aus dem Kyffhäuserverband 1896). Arierparagraphen in wandervogelähnlichen Jugendorganisationen gab es ab 1909, im Turnkreis Deutsch-Österreich ab 1904. Ende der neunziger Jahre war im völkischen Lager von Friedrich Lange im Anschluss an Paul de Lagarde und Arthur Graf Gobineau ein rassistischer Volkstumsgedanke entwickelt worden, der zur Grundlage des 1894 gegründeten „Deutschbundes“ wurde, in dem kein „jüdisches Blut“ geduldet werden sollte. Weite Verbreitung fand dieser rassistisch-völkische Antisemitismus dann durch die um die Jahrhundertwende erscheinenden Schriften Houston Stewart Chamberlains „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ (1899), Gobineaus „Essai sur l'inégalité des races humaines“ (Paris 1853/55; 1898-1901 von Ludwig Schemann, dem Vorsitzenden der Gobineau-Vereinigung auf Deutsch herausgegeben) sowie Paul de Lagardes „Deutsche Schriften“, versprachen sie doch mit der von ihnen postulierten Ungleichheit der Rassen ein wissenschaftliches Fundament für den radikalen Nationalismus und Kolonialismus abzugeben. Diese Ideen verbanden sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit populärem Sozialdarwinismus, in dem „Rassenkampf“ und „Auslese“ auf menschliche Kollektive bezogen wurden, als deren Ziel man sich eine reine arische Rasse phantasierte oder aber
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wie Willibald Hentschel sogar in Züchtungsprojekten umsetzen wollte. Für die Verbreitung solchen Gedankengutes sorgten kulturelle Zirkel, wie der Bayreuther WagnerKreis, die Gobineau-Gesellschaft, die Guido von List-Gesellschaft, und kleine, obskure Bünde und Orden. Trägerschichten waren nun nicht mehr primär Kleinbürgertum oder Bauern, sondern Angehörige freier Berufe, Angestellte, Lehrer, Militärs und die agrarische Oberschicht. Nährboden dieses Antisemitismus war das Unbehagen an der Kultur des Kaiserreichs. Bücher wie Julius Langbehns „Rembrandt als Erzieher“, das gegen die Sterilität der Bildung, gegen die Großstadt, die Zerstörung von Gemeinschaft anschrieb, wurden zu Bestsellern. Antisemitische Haltungen reichten bis in die Reformbewegungen hinein. In dieser „rationalen“ Form als wissenschaftlicher, d.h. rassenideologisch begründeter Konflikt zwischen „Germanen“ und Juden wurde der Antisemitismus in den konservativen Parteien, dem „Bund der Landwirte“, der Deutschen Mittelstandsvereinigung und anderen Verbänden akzeptiert. Im „Alldeutschen Verband“ beschloss man unter der Führung der radikal rassistischen Antisemiten Heinrich Claß und Konstantin von Gebsattel 1913 schließlich die Aufnahme antijüdischer Bestimmungen in das Verbandsprogramm, was jedoch wegen des Krieges erst in der Bamberger Erklärung von 1919 umgesetzt wurde. Zwischen 1910 und 1913 gab es einen Gründungsboom antisemitisch-völkischer Organisationen, die die „Goldene und die Rote Internationale“ als Feind der deutschen Nation auserkoren hatten. Koordinierungsbestrebungen im völkischen Lager führten 1912 zur Gründung des „Verbandes gegen die Überhebung des Judentums“, der allerdings wirkungslos blieb. Damit war ein rassenideologischer Antisemitismus am Vorabend des Ersten Weltkrieges zum festen Bestandteil der völkischen Ideologie geworden. Ihr Ziel einer Rücknahme der Judenemanzipation erreichten die Antisemiten im Kaiserreich nicht, doch korrespondierten ihre Forderungen der Regierungspolitik, insofern als der Staat Juden faktisch den Zugang zu bestimmten Bereichen der Verwaltung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs versperrte. Die Hoffnung der deutschen Juden, der „Burgfrieden“ und die Beteiligung am Krieg würden die lange ersehnte soziale Anerkennung bringen, wurde enttäuscht. Der Antisemitismus lebte bereits Ende 1914 wieder auf. Er fand seinen Ausdruck in der „Judenzählung“ (1916) und in der sich mit dem ungünstigen Kriegsverlauf radikalisierenden Feindseligkeit von Seiten der völkischen und antisemitischen Gruppen und in der Bevölkerung insgesamt, die die Juden als „Drückeberger“ und „Kriegsgewinnler“ angriffen.
Antisemitismus in der Weimarer Republik Kriegsniederlage, Systemwechsel und territoriale Verluste führten in Deutschland zu einer konfliktreichen Umbruchsituation, in der die Juden, von vielen als Revolutionäre, Parteigänger des neuen demokratischen Systems und Kriegsgewinnler betrachtet, zum Sündenbock gemacht wurden. Zur „Ostjudenfrage“ und den Angriffen auf Juden als Kriegs- und Krisengewinnler trat nun ihre Verbindung mit der Revolution („Judenrevolution“) und dem militärischen Zusammenbruch Deutschlands („Dolchstoßlegende“). Im Zuge der Novemberrevolution und der Münchener Räterepublik kam es 1918/19 zu einer bis dahin beispiellosen antisemitischen Agitation und zu tätlichen Angriffen gegen Juden. Unter Führern der Linksparteien waren viele Juden, die in hohe Staatsämter ge-
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langten oder die in der Münchener Räteregierung aktiv waren oder sich dem Spartakusbund anschlossen. Dies führte zum folgenreichen Zusammenziehen von Judentum und Bolschewismus im Begriff des „jüdischen Bolschewismus“. Wie der gegen die Weimarer Republik gebrauchte Schimpfname „Judenrepublik“ anzeigt, verbanden die Judenfeinde nun die Bekämpfung der Juden mit der des neuen demokratischen Staates. Existenznot, Zukunftsangst und revolutionäre politische Umbrüche machten die Bevölkerung für judenfeindliche Deutungsmuster anfällig. Antidemokratische und völkisch-antisemitische Gruppen hatten starken Zulauf. Aus diesen Gruppierungen ragten die 1918 gegründete „Deutschnationale Volkspartei“ (DNVP), in der u.a. die antisemitische „Deutschvölkische Partei“ aufging, und der „Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund“ (DSTB) hervor, der die meisten bedeutenden antisemitischen Gruppierungen unter sich vereinigte und bis zu seinem Verbot 1922 der primäre Träger des Radauantisemitismus war. Beide, die DNVP, in der die führenden Schichten des kaiserlichen Deutschland repräsentiert waren, und der DSTB, in der eher die völkische Opposition organisiert war, fanden zum Kampf gegen die Weimarer Demokratie zusammen. Dabei radikalisierte sich die anfänglich gemäßigt antisemitische Partei bis ins Rechtsextreme. Die Propaganda bediente sich neuartiger Formen und erreichte riesige Ausmaße. Der noch vor Ende des Krieges erschienene rassistisch-pornographische Roman „Sünde wider das Blut“ von Artur Dinter erreichte von 1917 bis 1922 eine Auflage von zweihunderttausend Exemplaren, und mehrere hunderttausend Exemplare wurden von der 1919 erschienenen deutschen Ausgabe der „Protokolle der Weisen von Zion“ abgesetzt. Die frühen Weimarer Jahre waren gekennzeichnet durch Putschversuche, Mord- und Terroranschläge, denen zwischen 1919 und 1922 Juden, Kommunisten und Repräsentanten der Weimarer Republik zum Opfer fielen. Erst der Mord an Außenminister Walther Rathenau führte 1922 wegen des Verstoßes gegen das Republikschutzgesetz in den meisten deutschen Ländern zum Verbot des DSTB. Die DNVP reagierte auf die Welle von Friedhofsschändungen und Attentaten mit dem Ausschluss der Radikalen. In München begann die frühe NSDAP ab 1921 mit Angriffen auf prominente Juden und Funktionäre jüdischer Organisationen sowie mit Übergriffen auf jüdische Friedhöfe und Synagogen. Ihr Antisemitismus, verbreitet über den „Völkischen Beobachter“, stellte lediglich eine Verdichtung und Radikalisierung der völkisch-imperialistischen Ideen aus der Zeit vor 1918 dar und unterschied sich kaum von der hasserfüllten antisemitischen Propaganda anderer völkischer Organisationen. Er bekam aber durch den persönlichen Fanatismus Adolf Hitlers und die Dynamik der NS-Bewegung einen anderen Stellenwert. Die NSDAP gab sich im Februar 1920 ein Programm, das Juden aus dem Kreis der „Volksgenossen“ und Staatsbürger ausschließen, sie als „Gäste“ unter Fremdenrecht stellen und eingewanderte Juden ausweisen wollte. Hitler propagierte einen „Antisemitismus der Vernunft“, dessen Basis ein aus pseudowissenschaftlichen Theoremen zusammengesetztes sozialdarwinistisches Verständnis der Weltgeschichte als „Rassenkampf“ bildete. Das „internationale Judentum“ wurde in seinem „Streben nach Weltherrschaft“ als treibende Kraft hinter allen innen- wie außenpolitischen Problemen vermutet. Die Inflation hatte zur Verarmung der Mittelschichten, zu Arbeitslosigkeit und Not geführt, was eine politische Radikalisierung und die Suche nach Schuldigen für die Mi-
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sere auslöste. Diese glaubte man in „jüdischen Spekulanten“ gefunden zu haben. 1923 kam es im Reich zu antijüdischen Ausschreitungen; das von Lebensmittelkrawallen erschütterte Berlin erlebte im November das „Scheunenviertelpogrom“. Das Feindbild „Ostjuden“ bestimmte auch die Politik. Diese Zuwanderer, die ungefähr ein Viertel der 560.000 Juden in Deutschland ausmachten, wurden zur Zielscheibe einer rigiden staatlichen Ausweisungs- und Internierungspolitik und einer „Ostjudenkampagne“ der DNVP. Das Ende der Hyperinflation und die wirtschaftliche und politische Stabilisierung brachten der Weimarer Republik zwischen 1924 und 1928 eine ruhigere Phase, auch wenn die antisemitische Hetze nachwirkte. Es gab eine Diskriminierung von Juden in Kurorten (Bäderantisemitismus) und es begann eine lautlose, aber bewusste Ausgrenzung seitens des konservativen Bürgertums, das Juden aus seinen Vereinigungen hinausdrängte. Auf der anderen Seite brachte die Weimarer Republik die volle Verwirklichung der Emanzipation, und die stark angestiegene Zahl der „Mischehen“ kann ebenso als ein Indiz für Integration gewertet werden wie die geringe Resonanz des Zionismus. Das politische Gewicht des Antisemitismus konnte aber durch die wachsende Schwäche der Gegenkräfte (liberale Parteien) am Ende der Weimarer Republik weiter vordringen. Er wurde von der antirepublikanisch-monarchistischen DNVP, der antisemitisch orientierte Organisationen wie der „Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband“ (DHV), der „Stahlhelm“ und der „Reichs-Landbund“ nahe standen, als politisches Instrument genutzt. Mit dem Aufstieg der NSDAP radikalisierte die DNVP ihre Politik: sie schloss Juden aus der Partei aus und setzte auf scharfe antisemitische Propaganda. Von Seiten der Kirchen konnten die Juden wenig Unterstützung erwarten. Die Haltung der katholischen Kirche war ambivalent. Sie lehnte zwar den politischen, rassistischen Antisemitismus ab, doch verhinderte ihr traditioneller Antijudaismus eine klare Stellungnahme zugunsten der Juden. Das protestantische Sozialmilieu war auf Grund seiner deutsch-nationalen Verankerung stärker völkisch und damit antijüdisch orientiert. Mit ihren Wahlerfolgen begann die NSDAP wieder mit antijüdischen Übergriffen und Boykottaktionen. Vor allem an den höheren Schulen und Universitäten waren NS-Schüler- und Studentenschaft aktiv und drangsalierten ihre jüdischen Kommilitonen. Neben dieser radauantisemitischen Linie gab es in der NSDAP Strömungen, die die „Judenfrage“ auf andere Weise lösen wollten. Bereits ab 1931 schufen alle möglichen Parteistellen Pläne für Sippenämter, Rassengesetze, Erbgesundheit etc., ohne dass es einen Generalplan gab. Die Absetzung vom Radauantisemitismus zu Gunsten eines politischen Maßnahmenkatalogs bedeutete kein Ende der Gewalt, vielmehr waren in der bürgerkriegsähnlichen Phase des Sommers 1932 terroristische Übergriffe von Seiten der Nationalsozialisten an der Tagesordnung, die sich primär gegen die politischen Gegner KPD und SPD richteten, doch oft auch Juden trafen.
Das Dritte Reich: Entrechtung, Ausplünderung, Vertreibung 1933 wurde Antisemitismus zur Doktrin eines Staates, in dem eine radikalantisemitische Partei an die Macht gelangt war. Diese demonstrierte nach dem Straßenterror und den Boykottforderungen im März mit der Boykottaktion gegen jüdische Geschäfte und Praxen vom 1. April 1933 ihre Entschlossenheit, nun konkrete antijüdische Maßnahmen fol-
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Karte 6: Antisemitische Ausschreitungen 1919–1939
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gen zu lassen. In den nächsten Jahren wurden die Juden mit einer Flut von über 2000 Gesetzen und Verordnungen in beispielloser Weise wirtschaftlich ausgeplündert, sozial ausgegrenzt, aus dem Lande getrieben sowie in einer Flut von antisemitischer Propaganda, mittels Zeitungen wie dem „Stürmer“, dem „Völkischen Beobachter“ und dem „Angriff“, über Plakataktionen („Parole der Woche“) bis hin zu Reden vor Massenpublikum, moralisch diffamiert. Sie sahen sich zudem vielfach physisch bedroht oder wurden gar Opfer individueller wie kollektiver Gewalt. Angetrieben durch eine fanatisch antisemitische Führung unter Adolf Hitler und die Initiativen aus den zahlreichen Parteigliederungen bis hinunter zu einfachen „Volksgenossen“, die sich mit Denunziationen aus Neid, Habgier oder Überzeugung beteiligten, gewann die antijüdische Politik eine ungeheure Dynamik. Dem Boykott am 1. April 1933 folgte schon am 7. April mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ die „Säuberung“ des öffentlichen Dienstes von politischen Gegnern und Juden (§ 3 verfügte die Versetzung von Beamten „nicht-arischer Abstammung“ in den Ruhestand). Dieses Gesetz gab das Vorbild ab („Arierparagraph“) für die in den nächsten Jahren erfolgende Ausschließung aus anderen Berufen. Ein Teil der Juden, in erster Linie politische exponierte und gefährdete Personen, floh bereits 1933 ins Ausland (25.000). Eine neue Stufe erreichte die Ausgrenzung mit den „Nürnberger Gesetzen“ vom September 1935. Laut „Reichsbürgergesetz“ waren Juden nur noch Staatsangehörige und nicht mehr Reichsbürger, und es wurden ihnen die Eheschließung sowie sexuelle Kontakte mit Nicht-Juden verboten („Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“). Der November 1938 brachte mit den Novemberpogromen („Reichskristallnacht“) als weitere Verschärfung die Anwendung massiver kollektiver Gewalt. Die Nationalsozialisten nutzten das Attentat Herschel Grünspans auf den Legationssekretär der Deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, am 7. November 1938, um die von höchster Ebene „verordneten Pogrome“ zu starten. Mit diesen Aktionen sollten die Juden gänzlich aus der Wirtschaft verdrängt und zur Emigration getrieben werden. Tatsächlich wanderten 1939 75.000-80.000 aus. Mit Beginn des Krieges wurde die Auswanderung erschwert und 1941 gänzlich verboten. Für die ca. 200.000 Juden, die nicht hatten auswandern können oder wollen, setzte sich die Ausplünderung und soziale Stigmatisierung fort. Die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12. November 1938 bedeutete den endgültigen wirtschaftlichen Ruin. Juden wurden zur Zwangsarbeit verpflichtet, aus ihren Wohnungen verdrängt und in sogenannten Judenhäusern konzentriert; sie durften nur noch zu eng begrenzten Zeiten in bestimmten Geschäften einkaufen. Waren sie damit völlig aus dem sozialen Leben abgedrängt worden, machte sie andererseits die Polizeiverordnung vom 1. September 1941, die sie zum Tragen des gelben Sterns verpflichtete, öffentlich sicht- und kontrollierbar. Im Oktober 1941 begann die letzte Phase der Verfolgungspolitik: die systematische Massendeportation und Ermordung der deutschen Juden im Osten (ihre Zahl wird auf 160.000 bis 195.000 beziffert).
Der Holocaust Hatte die NS-Politik bis Kriegsbeginn die „Lösung der Judenfrage“ in der Auswanderung aus Deutschland gesehen, so stellte sich mit der Besetzung Polens und seiner gro-
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Karte 7: Orte der Judenverfolgung unter deutscher Herrschaft 1939–1945
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ßen jüdischen Bevölkerung sowie mit der anschließenden Besetzung großer Teile Europas die „Judenfrage“ nun im europäischen Maßstab. Heinrich Himmler rechnete im Dezember 1940 zur „Endlösung der Judenfrage“ mit einer Umsiedlung von 5,8 Millionen Juden „aus dem europäischen Wirtschaftsraum des deutschen Volkes“ in ein noch zu bestimmendes Territorium (etwa Madagaskar-Plan). Bis zum Sommer 1941 war die NSJudenpolitik mit ihrer Mischung aus forcierter Auswanderung, Errichtung von Arbeitslagern und Ghettos, Umsiedlungs- und Mordaktionen noch von Planungswirrwarr und situativ geprägten Entscheidungen gekennzeichnet gewesen, doch ab Sommer/Herbst 1941 begann mit den Mordaktionen der Einsatzgruppen der systematische Völkermord. Bereits im ersten Dreivierteljahr der Besatzungsherrschaft dürften eine dreiviertel Million Juden den Erschießungsaktionen, Pogromen und Massakern zum Opfer gefallen sein. Der Krieg wurde von den Nationalsozialisten als ein schonungsloser „Weltanschauungskrieg“ gegen die „jüdisch-bolschewistische“ Sowjetunion geführt, in dem Bolschewismus und Slawentum dem Nationalsozialismus und der germanischen Herrenrasse gegenüberstünden. Unter Federführung Himmlers und seiner SS wurde der Genozid immer weiter perfektioniert, um schließlich mit den großen Vernichtungslagern in Polen (Chełmno, Auschwitz-Birkenau, Treblinka, Majdanek, Belżec, Sobibór) die Form von Mordfabriken anzunehmen (vgl. Karte 7). Zur Koordination für eine „Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa“ lud der Chef des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich im Auftrage Hermann Görings am 20. Januar 1942 Vertreter von Ministerien und Parteistellen zur „Wannsee-Konferenz“, wo ein gigantisches Programm europaweiter Deportation und von Vernichtung durch Arbeit vorgestellt wurde. Dieses Verfolgungsprogramm wurde konsequent realisiert, obwohl oder vielleicht gerade weil sich die militärische Niederlage immer deutlicher abzeichnete, so als wollte Hitler seine „Prophezeiung“, dass ein Krieg „das Ende der jüdischen Rasse in Europa sein würde“, in jedem Fall Wirklichkeit werden lassen. Dies zeigt, in welchem Maße der Antisemitismus bei Hitler und der SSFührung zu einer Obsession geworden war, der alles andere untergeordnet wurde. Diese Politik fand in Institutionen wie Personen willige Helfer: Finanzämter, Polizeistellen, Reichsbahn, Ministerien, Wehrmacht und Parteistellen arbeiteten zusammen.
Antisemitismus und Antizionismus in Deutschland nach 1945 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lebte der Antisemitismus fort. Er speist sich weiterhin aus den bekannten judenfeindlichen Traditionen, weist aber auch eine Reihe neuer Aspekte auf: Er reagiert auf den Völkermord, sei es durch seine Leugnung bzw. Verharmlosung oder eine Schuldprojektion auf die Juden (Holocaustleugnung). Er ist in Deutschland ein Antisemitismus fast ohne Juden und er kann seit 1948 die Form des Antizionismus annehmen, indem entweder alle Juden kollektiv für die Politik des Staates Israel haftbar gemacht werden oder der Staat Israel für alle möglichen politischen Übel dieser Erde zur Verantwortung gezogen wird. In den westlichen Besatzungszonen Deutschlands bestanden trotz aller Umerziehungsbemühungen der Alliierten antijüdische Haltungen nach Kriegsende massiv fort. Insbesondere die jüdischen Displaced Persons, die bis in die 1950er Jahre hinein in Lagern und requirierten Wohnungen blieben, wurden als Schwarzhändler, Kriminelle und
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„Gefahr für die Deutschen“ angegriffen. In Friedhofsschändungen und antijüdischen Tumulten trat Antisemitismus 1947 und 1948 wieder offen hervor. Dies galt auch für die Sowjetische Besatzungszone (SBZ). Die Verantwortlichen in der SBZ nahmen anfangs eine hilfsbereite Haltung gegenüber den jüdischen NS-Opfern ein. Zu Streitpunkten sollten die Fragen der Anerkennung der Juden als mit den kommunistischen Widerstandskämpfern gleichberechtigte „Opfer des Faschismus“ und die der Rückgabe jüdischen Eigentums (Restitution) an emigrierte Juden und Wiedergutmachungsleistungen für Israel werden. In den frühen 1950er Jahren wurde zudem die stalinistische „Antizionismus-Kampagne“ auch in der DDR spürbar. Als Opfer eines geplanten Schauprozesses wählte man den Nicht-Juden Paul Merker, der sich für eine Rückerstattung auch an emigrierte Juden eingesetzt hatte. Der sowjetische Druck wirkte sich auch auf die Haltung der SED zu den Jüdischen Gemeinden aus, die in ihrer Arbeit behindert wurden. Diesem Druck entzogen sich Anfang 1953 mehrere hundert Juden durch Flucht in den Westen. Mit Stalins Tod endete der Druck auf die jüdischen Gemeinden der DDR. Mit Gründung der Bundesrepublik und der Zulassung auch rechtsextremer Parteien und Zeitschriften, wie „Nation Europa“ und der „Soldatenzeitung“ (1951), ab 1960 „Deutsche Soldaten-Zeitung und National-Zeitung“, ab 1968 „Deutsche National-Zeitung“, kam es zu einer Wiederbelebung antisemitischer Anschauungen. Nach regionalen Wahlerfolgen wurde jedoch schließlich 1952 die neonazistische Sozialistische Reichspartei (SRP) vom Bundesverfassungsgericht verboten, was den organisierten Rechtsextremismus für ein Jahrzehnt aus der Politik abdrängte. Antisemitismus wurde aus der Öffentlichkeit verbannt, und mit dem Luxemburger-Abkommen 1952 über Wiedergutmachungszahlungen und dem Bundesentschädigungsgesetz von 1953 hoffte man auch hier auf einen „Schlussstrich“ unter die Vergangenheit. Durch Bücher, wie das „Tagebuch der Anne Frank“, Filme wie „Nacht und Nebel“ (1955/56), durch zeitgeschichtliche Forschung und vor allem durch den Eichmann-Prozess (1961) und den ersten Auschwitz-Prozess (1963 bis 1965) traten Juden als Opfer des Holocaust stärker ins öffentliche Bewusstsein und ein Gefühl der Mitschuld setzte sich durch. In der Bundesrepublik endeten die 1950er Jahre in einer Häufung antisemitischer Skandale, die in der Schmierwelle von 1959/60 gipfelten. Diese Ereignisse lösten ein Umdenken in Politik, Bildung, Justiz und Kultur aus. In der DDR blieben die jüdischen Gemeinden in den 1950er und 1960er Jahren von Partei und Staat weitgehend unbeachtet. Auf die Auseinandersetzungen im Juni 1967 reagierten die kommunistischen Staaten, darunter auch die DDR, mit einer Wendung zum Antizionismus, der nicht frei von antisemitischen Tönen war. Im Unterschied zur DDR polarisierte der Juni-Krieg von 1967 die westdeutsche Öffentlichkeit. Während die Bevölkerung für Israel Partei ergriff, nahmen Teile der akademischen, vorher pro-israelischen Linken nun eine extrem israelkritische Haltung ein. Auf der politischen Linken trat der Antisemitismus nun in der Maske eines hasserfüllten Antizionismus auf, der den terroristischen „Freiheitskampf der Palästinenser“ unterstützte und Israel als imperialistischen „Brückenkopf der USA“ verurteilte. Der Erfolg der rechtsextremen NPD seit Mitte der 1960er Jahre hatte seine Ursachen in der ersten Wirtschaftskrise der Bundesrepublik und im Streit um die deutsche Ostpolitik, während
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Antisemitismus ein Randthema blieb. Diese Erfolgsphase endete mit den Ostverträgen Anfang der 1970er Jahre und Rechtsextremismus blieb bis Ende der 1980er Jahre marginal. In den 1980er Jahren war das Verhältnis zu den Juden in der Bundesrepublik Teil der Auseinandersetzung um die Erinnerung an die NS-Vergangenheit, so in der Bitburg(1985) und der Fassbinder-Affäre (1985), im „Historikerstreit“ (1987) und im „Fall Jenninger“ (1988). Dabei ging es primär nicht um aktuellen Antisemitismus, was antisemitische Töne nicht ausschloss, wenn Juden als „rachsüchtig“, „auf ihren finanziellen Vorteil bedacht“ oder als Störenfriede im deutsch-amerikanischen Verhältnis angegriffen wurden. Zahlreiche Umfragen zwischen 1985 und 1990 lassen erkennen, dass die Verbreitung vor allem traditioneller antijüdischer Einstellungen weiter zurückging, insbesondere in den jüngeren Generationen und in den Bildungsschichten. In der DDR entwickelte sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eine veränderte Einstellung zu den jüdischen Gemeinden. Die DDR-Führung wollte den mit der Perestrojka größer gewordenen Spielraum für die Verbesserung der Beziehungen zu den USA nutzen und setzte dabei auch auf amerikanisch-jüdische Organisationen. Hinzu kamen die Entdeckung des kulturellen deutsch-jüdischen Erbes und die Tatsache, dass der Nahostkonflikt nicht mehr als Instrument ideologischen Drucks auf die Juden in der DDR diente. Hatten Umfragen Anfang der 1990er Jahre ein beruhigendes Bild geliefert, so nahm die Entwicklung mit der 1991 einsetzenden Welle fremdenfeindlicher Gewalt, neonazistischer Aufmärsche und antisemitischer Anschläge einen anderen Verlauf. Seit den frühen 1990er Jahren haben rechtsextreme und antisemitische Straftaten ein deutlich höheres Ausmaß erreicht als in den Jahrzehnten zuvor. Auch rechtsextremes, antisemitisches Gedankengut in ihren Publikationen („Deutsche Stimme“, „Nationalzeitung“) äußernde Parteien, etwa die „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD), die „Deutsche Volksunion“ (DVU) und die „Republikaner“, erlebten einen Aufschwung und sind seitdem in einigen Länderparlamenten vertreten. Antisemitismus blieb aber in den 1990er Jahren nicht auf den rechtsextremen Rand beschränkt. Vielmehr waren in einer ganzen Reihe von Skandalen (Justizskandal um Deckert-Urteil 1994) und Debatten bedenkliche Töne zu vernehmen. Es gab antisemitische Untertöne in der Kontroverse um die Bewertung des Antisemitismus in der deutschen Geschichte anlässlich der Auseinandersetzung um Daniel J. Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ (1996), in den Konflikten um die „Wehrmachtsausstellung“ und die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern sowie über Norman G. Finkelsteins Buch „Die Holocaust-Industrie“. Schließlich war Antisemitismus ein zentraler Punkt in der von dem Schriftsteller Martin Walser ausgelösten Antisemitismus-Debatte, dem Walser-Bubis-Streit (1998) und in der Diskussion über sein Buch „Tod eines Kritikers“ (2002). In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts haben politische Entwicklungen (Globalisierung, Umbau des Sozialstaates) Teile der Bevölkerung verunsichert. Dadurch hat sich offenbar die Einstellung zu Minderheiten, darunter auch zu Juden, generell verschlechtert. Die antisemitische Rede des Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann (2003) war ein Ausdruck dieses Trends. Verstärkt wird dies durch den Nahostkonflikt, den islamisti-
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schen Terrorismus und den Irak-Krieg, die die Bereitschaft, an Verschwörungstheorien zu glauben, deutlich erhöht haben. Angesichts der Eskalation des Konflikts seit Beginn der Al-Aqsa-Intifada im Jahre 2000 steht diese Politik in der öffentlichen Kritik, die nicht immer frei von antisemitischen Tönen ist, wie dies der öffentliche Streit des FDPPolitikers Jürgen Möllemann mit dem damaligen Mitglied des Zentralrats der Juden Michel Friedman (2002) belegt. Für den Beginn des neuen Jahrtausends ist zu konstatieren, dass neben dem „sekundären Antisemitismus“, der sich an Problemen des Umgangs mit der NS-Vergangenheit entzündet, die israelische Politik gegenüber den Palästinensern ein Motiv für judenfeindliche Ressentiments bildet. Beide Motive können sich verbinden, indem die israelische Politik einen Anlass bietet, den Opferstatus der europäischen Juden zu relativieren und deren Bezugnahme auf den Holocaust zunehmend weniger zu akzeptieren.
Werner Bergmann
Literatur Helmut Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1988. Werner Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, München 2004³. Werner Bergmann, Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949-1989, Frankfurt am Main 1997. Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Bd. 1: Die Jahre der Verfolgung 19331939, München 1998; Bd. 2: Die Jahre der Vernichtung, München 2006. Werner Jochmann, Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland 1870-1945, Hamburg 1988. Lothar Mertens, Davidstern unter Hammer und Sichel. Die Jüdischen Gemeinden in der SBZ/DDR und ihre Behandlung durch Partei und Staat 1945-1990, Hildesheim 1997. Heiko A. Oberman, Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation, Berlin 1981. Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, Göttingen 1975. Michael Toch, Juden im mittelalterlichen Reich, Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 44, München 1998. Massimo F. Zumbini, Die Wurzeln des Bösen, Bonn 2003.
Dominikanische Republik Die Vertreibung aus dem iberischen Siedlungsgebiet der Juden und die Gründung von jüdischen Gemeinden in der „Neuen Welt“ stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit der Besiedlung des Karibikraumes. Tausende Juden flohen Anfang August 1492 aus dem Einflussbereich der katholischen Könige vor der Inquisition. Am 2. August 1492 setzten im spanischen Hafen Palos drei Karavellen unter dem Kommando von Christoph Kolumbus Segel: Von den 90 Männern an Bord der drei hochseetüchtigen Segelschiffe waren viele zwangsgetaufte Juden. Ohne die Beteiligung von Juden ist die Besiedlung
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und „Eroberung“ des karibischen Raums und des amerikanischen Kontinents nicht denkbar. Von Luis de Torres (Dolmetscher von Christoph Kolumbus) ist bekannt, dass er kurz vor der großen Reise getauft wurde und mit an Bord gehen durfte, weil er Hebräisch, Aramäisch und andere östliche Dialekte beherrschte. Auch auf den folgenden Reisen trugen nicht wenige Seeleute und Abenteurer jüdische Namen, wie der dominikanische Historiker Carlos Esteban Deibe bei der Revision der Besatzungsliste der Schiffe herausgefunden hat. Die Mehrheit der Juden siedelte sich in Santo Domingo an, dem ersten von den Kolonialisten gegründeten Ort Amerikas. In dieser Epoche ankerten immer wieder Schiffe mit jüdischen illegalen Einwanderern vor der „ersten Stadt in der Neuen Welt“. Die Dominikanische Republik und Haiti teilen sich heute die zweitgrößte Karibikinsel Hispaniola (Kleinspanien), wie sie Kolumbus getauft hatte. Während der ersten Jahrzehnte der Konquista bestimmten „Juden und Übergetretene“ das wirtschaftliche und politische Leben auf dieser Insel. Sehr schnell begannen die Konvertiten ihre jüdischen Traditionen wieder aufzunehmen, bis der lange Arm der Inquisition das Chaos der Eroberung beendete und erneut den „religiösen Freiraum“ abrupt beendete. Mit Datum vom 22. Juni 1497 verboten die katholischen Könige nicht nur die Einwanderung von ehemaligen Juden nach Santo Domingo, wie die Insel damals noch genannt wurde, sondern auch jede nicht katholische Religionsausübung. Vier Jahre später wurde dieses Dekret noch einmal bekräftigt mit der ausdrücklichen Feststellung, dass „Islamisten, Juden, Herätiker und Versöhner das Betreten der Insel verboten ist, um die Bekehrung der Indios nicht zu vereiteln“. Ein weiteres Mal mussten die Juden fliehen, um sich der Verfolgung zu entziehen. Der Karibikraum verdankt dieser Vertreibung von damals seine wirtschaftliche Entwicklung. Neuchristen und Juden widmeten sich dem Aufbau der Zuckerrohrplantagenwirtschaft in Brasilien mit Genehmigung des portugiesischen Königs, bis sie auch von dort vertrieben wurden. Erst Franzosen, Briten und vor allem die niederländische Krone duldeten die erfolgreichen Kaufleute und Händler auf ihren Inseln. Noch heute rühmen sich das zum britischen Commonwealth gehörende Barbados und die niederländischen Antilleninsel Curaçao ihrer Erstsiedler, der sephardischen Juden. Der Vertag von Ryswick (1697) zwischen Spanien und Frankreich, der die Insel in zwei Einflussbereiche aufteilte, gestattete die – wenn auch zögerliche – Rückkehr der jüdischen Händler. Der Westteil der Insel wurde französisch, der Ostteil blieb unter spanischer Kolonialherrschaft bis zu seiner Unabhängigkeit 1844. Meist lebten die Juden jedoch im französischen Teil und reisten nur sporadisch in den Ostteil der Insel. Als 1824 der erste „Friedhof für Ausländer“ in Santo Domingo, der heutigen Hauptstadt der Dominikanischen Republik, geweiht wurde, nutzen ihn anfangs vor allem Juden. Der älteste jüdische Grabstein, der sich auf dem Alt-Friedhof in der Innenstadt, in der Nähe des Unabhängigkeitsplatzes findet, ist auf den 6. Dezember 1826 datiert und trägt die Aufschrift „Jacob Pardo, natif de Amsterdam“. Schon damals gab es innerhalb der Bevölkerung, darin sind sich alle Historiker des Landes einig, keinerlei Ressentiments gegen die Juden oder Anzeichen von organisiertem Antisemitismus. In der Endphase der spanischen Kolonialherrschaft und auch während der vorübergehenden Besetzung durch die Nachbarrepublik Haiti spielten die Juden
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eine wichtige Rolle bei dem, was man heute Nationbildung nennt. Sie waren teilweise die intellektuellen Vordenker der Unabhängigkeitsbewegung. Die jüdischen bzw. die einstmals jüdischen Kaufleute finanzierten zum Teil gerade die liberalen Strömungen dieser Bewegung. 20 bis 30 Prozent der im wirtschaftlichen Sinne besser gestellten heutigen Bevölkerung der Dominikanischen Republik haben „jüdische Wurzeln“, wie sich an deren Namen zeigt. Sie erinnern sich stolz ihrer jüdischen Herkunft, auch wenn die Mehrzahl sich heute zum Christentum bekennt. Und die „misma sangre de los judíos“, die „Blutsverwandschaft“, bestimmt das Bild der Bevölkerung in Bezug auf die Juden – auch in den Medien des rund 9,2 Millionen Einwohner zählenden Landes. Jüdischkeit stand und steht noch für Prosperität, wirtschaftliche und politische Entwicklung. Erst mit der Besetzung des spanisch geprägten Teils der Insel Hispaniola durch das 1804 unabhängig gewordene Haiti entstanden ansatzweise so etwas wie antijüdische Ressentiments durch die Präsenz von Juden im ehemals französischen Teil des Landes. Noch heute hat die von Mulatten dominierte Dominikanische Republik ein sehr gespanntes Verhältnis zur Nachbarrepublik, in der vor allem dunkelhäutige Menschen leben. Von 1822 bis 1844 war das Land von Haiti besetzt. Als sich zwei Jahre nach der Unabhängigkeit des Landes von Haiti erste nationalistische Stimmen gegen ein Wohnrecht von Juden aussprachen, wies die dominikanische Regierung diese Forderung einer verschwindend kleinen Minderheit mit scharfen Worten zurück. Gleichzeitig wurde die jüdische Beteiligung am Unabhängigkeitskampf des Landes und die Hilfe von Juden bei der wirtschaftlichen Entwicklung gelobt. Allerdings ging dieser Prozess der Anerkennung einher mit einer immer weiteren Assimilierung der Nachfahren der ersten sephardischen Einwanderer, die Historiker als eine „komplette Auflösung in die einheimische Bevölkerung“ beschreiben, die jedoch nicht zwangsweise erreicht worden sei, sondern selbst von den „Hebräern“ ausgegangen sei. Gegen Ende des 19. Jahrhundert versuchte der damalige Staatspräsident General Gregorio Luperón (1880-1882), nach dem Bekanntwerden von Pogromen in Russland, Baron Rothschild in Paris und die „Alliance Israélite Universelle“ für ein gemeinsames Siedlungsprogramm für die Verfolgten zu gewinnen. Ziel war es, die wenig besiedelten Regionen des Landes wirtschaftlich zu fördern, Landwirtschaft und Handel neu zu beleben, und natürlich erhoffte sich Luperón Investitionen für die Landesentwicklung. Die pro-jüdische Grundtendenz in der dominikanischen Gesellschaft änderte sich auch nicht wesentlich nach der Machtübernahme des Diktators Rafael Leónides Trujillo Molina 1930. Zwar kleidete er sich gerne wie ein Operettengeneral, ließ die Hauptstadt in „Ciudad Trujillo“ und den höchsten Berg des Landes in „Pico Trujillo“ umbenennen. Offensichtlich liebäugelte er auch mit dem Nationalsozialismus und Adolf Hitler, bewunderte den Duce in Italien und blieb bis zu seinem Tode ein enger Freund des spanischen Diktators Franco. Bis etwa 1936 besuchten zahlreiche Wirtschaftsdelegationen aus NS-Deutschland die Insel, sie wurde zumindest auf deutscher Seite als potentieller Marinestützpunkt und Rohstoffquelle gehandelt. Die Nähe zu den Vereinigten Staaten und die in vielen Punkten politische und ökonomische Abhängigkeit von dieser Beziehung ließen allerdings alle Pläne und Versuche einer engen Zusammenarbeit zwischen NS-Deutschland und der Trujillo-Republik scheitern.
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Auch die Kabelberichte der Vertretung des Deutschen Reiches in Santo Domingo über eine Ablehnung von jüdischen Einwanderern sowohl von staatlicher Seite als auch von der Bevölkerung dürften mehr dem Wunschdenken der Diplomaten geschuldet gewesen sein, als der Realität auf der Insel entsprochen haben. Zwar führte das Land eine für Juden geltende Visagebühr von 500 US-Dollar ein, der Einwanderung von jüdischen Flüchtlingen in Europa wurden jedoch keine großen Steine in den Wege gelegt. Im Gegenteil: Um die Besiedlung der unerschlossenen Landwirtschaftsregionen anzukurbeln, sein Image international aufzupolieren, nachdem seine Gefolgsleute um die 17.000 Haitianer in der Grenzregion zwischen beiden Ländern massakriert hatten, offerierte der diplomatische Vertreter Trujillos bei der Internationalen Konferenz in Evian 1938 über die jüdischen Flüchtlinge in Europa die Aufnahme von Tausenden aus Deutschland und Österreich Geflohenen. 1939 wurden verschiedene Siedlungsstandpunkte geprüft, im Januar 1940 dann entsprechende Verträge zwischen der Dominikanischen Republik und der vom „American Jewish Joint Distribution Committee“ gegründeten „Dominican Republic Settlement Asociation“ über die Ansiedlung von Juden in Sosúa, im Norden des Landes, unterzeichnet. Allerdings betrug die Zahl der als „Colonos“ bezeichneten Siedler nie mehr als etwa 800, die Anfang der 1940er Jahre mit einem Sondervisum einreisen konnten. Die einstige jüdische Siedlung mit ihrer noch heute zu besichtigenden Synagoge und einem kleinen Museum gilt in der Dominikanischen Republik als Erfolgsgeschichte. Die Kleinstadt mit heute knapp 10.000 Einwohnern – nur noch wenige sind Nachfahren der ehemaligen Siedler -, wurde zur Wiege des dominikanischen Tourismus. Die von den Juden als Genossenschaften gegründeten Milch-, Käse- und Wurstfabriken haben im Land eine Tradition begründet. Milch, Butter, Käse und Wurst mit dem Markenzeichen „Productos Sosúa“ stehen immer noch für deutsche Qualität, auch wenn das Unternehmen seit wenigen Jahren zu einem internationalen Nahrungsmittelkonzern aus Mexiko gehört. Etwa 300 Juden, die Mehrzahl in der Hauptstadt Santo Domingo, leben heute in der Dominikanischen Republik. Zwar finden sich auf der jährlich stattfindenden Buchmesse auch antisemitische Hetzbücher vor allem kolumbianischer und venezolanischer Rechtsverlage. Aber die Berichterstattung der dominikanischen Medien über jüdische Themen als auch über den Nahost-Konflikt ist weitgehend positiv. Die jüdische Einwanderung sowohl während der Zeit der Konquista als auch im 19. und 20. Jahrhundert und die jüdischen Wurzeln vieler Familien werden thematisiert und sind Gegenstand in historischen Abhandlungen, die in den dominikanischen Tageszeitungen veröffentlicht werden.
Hans-Ulrich Dillmann
Literatur Mordechai Arbell, The Jewish Nation for the Caribbean, The Spanisch-Portuguese Jewish Settlements in the Caribbean and the Guianas, Jerusalem 2002. Jean Ghasmann Bissainthe, Los Judíos en el Destino de Quisqueya, Santo Domingo 2006.
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Carlos Esteban Deive, Los Judíos en Santo Domingo y America durante el Siglo XVI, in: Alfonso Lockward, Presencia Judía en Santo Domingo, Santo Domingo 1994, S.175ff. Bernardo Vega, Nazismo, Fascismo y Falangismo en la República Dominicana, Santo Domingo 1985.
Ecuador In der Republik Ecuador, die 13 Millionen Einwohner zählt, leben rund 620 Juden. Anders als in den meisten südamerikanischen Staaten gelangte erst mit der nationalsozialistischen Verfolgung eine größere Gruppe von Juden in dieses „jüdische Niemandsland“. Zwar waren mit den spanischen Eroberern auch Juden nach Ecuador gekommen, doch war ihre Zahl gering und über ihr Schicksal ist nichts bekannt. Auch nach der Unabhängigkeit von Spanien wanderten nur wenige sephardische Juden ein, die sich assimilierten oder ihre Tradition nicht öffentlich verfolgten. Seit Ende des 19.Jahrhunderts kamen vereinzelt Juden vornehmlich aus Osteuropa. Mit dem Flüchtlingsstrom, der 1938 einsetzte, fanden bis 1942 zwischen 3.500 und 4.000 Menschen Asyl, die mehrheitlich aus Deutschland und in kleinerer Zahl aus Österreich, Ungarn, der Tschechoslowakei, Italien, Polen, den Baltischen Staaten, der Sowjetunion und Rumänien stammten. Sie siedelten sich vorwiegend in der Hauptstadt Quito und in Guayaquil an (vgl. Karte 1). Da die meisten ihren Aufenthalt in Ecuador als Episode betrachteten, war die Abwanderung nach Kriegsende erheblich. Andererseits trafen in den ersten Nachkriegsjahren Überlebende des Holocaust ein. Anfang der siebziger Jahre folgten jüdische Familien aus anderen lateinamerikanischen Staaten. In den letzten Jahren waren es vor allem Juden aus Argentinien, die sich in Quito niederließen. Heute zählt die jüdische Gemeinde in der Hauptstadt und ihrem Einzugsbereich 550, die Gemeinde in Guayaquil 70 Mitglieder. Wie in anderen Ländern waren in Ecuador die Einwanderungsbedingungen 1938 erschwert worden. Arbeit in der Landwirtschaft oder eine industrielle Tätigkeit gehörten zu den Auflagen. Widerstand gegen die Einwanderung jüdischer Flüchtlinge hatte Ende 1937 zu einem Dekret geführt, das binnen 30 Tagen die Ausweisung der Juden vorsah, die sich nicht zum Vorteil des Landes in der Landwirtschaft oder der Industrie betätigten. Zwar wurde das Dekret zurückgenommen, die Neuregelung der Einwanderungsgesetzgebung sah jedoch eine drastische Erhöhung des Vorzeige- und Landungsgeldes vor. In der Praxis wurden solche Vorschriften aber nicht konsequent umgesetzt, das Vorzeigegeld bald wieder erheblich gesenkt und den Flüchtlingen nach ihrer Ankunft zur Existenzgründung ausgezahlt. Dieser Umstand und die Tatsache, dass die Behörden die Einhaltung der gesetzlichen Forderung nach industrieller oder landwirtschaftlicher Betätigung in der Regel nicht überprüften, erleichterte den Immigranten die wirtschaftliche Eingliederung, führte aber bald zu öffentlicher Kritik, die sich insbesondere gegen ihre Tätigkeit im Handel und in anderen kaufmännischen Berufen richtete, jenem Erwerbszweig, der auch von Ecuadorianern bevorzugt wurde.
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Carlos Esteban Deive, Los Judíos en Santo Domingo y America durante el Siglo XVI, in: Alfonso Lockward, Presencia Judía en Santo Domingo, Santo Domingo 1994, S.175ff. Bernardo Vega, Nazismo, Fascismo y Falangismo en la República Dominicana, Santo Domingo 1985.
Ecuador In der Republik Ecuador, die 13 Millionen Einwohner zählt, leben rund 620 Juden. Anders als in den meisten südamerikanischen Staaten gelangte erst mit der nationalsozialistischen Verfolgung eine größere Gruppe von Juden in dieses „jüdische Niemandsland“. Zwar waren mit den spanischen Eroberern auch Juden nach Ecuador gekommen, doch war ihre Zahl gering und über ihr Schicksal ist nichts bekannt. Auch nach der Unabhängigkeit von Spanien wanderten nur wenige sephardische Juden ein, die sich assimilierten oder ihre Tradition nicht öffentlich verfolgten. Seit Ende des 19.Jahrhunderts kamen vereinzelt Juden vornehmlich aus Osteuropa. Mit dem Flüchtlingsstrom, der 1938 einsetzte, fanden bis 1942 zwischen 3.500 und 4.000 Menschen Asyl, die mehrheitlich aus Deutschland und in kleinerer Zahl aus Österreich, Ungarn, der Tschechoslowakei, Italien, Polen, den Baltischen Staaten, der Sowjetunion und Rumänien stammten. Sie siedelten sich vorwiegend in der Hauptstadt Quito und in Guayaquil an (vgl. Karte 1). Da die meisten ihren Aufenthalt in Ecuador als Episode betrachteten, war die Abwanderung nach Kriegsende erheblich. Andererseits trafen in den ersten Nachkriegsjahren Überlebende des Holocaust ein. Anfang der siebziger Jahre folgten jüdische Familien aus anderen lateinamerikanischen Staaten. In den letzten Jahren waren es vor allem Juden aus Argentinien, die sich in Quito niederließen. Heute zählt die jüdische Gemeinde in der Hauptstadt und ihrem Einzugsbereich 550, die Gemeinde in Guayaquil 70 Mitglieder. Wie in anderen Ländern waren in Ecuador die Einwanderungsbedingungen 1938 erschwert worden. Arbeit in der Landwirtschaft oder eine industrielle Tätigkeit gehörten zu den Auflagen. Widerstand gegen die Einwanderung jüdischer Flüchtlinge hatte Ende 1937 zu einem Dekret geführt, das binnen 30 Tagen die Ausweisung der Juden vorsah, die sich nicht zum Vorteil des Landes in der Landwirtschaft oder der Industrie betätigten. Zwar wurde das Dekret zurückgenommen, die Neuregelung der Einwanderungsgesetzgebung sah jedoch eine drastische Erhöhung des Vorzeige- und Landungsgeldes vor. In der Praxis wurden solche Vorschriften aber nicht konsequent umgesetzt, das Vorzeigegeld bald wieder erheblich gesenkt und den Flüchtlingen nach ihrer Ankunft zur Existenzgründung ausgezahlt. Dieser Umstand und die Tatsache, dass die Behörden die Einhaltung der gesetzlichen Forderung nach industrieller oder landwirtschaftlicher Betätigung in der Regel nicht überprüften, erleichterte den Immigranten die wirtschaftliche Eingliederung, führte aber bald zu öffentlicher Kritik, die sich insbesondere gegen ihre Tätigkeit im Handel und in anderen kaufmännischen Berufen richtete, jenem Erwerbszweig, der auch von Ecuadorianern bevorzugt wurde.
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Während die Präsidenten Carlos Arroyo del Río (1940-1944) und José Maria Velasco Ibarra (1934/35, 1944-1947) der Einwanderung von Verfolgten des NS-Regimes positiv gegenüberstanden, schürten wirtschaftlich und politisch interessierte Kreise mit Hilfe einer von Deutschland unterstützten Presse Ressentiments gegenüber Juden, die an vorhandene antisemitische Vorurteile aus christlicher Wurzel anknüpften. Jedoch sind die sich seit 1942 mehrenden Anfeindungen eher als Ausdruck einer allgemeinen Xenophobie zu betrachten, die sich in der politischen und wirtschaftlichen Krisensituation jener Jahre stärker bemerkbar machte. Die Anfeindungen wurden von Vertretern der Jüdischen Gemeinden immerhin als so gravierend eingeschätzt, dass sie versuchten, wenn auch letztlich ergebnislos, eine berufliche Umorientierung ihrer Mitglieder zu erreichen. Insgesamt hatte die einheimische Bevölkerung die Flüchtlinge neugierig-freundlich aufgenommen. Einerseits wusste man nicht so recht, was einen Juden überhaupt ausmachte, andererseits gab es durch den Katholizismus geprägte Vorurteile, die in ihrer primitivsten Form in der Vorstellung bestanden, ein Jude sei an Hörnern und Schwanz zu erkennen. Bis in die gebildeten Schichten hinein hielt man das Judentum für eine katholische Sekte. Andere unterschieden zwischen einem „judío-catolico“ und einem „judíoisraelita“. Zwar existierte das Wort „judío“ als Schimpfwort, doch bezeichnete es gewöhnlich nicht die Zugehörigkeit zu einer Religion, einem Volk oder einer Rasse. Mit dem Wort belegte man sowohl einen Menschen, den man für einen Trottel hielt, wie jemanden, den man als charakterlich schlecht oder minderwertig einstufte. Allerdings war „judío“ auch jemand, der zuviel Zinsen nahm oder Waren teuer verkaufte, worin die christliche Wurzel des mehrdeutig verwendeten Begriffs klarer zum Ausdruck kommt. Diese zeigte sich ebenfalls in Diskriminierungen, mit denen Immigrantenkinder in katholischen Schulen konfrontiert wurden, indem man in ihnen die Nachfahren der Mörder Christi sah oder es ihnen übel nahm, dass sie nicht an die Jungfrau Maria glaubten. Offen trat der Antisemitismus in der Behauptung zutage, verschwundene ecuadorianische Kinder könnten im Fleischwolf einer von Juden betriebenen Wurstfabrik geendet sein. In einer sensationell aufgemachten Pressekampagne wurde 1948 der Besitzer einer Wurstfabrik beschuldigt, er habe versucht, einen christlichen Jungen zu entführen, um aus seinem Fleisch Wurst zu machen. Vorurteile, die als Erbe christlicher Ressentiments in der Bevölkerung vorhanden waren, wurden durch den Einfluss nazistisch geprägter Propaganda verstärkt. Über eine Reihe von Pro-Achse-Blättern rückte so ein bis dahin wenig bekannter rassisch determinierter Antisemitismus in das öffentliche Bewusstsein. Die nationalsozialistisch beeinflusste Presse schoss sich 1942 besonders auf einen jüdischen Journalisten ein, der sich in den großen Zeitungen des Landes exponiert hatte, indem er die Kriegsereignisse glossierte und Nazi-Größen karikierte. Man konstruierte ein ideologisches Gebräu aus Freimaurertum, Liberalismus, Engländern, Juden und der „übrigen Sippe“, gegen deren Einflüsse sich die Ecuadorianer zur Wehr setzen müssten, sei es aus einem atavistischen Gefühl gegen die Juden oder zur Verteidigung gegen das wirtschaftliche Eindringen dieser „Rasse“. Anders als in der breiten Bevölkerung, in deren Haltung sich Deutschenfreundlichkeit mit Misstrauen gegenüber Fremden und religiösen Ressentiments mischten, trat hier die
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bewusste Zustimmung zur Ideologie des Nationalsozialismus hinzu. Mehr als einmal sahen sich die jüdischen Gemeinden veranlasst, ein spezielles Komitee zur Bekämpfung von Antisemitismus einzurichten. So 1944 als in einem Zeitungsartikel, der sich auf die „Protokolle der Weisen von Zion“ berief, die Juden als erbkranke, verkommene und in ihren Geschäften skrupellose Rasse dargestellt wurden, die der Feind eines jeden gläubigen Volkes sei. Nicht zuletzt empfanden bereits vor Jahrzehnten eingewanderte Kaufleute aus arabischen Ländern, vor allem aus dem Libanon, die sich auf den Handel mit Textilien spezialisiert hatten, die Juden als unerwünschte Konkurrenz. Im August 1944 hatte Velasco Ibarra jene Bestimmungen, die Juden zu vorgeschriebenen Tätigkeiten verpflichteten, außer Kraft gesetzt. Doch erfolgten Ende der 1940er Jahre im Zusammenhang mit den Anschuldigungen gegen den Wurstfabrikanten verstärkte Kontrollen jüdischer Unternehmen. Zu Beginn der 1950er Jahre, als die meist aus Osteuropa stammenden jüdischen Immigranten ihre Textilläden stark vergrößerten, kam es unter dem Einfluss der libanesischen Konkurrenz zu erneuten Kontrollen und gesetzlichen Erschwernissen, die schließlich durch Intervention des „World Jewish Congress“ abgewendet werden konnten. Parallel zu antisemitischen Aktionen in anderen lateinamerikanischen Staaten und Europa gab es Anfang der 1960er Jahre nazistische Schmierereien an jüdischen Geschäften, und auf das Haus des israelischen Konsuls wurde ein Anschlag verübt. Obwohl einzelne Juden der in Ecuador geborenen Generation gelegentlich politische Ämter einnahmen und die jüdische Gemeinde ihre Beziehungen zur Mehrheitsgesellschaft positiv einschätzt, folgt sie bis heute der Devise, sich nicht in öffentliche Angelegenheiten einzumischen und sich unauffällig zu verhalten.
Marie-Luise Kreuter
Literatur Entrevista sobre la Comunidad Judía de Ecuador. Información proporcionada por Pablo Javier Denenberg, Quito 2004. Marie-Luise Kreuter, Wo liegt Ecuador? Exil in einem unbekannten Land 1938 bis zum Beginn der fünfziger Jahre, Berlin 1995.
Estland Die ersten jüdischen Gemeinden etablierten sich erst Mitte des 19. Jahrhunderts in Estland. Die schwedischen Herrscher in Estland (1600-1710) tolerierten keine abweichenden Religionen und forderten die Zwangskonversion aller Juden und Muslime im Reich. Nach der russischen Eroberung war die Einwanderung von Juden dadurch eingeschränkt, dass sich Estland außerhalb des sogenannten Ansiedlungsrayons befand. Erst 1865 ermöglichte eine Gesetzesänderung einigen Kategorien von Juden – u.a. wohlhabenden Kaufleuten, Handwerksmeistern, Hochschulabsolventen – sich außerhalb der Grenzen des Ansiedlungsrayons niederzulassen (? Russland). Die nach Estland einreisenden Juden kamen aus Litauen, aber auch aus Polen, Kurland und Weißrussland. Am
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Vorabend des Ersten Weltkriegs lebten etwa 5.500 Juden in Estland, die größte jüdische Gemeinde war in Tartu (vgl. Karte 4). 1884 waren an der dortigen Universität 1.400 eingeschriebene Studenten, etwa 10 Prozent von ihnen waren jüdischer Herkunft. Allerdings sanken die Zahlen, als die russischen Behörden 1893 einen Numerus Clausus von 5 Prozent einführten. Die Monate der deutschen Besatzung (Februar bis November 1918) brachten keine nennenswerten Störungen des jüdischen Lebens in Estland, umso einschneidender war die darauf folgende bolschewistische Machtübernahme. Die Härten des Krieges und die einschränkenden administrativen Maßnahmen des neuen Regimes hatten zur Folge, dass viele Juden das Land verließen. In Narva blieb beispielsweise nur ein Drittel der 523 Personen zählenden jüdischen Vorkriegsbevölkerung. 1918 wurde Estland selbständig, 1940 wurde es Sowjetrepublik, vom Juni 1941 bis 1944 stand es unter deutscher Besatzung. Nach der Befreiung wurde das Land wieder Sowjetrepublik und 1991 selbständig. Estland war nach dem Ersten Weltkrieg ein ethnisch vergleichsweise homogenes Land, Minderheiten stellten knapp 10 Prozent der Bevölkerung. Mit 4.434 Personen bildeten Juden 0,4 Prozent der Gesamtbevölkerung. In ihrer eher seltenen Berichterstattung über die Juden behandelten die Zeitungen sie als fremdartige Gruppe ohne tiefere Verbindung zum Land. Juden waren im unabhängigen Estland nicht zum Staatsdienst zugelassen. Das 1925 eingeführte Gesetz über die kulturelle Autonomie ermöglichte der jüdischen Gemeinschaft eine kulturelle Selbstverwaltung. Obwohl die jüdische Einwanderung nach Estland nicht gefördert wurde und unerwünscht war, konnten etwa 100 Juden, denen die Einreise gelang, im Land bleiben. Es gibt keine Hinweise, dass sie schikaniert worden wären. Allerdings äußerten estnische Amtsträger immer wieder öffentlich und im privaten Kreis ihre Absicht, eine Masseneinwanderung von Juden zu verhindern. Zwischen den beiden Weltkriegen spielte Antisemitismus in Estland eine geringe Rolle. In Estland war die offizielle Kirche die lutheranische, die mit der deutschen Eroberung im 13. Jahrhundert assoziiert und deshalb nicht unbedingt als nationale Kirche angesehen wurde. Die radikale Rechte in Estland, allen voran die Kriegsveteranenbewegung, verzichtete auf direkte Attacken gegen Minderheiten. Die „Judenfrage“ fand erst nach Hitlers Regierungsantritt in Deutschland ihren Weg in die Publikationen der Kriegsveteranen. Die radikalen Rechten attackierten selten direkt die Juden und unterschieden kaum zwischen Juden, Baltendeutschen und Sozialisten. Die stereotype Darstellung von jüdischem Reichtum war der verbreitetste Ausdruck von Antisemitismus. Antisemitische Periodika und Pamphlete, die in dieser Zeit erschienen, konnten sich mangels Leserschaft auf Dauer nicht etablieren. Allerdings nahmen Fälle von Alltagsantisemitismus nach den deutschen Novemberpogromen 1938 zu. Ausländische jüdische Kommentatoren sahen verschiedene Faktoren für das relativ geringe Maß des Antisemitismus im Estland der Zwischenkriegszeit: die pragmatische Einstellung der estnischen Bevölkerung, die geringe Anzahl und die relativ geringe wirtschaftliche Rolle der Juden. Dies mochte die Verbreitung von Neid und Feindseligkeit verhindert und die Eignung der Juden als Sündenböcke verringert haben.
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In Estland gab es nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1941 keine Pogrome und keine Ghettos. Tagelange Massenexekutionen von Juden fanden erst im Herbst 1941 statt. Zwischen Juni und August 1941 konnten dank des starken sowjetischen Widerstandes gegen den deutschen Einmarsch ungefähr zwei Drittel der estnischen Juden nach Russland fliehen. Die etwa 1.000 verbleibenden Juden wurden im Herbst 1941 von der estnischen Sicherheitspolizei inhaftiert und ermordet. In der Folgezeit wurde Estland Ziel von Deportationen: Im September 1942 kamen zwei Transporte mit jüdischen Zwangsarbeitern aus Theresienstadt bzw. aus Berlin und Frankfurt am Main in Tallinn an. Sofort nach der Ankunft wurden 1.650 von einer Spezialabteilung der estnischen Sicherheitspolizei exekutiert. Die übrigen Gefangenen, meist junge Frauen, wurden in das Tallinner Zentralgefängnis überstellt. Im August-Oktober 1943 deportierten die Deutschen mehr als 9.000 Juden aus den aufgelösten Ghettos in Kaunas und Wilna (Vilnius) sowie im November 1943 aus dem Lager in Salaspils nach Estland. Die jüdischen Zwangsarbeiter arbeiteten zusammen mit sowjetischen Kriegsgefangenen in der Ölindustrie und bauten Verteidigungsanlagen im Nordosten Estlands. Sie wurden in den 19 Außenlagern des Konzentrationslagers Vaivara in einer ansonsten dünn besiedelten Gegend konzentriert. Dreihundert Männer der estnischen Schutzmannschaftsbataillone 287 und 290 bewachten die Lagergrenzen, während die deutsche SS innerhalb der Lager das Kommando hatte. Mit wenigen Ausnahmen wurden Selektionen, einzelne Tötungen und Massenexekutionen von Juden im Sommer 1944 von Deutschen ausgeführt. Das größte Massaker auf estnischem Territorium fand am 19. September 1944 im Konzentrationslager Klooga statt und forderte das Leben von 1.634 Juden und 150 sowjetischen Kriegsgefangenen. Die Gesamtzahl der jüdischen Todesopfer in Estland in den Jahren 1941-1944 beläuft sich auf etwa 8.500. Seit der Unabhängigkeit Estlands 1991 nahm die Auswanderung zu und die jüdische Gemeinde schrumpfte um mehr als 50 Prozent, von 4.613 auf 1.818 Personen. Der nationalsozialistische Massenmord an den Juden in Estland ist nie ein Thema öffentlicher Debatte geworden. Die meisten Esten sehen den Holocaust als ein von außen aufgezwungenes Ereignis, das keine direkte Verbindung zu ihrem Land hat. Der im Jahr 2006 veröffentlichte Bericht der internationalen Kommission zur Untersuchung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit [Rahvusvaheline inimsusevastaste kuritegude uurimiskomisjon] ist die erste und bislang einzige wissenschaftliche Arbeit estnischer Historiker zum Holocaust. Die Art und Weise, in welcher die Kommission den Holocaust betrachtet, öffnet indes keine neuen Ausblicke, sondern festigt eher alte Fehlannahmen. Der Mangel an akademischem und öffentlichem Interesse ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. Holocaustleugnung gibt es in Estland seit den späten 1990er Jahren, und die Veröffentlichung der estnischen Übersetzung von Jürgen Grafs berüchtigtem Buch „Der Holocaust-Schwindel“ (Holokaust luubi all) im Jahr 2001 trug zu deren Verbreitung bei. Im November 2002 besuchte der Schweizer „Revisionist“ die estnische Hauptstadt und erhielt einen einstündigen Fernsehauftritt im estnischen Staatsfernsehen. Allerdings war es hauptsächlich Grafs Image eines Märtyrers und weniger der Inhalt seiner konstruierten Behauptungen, das ihn für manche nationalistischen Esten interessant macht.
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Die beiden bekanntesten Antisemiten und Holocaustleugner in Estland, Jüri Lina (geboren 1949) und Tiit Madisson (geboren 1950), sind ehemalige Dissidenten, die 1979 bzw. 1987 wegen nationalistischer Aktivitäten von den sowjetischen Behörden zur Emigration nach Schweden gezwungen worden waren. Nach der Auflösung der Sowjetunion haben die beiden in „Juden und Freimaurern“ neue Feinde entdeckt. Lina und Madisson publizierten mehrere antisemitische Bücher. Eine Analyse elektronischer Medien zeigt eine hohe antisemitische Einstellung in der Bevölkerung. Die meisten Esten streiten jede Verantwortung für die im Zweiten Weltkrieg verübten Verbrechen ab. Nach legalistischer und formaler Argumentationsweise war Estland ein besetztes Land. Dadurch scheinen sich seine Bürger der persönlichen Verantwortung enthoben zu fühlen. Zudem macht diese Tatsache es unmöglich, an die estnischen Behörden bezüglich der juristischen Ahndung mutmaßlicher Kriegsverbrecher zu appellieren. Die Esten haben einen sehr engen Begriff von Gerechtigkeit, die meisten akzeptieren nur eine „qui pro quo“-Gerechtigkeit. Sie finden Zuflucht im Relativismus, wenn nicht sogar in der Gleichsetzung. Vom Allgemeinen wird dabei auf das Besondere geschlossen: Juden seien nicht die einzige ethnische bzw. religiöse Gruppe in der Geschichte der Menschheit, die Leid erfahren habe. Andere fordern, sich auf die estnischen Angelegenheiten zu konzentrieren und anderer Leute Probleme und Leiden außer Acht zu lassen, da einfach nicht genug Zeit, Geld und Energie da sei, um allen gerecht zu werden. Viele Esten ereifern sich in einer recht unproduktiven Opferkonkurrenz. Im Verlauf der hitzigen Debatten war unter anderem zu hören, dass die estnische Nation, angeblich Opfer eines Genozids, in der menschlichen Geschichte am meisten gelitten habe. Der „JudeoBolschewismus“ war ein weiteres Diskussionsthema, mit dem Hinweis, dass die Juden bei der Auflösung des estnischen Staates 1940 eine herausragende Rolle gespielt hätten. Antisemitismus und Holocaustleugnung in Estland sind nicht allein Ergebnis des kollektiven Traumas durch die sowjetische Herrschaft. Selbst wenn man die extremsten Ansichten außer Acht lässt, so ist feststellbar, dass in der öffentlichen Meinung die Juden nicht als Teil der estnischen Geschichte gelten. Die Besonderheit antijüdischer Einstellungen in Estland, gekennzeichnet durch die Bezüge zur sowjetischen Besatzungszeit, bestätigt Jean Paul Sartres Analyse des „Antisemitismus ohne Juden“.
Anton Weiss-Wendt Übersetzt aus dem Englischen von Claudia Curio
Literatur Eugenia Gurin-Loov, Eesti juutide katastroof 1941 [Holocaust of the Estonian Jews 1941], Tallinn 1994. Kopl Jokton, Juutide ajaloost Eestis [On History of Jews in Estonia], Tartu 1992 (Neuauflage des 1926 veröffentlichten Buches). Tönu Parming, The Jewish Community and Inter-Ethnic Relations in Estonia, 1918-1940, in: Journal of Baltic Studies, 10(1979), 3, S.241-262. Elhonen Saks, Kes on Juudid ja mis on holokaust? [Who are the Jews and what is the Holocaust?], Tallinn 2003.
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Anton Weiss-Wendt, The Soviet Occupation of Estonia in 1940-41 and the Jews, in: Holocaust and Genocide Studies, 12(1998), 2, S.308-325.
Finnland In Finnland gibt es schon seit dem 17. Jahrhundert Dokumente über den Aufenthalt von zum Christentum konvertierten Juden. Als Finnland 1809 von Schweden getrennt wurde, blieben die Grundgesetze aus der schwedischen Zeit in Kraft. In diesen war festgelegt, dass alle Bürger des Landes Lutheraner sein müssten. Mit Verweis auf die schwedischen Grundgesetze vertrieb der Generalgouverneur Arseni Zakrevski im Jahr 1831 die Juden aus Finnland. Trotz dieser Gesetzeslage kam noch immer eine gewisse Anzahl von Juden ins Land. Es waren vor allem jüdische Soldaten der russischen Armee, die von den russischen Behörden die Zustimmung erhielten, mitsamt ihren Familien in Finnland zu bleiben, nachdem sie sich dort niedergelassen hatten. Der Senat begann in den 1880er Jahren dennoch erneut damit, die Bedingungen für die Juden zu verschärfen. Fortan durften die Gouverneure der Provinzen jüdischen Antragstellern eine Aufenthaltsgenehmigung nur noch für höchstens sechs Monate erteilen. Im Februar 1888 begann der Senat außerdem damit, Juden aus dem Land zu vertreiben. Über die Vertreibungen wurde nicht nur in der finnischen Presse berichtet, sie wurden auch im Ausland kritisiert. Dies bewegte den Senat wiederum dazu, den im Jahre 1889 namentlich bekannten Juden das Recht zuzugestehen, bis auf Weiteres im Land zu verbleiben und an bestimmten Orten zu wohnen. Als Folge der Vertreibungen sowie der Emigration aus eigener Initiative sank die Anzahl der Juden innerhalb weniger Jahre stark. Während im Jahr 1890 gut tausend Juden in Finnland lebten, waren es 1893 nur noch 700. Deutlicher kam die „Judenfrage“ in den zwischen 1872 und 1917 geführten Parlamentsdebatten zur rechtlichen Stellung der Juden zum Vorschein. An diese Debatten anknüpfend wurde die Thematik auch in der Presse und – vor allem im kaufmännischen Bereich – im Umfeld der beruflichen Interessenverbände diskutiert. In diesen Jahrzehnten kamen antijüdische Vorurteile, Berufsneid und der aus Mitteleuropa importierte Antisemitismus besonders stark zum Vorschein. Beeinflusst wurde diese Stimmung von einem traditionellen Konservatismus, mit dem sich zumindest in einigen Fällen in der Religionsgeschichte verankerte antijüdische Ressentiments vermischten. Die Debatte über die „Judenfrage“ im 19. und im frühen 20. Jahrhundert brachte jedoch keine institutionell verankerten antisemitischen Aktivitäten oder antisemitische Zeitschriften und Literatur hervor. Den finnischen Antisemitismus der Zwischenkriegszeit kann man als nahezu bedeutungslos charakterisieren. Die Juden, denen am 12. Januar 1918 die Bürgerrechte des nunmehr selbständigen Finnland verliehen wurden, bildeten eine kaum sichtbare Minderheit. 1920 beispielsweise lebten im Land lediglich 1.468 Juden. Finnland war außerdem nicht von der Migration der Ostjuden betroffen, welche andernorts antisemitische Einstellungen verstärkt hatte. Dennoch gab es in den Beziehungen zwischen Finnen und Juden einige Spannungen. Da sich die wenigen Juden auf die Städte Helsinki, Viborg
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Anton Weiss-Wendt, The Soviet Occupation of Estonia in 1940-41 and the Jews, in: Holocaust and Genocide Studies, 12(1998), 2, S.308-325.
Finnland In Finnland gibt es schon seit dem 17. Jahrhundert Dokumente über den Aufenthalt von zum Christentum konvertierten Juden. Als Finnland 1809 von Schweden getrennt wurde, blieben die Grundgesetze aus der schwedischen Zeit in Kraft. In diesen war festgelegt, dass alle Bürger des Landes Lutheraner sein müssten. Mit Verweis auf die schwedischen Grundgesetze vertrieb der Generalgouverneur Arseni Zakrevski im Jahr 1831 die Juden aus Finnland. Trotz dieser Gesetzeslage kam noch immer eine gewisse Anzahl von Juden ins Land. Es waren vor allem jüdische Soldaten der russischen Armee, die von den russischen Behörden die Zustimmung erhielten, mitsamt ihren Familien in Finnland zu bleiben, nachdem sie sich dort niedergelassen hatten. Der Senat begann in den 1880er Jahren dennoch erneut damit, die Bedingungen für die Juden zu verschärfen. Fortan durften die Gouverneure der Provinzen jüdischen Antragstellern eine Aufenthaltsgenehmigung nur noch für höchstens sechs Monate erteilen. Im Februar 1888 begann der Senat außerdem damit, Juden aus dem Land zu vertreiben. Über die Vertreibungen wurde nicht nur in der finnischen Presse berichtet, sie wurden auch im Ausland kritisiert. Dies bewegte den Senat wiederum dazu, den im Jahre 1889 namentlich bekannten Juden das Recht zuzugestehen, bis auf Weiteres im Land zu verbleiben und an bestimmten Orten zu wohnen. Als Folge der Vertreibungen sowie der Emigration aus eigener Initiative sank die Anzahl der Juden innerhalb weniger Jahre stark. Während im Jahr 1890 gut tausend Juden in Finnland lebten, waren es 1893 nur noch 700. Deutlicher kam die „Judenfrage“ in den zwischen 1872 und 1917 geführten Parlamentsdebatten zur rechtlichen Stellung der Juden zum Vorschein. An diese Debatten anknüpfend wurde die Thematik auch in der Presse und – vor allem im kaufmännischen Bereich – im Umfeld der beruflichen Interessenverbände diskutiert. In diesen Jahrzehnten kamen antijüdische Vorurteile, Berufsneid und der aus Mitteleuropa importierte Antisemitismus besonders stark zum Vorschein. Beeinflusst wurde diese Stimmung von einem traditionellen Konservatismus, mit dem sich zumindest in einigen Fällen in der Religionsgeschichte verankerte antijüdische Ressentiments vermischten. Die Debatte über die „Judenfrage“ im 19. und im frühen 20. Jahrhundert brachte jedoch keine institutionell verankerten antisemitischen Aktivitäten oder antisemitische Zeitschriften und Literatur hervor. Den finnischen Antisemitismus der Zwischenkriegszeit kann man als nahezu bedeutungslos charakterisieren. Die Juden, denen am 12. Januar 1918 die Bürgerrechte des nunmehr selbständigen Finnland verliehen wurden, bildeten eine kaum sichtbare Minderheit. 1920 beispielsweise lebten im Land lediglich 1.468 Juden. Finnland war außerdem nicht von der Migration der Ostjuden betroffen, welche andernorts antisemitische Einstellungen verstärkt hatte. Dennoch gab es in den Beziehungen zwischen Finnen und Juden einige Spannungen. Da sich die wenigen Juden auf die Städte Helsinki, Viborg
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und Turku konzentrierten (vgl. Karte 4), kann man davon ausgehen, dass die Angst vor örtlicher Konkurrenz Antipathien gegen die neuen finnischen Bürger jüdischen Glaubens auslöste. Darüber hinaus hingen den Juden in Finnland wie auch andernorts bestimmte ihnen zugeschriebene Stereotype an. Neben alten Vorurteilen und ablehnenden Einstellungen sowie sich aus Angst vor Konkurrenz speisenden Antipathien sahen sich die Juden im selbständig gewordenen Finnland nun auch mit dem Vorwurf konfrontiert, das Judentum stehe mit der bolschewistischen Revolution in Russland in Verbindung. Als antisemitisches Sprachrohr fungierte in der Zeit zwischen den Weltkriegen nur eine sehr kleine Gruppe aus dem extrem rechten Spektrum. Der parteipolitische Antisemitismus wurde vor allem aus Mitteleuropa importiert. In diesem Bereich traten in Finnland jedoch gleich mehrere Akteure in Erscheinung. Auf dem äußerst zersplitterten Feld der extremen Rechten wirkten mehrere bedeutungslose kleine Parteien, die den Antisemitismus entweder in ihre Parteiprogramme aufgenommen hatten oder ihn in ihrer Propaganda artikulierten. Von diesen Parteien seien vor allem die folgenden genannt: die „Vaterländische Volkspartei“ (Isänmaallinen Kansanpuolue), die „Finnische Sozialistische Arbeiterpartei“ (Suomalaissosialistinen Työväen Puolue, SSTP), die „Finnische Arbeitsfront“ (Suomen Työrintama), die „Gemeinschaftsfront“ (Yhteisrintama), die „Finnische Nationalsozialistische Arbeitsorganisation“ (Suomen Kansallissosialistinen Työjärjestö, SKT), der „Finnische Nationalsozialistische Verbund“ (Suomen Kansallissosialistinen Liitto, SKSL) sowie die „Organisation des finnischen Volkes“ (Suomen Kansan Järjestö – Finlands Folkorganisation). Neben den eben genannten müssen auch die im Umfeld der antisemitischen Zeitschriften „Siniristi“ (Blaues Kreuz) und „För Frihet och Rätt“ (schwedisch, Für Freiheit und Recht) entstandenen Gruppierungen erwähnt werden. Zusammen mit den Zeitschriften „Työrintama“ (Arbeitsfront) und „Vapaa Suomi“ (Freies Finnland) bildeten die genannten Periodika den antisemitischen Rand der Publikationen der extremen politischen Rechten. Außer in den Publikationen der Rechtsgruppierungen kamen judenfeindliche Äußerungen mitunter auch in christlichen Zeitschriften wie „Kotimaa“ (Vaterland) und „Herättäjä“ (Der Erwecker) vor. Diese Fälle standen meist in Zusammenhang mit der antikommunistischen Ausrichtung der Periodika. Als Resultat der Aktivitäten dieser Kreise wurde nun auch antisemitische Literatur veröffentlicht. Die bekanntesten übersetzten Werke dieser Art waren „Die Protokolle der Weisen von Zion“, „The International Jew“ von Henry Ford, Martin Luthers „Von den Juden und ihren Lügen“ sowie eine verkürzte Version des von Theodor Fritsch herausgegebenen „Handbuchs der Judenfrage“. Bis zum Jahr 1938 gab es im selbständigen Finnland keine „jüdische Frage“. Im Sommer 1938 veränderte sich die Situation, als österreichische Juden auch nach Finnland flohen. Als die jüdische Gemeinde in Helsinki die Verpflichtung einging, für das Auskommen der Flüchtlinge zu sorgen, erteilten die Behörden über 100 Flüchtlingen eine Aufenthaltsgenehmigung. Als die Immigration weiter anhielt, verhielten sich die Behörden restriktiv. 50 bis 60 Flüchtlinge, die am 19. August 1938 mit dem Schiff ankamen, wurden zur Rückkehr gezwungen. Im Vorfeld machten Vertreter einiger beruflicher Interessenverbände auf die möglicherweise auf dem Arbeitsmarkt auftauchende Konkurrenz aufmerksam: In einem Schreiben an den Staatsrat sprachen sie sich dagegen aus,
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Juden Aufenthaltsgenehmigungen auszustellen. In der Folge blieb Finnland für jüdische Flüchtlinge nahezu geschlossen. Während des Zweiten Weltkriegs spitzte sich die Situation bis zum Jahr 1942 weiter zu, was sich vor allem auf die umstrittene Frage des Schicksals der finnischen Juden bezieht. Ende Juli, Anfang August 1942 machte Heinrich Himmler einen Staatsbesuch in Finnland. Zwar sind die Akten über diesen teilweise als Urlaubsreise durchgeführten Finnlandbesuch nicht erhalten, doch wurde Himmlers Reise als Versuch gewertet, eine Auslieferung der finnischen Juden zu erreichen. Diese Behauptung stützt sich auf Angaben, die Himmlers Masseur Felix Kersten nach dem Krieg machte. Ihm zufolge habe Himmler auf Veranlassung Hitlers vom finnischen Präsident Ryti die Auslieferung der finnischen Juden an Deutschland verlangt. Die spätere Forschung hat sich in dieser Frage gespalten gezeigt. Im Allgemeinen stand man Kerstens Memoiren äußerst kritisch gegenüber, da er sich selbst als Judenretter heroisiert. Dass die finnische „jüdische Frage“ zumindest beim Treffen Himmlers mit dem finnischen Ministerpräsidenten J.W. Rangell auf die Tagesordnung kam, ist hingegen unbestritten. Rangell hatte seine Eröffnungsrede beim Zusammentreffen mit Himmler mit der Feststellung „Wir haben keine Judenfrage!“ geschlossen. Ob Himmler dem Ausspruch Rangells zum Trotz direkte Forderungen nach Auslieferung stellte, ist eine Frage, die nicht mit letzter Sicherheit beantwortet werden kann. Die finnischen Juden entgingen der Vernichtungsmaschinerie Hitlers, ein Teil der im Land lebenden jüdischen Flüchtlinge jedoch nicht. Finnland lieferte am 6. November 1942 acht österreichische Juden an Deutschland aus, fünf Vertriebene und deren drei Familienangehörige. Alle Ausgelieferten wurden über Tallinn in deutsche Konzentrationslager verbracht. Bis auf einen kamen dort alle ums Leben. Der offiziellen Erklärung zufolge wurden die Auslieferungen auf Veranlassung des Chefs der finnischen Staatspolizei, Arno Anthoni, durchgeführt. Nach dem Krieg bestritten sowohl Anthoni als auch sein Vorgesetzter, Innenminister Toivo Horelli, dass die Staatspolizei im Besitz eines Generalplans zur Auslieferung der jüdischen Flüchtlinge gewesen sei oder dass Deutschland einen solchen verlangt hätte. Es habe sich hingegen um eine einfache Polizeioperation gehandelt. In der neueren Forschung wurde der Auslieferungsbeschluss jedoch auch politisch gedeutet. Der indirekte Druck Deutschlands habe demzufolge einen Einfluss auf die Entscheidung ausgeübt. Die Angst vor negativen Auswirkungen auf die deutschen Getreidelieferungen habe die politische Führung Finnlands zu den Auslieferungen bewegt. Diese hätte man offenbar auch weiterhin durchgeführt, wenn die Angelegenheit in der Öffentlichkeit nicht für so großes Aufsehen gesorgt hätte. Die Auslieferung der acht jüdischen Flüchtlinge löste unter den in Finnland verbliebenen Flüchtlingen Angst aus, so dass sich die jüdische Gemeinde in Helsinki schon bald nach dem Vorfall darum bemühte, die jüdischen Flüchtlinge nach Schweden übersiedeln zu lassen. Bis zum Sommer 1944 gelang es auch, dies allen Flüchtlingen zu ermöglichen, die es wünschten. Außer den von der Staatspolizei zu verantwortenden Auslieferungen wurden im Rahmen des Kriegsgefangenenaustauschs mindestens 47 jüdischstämmige Personen an Deutschland ausgeliefert. Es konnte jedoch nicht bewiesen werden, dass die jüdischen Kriegsgefangenen aufgrund ihres Glaubens ausgeliefert wurden.
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Heute umfasst die jüdische Gemeinde etwa 1.500 Personen. Diese ist im Zuge des israelisch-palästinensischen Konfliktes hin und wieder für die israelische Politik verantwortlich gemacht worden. So wurden etwa an Angehörige der jüdischen Gemeinde Bombendrohungen gerichtet und die Fenster der Helsinkier Synagoge im April 2002 eingeschlagen. Es sind auch antisemitische Graffitis aufgetaucht und von Teilen der finnischen Gesellschaft wurde der Boykott israelischer Produkte gefordert.
Eero Kuparinen Übersetzt aus dem Finnischen von Tommi Vollmann
Literatur Jari Hanski, Juutalaisviha Suomessa 1918–1944 [Judenhass in Finnland 1918–1944], Helsinki 2006. Santeri Jacobsson, Taistelu ihmisoikeuksista: yhteiskunnallis-historiallinen tutkimus Ruotsin ja Suomen juutalaiskysymyksen vaiheista [Kampf um die Menschenrechte: Eine sozialwissenschftlich-historische Untersuchung zur Geschichte der „Judenfrage” in Schweden und Finnland], Jyväskylä 1951. Eero Kuparinen, Aleksandriasta Auschwitziin. Antisemitismin pitkä historia [Von Alexandria bis Auschwitz. Die lange Geschichte des Antisemitismus], Jyväskylä 1999. Elina Sana, Luovutetut: Suomen ihmisluovutukset Gestapolle [Die Ausgelieferten: Finnlands Auslieferungen an die Gestapo], Helsinki 2003. Heikki Ylikangas, Heikki Ylikankaan selvitys valtioneuvoston kanslialle [Erklärung von Heikki Ylikangas an die Kanzlei des Staatsrats]. Valtioneuvoston kanslian julkaisusarja [Veröffentlichungen der Kanzlei des Staatsrats] 5/2004.
Frankreich Die Anwesenheit von Juden auf dem Gebiet des heutigen Frankreich ist seit der Eroberung Galliens durch die Römer bezeugt. Bis zum Zerfall des Römischen Reiches im 5. Jahrhundert unterstanden sie dessen Rechtssystem, das ihnen unter Kaiser Caracalla 212 wie allen freien Bewohnern das Bürgerrecht zugestand. Die Privilegierung des Christentums unter Kaiser Konstantin (313) führte zur Diskriminierung der jüdischen Gemeinschaft. Der soziale und religiöse Graben zwischen Christen und Juden vertiefte sich zunehmend und erste antijüdische Polemiken von Seiten der Kirche sind überliefert. Unter der Herrschaft der Merowinger sind Ansätze einer radikaleren, judenfeindlichen Politik bekannt. So stellte König Dagobert I. die jüdischen Bewohner 629 vor die Wahl „Emigration“ oder „Taufe“. Im südlichen Gallien – im Reich der Wisigoten – blühten im 7. Jahrhundert jüdische Gemeinschaften, ohne dass Verfolgungsmaßnahmen aktenkundig wurden. Im Reich der Karolinger waren im 9. Jahrhundert diskriminierende Bestimmungen wenig einschneidend. Der Einfluss der katholischen Kirche auf die Staatsführung nahm unter den ersten Kapetingern im 11. und 12. Jahrhundert deutlich zu. Das Bestreben des Klerus, die Juden zu bekehren, intensivierte sich. Vor dem Hintergrund der Reconquista in Spanien und
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den Gerüchten über die Schändung der heiligen Stätten in Jerusalem durch die Mauren wurden die Juden mehrfach der Verschwörung gegen das Christentum und der Kollaboration mit den islamischen Herrschern bezichtigt. Zahlreiche Juden Südfrankreichs fielen Pogromen zum Opfer. Im Kontext des ersten Kreuzzuges von 1096 wurden u.a. die Juden von Rouen und Metz ermordet. Auch im Zuge des zweiten Kreuzzuges (1147-1149) kam es zu Massakern, die häufig von den Zisterziensern angezettelt wurden. Zahlreiche Ritualmordbeschuldigungen prägten das 12. Jahrhundert. Folgenreich war die Ritualmordaffäre von Blois im Jahre 1171. Die jüdische Gemeinde war beschuldigt worden, einen Knaben ermordet zu haben. Nach einem „Gottesurteil“ wurden 30 Juden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ende des 12. Jahrhunderts ließ sich nicht nur der „Volkszorn“ leicht gegen die jüdische Minderheit mobilisieren, sondern auch die Krone griff zu verschärften Maßnahmen gegen die Juden. Eine deutlich restriktivere Judenpolitik wurde unter König Philipp II. August (1181-1223) erkennbar. Unmittelbar nach seiner Krönung ließ er die Juden von Paris gefangen nehmen und erpresste für ihre Freilassung ein hohes Lösegeld. Um sich jüdische Vermögenswerte aneignen zu können, wurden 1182 die Juden aus der Krondomäne (u.a. den Städten Paris, Orléans und Bourges) vertrieben und ihre Immobilien gingen in den Besitz des Königs über. Der Finanzbedarf der Krone ermöglichte jedoch 1198 eine Rückkehr. Die Juden waren jetzt gezwungen, hohe Abgaben direkt an den König zu entrichten. Im 13. Jahrhundert verschlechterte sich zunehmend die Lage der Juden Frankreichs. Der Kampf gegen „Häretiker“ während der Albigenser-Kriege richtete sich auch gegen die Juden. Die bis dahin relativ privilegierten jüdischen Gemeinden Südfrankreichs verloren auf päpstlichen Druck hin ihre Sonderstellung. Der wirtschaftliche und religiöse Spielraum der Juden des Königreichs wurde zunehmend eingeschränkt. So kam es 1242 und 1248 in Paris zu Verbrennungsaktionen jüdischer Schriften. Der Talmud wurde verboten. 1280 führte eine „Hostienschändung“ in Paris mit königlicher Billigung zur Hinrichtung zahlreicher Juden. Die Ausweisung der Juden im Jahre 1306 erscheint in diesem Kontext als logische Konsequenz einer verschärften Stigmatisierung und Dämonisierung. Rund 10.000 Menschen mussten mittellos das Land binnen Monatsfrist verlassen. 1315 wurde den Vertriebenen unter restriktiven Bedingungen eine Rückkehr gestattet. Der Zug der Pastorellen (plündernde, verarmte Bauern und Dominikanermönche, die in einer Art Kreuzzugsstimmung durch das Land zogen) zerstörte jedoch in den Jahren 1320 und 1321 zahlreiche jüdische Gemeinden. In der Folge kam es zu Brunnenvergiftungsvorwürfen und zur Beschuldigung, die Juden hätten sich mit den nordafrikanischen Mauren gegen das Christentum verschworen. 1394 verfügte Karl VI. die Ausweisung aller Juden des Königreiches. Als 1481 mit dem Anschluss der Provence jüdische Gemeinden unter französische Souveränität gelangten, vertrieb wenige Jahre später die Krone die Juden. Die verbliebenen Neuchristen (getaufte Juden) wurden in den folgenden Jahrzehnten mit Sondersteuern weiter diskriminiert. Noch 1615 wurde das Vertreibungsedikt, das ganz Frankreich betraf, von der Krone formell erneuert. Getaufte Juden aus Spanien oder Portugal konnten sich hingegen seit dem 16. Jahrhundert in Südwestfrankreich niederlassen. Die offi-
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zielle Ausübung der jüdischen Religion wurde ihnen aber erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts zugestanden. 1551 eroberten französische Truppen die Reichsstadt Metz. Die neue Obrigkeit duldete die Existenz einer lokalen jüdischen Gemeinde. Auch die Juden im Elsass und Lothringen, die im 17. und 18. Jahrhundert unter französische Herrschaft kamen, wurden nicht vertrieben. Am folgenden Beispiel der Metzer Behörden lässt sich die ambivalente Haltung gegenüber den Juden im 17. Jahrhundert, die zwischen einer frühaufklärerischen, merkantilistisch-pragmatisch geprägten Toleranz und einer unaufgeklärten, religiös geprägten Intoleranz schwankte, eindrücklich illustrieren: 1669 wurde ein Mitglied der jüdischen Gemeinde, Raphael Lévy, des Ritualmordes an einem christlichen Kind angeklagt. Der Angeklagte wurde in einem ersten Prozess verurteilt und 1670 hingerichtet. In einem zweiten Prozess fand der Theologe Richard Simon Gehör und erreichte die Rehabilitierung des Hingerichteten. Jedoch zirkulierten bis weit ins 18. Jahrhundert hinein Schmähschriften, welche diesen und andere Ritualmordfälle weiter kolportierten. Die Philosophie der Aufklärung, die zu einem säkularisierten Staatsdenken führte und die naturrechtlich postulierte Gleichheit aller Menschen begründete, bildete die theoretische Voraussetzung für eine in ihren Konsequenzen revolutionäre politische Entwicklung. Einer ihrer bedeutendsten Vordenker, Voltaire, war jedoch für einen judenfeindlichen Diskurs innerhalb der Aufklärung wesentlich mitverantwortlich. Das Judentum wurde von ihm als Inbegriff des Obskurantismus dargestellt, der sich niemals für die neuen Ideen werde öffnen können. Ökonomische Probleme zwangen die Herrschenden im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus dazu, Ende des 18. Jahrhunderts Reformen im Sinne einer freieren Wirtschaftstätigkeit einzuführen. Damit stand auch der Status der Juden, die bis dahin als diskriminierte Minderheit am Rand der ständestaatlichen Gesellschaft gelebt hatten, zur Disposition. Das revolutionäre Frankreich emanzipierte 1791 als erste Nation Europas die jüdische Gemeinschaft. Die rechtliche Gleichstellung bedeutete jedoch noch nicht das Ende tradierter Vorurteile. So bildete das antisemitische Stereotyp vom jüdischen Wucherer die Basis des judenfeindlichen Diskurses bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Wurde die rechtliche Gleichstellung – mit Ausnahme der Geltungsdauer des napoleonischen „Décret Infâme“ von 1808 bis 1818 – nie mehr zurückgenommen, so sahen sich gerade die Elsässer Juden bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts erheblichen Anfeindungen ausgesetzt. Gegner der rechtlichen Gleichstellung verfassten Schmähschriften, Beamte diskriminierten weiterhin jüdische Bürger und pogromartige Ausschreitungen führten sporadisch zu Plünderungen und Vertreibungen. 1848 wurde das Elsass zum letzten Mal Schauplatz dieser Form kollektiver judenfeindlicher Gewalt. Traditionelle judenfeindliche Vorstellungen verschwanden allerdings dadurch nicht einfach: Noch in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts konnte ein Jude auf dem Land als „gottverlassener Jude“ beschimpft werden. Der Schwerpunkt des judenfeindlichen Diskurses verlagerte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Hauptstadt Paris. Das jüdische Großbürgertum wurde in einer vehementen antijüdischen Polemik als die neuen, fremden Herren des Landes denunziert, welche die christlichen Franzosen versklavt hätten. Frühe sozialkritische Denker wie Charles Fourier, Pierre-Joseph Proudhon und Alphonse Toussenel verbanden tradi-
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tionelle Judenfeindschaft mit einer neuen antikapitalistischen Rhetorik. Toussenels Buch „Les Juifs rois de l'époque“ von 1848 wurde zur programmatischen Schrift einer Judenfeindschaft, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Teile der französischen Linken beeinflussen sollte. Joseph-Arthur de Gobineau lieferte mit seiner Schrift „Essai sur l'inégalité des races humaines“ (1853-1855) die Grundlagen für einen modernen Rassismus, dessen Auswirkungen auf den Antisemitismus nicht zu unterschätzen sind. Gobineau selbst wandte sich in seinem Werk vordergründig nicht gegen die Juden, sondern gegen die Vermischung der Rassen schlechthin. Seine Theorien über die Bedrohung der „reinen“, weißen Rasse durch fremde minderwertige Völker ließen sich jedoch in der Folge von Gegnern der Aufklärung leicht auch gegen die jüdische Minderheit wenden. Der Verkaufserfolg der 1886 von Edouard Drumont verfassten zweibändigen Hetzschrift „La France Juive“ bezeugt, dass eine antisemitische Sicht auf die Juden als feindliche Rasse in Frankreich auf fruchtbaren Boden fiel. Im Zweiten Kaiserreich (1852-1870) und in der Dritten Republik (1871-1940) beschleunigte sich der Integrationsprozess der jüdischen Minderheit. Mit wenigen Ausnahmen konnten Juden in alle Bereiche der Gesellschaft gelangen. Jüdische Minister und Generäle zeugen von dieser erfolgreichen Akkulturation. Dieser gesellschaftliche Aufstieg weiter Teile des französischen Judentums wurde von zahlreichen Nichtjuden mit Argwohn und Ablehnung betrachtet. Dies wurde in der „Dreyfus-Affäre“ deutlich sichtbar. Dieser wohl bedeutendste antisemitische Skandal des Fin-de-siècle sollte Frankreich über ein Jahrzehnt (1894-1906) in Atem halten. Der jüdische Offizier Alfred Dreyfus wurde auf Grund gefälschter Unterlagen als Spion im Dienste des Deutschen Reiches degradiert und zu lebenslanger Haft auf der Teufelsinsel verurteilt. Als Sohn eines elsässisch-jüdischen Industriellen war er eine ideale Zielscheibe für die antisemitischen Kräfte in Armee und Politik. Da es dem Bruder des Verurteilten, Mathieu Dreyfus, gelang, jüdische und nichtjüdische Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens von der Unschuld Alfred Dreyfus zu überzeugen, konnte eine Revision des Prozesses angestrengt werden. Als Wendepunkt in der Affäre erwies sich der Zeitungsartikel „J'accuse“ (Ich klage an) des Schriftstellers Émile Zola vom 13. Januar 1898. In diesem wurden die kriminellen Machenschaften von Regierung und Militär offengelegt: Der echte Spion war längst bekannt. Beamte, die der Wahrheit zum Durchbruch verhelfen wollten, waren ihres Amtes enthoben worden. Die Affäre nahm damit das Ausmaß einer Staatskrise an, da die Regierung den Justizskandal aus Opportunitätsgründen gedeckt hatte. Ein Regierungswechsel 1899 ermöglichte die Rückkehr von Alfred Dreyfus nach Frankreich und einen zweiten Prozess vor einem Militärgericht in Rennes. Dieses verurteilte ihn erneut. Auf Grund „mildernder Umstände“ wurde die Haftstrafe jedoch auf zehn Jahre reduziert. Dieses juristisch unhaltbare Urteil löste internationale Proteste aus. Aus Angst vor einem dritten Prozess, der die Machenschaften der Behörden offengelegt hätte, begnadigte der Staatspräsident Dreyfus am 19. September 1899. Formell rehabilitiert wurde er erst am 12. Juli 1906. Neben der opportunistischen Bereitschaft des Staates einen jüdischen Bürger wissentlich zu opfern, machte eine landesweite Pogromstimmung deutlich, dass Teile der fran-
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zösischen Bevölkerung die jüdische Minderheit nicht als gleichberechtigte Franzosen zu akzeptieren bereit war. Der republikanische Rechtsstaat hatte in der Dreyfus-Affäre über die antisemitischen Kräfte in der Gesellschaft obsiegt. Diese verschwanden jedoch nicht von der politischen Bühne. So verfügte die 1898 von Charles Maurras gegründete „Action Française“ bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts über politischen Einfluss. Mit einer Ideologie, die monarchistische, katholisch-konservative, rassistische und antisemitische Elemente verband, war sie zeitweise das Sammelbecken für größere Teile des rechts-bürgerlichen Lagers. Ihr Kampf galt in der Zwischenkriegszeit in erster Linie der jüdischen Einwanderung und der politischen Linken. Als 1936 mit Léon Blum erstmals ein Sozialist und Jude Premierminister wurde, entfesselte dies die antisemitischen Gruppierungen des Landes, die zusammen mit den konservativen Politikern gegen die Volksfrontregierung agierten. Blum und sein Kabinett, dem auch weitere Minister jüdischer Herkunft angehörten, wurden auf das Gröbste verunglimpft und physisch bedroht. In den Augen vieler konservativer Franzosen war das Land Opfer einer zugleich kapitalistisch-oligarchischen und revolutionär-sozialistischen Konspiration des Judentums geworden. Der bekannte Journalist Robert Brasillach hetzte mit seiner Wochenzeitung „Je suis partout“ gegen die Juden. Der berühmte Schriftsteller Céline verfasste antisemitische Pamphlete. Besonders virulent zeigte sich der Antisemitismus auch in den algerischen Departements. Die Emanzipation der lokalen Juden, 1870, wurde von zahlreichen christlichen Kolonisten Algeriens nicht akzeptiert und führte zu antisemitischen Kampagnen. Die politisch labile Dritte Republik ging mit der Niederlage gegen das Deutsche Reich im Juni 1940 unter. Für die politische Rechte bedeutete der Sieg des nationalsozialistischen Deutschlands die Chance, das Land unter dem konservativ-autoritären Regime von Marschall Pétain nach ihren Vorstellungen auszurichten. Die Regierung Laval begann rasch auf eigene Initiative eine antisemitische Sondergesetzgebung auszuarbeiten. So wurden 1941 fast alle Juden aus staatlichen Ämtern entfernt und die jüdische Wirtschaftstätigkeit stark eingeschränkt. Am stärksten konnte sich die antisemitische Stoßrichtung Vichy-Frankreichs gegen die ostjüdischen Einwanderer entfalten. Staatenlose und ausländische Jüdinnen und Juden stellten das Gros der rund 75.000 aus Frankreich Deportierten. Französische Behörden waren an den Razzien vom Sommer 1942 direkt beteiligt. Angehörige der Vichy-Miliz unterstützten die Deutschen bis zu deren Abzug im Sommer 1944 bei der Verfolgung und Deportation der Juden. Dass von den rund 300.000 Jüdinnen und Juden, die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Frankreich Wohnsitz hatten, drei Viertel den Holocaust überlebten, ist vielfach der Zivilgesellschaft zu verdanken, die zahlreichen Verfolgten half, ihren Häschern zu entkommen. Bei Kriegsende war die Kollaboration staatlicher Instanzen beim Genozid kaum ein Thema. Zahlreiche Beamte, die die Judenverfolgung des Vichy-Regimes mitgetragen hatten, wurden nicht weiter belangt. Erst in den 1990er Jahren kam es zu einigen Aufsehen erregenden Verfahren wie gegen Maurice Papon, der für die Deportation der Juden aus der Region Bordeaux mitverantwortlich war. Antisemitische Strömungen in Politik und Gesellschaft setzten sich in der Nachkriegszeit fort. So war die populistische Bewegung von Pierre Poujade, der „Poujadismus“,
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nicht frei von judenfeindlichen Anklängen. In seinem Kampf für die kleinen Gewerbetreibenden und gegen den „allmächtigen Staat“ und die „reichen Ausbeuter“ waren antisemitische Motive erkennbar. Dem „Poujadismus“ war Mitte der 1950er Jahre nur eine kurze Blüte vergönnt. Einer seiner Anhänger, Jean-Marie Le Pen, der 1956 als Poujadist erstmals ins Parlament gewählt wurde, sollte jedoch die rechtsextreme Szene Frankreichs bis in die Gegenwart wesentlich prägen. Die 1972 von ihm gegründete „Front National“ richtet sich mit ihrer rassistischen und fremdenfeindlichen Politik auch gegen die Juden. Führende Politiker der „Front National“ wie Jean-Marie Le Pen und Bruno Gollnisch wurden wegen ihrer Bagatellisierung („Detail des Zweiten Weltkrieges“) bzw. Leugnung des Holocausts angeklagt und verurteilt. Mit Paul Rassinier und seinen „Schülern“, Robert Faurisson und Roger Garaudy, sind einflussreiche „Negationisten“ zu nennen, die zu Beginn ihres Wirkens der politischen Linken angehörten. Sie verbanden die Leugnung des Holocaust mit antizionistischen Positionen. Die doppelte Qualität der französischen Israeliten als Bürger Frankreichs und Angehörige des jüdischen Volkes sollte ihnen von Seiten der Regierung in der Nachkriegszeit mehrfach vorgehalten werden. Als die französischen Juden ihre Solidarität mit dem siegreichen Israel nach dem Sechs-Tage-Krieg öffentlich zum Ausdruck brachten, wurde diese „doppelte Loyalität“ von Präsident de Gaulle als Verrat an Frankreich angesehen. Am 27. November 1967 bezeichnete er in einer Rede die Juden als „elitäres, arrogantes und herrschsüchtiges Volk“. Antisemitisch interpretierbar war auch die Reaktion von Ministerpräsident Raymond Barre bezüglich des Attentats auf die Synagoge in der rue Copernic vom 3. Oktober 1980. Er sprach von einem „abscheulichen Attentat, das Juden zum Ziel hatte, und unschuldige Franzosen traf“. Seit den 1990er Jahren stellen antisemitische Tendenzen im Milieu der Nachkommen islamischer Einwanderer eine Bedrohung dar. Juden und jüdische Institutionen sind Zielscheibe gewalttätiger Übergriffe. Die Entführung und Ermordung eines jüdischen Mannes im Frühjahr 2006 in der Region Paris durch französische Muslime war nachweisbar antisemitisch motiviert. Die Tat – verbunden mit einer Lösegeldforderung – war von den Verbrechern auch mit dem angeblichen Reichtum „der Juden“ begründet worden. Friedhofsschändungen gehören ebenfalls zum aktuellen Erscheinungsbild des französischen Antisemitismus. Großes Aufsehen erregte 1990 die Pfählung eines Verstorbenen im südfranzösischen Carpentras. Im Elsass kam es durch rechtsextreme Gruppierungen in der jüngeren Vergangenheit mehrfach zu antisemitischen Schmierereien und der Zerstörung von Grabsteinen auf jüdischen Friedhöfen. Der Alltag der über 600.000 französischen Juden ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht von Antisemitismus geprägt. Auf die starke Präsenz von Franzosen jüdischer Herkunft in Kultur und Politik wird jedoch nicht nur von der „Front National“, sondern auch von Kulturschaffenden (u.a. Renaud Camus, Dieudonné), die nicht dem rechtsextremen Lager entstammen, immer wieder in antisemitischer Weise hingewiesen.
Daniel Gerson
Literatur Esther Benbassa, Histoire des Juifs de France, Paris 2000.
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Pierre Birnbaum, L'affaire Dreyfus. La République en péril, Paris 1994. Daniel Gerson, Die Kehrseite der Emanzipation in Frankreich. Judenfeindschaft im Elsass, 1778-1848, Essen 2006. Michel Wieviorka, La tentation antisémite: haine des juifs dans la France d'aujourd'hui, Paris 2006. Michel Winock, La France et les juifs: de 1789 à nos jours, Paris 2004.
Französisch-Guayana ? Guyanas
Griechenland Populär ist in Griechenland die Auffassung, die Hellenen mit ihrer seit der Antike bezeugten „Philoxenia“ seien immun gegen den Bazillus des Antisemitismus. Dieser axiomatischen These begegnet man diachronisch in Verlautbarungen verschiedenster Couleur. Im Ausland hingegen kursiert Hannah Arendts Verdikt, der Antisemitismus sei unter den Griechen so verbreitet, dass sie selbst dem Holocaust „bestenfalls“ mit Indifferenz begegnet seien. Die Beziehungen zwischen den „auserwählten Völkern“, im selben geschichtsträchtigen Raum und mit einer expandierenden Diaspora, waren antagonistisch geprägt, sogar in der hellenistischen Periode, in der beide Kulturkreise eine fruchtbare Verbindung eingingen. Die vom Apostel Paulus besuchten jüdischen Gemeinden in Hellas waren weitgehend gräzisiert. Was die weiterhin trennende Religion betraf, war Byzanz nicht so tolerant wie von der griechischen Geschichtsschreibung behauptet. Daher erschien den Juden der Fall Konstantinopels 1453 nicht als „dies ater“, zumal die neuen osmanischen Herren größere religiöse Toleranz zeigten. Als 1492 die Juden aus Spanien vertrieben wurden, fanden viele Zuflucht in der durch Kriegswirren entvölkerten Hafenstadt Saloniki. Isoliert in einer bunt gemischten Umwelt bewahrten sie über Jahrhunderte kastilische Tradition und judenspanisches Idiom. Im griechischen Unabhängigkeitskrieg (1821-1830) gaben die Insurgenten in den eroberten Städten selten Pardon; niedergemetzelt wurden nicht nur Türken, sondern auch Tausende „kollaborierender“ Juden. Bis heute wird dies in keinem griechischen Schulbuch erwähnt. Im zunächst auf den „klassischen“ Süden beschränkten neuen Staat normalisierte sich das Zusammenleben, obschon zur Karwoche mit Ausbrüchen gegen die „Christusmörder“ zu rechnen war, wenn allerorts Abbilder des „Verräter Judas“ verbrannt wurden. Ritualmordgerüchte fanden Gehör, 1891 kam es auf den Ionischen Inseln zu Ausschreitungen, die zahlreiche Juden zur Auswanderung bewegten. Die Eroberung des größten Teils Makedoniens im 1. Balkankrieg durch griechische Truppen weckte wenig Begeisterung bei den Sepharden, die in Saloniki („Klein-Jerusalem“) weiterhin die größte Bevölkerungsgruppe stellten. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs kollidierte der entente-freundliche Premier Venizelos an der Frage des Kriegseintritts mit dem auf einem Neutralitätskurs beharrenden König Konstantin. Wäh-
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Pierre Birnbaum, L'affaire Dreyfus. La République en péril, Paris 1994. Daniel Gerson, Die Kehrseite der Emanzipation in Frankreich. Judenfeindschaft im Elsass, 1778-1848, Essen 2006. Michel Wieviorka, La tentation antisémite: haine des juifs dans la France d'aujourd'hui, Paris 2006. Michel Winock, La France et les juifs: de 1789 à nos jours, Paris 2004.
Französisch-Guayana ? Guyanas
Griechenland Populär ist in Griechenland die Auffassung, die Hellenen mit ihrer seit der Antike bezeugten „Philoxenia“ seien immun gegen den Bazillus des Antisemitismus. Dieser axiomatischen These begegnet man diachronisch in Verlautbarungen verschiedenster Couleur. Im Ausland hingegen kursiert Hannah Arendts Verdikt, der Antisemitismus sei unter den Griechen so verbreitet, dass sie selbst dem Holocaust „bestenfalls“ mit Indifferenz begegnet seien. Die Beziehungen zwischen den „auserwählten Völkern“, im selben geschichtsträchtigen Raum und mit einer expandierenden Diaspora, waren antagonistisch geprägt, sogar in der hellenistischen Periode, in der beide Kulturkreise eine fruchtbare Verbindung eingingen. Die vom Apostel Paulus besuchten jüdischen Gemeinden in Hellas waren weitgehend gräzisiert. Was die weiterhin trennende Religion betraf, war Byzanz nicht so tolerant wie von der griechischen Geschichtsschreibung behauptet. Daher erschien den Juden der Fall Konstantinopels 1453 nicht als „dies ater“, zumal die neuen osmanischen Herren größere religiöse Toleranz zeigten. Als 1492 die Juden aus Spanien vertrieben wurden, fanden viele Zuflucht in der durch Kriegswirren entvölkerten Hafenstadt Saloniki. Isoliert in einer bunt gemischten Umwelt bewahrten sie über Jahrhunderte kastilische Tradition und judenspanisches Idiom. Im griechischen Unabhängigkeitskrieg (1821-1830) gaben die Insurgenten in den eroberten Städten selten Pardon; niedergemetzelt wurden nicht nur Türken, sondern auch Tausende „kollaborierender“ Juden. Bis heute wird dies in keinem griechischen Schulbuch erwähnt. Im zunächst auf den „klassischen“ Süden beschränkten neuen Staat normalisierte sich das Zusammenleben, obschon zur Karwoche mit Ausbrüchen gegen die „Christusmörder“ zu rechnen war, wenn allerorts Abbilder des „Verräter Judas“ verbrannt wurden. Ritualmordgerüchte fanden Gehör, 1891 kam es auf den Ionischen Inseln zu Ausschreitungen, die zahlreiche Juden zur Auswanderung bewegten. Die Eroberung des größten Teils Makedoniens im 1. Balkankrieg durch griechische Truppen weckte wenig Begeisterung bei den Sepharden, die in Saloniki („Klein-Jerusalem“) weiterhin die größte Bevölkerungsgruppe stellten. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs kollidierte der entente-freundliche Premier Venizelos an der Frage des Kriegseintritts mit dem auf einem Neutralitätskurs beharrenden König Konstantin. Wäh-
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rend der sich entzündende konstitutionelle Streit das griechische Volk in zwei fast gleichstarke Lager spaltete, unterstützte die Mehrzahl der Sepharden die Antivenizelisten, doch im griechischen „Schisma“ behielt vorerst Venizelos die Oberhand. 1917 fielen weite Teile Salonikis einer Brandkatastrophe zum Opfer, betroffen waren primär die Juden: über 50.000 wurden obdachlos. Den Neuaufbau nutzten die Behörden, um die Juden umzusiedeln und dem bis dahin orientalisch anmutenden Zentrum den Charakter einer modernen Metropole zu geben. Die von den Betroffenen beklagte Diskriminierung war realpolitisch begründet: In den eroberten Provinzen war die griechische Bevölkerung gegenüber der Summe der „Fremdstämmigen“ oft in der Minderzahl. Die Versuche der Balkanrivalen, die Minderheiten als Irredenta zu funktionalisieren, machten diese in den Augen Athens suspekt, wobei der Argwohn gegen die einer „consanguinen“ Schutzmacht entbehrenden Sepharden noch am geringsten war. Ausgerechnet die „Kleinasiatische Katastrophe“ bot die Chance zur „ethnischen Rückgewinnung“ des Nordens. Nach der griechischen Niederlage 1922 hatten die Türken der jahrtausende alten hellenischen Präsenz in Kleinasien ein blutiges Ende gesetzt: 1,3 Millionen Überlebende suchten Zuflucht im unbekannten Mutterland und wurden weitgehend in den 1912/13 gewonnenen Territorien angesiedelt, parallel zur Aussiedlung der Muslime und vieler Slawophone. Zehntausende urbane Flüchtlinge, in Notquartieren um Saloniki, bildeten nunmehr den Ansatzpunkt für antijüdische Tendenzen, zumal die größte regionale Zeitung „Makedonia“ die Neuankömmlinge patronierte und sie in Gegensatz zu den „Fremdstämmigen“ drängte, die in illoyaler Absonderung „die nationale Einheit und den territorialen Bestand des Landes bedrohten“. Aber auch die Exponenten einer „philosemitischen“ Politik waren überzeugt, die Integration der neuen Provinzen erfordere die Erziehung der Sepharden zu griechischen Staatsbürgern jüdischer Religion, ihre Bereitschaft zur kulturellen Assimilation und zum Abbau zugestandener Privilegien. Trotz politischer Distanz bemühten sich die Athener Regierungen, Hellenisierung mit Toleranz zu verbinden, wozu die Klagen der Sepharden beim Völkerbund oder internationalen jüdischen Institutionen beitrugen. Obgleich die Polarisation in Saloniki vorwiegend (politisch funktionalisierte) wirtschaftliche Ursachen hatte, entzündeten sich zahlreiche „Zwischenfälle“ an den Lehranstalten. Die Zionisten widersetzten sich der linguistischen Assimilierung, die die „jüdische Identität“ bedrohe. Griechische Schulen besuchten, unter dem Einfluss der „Moderaten“, 1929 höchstens 10 Prozent der sephardischen Kinder, wohingegen junge Juden weiterhin auch an den Schulen französischer, italienischer und selbst deutscher Träger (bis 1933) die Mehrheit besaßen. Christliche Zeitungen drängten die Sepharden, endlich griechische Sprache und Gesinnung anzunehmen oder auszuwandern: „Schlangen am Busen der Nation“ seien nicht zu dulden. Jüdische Blätter klagten, der Staat toleriere „Hetze zu mittelalterlichem Rassenhass“. Venizelos verurteilte die antijüdische Kampagne, beschleunigte aber zugleich die Verabschiedung eines Reformgesetzes zur „Homogenisierung“ der Elementarerziehung 1931. Das Gesetz war primär gegen die eigenmächtig agierenden fremden Lehranstalten gerichtet. Dennoch waren die Folgen für die jüdischen Schüler besonders spürbar, die seitens der Nationalisten bezichtigt wurden, sich „systematisch den griechischen Institutionen und einer Erziehung gemäß den griechischen Traditionen und Idealen zu entziehen“.
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Im Juni 1931 erfolgte die Entladung. Der zionistische Sportclub Makkabi Saloniki und bald alle Sepharden wurden des Zusammenspiels mit Bulgarien für die Abtrennung Makedoniens beschuldigt: gelenkter Volkszorn ließ die nach dem Großbrand von 1917 entstandene jüdische Barackensiedlung Campbell in Flammen aufgehen. Der Freispruch fast aller Protagonisten des Pogroms gab der zionistischen Propaganda für die Emigration Auftrieb. Allein 1932 suchten mindestens 2.000 Thessalonicher Juden eine neue Heimstatt, wobei die wirtschaftliche Not in Griechenland mitspielte. Im Lande paktierten die Zionisten weiterhin mit den Royalisten als „kleinerem Übel“, was den Venizelisten die Parole lieferte, „60.000 Fremdstämmige dürfen nicht über Griechenlands Geschicke entscheiden“. Die Gräben vertieften sich. Als am 4. August 1936 der mit einem gefälschten Plebiszit restaurierte König Georg II. und General Ioannis Metaxas ein autoritäres Regime mit faschistoiden Zügen etablierten, verzichteten die Diktatoren im antikommunistischen Feindbild auf die judenfeindliche Komponente. Metaxas versprach den Juden, sie wie „alle anderen Kinder Griechenlands“ zu behandeln. Auch aus dem nationalsozialistischen Herrschaftsbereich fanden Hunderte Aschkenasen Zuflucht. Bis heute bewahren die griechischen Juden dem Diktator ein positiveres Gedenken als die Mehrheitsbevölkerung. Nach dem Balkanfeldzug im April 1941 wurde der größte Teil des unterworfenen Landes unter italienische und bulgarische Besatzung aufgeteilt, die deutsche Zone sicherte lediglich strategische Schlüsselpositionen, darunter Saloniki. Die Maßnahmen gegen die dortigen Juden waren zunächst zurückhaltend, da das RSHA konzentriertes Vorgehen der Besatzungsmächte wünschte, die Italiener aber jede Mitwirkung verweigerten. Zudem klagte der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, für den Durchschnittsgriechen gäbe es „bisher kaum eine Judenfrage“, da er die politische Gefahr des Weltjudentums noch nicht erkannt habe. Anfang 1943 begannen deutsche Stellen mit der Vorbereitung der Deportationen. Der erste Transport nach Auschwitz erfolgte am 15. März 1943. Erst 1944, Monate nach Badoglios Seitenwechsel, folgten Aktionen gegen die Gemeinden im ehemals italienisch besetzten Gebiet. Insgesamt verschleppten die deutschen Besatzer fast 60.000 von den bei Okkupationsbeginn etwa 73.000 Juden im griechischen Raum. Aufschlussreich ist ein Vergleich der Quoten jener, die sich der Deportation entziehen konnten: Bei den sephardischen Gemeinden blieb sie stets im (oft niedrigen) einstelligen Bereich, wohingegen sie bei den graecophonen Romanioten zumeist um ein Vielfaches höher lag und in den vier thessalischen Städten gar 85 Prozent übertraf. Das Untertauchen wie auch die Flucht übers Mittelmeer waren nicht möglich ohne Beistand der christlichen Bevölkerung. Diese war im Fall der sozial besser integrierten Romanioten eher bereit, ihr Leben zu riskieren. Die erwähnte Diskrepanz ist jedoch nicht allein auf regionale Unterschiede der Hilfsbereitschaft zurückzuführen: Ein Untertauchen in der Mehrheitsbevölkerung war leichter zu bewerkstelligen, wenn man sich in Sprache und Habitus nicht von dieser unterschied. Bereits 1933 hatten die deutschen Beobachter registriert, in Saloniki sei der latente Antisemitismus „vorwiegend wirtschaftlich fundiert“. Ein Jahrzehnt später warfen die Okkupanten eben diesen Köder aus, wenn sie ostentativ das Judenvermögen dem griechischen Staat übertrugen, aber auch Kollaborateure belohnten und selbst reiche Beute machten. Zwei Wochen nach der Befreiung war Griechenland der erste ehemals besetzte
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Staat, der ein Restitutionsgesetz erließ. Als jedoch 1945 die Überlebenden heimkehrten, fanden sie nicht nur vom Besatzungsregime eingesetzte „Treuhänder“ in ihren Häusern vor, Tausende Obdachlose hatten „herrenlose“ jüdische Immobilien übernommen. So wurde auch das verbesserte Gesetz vom 18.1.1946 erst 1949 ratifiziert, auf verschärftes Drängen des „World Jewish Congress“ und der US-Botschaft. Wenn die Amerikaner unter den Verzögerungsgründen „keinerlei Zeichen antijüdischer Ressentiments“ entdeckten, übersahen sie jene Funktionsträger, die alte Ressentiments konserviert hatten und eine scharfe Überprüfung aller Repatriierungsanträge der KZ-Überlebenden forderten: zeitweise wurden die Juden (mit den während der Okkupation kollaborierenden Minderheiten) in die Kategorie „feindliche Minoritäten“ eingeschlossen. Bald aber setzten sich Stimmen durch, die die Juden als „nützliches Element“ qualifizierten oder, öfter, warnten, eine restriktive Haltung „rassischer bzw. religiöser Natur“ brächte dem Lande Schaden, da die postfaschistische Weltmeinung sensibilisiert sei; das gelte namentlich für die USA und die internationale Presse. Tatsächlich hatten kaum 2.000 der Verschleppten überlebt, viele emigrierten. Im Klima des bald ausbrechenden griechischen Bürgerkriegs feierte zudem das Stereotyp des „Judeobolschewismus“ Urständ: Junge Israeliten, die sich auf der Flucht vor den deutschen Häschern dem linken Widerstand angeschlossen hatten, galten a priori als suspekt. Jüdische Partisanen wurden verhaftet, einige hingerichtet, andere nach Aufgabe der griechischen Staatsbürgerschaft nach Israel abgeschoben. Die Beziehungen Athens zum neuen jüdischen Staat waren „eisig“, nachdem Griechenland, mit Rücksicht auf die arabische Welt und die dortigen griechischen Kolonien, 1947 als einziger europäischer Staat in der UNO gegen die Teilung Palästinas gestimmt hatte. Die Nahost-Dauerkrise lieferte ein neues Motiv für judenfeindliche Manifestationen in Griechenland, zumal im Griechischen kaum zwischen Israeli und Israelit unterschieden wird. Oft bleibt unklar, ob Kritik an der Politik Israels lediglich antisemitische Vorurteile kamoufliert. Beim „Antizionismus“ der extremen Rechten steht das außer Frage, da diese zugleich den „ewigen Kampf der Juden gegen das Hellenentum“ beschwört, NS-Klassiker ins Griechische übersetzt, Hooligans zu unterwandern sucht und in primitivstem Jargon den Holocaust leugnet. Wie schon vor dem Kriege bleiben die faschistoiden Splittergruppen ohne Wahlerfolg, doch ihre Gazetten finden Nachklang in junta-nostalgischen und zelotisch-christlichen Kreisen, wenn sie die „ewige“ nationale bzw. religiöse Feindschaft der Juden gegen „alles Hellenische“ beschwören. Gefährlicher ist die Osmose rechtsextremer Thesen im Mainstream-Diskurs: So bestritt etwa der prominente „antizionistische“ Linksintellektuelle Vasilis Rafailidis die Shoah als „Betrug ohne historischen Präzedenzfall“. Der nach der deutschen Einigung 1990 wieder aufgeflammte Entschädigungsdiskurs hat die alte Opferkonkurrenz zwischen Juden und Christen unterschwellig reaktiviert. Eine Zunahme des linken Antizionismus mit oft gefährlicher Nähe zu schleichendem Antisemitismus war ab 1981 zu beobachten, als die sozialistische PASOK (Panhellenische Sozialistische Bewegung) unter Andreas Papandreou eine 48-jährige fast ununterbrochene Herrschaft der politischen Rechten beendete und über Jahre einen antiwestlichen Kurs, z.T. in Abstimmung mit den „progressiven“ arabischen Staaten steuerte. Bei israelischen Angriffen gegen die Palästinenser gingen manche Politiker der PASOK und
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linksbürgerliche Zeitungen so weit, die „israelischen Nazis“ als „würdige Nachfahren Hitlers“ zu attackieren. Karikaturen kombinieren nicht selten Davidstern und Hakenkreuz. Allerdings vermeiden die „Antizionisten“ zumeist Bezugnahmen auf die griechischen Juden. Nach dem Botschafteraustausch 1990 vergingen weitere zehn Jahre bis zum ersten Israel-Besuch eines griechischen Staatsoberhaupts, der dann prompt eine „Minikrise“ mit den Palästinensern auslöste. In einem Volk, das Hellenismus oft mit Orthodoxie gleichsetzt, verstehen auch Gutmeinende nur schwer, wie man „Grieche und Jude zugleich“ sein könne. Zwar sind es namentlich parareligiöse Gruppen, die giftige Angriffe gegen jene „satanische Rasse“ publizieren, die „ewigen Hass gegen Christentum und Griechentum“ verströme, und bei Kritik geht die offizielle Kirche auf Distanz, doch auch manche Metropoliten argumentieren mit den „Protokollen der Weisen von Zion“. Im Sommer 2000 kooperierten offizielle Kirche und Zeloten gegen den Beschluss der Regierung Simitis, in den Personalausweisen den Eintrag zur Religion wegzulassen, der nicht-orthodoxe Griechen diskriminiere. Der populistische Erzbischof Christodoulos rief zum Protest und Hunderttausende kamen, Millionen unterschrieben. Höhere Würdenträger bezichtigten den damaligen Premier, Befehle der „jüdisch beherrschten“ Europäischen Union auszuführen; allerdings fehlten nicht entsprechende Angriffe gegen die Katholiken, was zeigt, dass die Konfrontation primär „national-religiös“ und nicht „rassisch“ begründet war. Meinungsumfragen haben gezeigt, dass antisemitische Stereotype auf der Rechten, bei Älteren und bei praktizierenden Christen virulenter sind als am jeweils anderen Ende des Spektrums. Doch der Versuch, die Religion als Ingredienz griechischer Identität festzuschreiben, aktivierte Gegenströmungen. Wissenschaftliche Zirkel „entdeckten“ das Thema und auch die Medien bekundeten Interesse. Sogar der Israelitische Zentralrat tritt selbstbewusster auf und protestiert gegen antisemitische Hetze: Erst seit 1979 existiert rassische Diskriminierung als Straftatbestand. Im Dezember 2007 wurde der prominente Holocaustleugner und Rechtsaußenpolitiker Kostas Plevris wegen Rassenhetze zu 14 Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt, obwohl die Staatsanwältin auf Freispruch plädiert hatte, da ihrer Ansicht nach seine inkriminierte 1.400-Seiten-Schmähschrift „Die Juden – Die ganze Wahrheit“ eine von „politischer Korrektheit“ abweichende, aber durchaus „legitime wissenschaftliche Stellungnahme“ darstelle. Die Ursprünge des griechischen Antisemitismus liegen primär in der diachronisch engen Verbindung von Nation und Religion bei Juden und Hellenen. Im Vergleich zu „modernen“ Erscheinungsformen in anderen Ländern ist er eher subkutan. Das erleichterte die Negation des Phänomens, birgt andererseits die Fährnis einer exogenen Aktivierung. Die Manifestationen im 20. Jahrhundert überschritten selten das verbale Stadium und richteten sich mehr gegen den als Bedrohung gesehenen „Anderen“ als gegen den Juden per se. Alle Vorkriegskonflikte betrafen die sephardische ethnotische Minderheit, die Shoah machte nationalpolitische und wirtschaftliche Motive hinfällig. Gegenüber den fast nur noch religiös fixierten Überlebenden gab es kaum Konfliktpotential; größere antisemitische Schmierereien erfolgten erst 1960 in Nachahmung ausländischer Vorbilder, wie ausländische Botschaftsberichte übereinstimmend betonten. Erst das Hinzutreten katalytischer Faktoren im Inneren (wie der angelaufene Prozess der Trennung von Kirche
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und Staat) oder in der weiteren, permanent unruhigen Region (wie die diversen NahostKrisen) bringt das Subkutane an die Oberfläche.
Hagen Fleischer
Literatur Hagen Fleischer, Griechenland: Das bestrittene Phänomen, in: Hermann Graml, Angelika Königseder, Juliane Wetzel (Hrsg.), Vorurteil und Rassenhass. Antisemitismus in den faschistischen Bewegungen Europas, Berlin 2001, S.207-226. Institute for Jewish Policy Research and American Jewish Committee, Antisemitism World Report 1997, San Diego 1998. George Th. Mavrogordatos, Stillborn Republic. Social Coalitions and Party Strategies in Greece, 1922-1936, Berkely, Los Angeles, London 1983. Amikam Nachmani, Israel, Turkey and Greece. Uneasy Relations in the East Mediterranean, London 1995. Bernard Pierron, Juifs et Chrétiens de la Grèce moderne. Histoire des relations intercommunautaires de 1821 à 1945, Paris 1996.
Groβbritannien Die ersten kleinen jüdischen Gemeinden in England entstanden in Folge der normannischen Eroberung Englands durch William den Eroberer (1066). Zuerst wurden Juden tolerant behandelt und waren erfolgreich im Geldverleih und Münzhandel tätig. Immer mehr waren sie aber auch systematischen Plünderungen und weit verbreiteter Verfolgung ausgesetzt. Zur ersten Anklage wegen eines „Ritualmordes“ an einem christlichen Kind kam es in Norwich (1144). Während der Krönungsfeier des Kreuzzug-begeisterten Richard I. im September 1189 begann eine Hetzjagd zur Plünderung und Ermordung vieler Juden in London. Im folgenden Frühling wiederholten sich ähnliche Ereignisse im ganzen Land, wobei auch die Schuldscheine von Juden verbrannt wurden. Bei einem Massaker in York, angezettelt von fanatischen Kreuzfahrern, Geistlichen und Baronen, die bei Juden verschuldet waren, kamen alle 150 ortsansässigen Juden durch Selbstmord, Verbrennung oder Ermordung um. Die Lage der jüdischen Gemeinde verschlechterte sich vor allem unter Henry III. (1216-1272). Die Krone plünderte Juden und schränkte ihren Geldverleih ein, bis diese schlieβlich total verarmt und für die Staatskasse unwichtig waren. Die diskriminierende Gesetzgebung des Vierten Laterankonzils (1215), die in England früher und konsistenter vollstreckt wurde als im übrigen Europa, führte u.a. zur Einführung eines Judenzeichens. Drakonische Gesetzgebung und Verfolgungen spitzten sich zu: Juden durften nur noch innerhalb etablierter jüdischer Gemeinden leben (1253); während des zweiten Krieges der Barone wurde eine jüdische Gemeinde nach der anderen unter Verlust vieler Menschenleben geplündert (1264-1267); jüdischer Besitz fiel im Falle des Todes dem Staate zu (1269). Edward I. verbannte dann am 18. Juli 1290 die wahrscheinlich auf 2.000 Personen geschrumpfte jüdische Gemeinde aus England. Diese erste und vollständige Ver-
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bannung des Mittelalters verhinderte allerdings nicht die Verbreitung antijüdischer Stereotype, Mythen und Symbole in der englischen Literatur seit Ende des 14. Jahrhunderts. Deren Ursprung lag in der christlichen Interpretation der Kreuzigung Jesu, seinem Verrat durch Judas und seiner Feindschaft gegenüber jüdischen Schriftgelehrten und Pharisäern. Bis auf wenige Ausnahmen blieben Juden aus England verbannt, bis Oliver Cromwell 1656 unter dem Einfluss religiöser Toleranz ihre erneute Ansiedlung erlaubte. Nach der Wiederherstellung der Monarchie (1660) wurden Juden durch eine pragmatische Politik beschützt und litten weniger als im übrigen Europa. Sie wurden nicht ausdrücklich als Juden benachteiligt, sondern weil sie nicht der anglikanischen Kirche angehörten. Sie waren britische Bürger, es gab nur wenige spezifische Gesetze gegen sie und die jüdische Religion wurde 1698 vom Parlament indirekt anerkannt. Insgesamt waren aber Juden eher toleriert als akzeptiert und viele glaubten, dass sich Juden von Christen tiefgründig unterschieden. Zudem gab es manche Sonderregelung für sie. So war es Juden bis 1828 verboten, in der City of London im Kleinhandel tätig zu sein. Anti-jüdische Regungen konnten schnell aufflammen. So musste die Regierung nach böswilliger Agitation und nachfolgendem Aufruhr 1753 ein Gesetz zurückziehen, das die Einbürgerung von im Ausland geborenen Juden vereinfachen sollte. Die Zahl der Juden wuchs zwischen 1714 und 1830 von einigen Hundert, die hauptsächlich in London lebten, auf 20.000, die nun auch zum ersten Mal jüdische Gemeinden in Wales (Swansea, 1768) und in Schottland (Edinburgh, 1816) etablierten. Ihre Elite erreichte groβen Reichtum als Finanziers, Kaufleute und Regierungsberater. Darunter war eine Schicht von Händlern, Ladenbesitzern und kleinen Fabrikanten. Die Mehrheit der Juden waren Hausierer, Straβenhändler und Arme, was zum antisemitischen Stereotyp des jüdischen Kriminellen und Bettlers führte. Zwischen 1830 und 1871 hoben Reformen entscheidende Benachteiligungen gegen Juden im öffentlichen Leben auf. Bis dahin durften praktizierende Juden nicht im öffentlichen Dienst arbeiten und waren vom Parlament, von öffentlichen Ämtern und aus dem Rechtswesen ausgeschlossen – generell von allen Bereichen, die einen christlichen Eid verlangten: dem Schulwesen, der Medizin, der Anwaltschaft sowie Studium und Lehre an den Universitäten in Cambridge und Oxford. Die Einwanderung von osteuropäischen Juden zwischen 1881 und 1914 führte zu einer dramatischen demographischen Veränderung unter den britischen Juden. Ihre Zahl schnellte von 65.000 auf 300.000 an. Arme russische und polnische Juden strömten in übervölkerte Arbeiter-Ghettos in Manchester, Leeds, Liverpool, Glasgow und vor allem in Londons East End. Die jiddisch-sprechenden, orthodoxen Einwanderer kollidierten mit den alteingesessenen, mittelständischen und stark anglisierten Juden, die um ihre hart erkämpften Errungenschaften fürchteten. Traditionell wird die Entwicklung des britischen Judentums als leuchtendes Beispiel der westlichen Einwanderungsländer beschrieben (wo ein konvertierter Jude, Benjamin Disraeli, Staatsoberhaupt werden konnte) und mit einem starken Liberalismus erklärt. Die neuere Forschung steht dem jedoch kritisch gegenüber. Die Emanzipation kam vergleichsweise spät und wird als Teil des staatlichen Verweltlichungsprozesses angesehen. So leitete 1829 die Aufnahme von Katholiken in das Parlament auch die Agitation für
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die jüdische Emanzipation ein, die nicht immer harmonisch verlief: reaktionäre und geistliche Gegner im Oberhaus wollten den christlichen Staat von den fremden, „geringwertigen“ und „gottlosen“ Juden schützen. Daneben hatten Liberale ihre eigenen Pläne: Juden sollten als Gegenleistung für die Emanzipation ihr Judentum und vor allem äuβerliche Aspekte der jüdischen Kultur und Traditionen aufgeben und sich vollständig der britischen Identität anpassen („Antisemitismus der Toleranz“). Juden, die sich dem widersetzten, wurden einer doppelten Loyalität verdächtigt und selber für den Antisemitismus verantwortlich gemacht. Die Beziehung zwischen Juden und Nation rückte immer mehr in den Mittelpunkt einer Debatte, die ähnlich verlief wie im restlichen Europa: Können Juden überhaupt in eine „christliche“ Nation integriert werden, oder sind sie schlichtweg untreue, habgierige und kulturlose „Fremde“? Letztere Auffassung entsprach einem angelsächsischen weiβen Rassismus, der sich gegen Minderheiten abgrenzte. Juden fühlten sich unter Druck, die ihnen gegebenen Rechte und Freiheiten zu rechtfertigen und von Nichtjuden akzeptiert zu werden. Dies erklärt die Versuche der jüdischen Führung, die Armut und Kriminalität ihrer Glaubensgenossen zu bekämpfen, die Einwanderer zu anglisieren und den jüdischen Gottesdienst mit viktorianischer Prosa zu modifizieren. Die spezifisch britisch-jüdische Identität bildete sich also im Rahmen eines stillschweigenden „Emanzipations-Vertrages“ heraus, wonach Juden individuell emanzipiert wurden, das Judentum aber zur Privatsache degradiert wurde. Die Emanzipation war demnach unvollständig. Es gab Spannungen zwischen Liberalen und Juden wegen des Handels an Sonntagen, der Heirats- und Scheidungsgesetzgebung, des Militärdienstes, der staatlichen Erziehung und der Auβenpolitik (wo britische Juden während der Bulgarien-Krise Mitte der achtziger Jahre als Befürworter von „Massakern“ gegen Christen dargestellt wurden). Die soziale Diskriminierung gegen Juden setzte sich fort, ob in privaten Schulen, Universitäten oder Golf-Clubs. Vor allem die Ankunft der osteuropäischen Juden löste starken Widerstand aus und wurde von konservativen Politikern und der „British Brothers League“ geschürt. Den Einwanderern wurde vorgeworfen, für Arbeitslosigkeit und überfüllte Wohnungen verantwortlich zu sein, „englische“ und „christliche“ Traditionen aufzuweichen und Krankheiten und Kriminalität zu verbreiten. Obwohl diese Anschuldigungen in einer königlichen Kommission über „Fremde“ gröβtenteils zurückgewiesen wurden, lenkte der Staat ein und ratifizierte 1905 das „Aliens Act“ (Fremdengesetz), das jüdische Einwanderung einschränken sollte und den Grundstein der modernen Immigrations-Gesetzgebung schuf. Antisemitismus in Groβbritannien war ein vielfältiges Phänomen, erwuchs in Folge von komplexen internen und externen Prozessen und schien vor 1914 im Vormarsch. Es gab Fälle von antisemitischer Gewalt (Limerick 1904; Wales 1911; Leeds und London 1917) und antisemitischer Literatur, in der z.B. Autoren wie Hilaire Belloc, G.K. Chesterton und Rudyard Kipling den Einfluss der Juden attackierten. Während des Ersten Weltkriegs radikalisierten sich antisemitische Verschwörungstheorien in Verbindung mit einer Germanophobie und der Revolution in Russland. Das letztere Ereignis prägte den Antisemitismus entscheidend: Juden wurden nun mit Bolschewismus, Internationalismus, Gottlosigkeit, weltweiter Konspiration und Demokratiefeindlichkeit identifiziert. Zudem war die Opposition gegen die Unterstützung für ei-
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nen jüdischen Staat (Balfour-Deklaration von 1917), gespickt mit antijüdischen Stereotypen. Nach dem Krieg setzte sich die Diskriminierung von Juden am Arbeitsplatz, der Wohnstätte, im öffentlichen und privaten Bildungswesen wie auch in der Freizeit fort. Die Zahl der britischen Juden stieg auf 335.000 an, in den 1930er Jahren kamen jüdische Immigranten aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei dazu. Viele dieser Einwanderer wurden aufgrund strikter Kontrollen interniert und nach Australien oder Kanada deportiert. Gerade im Vergleich zur nationalsozialistischen Diktatur wird der britische Antisemitismus oftmals als „trivial“, unbritisch und als „ausländische Krankheit“ dargestellt. Tatsächlich stieβ der rassistisch-biologistische Antisemitismus der „Britons“ und der „Imperial Fascist League“ kaum auf Widerhall und der politische Antisemitismus spielte bei Wahlen kaum eine Rolle. Neuerdings wird jedoch verstärkt auf einen weitverbreiteten Antisemitismus hingewiesen, der während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Höhepunkt erlangte und teilweise eine populäre Massenerscheinung war. Nach 1918 verbreiteten antisemitische Gruppierungen die „Protokolle der Weisen von Zion“ und verstärkten Stereotype über die angebliche Macht und den Einfluss der Juden. Diese Mythen führten in den 1930er Jahren zur verbreiteten Annahme, dass Juden einen weiteren Krieg anzetteln wollten. Während des Krieges gab es weit verbreitete Gerüchte, dass Juden den Militär- und Zivildienst mieden und vom Schwarzmarkt profitierten. Zudem gelang es radikalen Antisemiten auf allen Ebenen der britischen Gesellschaft zu operieren (z.B. John Hooper Harvey und Douglas Reed). Viel tiefer saβ allerdings die Vorstellung, dass Juden im Wesentlichen „nicht britisch“ waren. In diesem Zusammenhang gab es u.a. böswillige Kampagnen gegen das Schächten. Der nationalsozialistische Antisemitismus wurde nur von wenigen britischen Zeitgenossen verstanden, und oftmals machten Diplomaten und Reporter Juden selbst für den Antisemitismus in Deutschland verantwortlich. Die Entrüstung nach Gewaltausbrüchen gegen Juden verpuffte schnell und das Verlangen nach Kooperation mit Deutschland überwog. Einwanderung von Juden wurde nicht nur von der „British Union of Fascists“ (BUF), sondern auch der rechten Presse und dem Sicherheitsdienst bekämpft. Die Regierung beschwichtigte solche Meinungen: erst nach der „Kristallnacht“ wurden die strikten Einwanderungskontrollen gelockert und bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kamen 40.000 jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich, davon fast 10.000 Kinder im Rahmen der „Kindertransporte“ nach Groβbritannien. Bei Kriegsanfang mussten sich allerdings „Fremde“ bei der Polizei registrieren lassen. Nach der Niederlage Frankreichs, als eine Invasionspanik ausbrach und die Presse für eine Internierung agitierte, lieβ die Regierung 27.000 „feindliche Fremde“ – überwiegend jüdische Flüchtlinge – internieren und teilweise nach Übersee verschiffen. Erst die Versenkung der „Arandora Star“ auf dem Weg nach Kanada am 2. Juli 1940 durch deutsche U-Boote und der Tod von mehreren hundert Internierten führte zu einem Kurswechsel in der Politik. Antisemitismus und Faschismus in Groβbritannien wird meistens mit Oswald Mosley und seiner faschistischen BUF (1932) assoziiert, die in kürzester Zeit 40.000 Mitglieder gewann. Als Mosley auf eine Strategie von Gewalt und Antisemitismus umschwenkte, kehrten allerdings viele einflussreiche Mäzene der BUF den Rücken. Die BUF schlug
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Kapital aus antisemitischen Ressentiments, die durch die sozioökonomischen Bedingungen vor allem im Londoner East End weitverbreitet waren. Die schwerwiegendste Konfrontation fand im Oktober 1936 in der „Schlacht um Cable Street“ statt, wo antifaschistische Protestierende einen Marsch der BUF verhinderten. Aber die BUF blieb weiterhin aktiv. Teile der Regierung und der Presse behaupteten dementsprechend, dass zu viele Einwanderer zu einem weiteren Ansteigen des Antisemitismus führen würden. Mosley erfreute sich dann aufgrund seiner Anti-Kriegskampagne verstärkter Zustimmung und beschuldigte die Juden der Kriegstreiberei. Es gab vielfältige und zuverlässige Informationen in Groβbritannien über das Schicksal der Juden während des Holocaust. Insgesamt waren die Reaktionen darauf aber geprägt durch eine Skepsis gegenüber „Greuelpropaganda“, einer Desensibilisierung über Berichte von Massenmorden und der Schwierigkeit, solch scheinbar unfassbare Berichte zu glauben. Die britischen Juden wurden durch den anschwellenden Antisemitismus, Faschismus sowie den zionistischen Kampf geschwächt und gespalten und konzentrierten sich zusehends auf die nationale Selbstbehauptung und den Kampf gegen den unmittelbaren Antisemitismus. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war die britische Öffentlichkeit von den Bildern und Reportagen von befreiten Konzentrationslagern, vor allem BergenBelsen, schockiert. Allerdings spielte das Schicksal der Juden in den Reportagen nur eine untergeordnete Rolle und das Ausmaß des Holocaust wurde bald von den Atombombenabwürfen in Japan verdrängt. Selbst nach Befreiung der Konzentrationslager wurde die Einwanderung nach Groβbritannien weiterhin durch die Gesetze von 1919 geregelt, was Kritiker als „knauserige“ und „fremdenfeindliche“ Einwanderungspolitik bezeichneten. Die Regierung machte selbst für überlebende Juden keine Ausnahmen, im Gegenteil: Konservative Abgeordnete, renommierte Zeitungen und Berufsorganisationen agitierten für die „Heimkehr“ der Flüchtlinge. Dieser anschwellende Antisemitismus wurde vor allem durch die Notlage in Palästina geschürt, wo sich jüdische Untergrundorganisationen und britische Armee brutal bekämpften. Als die „Irgun“ 1947 in einer Vergeltungsaktion zwei britische Feldwebel aufhängte, zogen randalierende Jugendliche durch jüdische Viertel in Liverpool, Manchester, Salford, Glasgow, den Osten Londons und andere Städte. Niemand wurde schwer verletzt, aber jüdischer Besitz wurde zerstört und ausgeraubt, Synagogen wurden angegriffen und jüdische Friedhöfe geschändet. Die Ausschreitungen provozierten allerdings auch Schock und Reflexion. Der Rückzug der britischen Armee aus Palästina entspannte wenig später die Situation. Die jüdische Gemeinde Großbritanniens umfasste in den 1950er Jahren etwa 450.000 Mitglieder, danach fiel die Zahl der Mitglieder stetig (2005: 300.000). Ein offener und rassistisch begründeter Antisemitismus war nach dem Holocaust untragbar geworden und erklärt auch die insgesamt geringe Bedeutung der radikalen Rechten. Obwohl es trotzdem immer wieder zu antisemitischen Ausbrüchen von rechtsradikalen Organisationen kam, wie der „British National Party“ oder Splitterorganisationen wie der „National Front“, „Combat 18“ und „Blood and Honour“, konzentrierte sich deren Agitation und Gewalt insgesamt eher auf die schwarzen und asiatischen Einwanderer. Allerdings sind „milde“ Formen von stereotypen Vorurteilen gegen Juden immer präsent geblieben, wahrscheinlich weil die Mehrheit der Bevölkerung keine regelmäßigen
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sozialen oder beruflichen Kontakte mit Juden hat. Laut einer Auswertung von Umfragen seit 1950 hegen ungefähr zehn Prozent aller Briten starke Vorurteile gegen Juden, bei bis zu 40 Prozent der Bevölkerung finden sich noch „gemäßigte“ anti-jüdische Vorurteile. Antisemitismus ist tendenziell stärker ausgeprägt bei Männern, der Arbeiterklasse, bei älteren Menschen und bei denjenigen, die über wenig Schulbildung verfügen. Am Ende des 20. Jahrhunderts schien allerdings die insgesamt erfolgreiche Integration der jüdischen Gemeinde in vieler Hinsicht auch für andere Minderheiten ein Exempel zu setzen. Seit dem Ausbruch der zweiten Intifada der Palästinenser im Jahr 2000 ist aber ein Umschwung in dieser Entwicklung zu verzeichnen und die Zahl der antisemitischen Vorfälle ist stark angestiegen: 2005 verzeichnete die „Community Security Trust“ 455 antisemitische Vorfälle, davon 82 körperliche Angriffe. Die besonderen Sicherheitsvorkehrungen für Synagogen, jüdische Schulen, Gebäude und Veranstaltungen erscheinen wichtiger denn je. Eine parlamentarische Untersuchung aus dem Jahre 2006 betonte die Komplexität des Antisemitismus im heutigen Groβbritannien, indem sie die scheinbar widersprüchlichen Bewertungen zweier führender Mitglieder der jüdischen Gemeinde gegenüberstellte. Während der Oberrabbiner Sir Jonathan Sacks betonte, dass Groβbritannien keine antisemitische Gesellschaft und in der Tat eine der am wenigsten antijüdischen Gesellschaften in der Welt sei, erklärte der Präsident des Verwaltungsrates der britischen Juden, Henry Grunwald, dass heutzutage wahrscheinlich stärkere Gefühle des Unbehagens und gröβere Sorgen und Ängste über den Antisemitismus bestehen als in vielen Jahrzehnten zuvor. Dieser Antisemitismus wird in verschiedener Weise und von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen agiert, inklusive aller politischer Richtungen, und erstreckt sich von Gewalt und Beschimpfung gegen Juden, Neo-Nazi Graffiti, Bedrohung durch terroristische Organisationen wie al-Qaida, Verschwörungstheorien über Juden und Holocaust-Leugnung, Antisemitismus an Universitäten, bis hin zu Judenfeindschaft im öffentlichen und privaten Diskurs. Generell hat sich der Antisemitismus stark verändert und ist inzwischen vor allem von der Etablierung des Staates Israels und den globalisierten Massenmedien („Globalisierung des Hasses“) geprägt. Ironischerweise richtet sich eine der neuesten Formen des Antisemitismus ausdrücklich gegen den Rassismus. Dieser Antisemitismus, besonders der politischen Linken, speist sich aus einer wachsenden Opposition gegen Israels Rolle im Nahost-Konflikt: alle Juden werden pauschal als Befürworter der jeweiligen Politik Israels angesehen. Zudem führt der generelle Hass gegen Juden und Israel zu einer symbiotischen Beziehung zwischen extremistischen muslimischen Randgruppierungen und der extremen Rechten in Großbritannien.
Claus-Christian W. Szejnmann
Literatur Arnd Bauerkämper, „Die radikale Rechte“ in Groβbritannien: nationalistische, antisemitische und faschistische Bewegungen vom späten 19. Jahrhundert bis 1945, Göttingen 1991. David Cesarani, British Jews, in: Rainer Liedtke, Stephan Wendehorst (Hrsg.), The Emancipation of Catholics, Jews and Protestants. Minorities and the nation state in nineteenthcentury Europe, Manchester 1999, S.33-55.
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David Cesarani, Great Britain, in: David S. Wyman (Hrsg.), The World Reacts to the Holocaust, Baltimore 1996, S.599-641. Bryan Cheyette, Constructions of „the Jew“ in English literature and society: racial representations, 1875-1945, Cambridge 1993. Todd M. Endelman, The Jews of Britain 1656 to 2000, London 2002. David Feldman, Englishmen and Jews. Social Relations and Political Culture 1840-1914, London 1994. Clive D. Field, John Bull’s Judeophobia. Images of the Jews in British Public Opinion Polls since the Late 1930s, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 15(2006), S.259-300. Colin Holmes, Anti-semitism in British society, 1876-1939, London 1979. Tony Kushner, The Persistence of Prejudice. Antisemitism in British society during the Second World War, Manchester 1989. Gisela C. Lebzelter, Political Anti-Semitism in England, 1918-1939, Oxford 1978. Louise London, Whitehall and the Jews, 1933-1948: British immigration policy, Jewish refugees, and the Holocaust, Cambridge 2000. Report of the All-Party Parliamentary Inquiry into Antisemitism, London 2006.
Guyanas Obwohl sich das Gebiet der Guyanas, das als „Wilde Küste“ bezeichnet wurde, auf dem südamerikanischen Festland befindet, werden die heutigen drei Staatsgebilde der Kooperativen Republik ? Guyana, von ? Surinam und dem Überseedepartement ? Französisch-Guayana (vgl. Karte 1) zum karibischen Raum gezählt. Diese Kategorisierung resultiert hauptsächlich daraus, dass sämtliche Kolonialisierungsversuche iberischer Expeditionen des 16. Jahrhunderts in dieser Region gescheitert waren und niemals Teil einer aktiven spanischen Verwaltung wurden. Erst das gesteigerte Interesse französischer, niederländischer und britische Expeditioncorps sowie einiger Freibeuter und Kaufleute zu Beginn des 17. Jahrhunderts führte zur Errichtung erster befestigter europäischer Siedlungen. Die bis dahin ausschließlich von autochthonen Gruppen besiedelten Guyanas wurden zu einem Teil der „kleinen Karibik“, die von den Bahamas bis zum Oyapoque reicht. Die Erfolge der 1621 gegründeten niederländischen Kolonialgesellschaft „West Indian Company“ (WIC) in Brasilien motivierten Briten und Franzosen ebenfalls Zuckerund Tabakkolonien zu errichten. Neben den großen Weiten Nordamerikas versuchten die neuen europäischen Mächte im Atlantik auch die übrigen, von den iberischen Mächten unbesiedelten Gebiete zu besetzen. Ab ca. 1625 starteten sie gegen die von Autochthonen bewohnten Inseln und Küstensäume blutige Invasionen, die zumeist mit Genoziden an der dort ansässigen Bevölkerung endeten.
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Französisch-Guayana
Französisch-Guayana Die Kolonie Cayenne kam 1643 an Frankreich und ab 1652 erfolgte durch die „Compagnie de France Equinoxiale“ die systematische Kolonialisierung des Gebietes. Bereits zwei Jahre später besetzten niederländische Truppen der „West Indian Company“ (WIC) die französische Siedlung Cayenne und versuchten damit den Verlust in Nordostbrasilien zu kompensieren. Im Zuge der niederländischen Eroberung nutzten auch jüdische Kolonisten den neuen Siedlungsraum und gründeten eine eigene Kolonie. Nach der französischen Rückeroberung 1664 blieb die Region in französischer und portugiesischer Hand und wurde von den meisten jüdischen und neuchristlichen Siedlern gemieden. Im Vordergrund der regionalen jüdischen Siedlungsversuche stand ab den 1650er Jahren David Cohen Nassy, der im Auftrag der WIC mehrere „jüdische Siedlungsprojekte“ an der „Wilden Küste“ und auf Curaçao leitete. Nassy hatte sich vom Siedlungsversuch am Pomeroon (? Guyana) zurückgezogen und forcierte ein neues Kolonialprojekt auf der „Île de Cayenne“, das er diesmal mit Hilfe der Amsterdamer Kammer der WIC realisieren wollte. Die WIC begann sich – vor allem nach der Besetzung Surinams durch die Engländer 1651 – für das unter französischem Einfluss stehende Gebiet zu interessieren. Trotz des massiven Widerstands von Seiten der zeeländischen Kammer setzte sich Amsterdam durch und erwirkte am 3. September 1659 das Recht, in jedem Abschnitt der Guyanas Kolonien errichten zu dürfen. Am 12. September 1659 erteilte die WIC David Nassy die erste Konzession zur Gründung einer jüdischen Siedlerkolonie auf der Insel von Cayenne. Die schwierige Situation der Kolonisierung Cayennes erforderte die „großzügige“ Vergabe von Privilegien für die jüdischen Siedler, die in Folge zum Gegenstand heftiger Kontroversen mit calvinistischen Siedlern wurden. Die jüdische Kolonie von Rémire (vgl. Karte 1) auf der Insel von Cayenne begann rasch zu prosperieren, und Gouverneur Guerin Spranger lieferte an die WIC große Mengen Zucker und Indigo. David Nassy fungierte als Patroon-Master und förderte weiter den Zuzug von Kolonisten aus Europa. Insgesamt erreichten im Jahr 1659 152 jüdische Kolonisten aus Livorno auf dem Schiff „Monte del Cisne“ die Küste Guyanas. Im selben Jahr erreichte eine zweite Gruppe jüdischer Kolonisten aus Livorno (ca. 150 Personen) die Kolonie Rémire. Ziel der jüdischen Kolonisten war der Aufbau einer funktionierenden Zuckerrohrwirtschaft. Mit der französischen Invasion im Februar 1664 endete die niederländische Kolonialherrschaft. Insgesamt setzten sich fünf Schiffe mit etwa 1.200 französischen Kolonisten in Cayenne fest. Die Juden von Rémire versuchten von Beginn an, die neuen Machthaber von der Bedeutung ihrer Arbeit für die Kolonie zu überzeugen, um sich in weiterer Folge ihre unter den Niederländern erkämpften Privilegien zu sichern. Trotz der Zugeständnisse von französischer Seite verließ aber rund ein Drittel der Sepharden Cayenne in Richtung ? Surinam. Als 1667 die Briten kurzfristig Cayenne besetzten, evakuierten sie die jüdischen Siedler und brachten sie nach ? Barbados, wo sie in der Zuckerwirtschaft eingesetzt wurden. Zurück blieb nur noch eine kleine Gruppe sephardisch-portugiesischer Kolonisten, die nach der Verabschiedung des „Code Noir“ 1685 endgültig die
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französische Kolonie verließ. Der „Code Noir“ hob alle Privilegien auf und untersagte die Ausübung nicht-katholischer religiöser Praktiken. 1895 gelangte Französisch-Guayana in die Schlagzeilen der Weltpresse, als die französische Justiz Alfred Dreyfus auf die Teufelsinsel (seit 1851 Strafkolonie) verbannte. Seine Haftstrafe verbüßte Dreyfus unter unmenschlichen Bedingungen in Einzelhaft, bis er 1899 wegen Neuaufnahme des Verfahrens wieder nach Frankreich überstellt wurde. Erst 1992 haben etwa 20 jüdische Familien aus Nordafrika und Surinam – nach über 300 Jahren – wieder eine Gemeinde in Cayenne gegründet. 2007 zählte die neue Gemeinde 80 Mitglieder.
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Literatur Mordechai Arbell, The Jewish nation of the Caribbean: the Spanish-Portuguese Jewish settlements in the Caribbean and the Guianas, Jerusalem 2002. Mordechai Arbell, Jewish Settlements in the French Colonies in the Caribbean (Martinique, Guadeloupe, Haiti, Cayenne) and the „Black Code“, in: Paolo Bernardini, Norman Fiering (Hrsg.), The Jews and the Expansion of Europe to the West, 1450 to 1800, New York, Oxford 2001, S.287-313. Zvi Loker, Les Juifs a Cayenne 1660-67, in: La Grande Encyclopédia de la Caraibe, 7 (1990), S.22-27. Samuel Oppenheim, An early Jewish Colony in Western Guiana, 1658-1666: And Its Relation to the Jews in Surinam, Cayenne and Tobago, in: Publications of the American Jewish Historical Society, 16(1907), S.95-187.
Guyana (ehemals Britisch-Guyana) Im Februar 1667 gelang dem Kommandeur der Admiralität von Zeeland – Abraham Crijnssen – im Zuge des zweiten englisch-niederländischen Krieges (1665-1667) die Stärkung der vernachlässigten Kolonien von Berbice und Essequibo. Crijnssen sicherte den nicht-protestantischen Siedlern das Recht auf freie Glaubensausübung zu. 1694 siedelten auf dem Gebiet 92 sephardische und zehn aschkenasische Familien, die insgesamt 40 Plantagen und etwa 900 Sklaven besaßen. Die ersten Quellen über jüdische Kolonisten dokumentieren einige Zuckerrohr- und Tabakpflanzer, die ab dem Jahr 1651 am Zusammenfluss der Flüsse Pomeroon und Moroca siedelten. In dieser Grenzstellung sollten die spanisch- und portugiesischsprachigen Juden als Interloper (nichtmonopolistische Händler) eingesetzt werden und ein „zweites Brasilien“ gründen. Aufgrund der schwierigen Situation in ? Brasilien, die sich nach dem Fortgang von Johann Moritz Fürst von Nassau-Siegen 1644 zusätzlich verschärfte, suchten einige der 1.500 jüdischen Kolonisten ihre Zukunft an der niederländischen Guyanaküste. Die Kolonien Essequibo, Berbice und Pomeroon wurden von der einflussreichen Kammer von Zeeland verwaltet. Diese beschloss 1656, die Auswanderung in die neue
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Kolonie Nieuw-Zeeland zu verstärken. Als die sephardischen Financiers Dr. Paulo Jacomo Pinto und Philipp de Fuentes das Vorhaben unterstützten, begann eine jüdische Siedlungsbewegung nach Nieuw-Zeeland einzusetzen, die auch Juden aus Hamburg, Livorno und Brasilien ansprach. Zwischen 1658 und 1659 erreichten vier bis fünf Schiffe mit jüdischen Kolonisten sowie afrikanischen und afrokreolischen Sklaven das Gebiet Nieuw-Zeeland. Die Reichsarchivakten aus dem Jahr 1658 dokumentieren, wie die Siedlungserlaubnis für Angehörige der „Hebräischen Nation“ in Essequibo und die Regelung für Kolonisten über den unbegrenzten Besitz von Sklaven, deutlich die zeeländischen Interessen. Die Zeeländer versuchten in Konkurrenz zur „West Indian Company“ (WIC), Essequibo zur Musterkolonie auszubauen und stellten die Region in Auswanderungsbroschüren als paradiesisches El Dorado dar. Die von teilweise sogar in deutscher Sprache verfassten Texte priesen die Möglichkeiten des profitablen Zuckerrohranbaus und versprachen hierfür die Einfuhr afrikanischer Sklaven auf Kreditbasis. Laut Zensus aus dem Jahr 1660 befanden sich rund 1.000 freie Kolonisten in NieuwZeeland, wobei der Anteil an jüdischen Siedlern ungewiss ist. Sicher ist die Existenz jüdischer Zuckerrohrplantagen nördlich des Pomeroon bei Pauroma (vgl. Karte 1), wo sich 1658 eine Gruppe von 25 Siedlern niedergelassen hatte. Major John Scott erwähnt nach seinem Einsatz im zweiten holländisch-englischen Krieg (1665-1667) die Existenz von mindestens zwölf jüdischen Plantagen. Pomeroon entwickelte sich zur profitablen niederländischen Kolonie. Dies änderte sich 1665 durch den Überfall der Briten, der eine Abwanderung der meisten Siedler zur Folge hatte. Ein Teil wanderte nach ? Surinam aus, ein anderer Teil steuerte die französischen Inseln Martinique, Guadeloupe und St. Christopher an. Nach der niederländischen Rückeroberung von Nieuw-Zeeland 1667 befanden sich dort nur noch wenige jüdische Siedler. Erst im 18. Jahrhundert finden sich in Quellen wieder Hinweise auf jüdische Präsenz in dieser Region. Vor allem handelte es sich um eine beachtliche Zahl von jüdischen Zuckerrohr- und Vanillepflanzern sowie um jüdische Militärs, die niederländische Expeditionen bis an den Orinoko führten. Für die Zeit der britischen Kolonialherrschaft von 1814-1966 fehlen bislang Studien zur Situation der Juden in der Region, die ab 1830 als „Britisch Guyana“ bezeichnet wurde. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob sich unter den ab den 1830er Jahren eingewanderten 12.000 Portugiesen aus Madeira auch Juden befunden haben. Schlussfolgerungen zum Antisemitismus niederländischer und britischer Prägung, analog zur Situation in ? Surinam oder ? Barbados, bleiben vorerst rein spekulativ. Nach dem Tod des populären indisch-stämmigen Präsidenten Cheddi Jagan im Jahre 1997 übernahm seine Witwe Janet Jagan Rosenberg nicht nur als erste Frau, sondern auch als erste Jüdin ein südamerikanisches Präsidentenamt, das sie bis 1999 ausführte. Der Human Rights Report 2006 verzeichnet für Guyana keine antisemitischen Aktionen gegen die jüdische Gemeinde, deren Mitgliederzahl nur noch zehn Personen umfasst.
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Literatur Cornelius Ch. Goslinga, The Dutch in the Caribbean and in the Guianas, 1680–1791, Amsterdam 1985. Samuel Oppenheim, An early Jewish Colony in Western Guiana, 1658-1666: And Its Relation to the Jews in Surinam, Cayenne and Tobago, in: Publications of the American Jewish Historical Society, 16(1907), S.95-187.
Surinam Als Gouverneur von Barbados gründete Lord Frances Willoughby von Parham 1651 eine Eigentümer-Kolonie am Surinam River, womit er den Inselstandort Barbados ökonomisch absichern wollte. Willoughby nutzte die positiven Erfahrungen der Niederländer mit jüdischen Fachkräften, um Juden sowohl zur Einwanderung nach Barbados als auch in das neue Kolonialprojekt „Willoughby-Land“ (Surinam) zu bewegen. Willoughby versprach Steuervorteile und Religionsfreiheit, was ein stetes Anwachsen der Bevölkerung zur Folge hatte. Im Jahr 1663 zählte die Kolonie bereits 4.000 Siedler und zumindest 9.000 afrikanische Sklaven, die insgesamt 175 Tabak- und Zuckerrohrplantagen bewirtschafteten. Die erste nachhaltige Expedition gelang der „West Indian Company“ (WIC) unter der Leitung des holländischen Kapitäns David Pietersz de Vries im Herbst 1634, in deren Folge einige Tabakplantagen angelegt werden konnten. Bereits 1639 kamen die ersten sephardischen Siedler und ließen sich in dem neu gegründeten Ort Thorarica nieder (vgl. Karte 1). Ob der Name Thorarica tatsächlich „reiche Thora“ bedeutet, wird kontrovers diskutiert. Die erste Quelle jüdischer Provenienz in Surinam ist eine Heiratsurkunde, die 1643 in hebräischer Sprache verfasst wurde. Mit der Abreise von Generalgouverneur Johann Moritz von Nassau-Siegen aus Brasilien im Jahr 1644 migrierten einige sephardische Kaufleute und Siedler an die guyanesische Küste. Unter der Führung des in Recife geborenen David Cohen Nassy erreichte 1644 eine Gruppe „sephardischer Siedler“ den Surinam River. In der zweiten Hälfte des Jahres 1651 konnten sich britische Verbände in Surinam festsetzen. Der neue britische Gouverneur Lord Willoughby knüpfte an die Toleranzpolitik der niederländischen Vorgänger an. Eine neue Problematik ergab sich aus dem von der Londoner Regierung 1651 erlassenen „Navigation Act“, der den „internationalen“ Handel verbot. Dies betraf die Tätigkeit zahlreicher sephardischer Kaufleute. Um ihre Abwanderung zu vermeiden, entschieden sich die neuen Eigentümer der Kolonie, die Politik der räumlich entrückten britischen Krone zu umgehen, indem sie die Verladung der Waren auf holländische Schiffe zuließen. Lord Willougbhy führte 1652 persönlich die Kolonialisierung seiner neuesten Eroberung an und besuchte, begleitet von acht Schiffen, das von seinen Truppen im Jahr zuvor eroberte Surinam. Unter den neuen Siedlern befand sich eine „beträchtliche Zahl“ jüdischer Siedler aus ? Barbados, die sich in der von Nassy gegründeten Kolonie Savanne niederließ.
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Der britische Gesandte in Livorno, Charles Longland, regte 1657 die Besiedlung Surinams mit Juden aus Livorno an. Unter Berufung auf die koloniale Praxis der Niederländer und ihren Wettbewerbsvorteil durch den erfolgreichen Einsatz von sephardischen Juden als interkulturelle Vermittler forderte er neben einem uneingeschränkten Niederlassungsrecht auch verschiedene Privilegien. Willoughby garantierte seinen Siedlern unbesteuerte Schürfrechte auf Gold, Silber, Diamanten und Steuerfreiheit auf sämtliche Gerätschaften sowie Saatgut und die Versorgung mit versklavten Arbeitskräften aus Guinea. Unter Commander William Byam erhielten 1654 die christlich-puritanischen Kolonisten das Privileg, auf das ihnen zugewiesene Land Eigentumstitel geltend zu machen. Zu den Privilegien zählten außerdem die vollständige Naturalisierung als englische Bürger sowie das Recht, ein Mandat in jenen Kolonieausschüssen zu übernehmen, deren Aufgabengebiet Wohlfahrt und Wirtschaft umfasste. Diese liberale Politik weitete die britische Kolonialregierung ab 1660 auch auf ausreisewillige jüdische Kolonisten aus, die zwar kein politisches Mandat bekleiden durften, jedoch das Recht auf freie Religionsausübung und eine eigene private Gerichtsbarkeit erhielten. Diese Entwicklung ist auf das Engagement der Brüder de Casseres sowie David Abrabanel alias Martinez Dormido zurückzuführen, die als bevollmächtigte Vertreter der „Portugiesischen Nation“ die Wiederansiedelung von Juden in England vorantrieben. Bis diese Privilegien 1665 schließlich schriftlich kodifiziert wurden, befanden sich die jüdischen Siedler in einer rechtlichen Grauzone und waren zeitweise der Willkür durch die jeweilige Kolonialregierung ausgeliefert. Das „zeeländische Modell“ in Essequibo und Pomeroon (? Guyana) wurde zum Vorbild der Privilegienordnung für die jüdische Minderheit in der Kolonie Surinam. Die 1665 verbrieften Privilegien garantierten den Siedlern völlig freie Religionsausübung sowie den Bau von Synagogen, Friedhöfen und jüdischen Schulen. Außerdem wurden nach Ermessen der Kolonialregierung sogar allfällige, am letzten Wohnsitz entstandene Schulden jüdischer Siedler übernommen. Die Regierung in Thorarica verpflichtete sich, sowohl die Überfahrtkosten für die gesamte Familie zu tragen, als auch sämtliche Subsidien zur Verfügung zu stellen. Ein Privileg besonderer Art stellte das Recht auf den Gebrauch der Waffe zur Selbstverteidigung dar. Darüber hinaus wurden jüdische Kolonisten unter den militärischen Schutz der Kolonialregierung gestellt. Abgesehen von der Pflicht der Landesverteidigung gab es keine weiteren „staatlichen Pflichten“. Erstmals in der englischen Geschichte bot sich Juden nun auch die Chance, den „Einbürgerungsstatus für Ausländer“ (Denizenship) zu erhalten, der eine eingeschränkte Gleichstellung mit im Vereinigten Königreich geborenen Bürgern bedeutete. Alle folgenden britischen und niederländischen Einwanderungsbestimmungen in den Kolonien orientierten sich an dieser Privilegienordnung Willoughbys von 1665. Obwohl die englische Variante der Privilegien für jüdische Kolonisten nicht alle Punkten der zeeländischen Vorlage übernahm, muss der „Grant of Privileges“ als besondere Leistung toleranter Politik bezeichnet werden. Zwei Jahre nach der niederländischen Rückeroberung von Surinam im Jahr 1667 gelang der jüdischen Gemeinde die Beseitigung der heftig umstrittenen Klauseln 6 und 10. Nun war es ihr erstmals möglich, bescholtene Mitglieder zu verbannen (Klausel 6). Außerdem wurde die Ausnahmeregelung bei Schuldenrückzahlung im Falle eines Vermögensverlustes durch die Inquisition
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(Klausel 10) erreicht. Dies beweist, dass Konvertiten und sephardische Händler, die als Neuchristen in atlantischen Territorien operierten, nach wie vor der Gefahr der Verfolgung und Folter bis hin zur Tötung durch ein Autodafé (auf Glaubensakt vollstrecktes Inquisitionsurteil) ausgesetzt waren. Für die niederländischen Kolonialstrategen waren die sephardischen und neuchristlichen Handelsnetze jedoch von derart großer Bedeutung, dass Admiral Abraham Crynssen dazu angehalten wurde, die Politik seines englischen Vorgängers fortzuführen. Trotzdem war die Abwanderung einiger Sepharden aus Surinam nicht zu verhindern, wie die Einwanderungsstatistiken auf Barbados und ? Jamaika beweisen. In der Folgezeit wurden Privilegien, vor allem die Garantie der Sonntagsarbeit, zu Angriffspunkten antisemitischer Agitation von Seiten christlicher Ladenbesitzer und Kaufleute. Unter der Regierung von Gouverneur van Scherphuisen versuchte diese antisemitische Opposition, die Sonntagsruhe für alle Einwohner der Kolonie (auch für indigene Gruppen) durchzusetzen, scheiterte jedoch am Widerstand aus dem Mutterland. In der politischen Realität galt der Zusammenhalt der Kolonisten gegen den gemeinsamen Feind von außen (Engländer, Franzosen, Spanier, Portugiesen) weit mehr als der spießig anmutende Kampf in der politischen Arena der neuen Hauptstadt Paramaribo. Allzu häufig war man auf den militärischen Beistand der jüdischen Milizionäre angewiesen, wie etwa 1689, als Surinam von Angriffen französischer Truppen heimgesucht wurde. Der Einsatz von Samuel C. Nassy, der als Kapitän eines 84 Mann starken jüdischen Bataillons die französischen Verbände zurückdrängte und damit die Niederländer vor einer schweren Niederlage bewahrte, unterstreicht die Loyalität jüdischer Kolonisten. Trotzdem gab es im gesamten 18. Jahrhundert immer wieder Versuche von Seiten verschiedener Gouverneure, die jüdischen Gemeindemitglieder mit Extrasteuern zu belasten. Diese antijüdische Politik wurde teilweise auch antisemitisch artikuliert und ging meist von christlichen Siedlerverbänden aus. So konnte es auch vorkommen, dass jüdischen Plantagenbesitzern die militärische Assistenz bei einem Überfall verweigert wurde, wie dies im Falle des französischen Überfalls auf Savanne 1712 dokumentiert ist. Wegen des Offenhaltens jüdischer Läden an Sonntagen wiederholten sich 1718 die Angriffe auf die aschkenasischen Ladenbesitzer und Straßenverkäufer, die diesmal von christlichen Kleinkaufleuten in Paramaribo ausgingen. Trotz aller Probleme in Surinam investierten die Niederlande in ihre einzige amerikanische Festlandkolonie, die nach dem besiegelten Verlust der nordamerikanischen Besitzungen im Jahre 1667 zum Anziehungspunkt für viele europäische und atlantikkreolische Kolonisten wurde. 1746 bestätigte die niederländische Kolonialregierung unter Gouverneur Philipp Camyn erneut die Privilegien der „Portugiesischen Juden“ in vollem Umfang. Diese Anerkennung dokumentiert die Nähe der portugiesischen Gemeinde zur Regierung in Amsterdam zu einem Zeitpunkt, als die aschkenasische Gemeinde von Paramaribo steigende Zuwanderungsdaten verzeichnete. Statistisch gesehen galt Surinam im Jahr 1770 als wirtschaftlich stabile Kolonie, in der sich 110 Zuckerrohr- und 295 Kaffeeplantagen befanden. Insgesamt waren in der Kolonie – exklusive der autochthonen Bevölkerung – 64.500 Personen registriert, wobei den weitaus gröβten Bevölkerungsanteil 60.000 afrikanische Sklaven ausmachten, gefolgt von etwa 3.000 Freien – zumeist europäischen Ursprungs – sowie rund 1.500 nie-
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derländische Besatzungssoldaten. Als 1795 die Niederländer endgültig die Kontrolle über ihre Kolonien an der „Wilden Küste“ verloren, hatten sich seit 1771 weitere 171 aschkenasische und 159 sephardische Juden in Surinam niedergelassen. Surinam genoss aufgrund seiner Toleranzpolitik einen besonders guten Ruf als Einwanderungsland. Trotz des 1761 abgeschlossenen Waffenstillstands mit den Saramacca (im Hinterland Surinams gebildete autonome afro-surinamesische Gemeinschaft, die der Kolonialregierung erbitterten Widerstand leistete) flammten 1772 die Kampfhandlungen wieder auf. Zum Zentrum der Verteidigung wurde die Stadt Jodensavanne auserkoren. Die etwa vierzig Kilometer südlich von Paramaribo gelegene neue Grenze bedeutete eine permanente militärische Bedrohung für die Hauptstadt. Die anhaltenden Kämpfe führten ab 1773 zu einer massiven Abwanderung jüdischer Siedler nach Paramaribo und in die fünf verbliebenen niederländischen Antilleninseln. Der Zensus von 1791 weist auf 834 Sepharden, 477 Aschkenasen sowie rund 100 afrokreolische Juden in Surinam hin. Dies entspricht in etwa einem Drittel der damaligen Gesamtbevölkerung der Kolonie. Im ersten Koalitionskrieg besetzten britische Truppen 1794 die Kolonien Essequibo, Demerara und Berbice (? Guyana), von 1799 bis 1816 auch Surinam. Die Rechtsunsicherheit des Kriegszustandes hatte die Abwanderung zahlreicher surinamesischer Juden zur Folge: 1817 lebten nur noch 691 Sepharden in Surinam. Am 20. Juni 1825 erfolgte die volle Gleichstellung der Juden in den Niederlanden, woraufhin sich die Rechtslage der Juden in Surinam grundlegend veränderte. Die Emanzipation beinhaltete einerseits den Verlust der bis dahin geltenden Privilegien, andererseits öffnete sie die Möglichkeit der politischen Partizipation. Bereits 1828 bekleideten die ersten Mitglieder der jüdischen Gemeinden politische Ämter, in erster Linie im Bereich der Justiz. Diese Integration in staatliche und nicht-staatliche Organisationen und Betriebe förderte die Assimilation und ersetzte ab 1837 als Sprache Portugiesisch durch Niederländisch. 1890 zählte die jüdische Bevölkerung der Kolonie 1.500 Personen, die gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend antisemitischer Agitation ausgesetzt waren. 1899 wurde der Antisemit M. A. de Savornin Lohman Gouverneur Surinams, der in niederländischen Zeitungen seine Beschimpfungen des Talmud lancierte. Das seit 1890 bestehende surinamesische Blatt „de Volksbode“ entwickelte sich zur Jahrhundertwende zum Sprachrohr antisemitischer Propaganda. Immer häufiger wurden jüdische Einrichtungen zum Opfer sozialer Auseinandersetzungen in Paramaribo. Die antisemitische Stimmung in Surinam demotivierte viele jüdische Kolonisten und ein Teil wählte die neuerliche Diaspora in Richtung der Niederlande und USA, sodass die Kolonie 1923 nur noch 818 Juden zählte. Neben ? Curaçao blieb Surinam die einzige niederländische Kolonie, die sich der nationalsozialistischen Übernahme 1940 erfolgreich widersetzte. Die nach London geflüchtete Königin Wilhelmina regierte von ihrem Exil aus ihre einzigen Besitzungen. Das „Freie Surinam“ nahm in den Kriegsjahren einige jüdische Flüchtlinge aus den besetzten Niederlanden auf. Im November 1941 überließ die Königin die Verteidigung der Bauxit-Mine „Moengo“ US-Truppen, und von da an nutzte Washington Surinam als weiteres Sprungbrett für den Afrikafeldzug. Surinam wurde somit einer der Schauplätze des Zweiten Weltkriegs. 1942 rückten die Ruinen der alten jüdischen Stadt Jodensa-
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vanne in den Mittelpunkt der Politik, als die autonome niederländische Regierung in Surinam das Territorium als Straflager für Mitglieder der „Nationaal-Socialistische Beweging in Nederland“ (NSB) nutzte. Nicht weniger als 139 NSBler wurden bis 1946 in Jodensavanne interniert und mussten den Friedhof sowie die Synagoge freilegen und säubern.
Christian Cwik
Literatur Mordechai Arbell, The Jewish nation of the Caribbean: the Spanish-Portuguese Jewish settlements in the Caribbean and the Guianas, Jerusalem 2002. Robert Cohen, The Jewish Nation in Surinam. Historical Essays, Amsterdam 1982. Samuel Oppenheim, An early Jewish Colony in Western Guiana, 1658-1666: And Its Relation to the Jews in Surinam, Cayenne and Tobago, in: Publications of the American Jewish Historical Society 16(1907), S.95-187.
Indien Seit dem Altertum gibt es jüdische Siedlungen in Indien. Ihre Existenz ist direkt und indirekt durch viele jüdische und indische Quellen belegt. Handelsverbindungen über See und Land zwischen dem indischen Subkontinent und dem Vorderen Orient boten Möglichkeiten für die Einwanderung verschiedener Gruppen zu verschiedenen Zeiten an der indischen Westküste, in Cochin, Ernakulum und Cranganore, die zusammen als „Cochin-Juden“ bekannt sind. Juden siedelten nach eigener Überlieferung an der Malabarküste schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Es waren der Überlieferung nach Flüchtlinge, die nach der Zerstörung des zweiten Tempels durch die Römer im Jahre 72 ihre Heimat verließen und bei Cochin landeten. Je nach dem Grad ihrer Integration in der indischen Gesellschaft unterteilten sie sich kastengleich in Kala oder „black Jews“ und „Gora“ oder „white Jews“, die auch „Paradesi Juden“ genannt wurden. Eine frühe Urkunde ist auf einer Kupferplatte erhalten, deren Datierung bei den Archäologen umstritten ist: sie schwankt zwischen dem 4. und 13. Jahrhundert, wobei der späteren die größere Wahrscheinlichkeit zukommt. Es werden darin die Landübertragung und damit verbundene Privilegien genannt, die der König der Cheras im späteren Kerala, Bhaskara Ravivarman, einem Juden namens Joseph Rabban gewährte. Es ist bemerkenswert, dass die britisch-indische Regierung gut anderthalb Jahrzehnte vor ihrem Ende diese Urkunde in einer offiziellen Sammlung von Verträgen, Abmachungen und Privilegien, die im britischen Herrschaftssystem auf dem Subkontinent gültig waren, ausdrücklich erwähnt. Nach der britischen Beschreibung besaßen die Rechte und Privilegien der Juden bei der Zusammenstellung der Urkunden (um 1930) noch immer Wirkungskraft. Die ausführliche Erwähnung dieses ältesten überlieferten Vertrages in der letzten mehrbändigen offiziellen Sammlung, die den komplexen Verfassungszustand und ihre Entwicklung im Raj, d.h. während der britischen Herrschaft, widerspiegelt, kann in jener Endphase des Raj nur den Sinn gehabt haben, die kleinen jüdischen Ge-
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vanne in den Mittelpunkt der Politik, als die autonome niederländische Regierung in Surinam das Territorium als Straflager für Mitglieder der „Nationaal-Socialistische Beweging in Nederland“ (NSB) nutzte. Nicht weniger als 139 NSBler wurden bis 1946 in Jodensavanne interniert und mussten den Friedhof sowie die Synagoge freilegen und säubern.
Christian Cwik
Literatur Mordechai Arbell, The Jewish nation of the Caribbean: the Spanish-Portuguese Jewish settlements in the Caribbean and the Guianas, Jerusalem 2002. Robert Cohen, The Jewish Nation in Surinam. Historical Essays, Amsterdam 1982. Samuel Oppenheim, An early Jewish Colony in Western Guiana, 1658-1666: And Its Relation to the Jews in Surinam, Cayenne and Tobago, in: Publications of the American Jewish Historical Society 16(1907), S.95-187.
Indien Seit dem Altertum gibt es jüdische Siedlungen in Indien. Ihre Existenz ist direkt und indirekt durch viele jüdische und indische Quellen belegt. Handelsverbindungen über See und Land zwischen dem indischen Subkontinent und dem Vorderen Orient boten Möglichkeiten für die Einwanderung verschiedener Gruppen zu verschiedenen Zeiten an der indischen Westküste, in Cochin, Ernakulum und Cranganore, die zusammen als „Cochin-Juden“ bekannt sind. Juden siedelten nach eigener Überlieferung an der Malabarküste schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Es waren der Überlieferung nach Flüchtlinge, die nach der Zerstörung des zweiten Tempels durch die Römer im Jahre 72 ihre Heimat verließen und bei Cochin landeten. Je nach dem Grad ihrer Integration in der indischen Gesellschaft unterteilten sie sich kastengleich in Kala oder „black Jews“ und „Gora“ oder „white Jews“, die auch „Paradesi Juden“ genannt wurden. Eine frühe Urkunde ist auf einer Kupferplatte erhalten, deren Datierung bei den Archäologen umstritten ist: sie schwankt zwischen dem 4. und 13. Jahrhundert, wobei der späteren die größere Wahrscheinlichkeit zukommt. Es werden darin die Landübertragung und damit verbundene Privilegien genannt, die der König der Cheras im späteren Kerala, Bhaskara Ravivarman, einem Juden namens Joseph Rabban gewährte. Es ist bemerkenswert, dass die britisch-indische Regierung gut anderthalb Jahrzehnte vor ihrem Ende diese Urkunde in einer offiziellen Sammlung von Verträgen, Abmachungen und Privilegien, die im britischen Herrschaftssystem auf dem Subkontinent gültig waren, ausdrücklich erwähnt. Nach der britischen Beschreibung besaßen die Rechte und Privilegien der Juden bei der Zusammenstellung der Urkunden (um 1930) noch immer Wirkungskraft. Die ausführliche Erwähnung dieses ältesten überlieferten Vertrages in der letzten mehrbändigen offiziellen Sammlung, die den komplexen Verfassungszustand und ihre Entwicklung im Raj, d.h. während der britischen Herrschaft, widerspiegelt, kann in jener Endphase des Raj nur den Sinn gehabt haben, die kleinen jüdischen Ge-
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meinden an der Malabarküste ihrer jahrhundertealten Rechte zu versichern und sie in jener turbulenten Phase des indischen Unabhängigkeitskampfes nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Außer den frühen Siedlungen der Cochin-Juden im Süden fanden die so genannten Bene Israel im wirtschaftlich aufblühenden Bombay zur Zeit der britischen Herrschaft Niederlassungs- und Verdienstmöglichkeiten. Eine weitere Einwanderungsgruppe kam aus dem Mittleren Osten: die so genannten Baghdadis, die Ende des 18.Jahrhunderts in den aufblühenden indischen Metropolen und deren Umgebung eine neue Heimat fanden, in Kalkutta und Bombay. Die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen auf dem Subkontinent waren einer jüdischen Einwanderung im Allgemeinen günstig. Sie erlaubten eine über Jahrhunderte weitgehend ungestörte Entwicklung. Die Religionen des Hinduismus und Buddhismus, selbst in Sekten und unterschiedliche Gruppen vielfach gegliedert, tolerierten abweichende und andere Glaubensformen neben der eigenen. Die gesellschaftliche Vielschichtigkeit des Subkontinents, das die Zeiten überdauernde Kastenwesen, die sprachliche Vielfalt und die komplexe politische Gliederung ließen keinerlei Anspruch auf Ausschließlichkeit aufkommen. Hier war keine Assimilation gefordert, sondern lediglich Akkulturation, d.h. ein Anpassen an äußere und allgemeine Gepflogenheiten bei Bewahrung kultureller und religiöser Eigenständigkeit in einer stark differenzierten Gesellschaft. Die jüdischen Gruppen waren, soweit wie in Indien nötig und möglich, mit indigenen indischen gleichrangig integriert und nahmen in der gesellschaftlichen Vielfalt eine Stellung ein wie andere Gruppen neben sich, ohne dabei gezwungen zu sein, ihre sozialen und religiösen Wesenszüge aufzugeben. Juden waren bei den lokalen und regionalen Herrschern deshalb besonders gut gelitten, weil sie vielfach über Indien hinausgehende Verbindungen besaßen, die für Land und Herrscher wirtschaftlich zu Buche schlugen. Die Aversion der Brahmanen- und Kriegerkasten gegen Seefahrt, schließlich religiös zu einem Verbot von Überseereisen erweitert, schränkte auch deren persönliche Beteiligung am „Außenhandel“ ein. Für Juden hingegen gab es keinerlei religiös bedingten Hemmnisse. Wegen ihrer großen Flexibilität und ihrer guten, über den Subkontinent hinausreichenden Beziehungen sahen kleine wie große Potentaten auf dem Subkontinent in jüdischen Untertanen eine Bereicherung und den Schlüssel zum Überseehandel. Toleranz, ohnehin gesellschaftlich geübt, war ein Gebot politischer Klugheit, das, in Privilegien ausgedrückt, den Juden eine Absicherung über den Augenblick hinaus verbürgte. In einem Lande mit solchen Bedingungen gab es so gut wie keinen indigenen Antisemitismus. Dennoch blieb der Subkontinent nicht frei von Judenverfolgungen. Der aus dem Westen eindringende Islam scheint allerdings den jüdischen Gruppen speziell wenig zugesetzt zu haben. Die Kaiser der Mogulherrschaft übten teils große Toleranz gegenüber anderen Religionen (Akbar, 1556-1605), teils eine harte Unterwerfungspolitik, die mit dem Schwerte ausgetragen wurde (Aurangzeb, 1658-1707). Die größte Bedrängnis der Juden war nicht regionalen Ursprungs, sondern eine Fernwirkung europäischer Entwicklungen und kolonialer Einflüsse. Während der vorübergehenden Besetzung durch die Portugiesen wurden Juden in Cochin verfolgt. Erst mit der Verdrängung der Portugiesen durch die Holländer um 1660
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wurde den Juden die alte Sicherheit wiedergegeben. Die stärksten antisemitischen Ausschreitungen in der Geschichte des Subkontinents jedoch fanden in den portugiesischen Besitzungen von Goa, Daman und Diu statt. Hier wirkte und wütete das Tribunal der Inquisition von 1560 bis 1812 mit nur kurzer Unterbrechung gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Das Inquisitionsgericht – die einzige permanente Einrichtung dieser Art im portugiesischen Kolonialreich überhaupt – richtete nicht nur Christen, die vom festgelegten Glauben abwichen, sondern auch Hindus, Moslems und Juden. Wie viele Juden der Inquisition in Goa zum Opfer fielen, lässt sich aufgrund der lückenhaften Quellenlage nicht feststellen. Mit der Errichtung der britischen Herrschaft (Raj) seit Mitte des 18. Jahrhunderts, die eine wirtschaftliche Belebung einleitete, begann auch für die Juden auf dem Subkontinent eine neue Epoche. Sie förderte die Mobilität der in Städten lebenden Juden. Verbindungen und Geschäftsmöglichkeiten erweiterten sich innerindisch, imperial und international. Die Unterstützung des Raj durch mittelständische Juden, insbesondere der Baghdadis in den Metropolen Kalkutta und Bombay, war Briten wie Indern förderlich. Es entwickelte sich ein transnationales Wirtschaftsgeflecht. Die allgemein übliche Gleichstellung von Juden mit Europäern im städtischen Indien gereichte ersteren im Zeitalter des erwachenden indischen Nationalismus nicht unbedingt zum Vorteil. Nicht nur wurde eine solche Identifikation in den Augen indischer Nationalisten als Zeichen jüdischer Distanziertheit, um nicht zu sagen Fremdheit, gewertet. Im traditionell lokalen und regionalen Bereich war die gesellschaftliche Position der Juden gesichert, im größeren nationalen Rahmen jedoch stand und fiel sie mit der Stellung der Europäer. Die fast zeitgleiche Entwicklung der indischen Unabhängigkeitsbewegung und des jüdischen Strebens in der Diaspora nach einem eigenen Staat in Palästina hatte im Verhältnis zwischen Indern und Juden Komplikationen zur Folge. Der nationalen Einheit wegen trat der „Indian National Congress“, der sich als säkular und somit offen für alle Religionen verstand, bis zur Teilung des Landes 1947 so weit wie möglich auch für die Anliegen indischer Moslems ein. Unter der geistigen und politischen Führung Mahatma Gandhis und Jawaharlal Nehrus war die Haltung der Kongresspartei zu den Juden in den zwei Jahrzehnten vor der Unabhängigkeit das Ergebnis einer Balancepolitik zwischen humanitärer Hilfsbereitschaft und nationalindischer Interessenpolitik. Die Judenverfolgung in Deutschland und Europa von 1933 bis 1945 wurde in ihrer Einzigartigkeit im britischen Indien weder in ihrem Umfang richtig wahrgenommen noch in ihrer Tragweite begriffen. Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, da jüdische Reisende aus Deutschland als potentiell verdächtige Spione angesehen worden waren, lag noch im Erinnerungsbereich der politisch Handelnden. In dem sich verschärfenden Unabhängigkeitskampf nach dem Ersten Weltkrieg sahen nicht wenige Inder in Deutschland den „Feind ihres Feindes“, machiavellistisch gesehen also einen Freund. In weiten Kreisen in Deutschland, und das schließt den deutsch-jüdischen Bevölkerungsteil ein, gab es eine romantisierende Zuneigung zu Indien, die dort als innere Verwandtschaft gedeutet wurde, der ein Antisemitismus mit menschenvernichtendem Potential nicht zugetraut wurde. Die Auswirkungen eines verklärten Deutschlandbildes waren in Indien, wie auch in manchen anderen Ländern in Bezug auf das NS-Regime fatal. Vor dem Kriege wurden
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Heftigkeit und Ausmaß der Judenverfolgung in Deutschland in der Öffentlichkeit verharmlost und mit der britischen Herrschaft in Indien auf eine Stufe gestellt. Und im Kriege wurden Berichte über die Judenvernichtung vielfach als Propaganda abgetan. Solange noch vor und im Kriege in Indien politisch diskutiert werden konnte, wurde die Judenverfolgung in Europa nur von wenigen als so bedrohlich gesehen, dass Hilfe notwendig, weil lebensrettend war. Die Tore Britisch-Indiens öffneten sich für die Einlass suchenden Juden aus Mitteleuropa lediglich einen Spalt. Der Grund dafür ist in der Haltung der britisch-indischen Regierung zu suchen, die in Fragen „untergeordneter Anliegen“, die nichts mit ihrer Stellung in Indien direkt zu tun hatten, opportunistisch handelte und es peinlichst vermied, gegen offenkundige oder auch nur vermeintliche indische Interessen und Meinungen zu entscheiden. Selbst führende indische Politiker blieben gegenüber der Judenverfolgung in Europa relativ zurückhaltend. Das hatte seinen Grund nicht in einem verborgenen Antisemitismus. Zum einen vermuteten sie während des indischen Unabhängigkeitskampfes in Juden mögliche Freunde der Briten, zum anderen aber lag auch ihnen das Problem fern und blieb deshalb politisch untergeordnet. Auch die nationalen indischen Führer verkannten den in Deutschland staatlich und ideologisch propagierten Rassismus und stellten dessen Auswüchse an Gewalt vor dem Zweiten Weltkrieg mit dem Rassismus in anderen Ländern, ja sogar im Raj, auf eine Stufe. Mahatma Gandhi, der Juden zu seinen engsten Freunden zählte, herausragend dabei Hermann Kallenbach, sah in der antisemitischen Verfolgungspolitik in Deutschland nichts anderes als die ihm aus Südafrika wie in Indien bekannte Erscheinung eines rassistischen Überlegenheitsbewusstseins der Träger staatlicher Gewalt, der man gewaltlos entgegentreten konnte, so wie er es in seinem Lande gegen eine sich überlegen dünkende Herrschaft tat. Gandhi bekannte Ende 1938, dass er, wenn er ein in Deutschland geborener Jude wäre, Deutschland als sein Heimatland beanspruchen würde. Sollte er dann des Landes verwiesen werden, so würde er sich dagegen wehren und keiner diskriminierenden Behandlung beugen. Und wenn es dazu käme, so würde er nicht darauf warten, dass seine jüdischen Glaubensgenossen sich ihm im zivilen Ungehorsam anschlössen, sondern darauf vertrauen, dass die Zögernden am Ende seinem Beispiel folgten. Dabei war dem Mahatma sehr wohl die Einmaligkeit der Vorgänge in Deutschland bewusst, wenn er seine Zeitgenossen mit den Worten aufzurütteln versuchte, dass es zur deutschen Judenverfolgung offensichtlich keine historische Parallele gebe. Frühere Tyrannen seien niemals so wahnsinnig geworden wie Hitler, der mit religiösem Eifer vorgehe. Wenn es jemals einen im Namen der Menschlichkeit und für die Menschheit gerechtfertigten Krieg geben könnte, dann würde es zur Verhinderung der mutwilligen Verfolgung einer ganzen Rasse ein Krieg gegen Deutschland sein. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Gandhi mit solcher persönlichen Entschiedenheit vorgegangen wäre. Seine Ratschläge implizierten eine Kritik an der Haltung der Juden, hatten aber nichts mit Antisemitismus zu tun. Sie entsprangen vielmehr einer idealen Hilfsbereitschaft, die aus dem Glauben an ein Menschentum erwuchs, in dem es das abgrundtief Böse unter zivilisierten Menschen nicht gab. Sprach Gandhi als Politiker mit der Überzeugung, dass Appelle an die Menschlichkeit immer und überall Erfolg haben würden, so Nehru als Politiker, der sich zwar auch das
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Schlimmste nicht vorstellen konnte, jedoch pragmatisch die Möglichkeiten einer Hilfe für Juden und einen Gewinn für ein nationales Indien abwog. Einerseits sah er die Hindernisse bei der britisch-indischen Regierung, die über die Aufnahme von Flüchtlingen in Indien entschied. Andererseits erkannte Nehru sehr wohl den Nutzen für Indien, den die Aufnahme einer begrenzten Anzahl jüdischer Flüchtlinge erbringen konnte, wie er formulierte: Es sei schon möglich, einige Experten und Spezialisten aufzunehmen; aber es sei viel schwieriger, für einige Tausend Männer und Frauen in einer abgegrenzten Kolonie oder auch anderweitig zu sorgen. Ablehnend gegenüber Bestrebungen, jüdische Flüchtlinge in Indien anzusiedeln, verhielten sich die Moslems, während sie sich ebenfalls gegen die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina sperrten. Die von Gandhi schon in den zwanziger Jahren bekundete Solidarität zu ihnen fand in den dreißiger und vierziger Jahren ihren Ausdruck in der Ablehnung eines jüdischen Staates in Palästina durch die von ihm und Nehru geführte indische Kongresspartei. Angesichts der „geschlossenen“ Opposition des nationalen indischen Lagers war die britisch-indische Regierung in jenen Jahren peinlichst darauf bedacht, kein Öl aufs Feuer innerindischer Spannungen zu gießen, indem sie den Subkontinent für jüdische Emigranten öffnete. Sie handelte im Sinne britischer Interessen in Indien, die jeglicher Störung aus dem Wege ging, die das prekäre politische Gleichgewicht auf dem Subkontinent hätte kippen können. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es in den entscheidenden dreißiger und vierziger Jahren keinen Antisemitismus in Indien gab, auch nicht bei dem 1941 nach Deutschland geflohenen Subhas Chandra Bose, der mithilfe deutscher Macht Indiens Unabhängigkeit erringen wollte. In der Frage der Aufnahme jüdischer Flüchtlinge hätten Regierung und alle politischen Parteien und Gruppen über ihren Schatten springen müssen. Jede dieser fand einen Grund für die eigene Zurückhaltung in der des anderen. Mit der Teilung und Unabhängigkeit Indiens und der Gründung des Staates Israel begann die Zeit der jüdischen Abwanderung aus Indien. Heute gibt es nur noch wenige Juden in den traditionellen Siedlungen in Cochin und an der Malabarküste. Es war ein des Anlasses würdiger Auftritt, dass der Maharajah von Cochin 1949 nach der Unabhängigkeit einen Abschiedsbesuch in der Synagoge von Cochin machte, um sich am Ende der fürstlichen Herrschaft unter den Briten ins Privatleben zurückzuziehen. Der hierbei erwähnte, mit der Kupferplatte verbürgte Schutz der jüdischen Siedler unter dem Maharajah von Cochin (früher Chera) war mit dem Ende des halb-unabhängigen Kleinstaates nunmehr zu einer nationalindischen Aufgabe geworden. Premierministerin Indira Gandhi, Tochter Nehrus, beehrte die jüdische Gemeinde in Cochin knapp zwei Jahrzehnte später denn auch mit ihrem Besuch, als das vierhundertjährige Bestehen der dortigen Synagoge festlich begangen wurde. An der Feier nahmen nur noch wenige der in Indien verbliebenen Mitglieder der jüdischen Gemeinde teil. Lediglich in den Großstädten, vor allem in Mumbai (Bombay), haben sich jüdische Gruppen erhalten, die als separate Glaubensgemeinschaften, wie viele andere auch, einen festen Bestandteil der indischen Bevölkerung bilden.
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Literatur A Collection of Treaties, Engagements and Sanads relating to India and Neighbouring Countries. Compiled by C.U. Aitchison, Vol. X, The Treaties etc. relating to Madras and the Madras States, Calcutta 1930. Anil Bhatti, Johannes H. Voigt (Hrsg.), Jewish Exile in India, New Delhi 1998. Nathan Katz, India, in: Encyclopaedia Judaica, 9(1971), S.771-776. Nathan Katz, Who are the Jews of India?, Berkeley California 2000. D.G. Tendulkar, Mahatma. Life of Mohandas Karamchand Gandhi, Bd.4 (1934-1938), Government of India, Delhi 1961². Johannes H. Voigt, Die Emigration von Juden aus Mitteleuropa nach Indien während der Verfolgung durch das NS-Regime, in: Wechselwirkungen. Jahrbuch 1991. Aus Lehre und Forschung der Universität Stuttgart, S.83-95.
Indonesien und Malaysia Indonesien und Malaysia sind Beispiele für Antisemitismus ohne Juden. Die Frage stellt sich, welche Bedeutung der Antisemitismus in Ländern hat, in denen kaum Juden leben, und wie sich dessen Einfluss auf die weitverbreiteten Vorstellungen über die Juden erklären lässt. Indonesien und Malaysia sind in Südostasien wichtige Zentren islamischer Bevölkerung und Kultur. Diese Nationen spielen eine herausragende und zunehmend wichtige Rolle für muslimisches Leben und muslimische Angelegenheiten weltweit: Heutzutage ist Malaysisch/Indonesisch in seinen verschiedenen Ausprägungen die Muttersprache einer größeren Anzahl von Muslimen als das Arabische. Die völlige Abwesenheit von Juden in Südostasien stellt eine relativ neue Entwicklung dar. Die Präsenz der aus Bagdad stammenden sephardischen Juden spielte zwischen 1800 und 1950 im regionalen sozio-ökonomischen Miteinander eine wichtige Rolle. Dieses erstreckte sich von Bombay und Cochin bis Kalkutta und Rangun, Penang und Singapur, die malaysischen Staaten und Java bis Hongkong. Lange Zeit hatten die in linguistischer und kultureller Hinsicht größtenteils arabisierten Juden in der Vorstellung der Mehrheitsbevölkerung und der Landbevölkerung auf vielleicht exotische Art den gleichen Stellenwert wie die einflussreichen Muslime der Region, besonders die arabischen Hadhrami. Die Haltung ihnen gegenüber war jedoch ambivalent: Respektiert wurden sie dafür, des Arabischen mächtig zu sein und einen arabischen Lebensstil zu pflegen, mit Abneigung betrachtet für ihre wirtschaftliche Stellung und der in der lokalen Wahrnehmung für Minderheiten typisch geltenden Neigung zu hartem Geschäftsgebaren. Es gab auch eine kleine, aber bedeutende niederländisch-jüdische Minderheit auf Java. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts wanderten die meisten Juden in Folge von Dekolonialisierung und des Aufkommens neuer Nationalismen nach Israel, Australien oder in die USA aus. Seit ihrer Abreise hat jedoch der Einfluss von hartnäckigen, politisch ausgeprägten antisemitischen Ideen in Südostasien zugenommen. Die Ursachen dafür sind komplex:
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Einerseits haben sie geopolitische Gründe, die sich aus einer unter Muslimen weitverbreiteten Anteilnahme und der Identifikation mit dem Schicksal der Palästinenser speisen. Andererseits lieferten vorwiegend übernommene Vorurteile gegenüber Juden aus jener Zeit, die eher englisch und niederländisch als arabisch geprägt war, schon lange ein vielfältiges Vokabular für Konflikte in der Region: Die lokalen politischen Meinungsträger mit ihren malaysischen bäuerlichen Wurzeln als „Bumiputra“ (Söhne der Erde, des Bodens) drückten auf diese Weise ihre tiefe Furcht und Abneigung gegenüber den eingewanderten chinesischen Gemeinden aus, die eine wichtige Rolle in der örtlichen Wirtschaft spielten. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte König Rama VI. (1910-1925) bekanntermaßen die Chinesen der Region als „Juden Asiens“ bezeichnet. Diese Bezeichnung wurde in der Folgezeit oft von anderen wiederholt. Das Ausmaß der Abneigung gegen Juden hat auch Gründe im zunehmenden Engagement der Malaysier als Muslime im weltweiten islamischen Wiederaufstieg. Muslime aus dem Nahen Osten jedoch neigen dazu, auf ihre kulturell nicht-arabischen Religionsbrüder herabzuschauen und sie als geringere oder unvollständige Muslime einzuordnen. Eine Art, ihren Anspruch auf Würde und Anerkennung durch die islamischen Staaten zu unterstreichen, besteht darin, lautstark bestimmte Ideen und Haltungen, die vorherrschend, vielleicht sogar zwingend in der arabischen Welt sind, zu bestätigen, und ihnen gemäß zu handeln. Abneigung gegen Juden dient dem Zweck, die „Angst der muslimische Anerkennung“, das Stigma der Marginalität zu überwinden. Die Abwesenheit von Juden im gegenwärtigen Südostasien macht es möglich, dass „der Jude“ als eine leere Leinwand dient, auf die alle Arten von Ängsten, Vorstellungen und Abneigungen projiziert werden können. Ebenso macht diese Abwesenheit es möglich, dass derlei Vorurteile ohne sofortige praktische Konsequenzen oder lokale politische Auswirkungen ausgelebt werden können. Wie auch immer ihre historischen Verdienste in Bezug auf Krieg, Frieden und Gerechtigkeit im Nahen Osten sein mögen, muss man die Vehemenz, mit der politische Führungspersönlichkeiten wie der langjährige malaysische Premierminister Mahatir Mohamad so bösartige Ansichten über Juden, ihren „Charakter“ und „jüdischen Verrat“ verbreiteten, im Lichte politischer Bemühung betrachten: Als Versuch, sowohl lokale Ängste zu bedienen als auch eine internationale islamische politische Zuhörerschaft – dies in der Hoffnung auf verstärkte Anerkennung als Muslime mit unbestechlichem Urteil zu erhalten. Die Zustimmungsbekundungen zu Vorurteilen gegenüber angeblich den Juden eigener „Verschlagenheit“ und „Verrätertum“ sind Teil eines großen Repertoires negativer Zuschreibungen, die zur Anerkennung verhelfen sollen. Ein Lesebuch, das früher im Religionsunterricht sowie in Heimat- und Sachkunde der Grundschulen Malaysias weit verbreitet war, trug den Titel „Dusta Yahudi“ (Jüdischer Verrat). Eine große Anzahl von Büchern und Pamphleten mit skandalös antisemitischem Ton wird weiterhin in Malaysia veröffentlicht, nicht nur von kleinen Verlegern mit radikal-religiöser Einstellung, sondern auch von großen Verlagsunternehmen der Regierung oder von Universitäten. Manche sind englischsprachige Versionen und malaysische Übersetzungen von Werken aus dem Nahen Osten, andere sind Veröffentlichungen regionaler Autoren. Erstere umfassen Werke mit Titeln wie „Jewish Conspiracy and the Muslim World“, „Jenayah Yahudi Terhadap Dunia Islam“ (Jüdische Verbrechen gegen die islamische Welt), „A History of Je-
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wish Crimes“, „Impian Yahudi dan Kehancurannya Menurut al-Qur’an“ (Jüdische Verschwörungen und ihr Niedergang nach dem Koran). Von lokalen Herausgebern stammen Werke mit wissenschaftlichen Behauptungen wie in „Konsep dan Kedudukan Bangsa Pilihan menurut Agama Islam dan Agama Yahudi” (Begriff und Status des ,auserwählten Volkes’ im Islam und im Judentum). Ein ähnliches Werk wurde von Dr. Abdul Hamid Othman veröffentlicht, der später unter Mahatir Minister für religiöse Angelegenheiten wurde. Buchübersetzungen ultra-rechter Ideologen aus den USA wie „Der Griff der Juden nach der Welt“ von William G. Carr erscheinen ebenfalls. Die Arbeiten von Ideologen wie Michael Collins Piper („The New Jerusalem“ und „The High Priests of War“) haben ihr malaysisches Gegenstück in zwei Bestsellerbänden gefunden, die vom ehemaligen Staatssekretär von Mahatir, Matthias Chang herausgegeben wurden: „Future Fast Forward: The Zionist Anglo-American Empire Meltdown—Featuring the Zionist Anglo-American War Cabal’s Global Agenda” (2005) und „Brainwashed for War, Programmed to Kill” (2005). In einer sehr aufwendigen, einbändigen Ausgabe sind 2002 alle vier Originalbände Henry Fords „The International Jew“ herausgegeben worden. Freiexemplare dieses Werkes wurden an alle Delegationsmitglieder großer islamischer internationaler Konferenzen, die von der malaysischen Regierung organisiert wurden, verteilt. Bei seinem letzten großen öffentlichen Auftritt auf dem Vorbereitungstreffen für die Islamische Konferenz in der Nähe von Kuala Lumpur 2003 attackierte der scheidende Premierminister Mahatir einmal wieder „die internationale Macht der Juden im Finanzsektor und in den Medien“. Diese weitverbreiteten antisemitischen Äußerungen vom Schlage der „polit-ökonomischen Verschwörung“ in Malaysia und Indonesien ruhen auf viel profunderen traditionellen und religiösen Grundfesten und beziehen daraus ihre Glaubwürdigkeit. Praktisch jedes malaysische Schulkind, das die Grundlagen der Religion gelernt hat, „weiß“, dass nach dem Koran die Juden wegen ihrer Ungläubigkeit und ihres Ungehorsams Gott gegenüber „in Affen und Schweine verwandelt“ wurden. Ebenso kennen sie das „Hadith“ (eine dem Propheten Mohammed zugesprochene Erzählung), da Imame in ihren Predigten und Religionsexperten in ihren Kolumnen in der regierungstreuen Presse immer wieder darauf Bezug nehmen. Demzufolge werden am Jüngsten Tag, wenn die Juden versuchen, sich vor der göttlichen Strafe zu verbergen, die Bäume und Steine, hinter denen die Juden Schutz suchen, den muslimischen Gottesdienern zurufen „Da versteckt sich ein Jude, komm und töte ihn!“. Die Gebildeten kennen die Sure aus dem Koran (al-Jumu’ah 62:5), die besagt, dass die Juden die göttliche Offenbarung und die Gesetze, die Gott ihnen gegeben hat, so tragen wie ein Esel einen Stapel von Büchern trägt, ohne ihre Bedeutung und ihren Wert zu schätzen, sondern sie nur als Last betrachtend. Diese textbasierten und letztlich religiösen Haltungen spiegeln die „unverhohlen verdrängende Sicht“ des Islam auf sich selbst als die endgültige, vollständige, vollkommene und von Menschenhand unkorrumpierte Verwirklichung des Monotheismus als einer ethisch-prophetischen Offenbarung, die zuerst Abraham gewährt wurde. In früheren Zeiten mögen Judentum und Christentum eine gewisse religiöse Authentizität und historische Gültigkeit gehabt haben. Von dem Augenblick an jedoch, in dem der Prophet Mohammed die endgültige und vollständige Offenbarung erhielt und seine unveränderte historische Überlieferung sicherstellte, verloren diese früheren Formen des Glaubens Ab-
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rahams ihre vorherige Legitimation. Sie sind nur noch Überreste. Was einmal von Wert in Judentum und Christentum gewesen sein mag, lebt nun, so die Behauptung, perfektioniert und geschützt im Islam fort. Was von früheren sich auf Abraham berufenden Offenbarungen verblieb, ist lediglich eine leere, verbrauchte Hülle. Wie die Konsequenzen dieser Sichtweise in den Beziehungen zum Christentum nach langen Jahrhunderten kultureller Konkurrenz zwischen Christentum und Islam zum Tragen kommen, ist eine andere Sache. Im Falle von Juden und Judentum war die Richtung klar, in die sich die Einstellung ihnen gegenüber entwickelt hat. Im Zeitalter des Aufstiegs der islamischen Kultur stellten Juden und Judentum niemals eine politische Herausforderung dar. Juden waren eine geschlossene, untergeordnete, „geschützte Gemeinde“ (dhimmi). Für die islamische Kultur und ihre maßgeblichen Vordenker stellte das Judentum nicht eine politische Einheit oder Kategorie dar, sondern lediglich ein religiöses Phänomen, ein altertümliches, bereits überkommenes Relikt der Religionsgeschichte. Jenseits von ihren rein religiösen Inhalten sind die historischen und politischen Folgerungen dieser Haltung bedeutsam. Sie schließen ein, dass Juden als Mitglieder einer antiken Glaubensgemeinschaft keine andere Grundlage haben, sich als Juden zu verhalten, denn an ihrem alten, göttlich gegebenen, wenn auch fehlerhaften Glauben festzuhalten. Diese Doktrin lässt Juden keinen Spielraum, als Juden in historisch oder politisch modernem Verständnis zu handeln, die jüdische Identität in den politischen Begriffen des modernen Nationalismus neu zu denken oder dies zu versuchen, wie es die zionistische Bewegung für die europäischen Juden im Zeitalter des europäischen Nationalismus getan hatte. Jeglicher derartiger Versuch wäre gotteslästerlich. Es würde nicht nur den religiösen Rahmen des Islam übersteigen, sondern auch die Bedingungen des kulturellen Selbstverständnisses seiner Wurzeln und der Vorgänger Abrahams. Dies hat zwei wichtige grundsätzliche Folgen: Erstens, selbst, wenn die israelisch-palästinensische Pattsituation gelöst werden könnte, oder besser noch bewältigt oder in Freundschaft umgekehrt werden könnte, würde das historische und politische Verständnis des Islams immer noch vor der Herausforderung stehen, die Tatsache bewältigen zu müssen, dass Juden vielleicht Handlung übernehmen würden. Dass sie sich als fähig erweisen, historisch zu handeln, jenseits dessen, was die Religion und die auf Religion gründenden Gedanken des konventionellen Islams ihnen gestatten. Zweitens können jene, die in den konventionelleren Formen des islamischen historischen Verständnisses eingeschlossen sind, Zionismus niemals als etwas anderes als eine geheime, verbotene Weltverschwörung, als ein Projekt politischer Manipulation, gerichtet auf eine satanische Beherrschung der Welt sehen. Sie können den Zionismus nicht einfach als die jüdische Variante einer allgemeinen Tendenz ethnisch-religiöser Gruppen sehen, sich neu zu erfinden und neu zu definieren in nationalpolitischen Begriffen in einer Zeit des modernen Nationalismus. Daher scheint es zweifelhaft, ob selbst eine endgültige Lösung aller Nahostkonflikte ein Ende der Beliebtheit von weitertradierten Phantasmen wie den „Protokollen der Weisen von Zion“ bedeuten würde. Auch die Bekenntnisse dazu und der Rückhalt durch Politiker und ihre religiösen Berater für diese populistischen Parolen würden nicht verschwinden.
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Es reicht nicht aus, israelkritische Haltungen als Beweis für Antisemitismus in der malaysischen Region zu zitieren. Dennoch sind die Tiefe und die Resonanz gegenwärtiger oder zukünftiger antiisraelischer Haltungen untrennbar verbunden mit bestimmten weitverbreiteten und letztlich auf Religion basierenden Ansichten über den Islam, seinen Platz in der Welt und der Geschichte der Menschheit, an der viele Muslime festhalten. Diese Ansichten bringen Einstellungen und Empfindungen gegenüber Juden mit sich, die so lähmend auf moderne Muslime wie beleidigend für viele Juden sind, aber es sind Einstellungen, die die meisten Muslime als wesentlichen Inhalt ihrer heiligen Traditionen und deren Quellen sehen. Der überall vorhandene, aber weithin nicht anerkannte (und sogar vehement geleugnete) Antisemitismus vieler südostasiatischen Muslime, die über keine persönlichen Kenntnisse oder Bekanntschaften mit Juden verfügen, beweist diese traurige und schwierige Tatsache.
Clive S. Kessler Übersetzt aus dem Englischen von Regina Schulz
Literatur Joan Bider, The Jews of Singapore, Singapore 2007. Jeffrey Hadler, Translations of Antisemitism: Jews, the Chinese, and Violence in Colonial and Post-Colonial Indonesia, in: Indonesia and the Malay World 32, November 2004, S.291–313. Michael Leifer, Anti-Semitism Without Jews: The Malaysian Example, in: Chin Kin Wah, Leo Suryadinata (Hrsg.), Michael Leifer: Selected Works on Southeast Asia, Singapore 2005, S.467–471. Clive S. Kessler, A Malay Diaspora? Another Side of Dr. Mahathir’s Jewish Problem, in: Patterns of Prejudice, 33(1999), S.23-42. Uri Rubin, Between Bible and Qur’an: The Children of Israel and the Islamic Self-Image, Princeton, NJ 1999. Moshe Yegar, Malaysia: Anti-Semitism without Jews, in: Jewish Political Studies Review, 18(2006), 3-4, S.81-98.
Irak Der vermutlich erste Ausdruck des modernen Antisemitismus im späteren Irak war ein Schauspiel, das an der Katholischen Schule in Mosul in den späten 1880er Jahren aufgeführt wurde. Das Schauspiel enthielt Szenen, in denen Topoi des klassischen europäischen Antisemitismus mit orientalischen Zusätzen vermengt waren. Es stellte die Juden als Verräter dar, die im Jahre 539 v.Chr. der persischen Armee das Tor zum chaldäischen Babylon öffneten, und zwar aus Hass auf Babylon, das sie aus Jerusalem verbannt hatte. Die Juden wurden als feige, verräterische und minderwertige Kreaturen dargestellt. Das gleiche Grundthema erschien immer wieder in der Literatur des monarchistischen Irak und im Irak unter der Herrschaft der Baath-Partei. Irakische Stückeschreiber und Romanautoren haben sich, manchmal im Dienste des Regimes, dieses Themas bedient.
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Obwohl die meisten irakischen Juden keine Zionisten waren, waren viele irakische Intellektuelle und Regierungsbeamte außerstande oder nicht bereit, zwischen Juden und Zionisten zu differenzieren. Die Öffentlichkeit tat es ihnen gleich. Seit den 1920er Jahren machten sich alle irakischen Regime – bis auf die von Bakr-Sidqi (1936-1937) und Abd Al-Karim Qasim (1958-1963) – eine Themenkombination zu eigen, bestehend aus starker ideologischer Bindung an den Pan-Arabismus und daraus resultierender extremer Feindseligkeit gegenüber Zionismus und Juden, gemischt mit einer Prise antipersischer Paranoia. Die Kollaboration des Königs Kyros mit den exilierten Juden in Babylon, die des persischen Schahs mit Israel, und sogar die des Ayatollah Ruhalla Khomeini mit Israel wurde in einer Formenvielfalt zu einem immer wiederkehrenden Thema. Antisemitismus wurde jedoch erst in den 1930er Jahren zu einer starken sozio-politischen Kraft im irakischen Nationalstaat. Unter König Faysal I. (1921-1933) gab es nur wenige antisemitische Erscheinungsformen. Dies war höchstwahrscheinlich Ergebnis dreier Faktoren: Erstens war der König gegenüber seinen jüdischen Untertanen freundlich eingestellt. Zweitens musste er britische Befindlichkeiten berücksichtigen. Und drittens ist die irakische gebildete Mittel- und untere gesellschaftliche Schicht (Effendiyya), die im Bildungssystem der antisemitischen Generaldirektoren Sati al-Husri und Sami Shawkat ihren akademischen Abschluss erlangte, erst in den 1930er Jahren zu einer Kraft geworden, die sich der Thematik annehmen sollte. Tatsächlich verliehen die 1930er Jahre – genauer genommen der Aufstieg des nationalsozialistischen Deutschland zur Weltbekanntheit und die Verbreitung des nationalsozialistischen Antisemitismus – der irakischen Politik einen neuen Beigeschmack. Viele in der irakischen Bildungsschicht nahmen ihn mit Begeisterung auf, mit der aktiven Ermutigung durch deutsche Diplomaten und Archäologen, Mitglieder der nationalsozialistischen Partei, die sich zu dieser Zeit im Irak aufhielten. Der prominenteste unter ihnen war Dr. Fritz Grobba, ranghoher Diplomat in Bagdad. Sein Erfolg war tatsächlich so groß, dass sich 1937 die Frau des haschemitischen Prinzen Zayd (Iraks Oberster Diplomat in Berlin) beim Berliner Gauleiter darüber beschwerte, dass Dr. Grobba kein überzeugter Nationalsozialist sei. In ihrem – zweifellos durch ihren Mann inspirierten – Brief berichtete sie, dass sich Grobba und andere Nationalsozialisten mit emigrierten deutschjüdischen Ärzten, irakisch-jüdischen Kaufleuten sowie amerikanisch-jüdischen Archäologen trafen. Grobba entschuldigte sich und erklärte, dass die emigrierten Juden die einzig kompetenten Ärzte im Irak waren. Anscheinend mussten selbst gute Nazis jüdische Ärzte aufsuchen um zu genesen, ein kleines Opfer im Dienste Hitlers. Am 1. und 2. Juni 1941, nach der Niederlage der antibritischen und pro-nationalsozialistischen Revolte unter Rashid Ali al-Gaylani, brach ein Pogrom unglaublichen Ausmaßes aus, von muslimischen Massen gegen ihre jüdischen Nachbarn in Bagdad ausgeführt. Viele Juden wurden umgebracht und ein großer Teil jüdischen Eigentums wurde geplündert. Dies war vermutlich der wichtigste Grund für den Massenexodus von ungefähr 125.000 irakischen Juden in den Jahren 1950-1951. Unter Abd al-Karim Qasim (1958-1963) war es den verbliebenen Juden erlaubt, wieder zu prosperieren und es gab keine Anzeichen von Diskriminierung, aber unter der Militärregierung der Brüder Abd al-Salam und Abd al-Rahman-Arif (1963-1968) war der Antisemitismus wieder auf dem Vormarsch, besonders nach der arabischen Niederlage
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im Sechs-Tage-Krieg. Judenfeindschaft war überall sichtbar, in der Presse und den Medien sowie in den neu eingeführten harschen antijüdischen Gesetzen und Vorschriften. In jeglicher praktischer Hinsicht wurden Juden von wirtschaftlichen Aktivitäten ausgeschlossen. Die irakischen Juden saßen in der Falle, da es für die meisten unmöglich war, ihr Eigentum zu verkaufen und das Land zu verlassen. Nachdem die Baath-Partei im Juli 1968 an die Macht gelangt war, bestand ihr erster politischer Akt in der Erhängung von dreizehn jungen jüdischen Männern auf dem Tahrir-Platz (Befreiungsplatz) in Bagdad. Die Massen kamen, um sich die hängenden Körper anzusehen, zu feiern und zu gaffen. Viele Jahre später begründete der Außenminister Tarik Aziz diese öffentliche Exekution auf zynische Weise als einen „Akt der Staatsraison“: Das Regime musste beweisen, dass es keine amerikanische Marionette war, und die beste Art dies zu tun lag darin, Juden zu erhängen. Die Baath-Partei brachte die antisemitische Propaganda zu ihrem Höhepunkt. In ihren Medien erschienen Juden regelmäßig als verachtenswerte, feige, im „Stürmer“-Stil dargestellte hässliche und habgierige Wesen. Dies war zweifelsohne ein europäisches Erbe. Ein anderes Erbe stellten die als authentisch bezeichneten „Protokolle der Weisen von Zion“ dar, die angeblich begründen würden, dass die Juden die geheime Absicht hätten, die Welt zu beherrschen oder gar zu zerstören. Juden wurden auch des Ritualmordes beschuldigt, da sie angeblich Menschenblut zur Zubereitung ihrer „Matze“ zum Pessachfest und für ihren Wein benötigten. Wenn über den Holocaust diskutiert wurde, bewegten sich die „Intellektuellen“ der Baath-Partei zwischen Holocaustleugnung und Rechtfertigung des Genozids. Einige wollten in der Tora angebliche Anzeichen dafür erkannt haben, dass die Kinder Israels an die Rechtmäßigkeit von Mord glaubten. Andere wiederum behaupteten, dass die Juden AIDS und andere furchtbare Krankheiten unter den Arabern verbreiten würden. Während der 1990er Jahre fügte das Regime diesem Bild noch Zutaten aus der islamischen Tradition hinzu, indem sie die Juden als Nachkommen von Schweinen und Affen darstellte und aus dem „Hadith“ zitierte, in dem die Muslime zum Mord an Juden aufgefordert werden. Zweifellos stellte das Baath-Regime (1968-2003) die Spitze der hasserfüllten antisemitischen Tradition im Irak dar. Saddam Hussein selber war vermutlich kein Antisemit (als seine Mutter mit ihm schwanger war, wurde ihr Leben durch eine jüdische Familie gerettet, und das wusste er). In einer Rede beim arabischen Gipfel in Bagdad 1990 kritisierte er großmütig den Aufruf Mu’ammar Ghaddafis, alle Juden Israels zu töten. Stattdessen schlug er vor, dass „die arabische Nation den Juden helfen und ihnen Zuflucht und Gastfreundschaft gewähren kann, sofern sie ihre zionistischen Pläne aufgeben“. Aber sein Regime benötigte ein verlässliches Hassobjekt, das die ungleichen und gelegentlich kriegführenden ethnischen und sektiererischen Gruppen vereinigen würde. Sogar Mitte der 1990er Jahre, als nur noch etwa 300 Juden im Irak lebten, und obwohl sie unter keiner offiziellen Verfolgung litten, war die antijüdische Hasspropaganda immer noch weit verbreitet, weil der Hass auf einen gemeinsamen teuflischen Feind als effektives Mittel betrachtet wurde, um die Minderheitenherrschaft des Baath-Regimes zu legitimieren. Der Hass auf den Iran, obwohl vorhanden, konnte schlecht denselben Zweck erfüllen: Nach wie vor waren 50 Prozent der irakischen Bevölkerung Schiiten,
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die trotz des Kriegs von 1980-1988 im schiitischen Iran immer noch einen potentiellen Verbündeten sahen. Mit der Niederschlagung des Baath-Regimes durch die alliierte Invasion vom März 2003 änderte sich die politische Landschaft drastisch, aber Antisemitismus blieb eine vorherrschende Kraft. Nach 80 Jahren heftiger anti-jüdischer Propaganda, einschließlich 35 Jahre hasserfüllten Antisemitismus‘ der Baath-Partei, konnte dieser nicht spurlos verschwinden. Zudem hinterließ die heftige anti-israelische Propaganda, vermengt mit einigen vom Regime der Ayatollahs in Teheran übernommenen antisemitischen Zusätzen, einen starken Eindruck sowohl bei den schiitischen Geistlichen als auch bei ihrem Fußvolk. Die sunnitischen Radikalen benötigten keine iranische Inspiration. Obwohl sachlich betrachtet, Juden (oder Israel) völlig irrelevant im sunnitisch-schiitischen Machtkampf im neuen Irak waren, setzten populistische Führer auf beiden Seiten die Tradition Saddam Husseins und Khomeinis fort, ihre Rivalen zu beschuldigen, den amerikanischen, israelischen und jüdischen Interessen zu dienen. Sie glaubten, dass dies ihrer sektiererischen Propaganda zusätzliche Gewichtung verleihen und sie mit breiterer Unterstützung ausstatten würde. Wie es häufig der Fall ist, war Hass mit der Furcht vor dem dämonischen Juden gemischt. Bald nach dem Sturz der Baath-Partei warnten die obersten schiitischen Kleriker, wie die Ayatollahs Ali al-Sistani (ein moderater Vertreter) und Kazim al-Hairi (ein Radikaler), ihre Scharen davor, Besitz an Juden zu verkaufen, die versuchen würden, den Irak aufzukaufen. Diesen Aufruf wiederholte Sistani jedoch nicht noch einmal, und als er den israelischen Überfall auf Kana im Südlibanon vom Juli 2006 verurteilte, sprach er bei der Beschreibung der Täter vorsichtig von „Israelis“ und nicht von „Juden“. Der junge extremistische Schiitenmullah Muqtada al-Sadr, Gründer der Mahdi-Miliz und Anführer der populären sadristischen Bewegung, beschuldigte die Juden der Kollaboration mit den radikalen sunnitischen Islamisten und der al-Qaida gegen die Schiiten und der Planung des „Vordringens in die arabische Halbinsel, Syrien und Irak“. In seinem Kampf gegen den irakischen Regierungsrat beschuldigte er diesen, „den Irak an die Juden zu verkaufen“. Manchmal dienten die Juden einem erzieherischen Zweck. Einer von Muqtadas Leutnants beschrieb mit Bewunderung die Art, wie Juden einander halfen. Dann fragte er: „Und was ist mit uns? Wir sind die Söhne eines Volkes, Araber, Kurden und Turkmenen, Muslime und Christen. Wann werden wir uns zusammenschließen, um eine starke Festung zur Abwehr der jüdisch-israelischen Gefahr zu bilden, die auf uns zukommt?“ Trotz allem haben die irakischen Regierungen nie irgendeine antijüdische Meinung geäußert, und dasselbe galt für eine Reihe politischer Parteien: die Kommunisten, die kurdischen Parteien, und die säkularen nicht-sektiererischen Parteien. Es darf demnach zusammengefasst werden, dass im neuen Irak die antisemitischen Verfechter hauptsächlich die radikaleren islamischen Fundamentalisten sind, ob Sunniten oder Schiiten. Die Schwierigkeit liegt darin, dass sich die radikalen Islamisten seit 2003 großer Beliebtheit im Irak erfreuen.
Amatzia Baram Übersetzt aus dem Englischen von Regina Schulz
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Literatur Amatzia Baram, Der moderne Irak, die Baath Partei und der Antisemitismus, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 12(2003), S.99-120. Samir al-Khalil [Kanan Makiyah], Republic of Fear, London 1989. Nissim Qazzaz, Ha-Yehudim be Iraq ba Me'ah ha-Esrim [The Jews of Iraq in the 20th Century], Jerusalem 1991. Reeva S. Simon, Iraq between the Two World Wars, New York 1986.
Iran Es gehört zu den vielen Widersprüchen und Paradoxien der iranischen Revolution von 1978/79, dass die aus ihr hervorgegangene Islamische Republik Iran zwar einerseits zu den radikalsten Gegnern Israels zählt, andererseits aber die größte jüdische Gemeinde aller Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens beherbergt. Während die jüdischen Minderheiten in ? Syrien, ? Irak, ? Ägypten, Jemen, ? Marokko oder ? Algerien de facto verschwanden, leben gegenwärtig im Iran 25.000 Juden. Die Mehrheit (10.000) hat ihren Wohnsitz in Teheran, die übrigen verteilen sich auf städtische Zentren wie Isfahan, Schiraz, Hamedan und Yazd. Der relativ große jüdische Bevölkerungsanteil erklärt sich – zumindest teilweise – aus der Kontinuität jüdischer Geschichte im Iran (bis 1935 Persien), die knapp 2.800 Jahre zurückreicht.
Historischer Rückblick Als Vergeltung für Aufstände deportierten die assyrischen Könige Tiglatpileser III. und Sargon II. zwischen 730 und 720 v.Chr. Tausende Juden nach Ekbatana (heute Hamedan) und Susa in Südwestpersien; sie gelten in der biblischen Überlieferung als die „Zehn verlorenen Stämme Israels“. 587/86 v.Chr. zerstörten die Assyrer Salomos „ersten Tempel“ in Jerusalem und führten Zehntausende Juden in die „babylonische Gefangenschaft“. Aus dieser befreite sie 539 v.Chr. Kyros der Große, der Stammvater der Achämenidendynastie und Begründer des Persischen Reiches. Kyros stellte den Befreiten frei, nach Jerusalem zurückzukehren und ihren Tempel wieder aufzubauen, oder sich in seinem Reich auf Dauer anzusiedeln. Viele nahmen das Angebot an und kehrten damit dem Berg Zion den Rücken. Zumindest unter den Achämeniden sollten sie ihre Wahl nicht bereuen, denn Kultgegenstände und Artefakte aus Persepolis, Susa und Hamedan belegen, dass die Juden gleiche Rechte wie andere Untertanen der persischen Herrscher, einschließlich Religionsfreiheit genossen. Mit der arabischen Eroberung des Sassanidenreiches 642 hielt der Islam in Persien Einzug. Als Angehörige einer „Buchreligion“ (ahl al-kitab) erhielten die Juden – wie auch die Christen und Zoroastrier – den Status von „Schutzbefohlenen“ (dhimmi). In den folgenden Jahrhunderten hing die Lage der Juden stark von den jeweiligen Herrschern ab. Unter den schiitischen Safaviden (ab 1501) und Kadscharen (ab 1794) trat generell eine Verschlechterung ihrer Situation ein. Der schiitische Klerus verbreitete die Lehre von der „rituellen Verunreinigung“ (najis) des Glaubens durch Nichtmuslime, zu
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denen neben Christen, Juden und Zoroastriern selbst Sunniten zählten. Das Klischee des „unreinen Juden“ fand Eingang in die iranische Folklore, sogar Nationaldichter wie Rumi, Nizami und Sa‘di nutzten Juden als Stereotyp, um negative Charaktereigenschaften zu beschreiben. Jüdische Chroniken aus dieser Zeit beschreiben zahlreiche Massaker, Misshandlungen und Zwangskonversionen. Bisweilen mussten Juden ein gelbes Abzeichen und eine spezielle Kopfbedeckung tragen, ihr Eid wurde vor Gericht nicht mehr anerkannt. Auf Vergehen Einzelner folgte die kollektive Bestrafung der gesamten Gemeinde. Per Dekret rückten Konvertierten an die Spitze der jüdischen Gemeinden, sie waren für die Entrichtung der Kopfsteuer verantwortlich. Konvertiten erhielten andererseits aber das gesamte Familieneigentum zugesprochen, was ihre Zahl spürbar anwachsen ließ. Die Einschränkung der Kontaktmöglichkeiten mit Nichtmuslimen führte zu einer weitgehenden Ghettoisierung. Innerhalb der Ghettos konnte sich jedoch weiterhin soziales Leben entfalten. Im 19. Jahrhundert existierten besonders in städtischen Ballungszentren wie Teheran, Schiraz, Hamedan und Isfahan große jüdische Gemeinden, die in ihrer Mehrheit jedoch arm waren. Nur wenige Juden brachten es zu Wohlstand, etwa als Silber- und Goldschmiede oder als Geldverleiher, eine Tätigkeit, die Muslimen offiziell verschlossen blieb. Diese Ausnahmen wurden allerdings entweder immer wieder als Anlass für Pogrome genommen – erst europäische Intervention zwang Mohammad Schah Kadschar 1839 zur Rücknahme der Zwangskonversion der gesamten jüdischen Bevölkerung Mashhads – oder für die Verstärkung antijüdischer Klischees benutzt. Die nationalistische Literatur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts beschrieb Juden fast durchweg als „hässlich“, „gierig“ und „feige“. Die antiarabischen und de facto auch antisemitischen Äußerungen in den Schriften Mirza Agha Khan Kermanis, Sadeq Hedayats und Sadeq Chubaks beeinflussten das Bild des Juden auch in gebildeten Kreisen. Die konstitutionelle Revolution von 1905 bis 1911 bot den iranischen Juden seit langem erstmals die Gelegenheit, ihrem Image und ihrer passiven Rolle zu entkommen. Gemeinsam mit Christen, Bahais und Zoroastriern kämpften sie für die Errichtung eines Nationalparlaments anstelle eines islamischen Konsultativrates. Auch wenn die verabschiedete Verfassung Juden letztlich von Regierungsämtern ausschloss, sicherten sie sich doch eine Vertretung im Parlament, die zivilrechtliche Gleichstellung mit Muslimen, die Aufhebung des Ghettogebots und die Verabschiedung eines neuen Konzepts von Nationalität, das nicht auf dem Glaubensbekenntnis basierte. Auch wenn diese Erfolge keinen Bestand hatten, trugen sie doch erheblich zum Selbstwertgefühl der iranischen Juden bei.
Die Pahlavi-Herrschaft Nachdem Reza Khan 1925 den Pfauenthron bestiegen und die Pahlavi-Dynastie begründet hatte, begann er eine forcierte Säkularisierung Irans nach dem Muster Kemal Atatürks. Im Zentrum seines Staatsverständnisses stand eine imaginierte „iranische Nation“, in der konfessionelle und Stammesunterschiede in den Hintergrund rücken sollten. Reza Pahlavi hob das „Reinheits“-Gebot (najis) auf, setzte die 1907 erkämpfte juristische Gleichstellung sowie die Parlamentsvertretung von Juden wieder in Kraft und verbeugte sich bei einem Besuch der jüdischen Gemeinde in Isfahan sogar vor der Thora. Die deut-
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liche Verbesserung der jüdischen Lebensbedingungen im Iran hielt allerdings nur ein knappes Jahrzehnt. Der von Reza Schah geförderte Nationalismus schlug in dem Maße in Rassismus um, wie er seine Sympathien für den deutschen Nationalsozialismus entdeckte. Die frühere Diskriminierung der Juden aus Glaubensgründen wurde nun sukzessive durch Antisemitismus bei gleichzeitiger Idealisierung der „arischen“ Perser ersetzt. Antisemitische Artikel und Angriffe gegen die einheimischen Juden häuften sich in der iranischen Presse. In immer größerer Zahl wurden sie aus staatlichen Stellen entfernt, in den späten 1930er Jahren kam es sogar zu Massenvertreibungen, insbesondere aus Grenzregionen wie Khuzestan. Zu dieser Entwicklung passte auch die Weigerung Reza Schahs, jüdischen Emigranten aus Deutschland Asyl zu gewähren, wenn es sich nicht um gefragte Spezialisten handelte. Letztlich wurde Reza Schah seine nazifreundliche Haltung zum Verhängnis. Nach der britischen, sowjetischen und US-amerikanischen Besetzung Irans musste er am 16. September 1941 zugunsten seines Sohnes Mohammed Reza auf den Thron verzichten. Jetzt entwickelte sich Iran zu einem wichtigen Anlaufpunkt für verfolgte europäische Juden. Mit dem Argument, dass iranische Juden seit mehr als zweitausend Jahren in Persien leben, assimiliert und damit Teil der persischen Nation seien, überzeugten iranische Diplomaten Nazibehörden, von der Verfolgung iranischer Juden in Europa abzusehen. Mit dieser Begründung stellten diplomatische Vertretungen Irans auch Tausenden nichtiranischer Juden Visa aus, mit denen sie dem Holocaust entkamen. 1942 eröffnete die „Jewish Agency“ ein Büro in Teheran, über das die Weiterreise zahlreicher jüdischer Flüchtlinge aus Polen und der Sowjetunion nach Palästina organisiert wurde. Nach der Gründung Israels und der arabischen Niederlage im 1. Nahostkrieg entwickelte sich Iran zwischen 1948 und 1950 zum sicheren Fluchtkorridor für Tausende irakischer Juden nach Israel, wobei einige Hundert im Iran blieben. Zur gleichen Zeit organisierte die iranische Geistlichkeit aber auch Demonstrationen gegen den UNO-Teilungsplan für Palästina und die Gründung Israels. Die wachsende Pogromstimmung einerseits sowie die nunmehrige Existenz eines „sicheren Hafens“ im Westen andererseits veranlasste zwischen 1948 und 1953 etwa ein Drittel der 150.000 iranischen Juden, nach Israel auszuwandern. Das Beharrungsvermögen der Mehrheit sollte sich allerdings – zumindest partiell – auszahlen. Nach 1953, als er seinen Thron mit massiver amerikanischer Hilfe zurückerhalten hatte, vertiefte der zweite Pahlavi-Schah, Mohammad Reza, seine strategische Bindung an die USA. Das wirkte sich positiv für die Juden im Iran aus. Seine Kampagne gegen das „geistige Dunkelmännertum“ des schiitischen Klerus’, den er – zurecht – in Gegnerschaft zu seinem „nationalen Projekt“ wähnte, schuf den religiösen Minderheiten beträchtliche Freiräume. Viele Juden gründeten Wirtschaftsunternehmen oder wurden Staatsangestellte. Auch die Zahl ihrer Organisationen nahm zu. Nach dem 1938 gegründeten „Jüdischen Jugendverein Irans“ (Kanun-e Jawanan-e Yahud) und dem 1947 ins Leben gerufenen „Jüdischen Frauenverband“ (Sazeman-e Banowan-e Yahud-e Iran) entstanden in den 1950er Jahren weitere Stände- und Berufsverbände. 1957 wurde mit dem „Rat der iranischen jüdischen Gemeinde“ (Anjoman-e Kaliman-e Iran) ein Dachverband aller jüdischen Organisationen des Landes geschaffen, der die jüdischen Bürger auch gegenüber der Regierung vertrat. Der Rat koordinierte bzw. unterhielt jüdische Schulen,
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Friedhöfe, ein Krankenhaus (Koresh), Immobilien und verwaltete den Besitz emigrierter Glaubensbrüder. Unter diesen Umständen gelang vielen iranischen Juden der materielle und soziale Aufstieg, patriotisches Verhalten fiel ihnen nicht schwer. Obwohl Mohammad Reza Schah israelische „Abwerbungsversuche“ nicht unterband, emigrierten während seiner Herrschaft nur sehr wenige Juden nach Israel.
Kooperation mit Israel Schon 1950 hatte der Schah Israel faktisch anerkannt und diplomatische Vertreter ausgetauscht. Die offizielle Anerkennung erfolgte am 23. Juli 1960. Damit waren Voraussetzungen für eine intensivere Kooperation geschaffen. Iran kaufte israelische Waffen, israelisches Kapital floss in den öffentlichen wie in den privaten Wirtschaftssektor Irans, insbesondere in die Erdölindustrie, den Bausektor, die Landwirtschaft und den Großhandel. Israelische Firmen operierten im Iran, El Al nahm den regulären Flugverkehr nach Teheran auf. Iranische Studenten besuchten israelische Universitäten, israelische Experten stellten ihrerseits wissenschaftlich-technisches Know-how bereit, einige engagierten sich – von offizieller Seite meist verschwiegen – als Militärberater und Instrukteure für den Geheimdienst SAVAK. Die Kooperation in diesem Bereich fußte im Wesentlichen auf gemeinsamen Interessen bei der Eindämmung bzw. Bekämpfung nationalistischer arabischer Regimes. Während der Schah den stetigen Fluss israelischer Waffen und Aufklärung schätzte, betrachteten die Israelis Iran als wichtigsten Pfeiler ihrer „Peripheriepolitik“, d.h. der Schaffung von Sicherheitspartnerschaften mit nichtarabischen bzw. nichtmuslimischen Kräften in Nahost, wie der Türkei, Äthiopien und den libanesischen Christen. An dieser Kooperation entzündete sich das eigentliche politische Wirken des späteren Revolutionsführers Ayatollah Khomeini. Unüberhörbar warf er dem Schah im Frühjahr 1963 nicht nur die Unterdrückung der iranischen Muslime, sondern auch den Ausverkauf des Landes an die USA und Israel vor. Nach einem gescheiterten Umsturzversuch wurde Khomeini wenige Monate später des Landes verwiesen, aber er hatte eines seiner zentralen politischen Themen gefunden. Im Lichte der israelischen Besetzung Gesamtpalästinas und Jerusalems nach dem Sechs-Tage-Krieg geriet die intensive Zusammenarbeit des Schahs mit Israel für immer mehr iranische Muslime ins Zwielicht. Obwohl sich der Schah unter diesen Umständen bemühte, das Ausmaß seiner Zusammenarbeit mit Israel zu verdecken, war es faktisch allgemein bekannt, dass er 60 Prozent des israelischen Erdölbedarfs deckte. Nach dem arabischen Erdölboykott von 1973 stieg der Anteil auf 75 Prozent und hielt dieses Niveau bis zur Revolution. Gleichzeitig avancierte Iran zum größten Einzelimporteur israelischer Waffen. Die israelfreundliche Politik des Schahs ging in den 1970er Jahren mit einer weiteren deutlichen Verbesserung der Lebensumstände der iranischen Juden einher. Ihre Organisationen konnten ungehindert agieren, mehr als die Hälfte der jüdischen Kinder besuchte jüdische Schulen und erhielt den Unterricht in hebräischer Sprache. Ihre Eltern waren in der Geschäftselite genauso gut repräsentiert wie in der Erdölindustrie, im Bankgewerbe und in akademischen Berufen. Schon 1968 zählten sie – neben Südafrika und Israel – zu den reichsten jüdischen Gemeinden in Asien und Afrika. Unmittelbar vor der Revolution gehörten sie in ihrer
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großen Mehrheit zur Mittelklasse; nur jeweils zehn Prozent zählten zur armen bzw. reichen Schicht.
Die islamische Revolution von 1978/79 Mit dem Anwachsen der revolutionären Situation im Iran zwischen August 1978 und Februar 1979 nahmen auch antisemitische Äußerungen zu. Immer öfter wurden Juden zum Verlassen des Landes aufgefordert. Knapp 20.000 flohen. Nach dem Sieg der Revolution am 12. Februar 1979 waren sich die Zurückgebliebenen nicht sicher, ob ihre Entscheidung richtig war. Unter dem Vorwurf der „Konspiration mit dem Zionismus“ wurde schon im Mai 1979 der jüdische Geschäftsmann Habib Elghanian hingerichtet. Mit Elghanian starb aber der anerkannt reichste Jude Irans und gleichzeitig amtierender Vorsitzender des Rates der jüdischen Gemeinden. An ihm wurde mithin ein Exempel statuiert, eine Abrechnung mit der verhassten „Kumpanei des Schahs mit den Zionisten“. Zwischen 1979 und 1998 folgten weitere dreizehn Exekutionen, die Mehrheit (sieben) bis Ende 1980, d.h. in der Phase des innenpolitischen Machtkampfes bis zur Saturierung des Revolutionsregimes. Die Anklagen unterschieden sich kaum: Spionage für Israel, Sympathie für den Zionismus, Korruption, Verrat, Drogenhandel. Dennoch bleibt festzuhalten, dass es keine „überproportionale“ Verfolgung iranischer Juden während und nach der Revolution gab. Selbst die relative Zahl der exekutierten Muslime war ungleich höher und in keinem Fall baute die Anklage auf dem jüdischen Glauben der Verurteilten auf. Das erklärt sich primär aus dem missionarischen Anspruch der iranischen Revolution. Kritik und Vorwürfe aus dem Westen ließen sich ignorieren oder umdeuten, aber die muslimische Weltgemeinde (umma) sollte die Revolution als Beispiel und Fanal für die Rückkehr zu den Verhältnissen in der idealisierten islamischen Frühzeit (vier rechtgeleitete Kalifen) auffassen. Um auch die Sunniten zu erreichen, musste deshalb zwingend auf das Prinzip des „najis“ verzichtet werden. Vielmehr galt es, das fundamentale islamische Recht des Schutzanspruchs der „ahl al-kitab“ anzuwenden. Khomeini selbst befand im November 1979 großmütig, dass Juden sich von Zionisten unterscheiden. Juden seien eine eigene Nation, die von den Muslimen nicht zurückgewiesen werden könne. Die einen Monat später verabschiedete Verfassung bestimmte in Artikel 12 den Zwölfer-Schiismus zur Staatsreligion, erkannte aber im Folgeartikel 13 die zoroastrischen, jüdischen und christlichen Iraner als einzige religiöse Minderheiten an und berechtigt sie, ihre Religion frei auszuüben. Daraus ließ sich ein grundsätzliches Axiom ableiten: solange sich die Juden ausschließlich über ihre Religion definieren, genießen sie in der Islamischen Republik Iran alle Rechte eines Schutzbefohlenen (dhimmi). Anders ausgedrückt: je weniger sie sich politisch artikulieren und betätigen, desto größer ist ihre religiöse, soziale und kulturelle Freiheit. Eine andere Verfassungsbestimmung konterkariert das Axiom jedoch. Ihre Anerkennung als religiöse Minderheit trug den Juden gemäß Artikel 64 das Recht der Vertretung im Parlament ein. Die 25.000 Juden Irans wählen einen der Ihren ins Parlament, auch wenn das notwendige Quorum von 150.000 Stimmberechtigten pro Parlamentssitz in ihrem Fall weit verfehlt wird. Es wird erwartet, dass sie deutlich und unverwechselbar als Repräsentant ihrer religiösen Minderheit, gleichzeitig aber auch als iranischer Patriot auftreten; das schließt antizionistische und israelkritische Statements ausdrücklich ein.
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Um ihre Gemeinde zu schützen, haben sich alle jüdischen Parlamentsvertreter seit der Revolution auf diesen Handel eingelassen. Aus ähnlichen Motiven leisten jüdische Iraner z.B. auch ihre Wehrpflicht, etwa einhundert fielen im Ersten Golfkrieg. Auch in anderen Bereichen klaffen Verfassungsanspruch und –wirklichkeit weit auseinander. Zu schwer wiegen die Jahrhunderte der Diskriminierung und Abwertung der Juden – zu denen der schiitische Klerus entscheidend beitrug –, um einen grundsätzlichen Einstellungswandel in der muslimischen Bevölkerungsmehrheit erwarten zu lassen. Auch zahlreiche Regierungsvertreter machen aus ihrer antisemitischen Einstellung keinen Hehl. 1994 und 1999 wurden die „Protokolle der Weisen von Zion“ in hoher Auflage verbreitet. Die zugestandenen Rechte müssen permanent verteidigt werden, häufig enden die Auseinandersetzungen in Niederlagen. Der Rat der jüdischen Gemeinden (Anjoman-e Kalimane-e Iran) existiert zwar weiter, aber ohne politische Funktion. Selbst seine religiösen Aufgaben sind stark eingeschränkt, seitdem das Chefrabbinat unbesetzt blieb. Auch in das normale Gemeindeleben wird massiv eingegriffen. Jede Veranstaltung muss mit Datum, Ort, Teilnehmerkreis und Zweck beim Ministerium für religiöse Führung angemeldet, vorgesehene Schriften oder Reden müssen von der Abteilung für religiöse Minderheiten des Ministeriums genehmigt werden. Das gleiche Ministerium finanziert zwar die für jüdische Kinder obligatorischen jüdischen Schulen, ersetzte aber schon 1983 die jüdischen Direktoren durch Muslime. Persisch verdrängte die hebräische Sprache, auch die Bibel wird in Persisch gelehrt. Die Schulbücher stellen die Überlegenheit des Islams heraus und werben offen für den Übertritt. Der Sonnabend, der Sabbat also, wurde demonstrativ zum Schultag erklärt. 1990 musste die einzige jüdische Zeitung Irans, „Tamouz“, ihr Erscheinen einstellen, weil sie die staatlichen Eingriffe in Organisation und Lehrplan jüdischer Schulen scharf kritisiert hatte. Artikel 19 gewährt allen Iranern gleiche Rechte, die allerdings durch die Religionszugehörigkeit beeinträchtigt werden. So dürfen Angehörige der anerkannten religiösen Minderheiten kein Amt innehaben, das mit direkten Regierungsgeschäften (Minister, Staatssekretäre, Generaldirektoren), mit Erziehungspolitik (Lehrer an regulären Schulen) oder mit der Justiz (Richter, Untersuchungsrichter, Anwälte) zu tun hat. In allen staatlichen Institutionen mindert ein obligatorischer „Scharia-Test“ die Chancen von Nichtmuslimen. An den Universitäten wird so gemaßregelt und geprüft, dass Juden im Regelfall postgraduale Studien verwehrt bleiben. Etwa 70 Prozent der iranischen Juden bestreiten ihren Lebensunterhalt deshalb als Selbständige, meist im Klein- und Zwischenhandel. Artikel 14 schreibt vor, die Angehörigen der anerkannten religiösen Minderheiten gut und gerecht zu behandeln. Allerdings gilt dies nur für Personen, die nicht gegen den Islam und die Politik der Islamischen Republik Iran handeln. Daraus ergibt sich ein breites Auslegungsspektrum. Ein besonders eklatanter Fall von Missbrauch ereignete sich im Februar 1999, als in Isfahan und Schiraz 13 Juden unter dem Vorwurf der „Spionage für Israel“ verhaftet wurden. Zehn von ihnen erhielten im Juli 2000 Haftstrafen zwischen vier und dreizehn Jahren, sind aber inzwischen ausnahmslos wieder auf freiem Fuß. Der Vorfall belegte sowohl die Haltlosigkeit der Vorwürfe als auch das Maß der Willkür, das gegenüber jüdischen Bürgern möglich ist. Es spricht für sich, wenn seit der Revolution knapp drei Vier-
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tel der iranischen Juden ihrem Land den Rücken gekehrt haben, während gegenwärtig in Israel 200.000 iranische Juden leben.
Die Lage unter Ahmadinedschad Die im Iran verbliebenen 25.000 Juden haben sich wohl dauerhaft mit den Umständen arrangiert. Die Situation hat sowohl zu einem neuen Zusammengehörigkeitsgefühl und zu neuer Spiritualität geführt als auch das Regime veranlasst, die „Treue“ zu belohnen. Die Reisebeschränkungen nach Israel wurden gelockert, allein in Teheran organisieren 30 Synagogen ein reiches Gemeindeleben. Kranke werden im jüdischen Krankenhaus behandelt, das auch Spenden aus dem Ausland erhalten darf, die Kinder besuchen, wenn auch mit den genannten Einschränkungen, jüdische Schulen. Sechs hauptstädtische Metzger verkaufen koscheres Fleisch und sind sogar vom Vertriebsverbot für alkoholische Getränke ausgenommen. Auf der anderen Seite erzwang gerade Präsident Ahmadinedschad, mehr als alle seine Vorgänger, Treuebekundungen jüdischer Repräsentanten. Der Vertreter im Parlament, Maurice Motamed, und der Vorsitzende des Rates jüdischer Gemeinden, Haroun Yashayaei, mussten nicht nur die israelische Politik in den besetzten Gebieten und das Verhalten im libanesischen Sommerkrieg von 2006 verurteilen, sondern auch das iranische Nuklearprogramm verteidigen. Allerdings nahmen sich beide auch das Recht heraus, Ahmadinedschads Holocaustleugnung scharf zu kritisieren. Motamed sandte dem Präsidenten im Februar 2006 einen unmissverständlichen Protestbrief, Yashayaei erklärte öffentlich, die Äußerungen Ahmadinedschads stünden im klaren Gegensatz zu den Lehren von Revolutionsführer Khomeini. Auch daraus spricht neues Selbstbewusstsein. Die im Iran ausharrenden Juden sehen sich jedenfalls nicht in der Diaspora, sondern betonen ihre eigenständige Geschichte als religiöse, aber persisch sprechende Minderheit im Vielvölkerstaat Iran.
Henner Fürtig
Literatur Ahmad Sudki el-Dajani, The Palestine Question in Arab-Iranian Relations, in: Khair El-Din Haseeb (Hrsg.), Arab-Iranian Relations, Beirut 1998. Farshid Delshad, Kurzchronologie der iranischen Juden, Bern 2005. Heskel M. Haddad, Jews of Arab and Islamic Countries, New York 1984. Sadeq Djalal Madani, Iranische Politik und Drittes Reich, Frankfurt am Main 1986. Amnon Netzer, Anjoman-e Kaliman, in: Encyclopaedia Iranica, Vol. II, New York 1993, S.85. Eliz Sanasarian, Religious Minorities in Iran, Cambridge 2000. Sorour Soroudi, Jews in Islamic Iran, in: Jewish Quarterly, 21(1981), 1, S.99-114.
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Irland Der größte Teil der irischen Juden kam zwischen 1881 und 1911 auf die Insel. Es waren Aschkenasen aus Litauen und anderen Gegenden Osteuropas, die sich der 1881 394 Mitglieder zählenden jüdischen Gemeinschaft in Belfast und Dublin anschlossen. Die Neuankömmlinge, die sich in Kleidung und Sprache von den alteingesessenen Juden unterschieden, gründeten auch in Cork und Limerick ihre eigenen Viertel. Die Gemeinde wuchs im Jahr 1891 auf 1.506 und 1911 auf 3.805 Mitglieder an. Für die 1880er und 1890er Jahre liegen Zeitungsmeldungen über vereinzelte Übergriffe auf Juden vor. 1894 wurden drei Personen inhaftiert, die in Cork Juden angegriffen hatten. In einer Rede am 9. Mai 1894 drückte John Redmond, Vorsitzender der „Irish Parliamentary Party“, seine Überzeugung aus, dass die Katholiken in Irland, die selbst aufgrund ihres Glaubens Verfolgung erfahren hatten, niemals Angriffe auf Angehörige jedweder Religion unterstützen würden. Der einzige dokumentierte Fall eines wahllosen Massenangriffs auf irische Juden ereignete sich in Limerick (vgl. Karte 5) im Januar 1904. Einige Mitglieder der lokalen Sodalität, die durch die antisemitische Predigt des Paters John Creagh in der Redemptoristenkirche aufgestachelt wurden, attackierten die nahebei gelegenen Häuser von Juden. Niemand wurde getötet, aber die 200 Personen umfassende kleine Gemeinde lebte einige Tage in Angst und Schrecken, bis wieder Ruhe eingekehrt war. Dem Angriff folgte ein Boykott jüdischer Geschäfte und Hausierer. Die religiöse Intoleranz führte letztendlich zur Auflösung der jüdischen Gemeinde. Die Ereignisse sind unter den Namen „Limerick-Boykott“ bzw. „Limerick-Pogrom“ bekannt. John Redmond stellte sich damals auf die Seite der Juden. Arthur Griffith, Gründer von Sinn Féin (der kleinen Partei, die erst nach 1916 an Bedeutung gewann), nahm im „Limerick-Boykott“ Partei für die antijüdische Seite und seine Zeitung „United Irishman“ solidarisierte sich mit den irischen Handwerkern und Arbeitern. Der ökonomische Antisemitismus war im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts präsent. In der Periode, die zur irischen Unabhängigkeit führte, waren einige Mitglieder der jüdischen Gemeinde, am bekanntesten Michael Noyk und Robert Briscoe, aktiv in nationalistischen Bewegungen. Der aus dem Bürgerkrieg von 1922/23 hervorgegangene Irische Freistaat war entschlossen, die demokratischen Prinzipien zu wahren, auf denen die neue Verfassung basierte. Die von William T. Cosgrave geführte Regierung bemühte sich, religiöser Diskriminierung entgegenzuwirken. Artikel 8 der Verfassung garantierte „Gewissensfreiheit“. Mit der Gründung der „Civil Service Commission“ 1923 und der „Local Appointments Commission“ 1925 wollte der neue Staat diese Freiheiten schützen. Kandidaten, die im öffentlichen Dienst Anstellung suchten, mussten keine Angaben über ihre Religion machen. Dieses frühe Bekenntnis zur Unparteilichkeit war in einem Staat mit überwältigend hohem katholischen Bevölkerungsanteil von großer Bedeutung. Der Oberrabbiner des Irischen Freistaates, Isaac Herzog, hatte zu den christlichen Kirchenoberen gute Arbeitsbeziehungen. Herzogs diplomatische Begabung im Umgang mit Kirche und Staat war für seine Gemeinde sehr hilfreich. Er war mit Eamon de Valera befreundet, der 1926 die Fianna-Fáil-Partei gründete. Als diese Partei 1927 ins Parlament (Dáil Èireann) kam, war Robert Briscoe der erste Jude, der ins Irische Parlament
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gewählt wurde. 1932/33 wandte sich de Valeras Regierung gegen die krypto-faschistische Organisation „Blueshirts“, die mit der Fine-Gael-Partei verbunden war. Während der 1930er Jahre wurde die Polizei (Gardai) eingeschaltet, um in einer Reihe von Vorkommnissen, darunter antisemitische Schmierereien und Briefe, zu ermitteln. Diese Ermittlungen sind in den Akten des Justizministeriums dokumentiert. In Irland gab es eine kleine aktive Gruppe der NSDAP-Auslandsorganisation. Ihr Leiter war Dr. Adolf Mahr, Direktor des Irischen Nationalmuseums. Die Gruppe bestand hauptsächlich aus in Dublin lebenden deutschen Staatsbürgern. Mahrs Pendant in der italienischen Botschaft war Botschafter Vincenzo Berardis. Hinter ihnen stand eine Gruppe eifriger Anhänger. Mahr verließ 1939 mit seiner Familie Dublin, um in den Dienst der deutschen Regierung zu treten. Eine Verbindung der beiden Gruppen zu den gelegentlichen antisemitischen Vorkommnissen ist schwer nachzuweisen. Der einflussreichste irische Antisemit war Charles Bewley, irischer Gesandter in Berlin. Er berichtete aus Deutschland in einer Weise, die keinen Zweifel an seiner Sympathie für das Hitlerregime und dessen rassistische Politik ließ. Ihm waren die Vollmachten zur Überprüfung von Visaanträgen übertragen worden. 1939 wurde er zum Rücktritt gezwungen und verließ den diplomatischen Dienst, um während der Kriegsjahre in Rom für die deutsche Regierung zu arbeiten. Irland verfolgte während der 1930er Jahre und während des Krieges eine sehr restriktive Politik bezüglich der Aufnahme von Juden. Während des Krieges durften nur sehr wenige Juden nach Irland einreisen. Hochrangige Beamte im Justizministerium waren der Ansicht, dass nur eine sehr beschränkte Zahl von Juden aufgenommen werden sollte. 1946 erklärte Stephen A. Roche, Staatssekretär im Justizministerium, dass es ihnen damals darum gegangen war, eine deutliche Zunahme der jüdischen Bevölkerung zu verhindern. Als Begründung galt, dass die Juden sich nicht assimilieren, „sondern eine Art Kolonie der weltweiten jüdischen Gemeinschaft“ bilden würden. Aus diesem Grund seien sie „potentielle Störfaktoren für das Gemeinwesen“. Die Auswirkungen solcher Positionen auf die Politik waren deutlich. Die Akten des Justizministeriums zeigen, wie schwierig es für jüdische Antragsteller war, auch nur vorübergehende Aufnahme in Irland zu finden. In den letzten Monaten des Jahres 1945 fand eine politische Debatte über die Aufnahme von Flüchtlingen statt. Das Justizministerium vertrat weiterhin eine sehr restriktive Politik und wurde dabei vom Industrie- und Handelsministerium unterstützt. Der Premierminister und das Außenministerium stellten sich dagegen. De Valera beendete die Debatte und erklärte, dass er die Aufnahme von mindestens 10.000 Ausländern in Erwägung ziehe. Nicht annähernd so viele wurden aufgenommen. Obwohl diese Entscheidung im Grunde schon feststand, wirkten im Justizministerium alte Einstellungen fort. Hochrangige Beamte standen der Aufnahme jüdischer Flüchtlinge bis in die 1950er Jahre hinein ablehnend gegenüber. Dr. Solomon Schonfeld bat 1946 im Auftrag des britischen „Chief Rabbi’s Religious Emergency Council“ die irische Regierung um die Aufnahme von 100 jüdischen Waisenkindern, Überlebenden von Bergen-Belsen. Die Genehmigung wurde zunächst im August 1946 auf Weisung von Minister Gerry Boland verweigert. Es bedurfte eines Besuches von Rabbiner Isaac Herzog in Dublin, der den Premierminister Eamon de Valera
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und den Justizminister Gerry Boland aufsuchte. Auf Valeras Druck hin wurde die Aufnahme der Kinder schließlich genehmigt. Die Kinder kamen und nachdem ihre Gesundheit wieder hergestellt war, emigrierten sie ab 1949 weiter nach Großbritannien, Kanada und in die Vereinigten Staaten. 1946 zählte die jüdische Gemeinschaft 5.381 Personen, 1961 waren es 4.446, davon 3.255 in der Republik und 1.191 in Nordirland. Die Zahlen für Nordirland fielen stetig auf 410 im Jahr 1991 zurück. Bis Mitte der 1990er Jahre betrug die Gesamtzahl ca. 1.200, die meisten lebten in Dublin. In den frühen 1950er Jahren publizierte die ultra-konservative katholische Organisation „Maria Duce“ einen Rundbrief mit antisemitischen Inhalten. „Maria Duce“ verlor ab Mitte der 1950er Jahre an Bedeutung, was ihre Mitglieder nicht daran hinderte, zur Publikation rechter katholischer Literatur beizutragen, die eindeutig antisemitische Tendenzen aufwies. Zwischen den 1960er und den frühen 1990er Jahre erlebte Irland einen wirtschaftlichen Wandel und wurde 1972 Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Die Gewalt in Nordirland, die 1969 ausbrach, forderte bis zur Unterzeichnung des Belfaster Abkommens (Belfast Agreement) 1998 über 3.500 Menschenleben. 2001 wurde der „Nationale Beratungsausschuss zu Rassismus und interkulturellen Angelegenheiten“ (NCCRI) gegründet, der auf Vorfälle von Antisemitismus in Irland aufmerksam macht und sie dokumentiert. Im Jahr 2003 wurden antisemitische Vorkommnisse meist im Kontext von Kritik an der Politik der israelischen Regierung vermerkt. Auch der „Jewish Representative Council“ konstatierte, dass es zwar keine konzertierten antisemitischen Aktionen gäbe, aber eine große Zahl von Vorfällen von offenem oder latentem Antisemitismus stattgefunden habe. Das Jüdische Museum in Dublin war zwischen November 2004 und Juni 2005 mehrfach Ziel antisemitischer Schmierereien. Die Verbreitung von Antisemitismus im Internet gab ebenfalls Anlass zur Sorge. Bis 2006 waren die Webseiten der „Irish Fascist Party“, der „Irish National Front“ und der „National Socialists Are Us“ zugänglich. Das Gesetz über das Verbot der Aufstachelung zum Rassenhass (Prohibition of Incitement to Hatred Act) von 1989, das „Video Recording Act“ von 1989 und das „Criminal Justice (Public Order) Act“ von 1994 stärken die Handlungsfähigkeit der Polizei bezüglich der Ahndung antisemitischer Agitation im Internet. Irland erlebte in den 1990er Jahren einen Anstieg der Einwanderung. Nach Angaben des Statistischen Zentralamtes stieg zwischen 2002 und 2006 die Zahl nicht-irischer Staatsbürger von 224.000 auf 420.000. Dies waren hauptsächlich EU-Bürger aus Osteuropa und den baltischen Staaten. Im gleichen Zeitraum verdoppelte sich die orthodoxe christliche Gemeinde von 10.400 auf 20.800 Mitglieder, die Zahl der Muslime stieg von 19.100 auf 32.500. Toleranz und Integration sind Schlüsselthemen in politischen Ansprachen. Allerdings könnte die Transformation Irlands in eine multikulturelle Gesellschaft Spannungen verursachen.
Dermot Keogh Übersetzt aus dem Englischen von Claudia Curio
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Island
Literatur Dermot Keogh, Jews in Twentieth Century Ireland, Refugees, Anti-Semitism and the Holocaust, Cork 2006. Dermot Keogh, Andrew McCarthy, Limerick Boycott, 1904. Anti-Semitism in Ireland, Cork, Dublin 2005. Cormac Ó Gráda, Jewish Ireland in the Age of Joyce, Princeton, Oxford 2006.
Island Im 9. und 10. Jahrhundert wurde Island von Wikingern aus Skandinavien, Großbritannien und Irland besiedelt. Bis zum 19. Jahrhundert gab es kein urbanes Zentrum auf der Insel, die Bevölkerung lebte verstreut auf Gehöften. Im Jahre 1000 stimmte der Althing, d.h. die Versammlung der freien Männer Islands, für die Annahme des Christentums. Im 13. Jahrhundert verlor Island seine Unabhängigkeit an Norwegen und wurde im 15. Jahrhundert dänische Kolonie. Im 16. Jahrhundert zwang der dänische König Island die Reformation auf und der letzte katholische Bischof wurde geköpft. Über die Jahrhunderte hatte der Großteil der Bevölkerung kaum Kontakt mit Fremden. Juden oder „Gyðingar“ waren nur durch die biblischen Texte bekannt. Die isländische Wortbildung für Juden „Gyðingar“ ist ein Diminutiv von „Guð“, dem isländischen Wort für Gott. In der religiösen Dichtung von Hallgrímur Pétursson (1614-1674), dem wichtigsten Dichter dieser Periode, findet sich eine Vielzahl antijüdischer Äußerungen. In dieser Zeit bekam der Begriff „Gyðingar“ eine negative Konnotation, die sich zum Teil bis heute erhalten hat. Im Jahre 1853 weigerte sich der Althing, der Aufforderung des dänischen Königs nachzukommen, das dänische Gesetz vom 5. April 1850, welches die Ansiedlung ausländischer Juden in Dänemark erlaubte, auf Island auszudehnen. Zwei Jahre später, nachdem das dänische Handelsmonopol für Island aufgehoben worden war, erlaubte der Althing die Ansiedlung von dänischen und ausländischen Juden, um den Handel zu beleben. Kein Jude hat jedoch im 19. Jahrhundert davon Gebrauch gemacht. Im Jahre 1874 besuchte Max Nordau, der spätere Mitbegründer der Zionistischen Weltorganisation, als Journalist im Rahmen der 1000 Jahr Feier Island. Er war weder vom Land noch von den Leuten angetan. Die kulturelle Elite Islands studierte im 19. Jahrhundert vorwiegend in Kopenhagen und griff dort auch rassistische und antisemitische Ideen auf. So tat sich der erste Präsident der Universität Islands in Reykjavik Björn M. Olsen (1850-1919) durch antisemitische Veröffentlichungen hervor. Im Jahre 1906 siedelte sich der erste Jude in Island an, es handelt sich um den dänischen Kaufmann Fritz Heymann Nathan (1883-1942). Er gründete in Reykjavik die noch heute existierende Firma „Nathan & Olsen“. Im Jahre 1917 verließ er das Land, da er kein jüdisches Leben auf der Insel führen konnte. Im Jahre 1918 unterzeichnete Island den Unionsvertrag mit Dänemark und leitete so seine Unabhängigkeit ein. In den 1920er Jahren erschienen antisemitische Artikel in Zei-
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tungen und Zeitschriften, so beschuldigte Dr. Helgi Pjeturss in einem Aufsatz für die größte isländische Zeitung „Morgunblaðið“ die Juden, für die russische Revolution verantwortlich zu sein und verbreitete die Mär der jüdischen Weltverschwörung. Antisemitismus war im Island dieser Jahre nur bedingt erfolgreich, da das breitere Publikum an diesem Thema nicht interessiert war. So musste auch die antisemitische Zeitschrift von Steinn Emilsson nach vier Nummern wegen mangelnder Leserschaft wieder eingestellt werden. Emilsson hatte in Jena studiert und war dort zum Antisemiten geworden. Im Jahre 1933 wurde die Imitation einer Nazi-Partei in Island gegründet, deren erklärtes Ziel die rassische Reinheit und der Schutz des „Nordischen Blutes“ war. Die Partei blieb bei den Wahlen erfolglos und ohne Sitz im Althing. Die Idee der rassischen Reinheit prägte indes die Politik unter der Regierung von Hermann Jónasson. Die konservative Presse des Landes warnte vor Überfremdung und dem Verlust der nationalen Identität, sollten Juden als Flüchtlinge nach Island gelangen. Visaanträge von Personen mit jüdisch klingenden Namen wurden von der dänischen Botschaft in Berlin prinzipiell abschlägig behandelt. Die Regierung unter Jónasson wollte keine „unnützen Personen“ ins Land lassen. Die isländische Ärztin Katrin Thoroddsen scheiterte mit dem Versuch, zehn jüdische Kinder aus Österreich nach Island in Sicherheit zu bringen, an Ministerpräsidenten Jónasson, der sich weigerte, die Kinder nach Island einreisen zu lassen. Weniger als 30 jüdischen Flüchtlingen gelang es, aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Island zu fliehen, mehrere von ihnen wurden des Landes verwiesen und nach Deutschland zurückgesandt. Die Juden, die im Lande verblieben, hatten dies dem persönlichen Einsatz von Isländern zu verdanken. Nach dem Krieg holte Island Hunderte deutsche Frauen ins Land, gleichzeitig wurde mit den US-Verbündeten vereinbart, keine schwarzen Soldaten auf Island zu stationieren. Die wenigen Juden in Island assimilierten sich und nahmen isländische Namen an. Vereinzelt kam es zu antisemitischen Vorfällen in den Nachkriegsjahren, so war der sozialdemokratische Parlamentsabgeordnete Jónas Guðmundsson von der Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung besessen und übersetzte im Jahre 1951 die „Protokolle der Weisen von Zion“ ins Isländische. Bis heute existiert keine jüdische Gemeinde auf Island.
Markus Meckl
Literatur Einar Heimisson, Die Asylsituation in Island in den dreißiger Jahren im Vergleich mit den anderen nordischen Ländern, Freiburg (Breisgau) 1992 (Univ. Diss., Philosophische Fakultät). Vilhjálmur Örn Vilhjálmsson, Iceland, the Jews, and Anti-Semitism, 1625-2004, in: Jewish Political Studies Review, 16(2004), 3-4.
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Italien Vor der Gründung des italienischen Nationalstaates im 19. Jahrhundert war die Apenninenhalbinsel in eine Vielzahl von sich teils bekriegenden, teils miteinander verbündeten Staaten aufgeteilt, die zudem unterschiedlichen und wechselnden Dynastien unterstanden. Für die Frage nach der Judenfeindschaft ist darüber hinaus entscheidend, dass die katholische Kirche auf der italienischen Halbinsel als eigenständiger Territorialstaat (? Vatikan) auftrat, die Kirche in ihren religiösen Intentionen jedoch universalistisch ausgerichtet war. Im Altertum wiederum war die Apenninenhalbinsel Zentrum des Römischen Imperiums. Auch wenn Juden im Römischen Reich grundsätzlich anerkannt waren und ihren religiösen Riten folgen durften, machten dennoch schon deren erste Generationen – wie andere Minderheiten im Römischen Imperium auch – die Erfahrung von Ausweisung und Vertreibung. Im Jahr 139 v.u.Z. wurden Juden erstmals aus der Stadt Rom verbannt, im Jahr 19 u.Z. mussten sie vorübergehend erneut die Hauptstadt des Imperiums verlassen und sich in Sardinien niederlassen, bis im Jahr 49 unter Kaiser Claudius sowohl die jüdische als auch die christliche Minderheit aus Rom ausgewiesen wurde. Nach dem Sieg der Römer im Jüdischen Krieg der Jahre 66 bis 70 kamen viele Juden als Kriegsgefangene nach Rom. Wie bei militärischen Eroberungen üblich, zerstörten die Römer nach dem Ende des Krieges auch den Tempel in Jerusalem. Verewigt wurde diese Demütigung des Judentums auf einem Relief am Titusbogen, auf dem der Kunstraub der religiösen Kultgegenstände dargestellt ist. Trotz dieser erniedrigenden Erfahrung waren die etwa 50.000 Juden, die neben Rom vor allem in Süditalien und auf Sizilien lebten, im Römischen Kaiserreich toleriert. Als das Christentum seit dem Jahr 313 unter Konstantin staatlich anerkannte und geförderte Religion wurde, verschlechterten sich die Lebensbedingungen der Juden nachhaltig. Lebensrecht wurde ihnen nur deshalb gewährt, weil die Christen in ihnen ein lebendiges Zeugnis für die Wahrheit des Evangeliums sahen. Gleichzeitig sollten Juden in tiefer Erniedrigung gehalten werden, um so als abschreckendes Beispiel für alle Ungläubigen zu dienen. Die judenfeindliche Haltung der Kirche wurde im 4. Jahrhundert insbesondere von lokalen Bischöfen propagiert, wobei sich vor allem der Bischof von Brescia, Philastrius, hervortat. Er reiste durch die Diözesen Italiens, predigte gegen das Judentum und versuchte gleichzeitig, Juden zum Christentum zu bekehren. Gestärkt wurde die Position der Kirche, als unter Kaiser Theodosius das Christentum Staatsreligion wurde. Während auf Sizilien die jüdische Bevölkerung aufgrund der toleranten Religionspolitik nach der arabischen Besiedlung der Insel im 9. Jahrhundert anstieg, führte der auf der italienischen Halbinsel seit der Jahrtausendwende verstärkte Ausbau korporativer, vom Religiösen geprägter Strukturen der Wirtschaft dazu, dass Juden aus zentralen Bereichen des gewerblichen Lebens ausgeschlossen und in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit auf Warenund Geldhandel beschränkt waren. Nachdem Karl von Anjou die Macht über Neapel und weite Teile Süditaliens erlangt hatte, setzte er die Juden einem starken Konversionsdruck aus. 1265 wurde die jüdische Gemeinde von Trani, einem kleinen Ort in der Nähe von Bari, Opfer von Ritualmordvor-
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würfen, die zu blutigen Ausschreitungen führten. Kurz darauf, 1270, wurde in Rom der jüdische Friedhof geschändet. Aber nicht nur in Süditalien wurden die Juden Opfer antijüdischer Maßnahmen. Nachdem die Visconti ihre Herrschaft über Mailand etabliert hatten, vertrieben sie 1320 die jüdische Bevölkerung. Während der Pestkatastrophe von 1348 blieben die Juden auf der italienischen Halbinsel zwar von Verfolgungen und Vertreibungen verschont, wie sie sie nördlich der Alpen erfahren mussten und in deren Folge zahlreiche aschkenasische Juden nach Italien geflohen waren. Gleichwohl fanden auch in Parma und Mantua antijüdische Ausschreitungen statt. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts setzte eine neue Welle von Judenfeindschaft ein, die vor allem von Franziskanern getragen wurde. Hierbei taten sich insbesondere Bernardino di Siena und Bernardino da Feltre hervor. Die Franziskaner kämpften besonders gegen den Geldhandel der Juden, so dass vor allem lokale Kirchengemeinden dazu übergingen, gegen die jüdischen Bankhäuser gerichtete eigene christliche Kreditanstalten, Monti di Pietà, zu gründen. Einen Höhepunkt erreichte die Judenfeindschaft im Jahr 1475 im Ritualmord-Vorwurf von Trient (vgl. Karte 2), der zu gewalttätigen antijüdischen Ausschreitungen und zur Vertreibung der Juden aus dem von Habsburg abhängigen Bistum Trient führte. Die neue Härte, mit der am Ende des 15. Jahrhunderts gegen die jüdische Bevölkerung vorgegangen wurde, zeigte sich auch im zuvor toleranten Sizilien. Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts wurde Sizilien ebenso wie Sardinien vom Haus Aragon beherrscht, und die im Jahr 1492 von Ferdinand und Isabella von Spanien verfügte Ausweisung der Juden galt, was in der Literatur zumeist übersehen wird, ebenso für die Juden auf Sizilien und Sardinien. Während auf Sardinien nur eine vergleichsweise kleine Zahl von Juden betroffen war, mussten schätzungsweise 25.000 Juden in Folge dieser Anordnung Sizilien verlassen. Nachdem gut zehn Jahre später auch das Königreich Neapel unter die Herrschaft des Hauses Aragon geraten war, wurden 1510 die Juden aus Süditalien ebenfalls ausgewiesen. Die Verfügung wurde zwar vorübergehend zurückgenommen, 1541 aber endgültig bestätigt, so dass in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts jüdisches Leben in Süditalien und auf Sardinien ausgelöscht war. Während im Süden die traditionsreiche Politik der Vertreibung praktiziert wurde, eröffnete die Seerepublik Venedig eine neuartige Politik der Ausgrenzung und Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung. Nachdem von Seiten des Patriziats und der venezianischen Kirche immer wieder Anschuldigungen gegen die jüdische Bevölkerung erhoben worden waren, beschloss der Senat im März 1516 mit großer Mehrheit, dass Juden sich nur auf einem kleinen, deutlich abgegrenzten Terrain innerhalb Venedigs, dem so genannten Ghetto Novo, niederlassen durften. Da diese Politik, Juden nur in einem durch Tore verschlossenen Viertel Niederlassungsrecht zu gewähren, erstmals in Venedig praktiziert worden ist, verbreitete sich für die bald auch andernorts eingeführten Quartiere, in denen Juden ausschließlich wohnen durften, die Bezeichnung Ghetto. Wenig später drohte den Juden Italiens aufgrund der innerchristlichen Konflikte neues Unheil. Nicht nur nördlich der Alpen, sondern auch auf der italienischen Halbinsel und auf Sizilien entwickelte sich eine protestantische Bewegung, die in der Mitte des 16. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte und für den Vatikan zu einer ernsten Bedrohung wurde. Mit besonderer Härte ging die katholische Kirche daher mit der 1542 gegründe-
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ten Inquisitionsbehörde, dem Heiligen Offizium, gegen alle Äußerungen von abweichenden Glaubenssätzen vor. Während die Protagonisten der „lutherischen Häresie“ in Italien physisch liquidiert wurden und es der katholischen Kirche gelang, selbst die Erinnerung an den italienischen Protestantismus aus dem kollektiven Gedächtnis zu verdrängen, wurden die Juden Ziel einer neuen Missionsstrategie. Nachdem die Juden 1569 mit Ausnahme der Städte Rom und Ancona aus dem Kirchenstaat vertrieben worden waren, durften sie auf der italienischen Halbinsel am Ende des 16. Jahrhunderts lediglich im Großherzogtum Toskana und in den Herzogtümern Savoyen, Mantua, Modena und Parma-Piacenza, mit Einschränkungen im Herzogtum Mailand sowie in den Republiken Genua und Venedig leben. Die Vertreibungen der Juden aus Sizilien, Süditalien und dem Kirchenstaat bedeuteten einen tiefen demographischen Einbruch. Von geschätzten 120.000 Juden in der Zeit vor 1492 ging die Zahl bis zum Ende des 16. Jahrhunderts auf ca. 21.000 zurück. Der jüdische Bevölkerungsanteil schrumpfte damit von etwa 0,56 Prozent auf circa 0,15 Prozent. Die Verfolgung der Juden setzte sich im 17. Jahrhundert in weiteren Staaten der italienischen Halbinsel fort. 1630 wurden die Juden auch aus dem Herzogtum Mantua vertrieben, und 1684 brachen in dem zur Republik Venedig gehörenden Padua antijüdische Ausschreitungen aus. Während sich im Zeitalter der Aufklärung in Teilen der Reformbürokratie eine tolerantere Haltung gegenüber Juden abzeichnete, hielten weite Kreise der bürgerlichen Aufklärungsbewegung an den überlieferten religiösen Vorurteilen gegenüber dem Judentum fest. So warf selbst der Philosoph und Historiker Ludovico Antonio Muratori zum Beispiel den Juden Blindheit und Verstocktheit vor, weil sie die Wahrheit des Christentums nicht erkennen wollten, und legitimierte die Vertreibungspolitik. Unterstützung erhielten italienische Aufklärer in ihrer antijüdischen Überzeugung durch die Schriften eines Konvertiten wie Paolo Sebastiano Medici, der umfangreiche missionarische Reisen durch Italien unternahm und gegen das Judentum predigte. Auf Resonanz stieß Medici mit seinen antijüdischen Ermahnungen bei den unteren Schichten, da die Abneigung gegen Juden in der Populärkultur verbreitet war. Aufführungen des Florentiner Volksstückes „La gnora luna“ etwa riefen regelmäßig antijüdische Ausschreitungen hervor. Wie bedrohlich die Situation am Ende des 18. Jahrhunderts für die Juden war, zeigt sich selbst in den Ländern, deren Herrscher ihnen zuvor Schutz und Privilegien erteilt hatten. Im Großherzogtum Toskana brachen im Zusammenhang mit der aufgeklärten Reformpolitik 1790 soziale Proteste aus, die in Livorno und Florenz in gewalttätige Ausschreitungen gegen Juden umschlugen. Nachdem 1796 französische Truppen unter Napoleon in Italien einmarschiert waren, wurden zwar in den besetzten Gebieten die judenfeindlichen Restriktionen aufgehoben und die Ghettotore geöffnet. Der vorübergehende Abzug der Revolutionstruppen im Jahr 1799 aber löste in der Toskana erneut gewalttätige antijüdische Unruhen aus. Diese gingen von der Stadt Arezzo aus und griffen auf weite Teile des Großherzogtums über. Besonders blutige Formen nahmen sie in Siena ein, wo das Ghetto geplündert, 13 Juden ermordet und die Leichen auf der Piazza del Campo ins Feuer geworfen wurden. Das kurze Zwischenspiel ohne Ghetto führte zudem dazu, dass zu den überlieferten religiösen Motiven des Antijudaismus nun der Vorwurf der politischen Verschwörung trat, an der sich die Juden beteiligt hätten.
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Nach dem Ende der Napoleonischen Herrschaft und mit der Restauration der vorrevolutionären Verhältnisse traten die alten antijüdischen Verordnungen im Herzogtum Modena und im Königreich Sardinien-Piemont wieder in Kraft. Vereinzelt waren auch im liberalen Lager antijüdische Stimmen zu vernehmen, etwa von dem einstigen Jakobiner und liberalen Juristen Francesco Gambini oder dem Intellektuellen und demokratischen Adelskritiker Giuseppe Ferrari. Beide hatten mit ihrer judenfeindlichen Haltung jedoch keinerlei Einfluss auf die politische Entwicklung des Risorgimento. Im Gegenteil zeichnete sich die italienische Nationalbewegung durch eine weitreichende Integration und starke Partizipation der jüdischen Bevölkerung aus. Für die Juden waren die liberal-konstitutionellen und nationalen Forderungen vor allem deshalb attraktiv, weil die Verabschiedung politischer Grundrechte und bürgerlicher Freiheitsrechte sowie die Anerkennung von Verfassungen ihnen Gleichberechtigung und Rechtssicherheit versprachen. Dennoch war die Revolution von 1848/49 für die italienischen Juden nicht frei von widersprüchlichen Erfahrungen. Nur wenige Tage, nachdem die Bevölkerung Roms die Befreiung der Juden gefeiert hatte, demolierten Widersacher der Emanzipation Häuser im Ghetto und drohten Juden umzubringen. Im März 1848 kam es in Acqui (vgl. Karte 4) zu antijüdischen Ausschreitungen, als Angehörige der Unterschichten sich gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden in der soeben verkündeten Verfassung stellten. Gleichzeitig tauchten erneut Ritualmord-Vorwürfe auf. In Florenz wiederum waren in den revolutionären Tagen an den Häuserwänden Aufschriften wie „Morte agli ebrei“ zu lesen. Gelegentliche judenfeindliche Äußerungen kamen in der Toskana gar aus dem Inneren der revolutionären Bewegung, etwa vom Wortführer der Demokraten in Livorno und späteren Vorsitzenden der toskanischen Revolutionsregierung Francesco Domenico Guerrazzi. Vorbehalte gegenüber dem Judentum hatte auch der gemäßigt liberale Politiker Gino Capponi. Diese antijüdischen Äußerungen hatten jedoch keinen Einfluss auf die nationale Bewegung des Risorgimento. Nicht nur die republikanischen Wortführer Giuseppe Garibaldi und Giuseppe Mazzini setzten sich nachdrücklich für die rechtliche Gleichstellung der Juden ein, sondern auch der für die nationale Einigung Italiens maßgebliche piemontesische Liberale Camillo Benso di Cavour, der überdies zahlreiche jüdische Mitarbeiter hatte. Während im Ghetto von Rom zunächst eher verarmte Juden lebten, nahm die jüdische Bevölkerung in den italienischen Staaten im 19. Jahrhundert einen rapiden sozialen Aufstieg. Darüber hinaus bekleideten italienische Juden nach der Einigung Italiens hohe Ämter in Staat und Politik. So waren eine Reihe von Ministern, 1902/1903 gar der Kriegsminister, Juden, und 1910 wurde der vormalige jüdische Finanzminister Luigi Luzzatti zum Ministerpräsidenten berufen. Das neue judenfeindliche Denken des Antisemitismus hatte im neuen italienischen Nationalstaat keinen Einfluss auf die öffentliche Meinung und das politische Klima. Auch die rassistische Judenfeindschaft konnte sich hier nicht durchsetzen. Der generelle Rassediskurs ist in Italien gar von einem jüdischen Wissenschaftler, dem Kriminologen und Mediziner Cesare Lombroso, geprägt worden, der gegen den Antisemitismus Stellung bezogen hatte.
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Propagiert wurde die neue Judenfeindschaft in Italien nahezu ausschließlich von der Kirche, etwa in den katholischen Zeitungen „Civiltà cattolica“ (Rom), „L’Osservatore cattolico“ (Mailand) oder „La Difesa“ (Venedig). Aufgrund ihrer Verweigerungshaltung gegenüber der Nation und dem politischen Leben hatte die Kirche aber mit ihrer judenfeindlichen Propaganda keinen Einfluss auf die öffentliche Meinung im liberalen Italien. Mögen vereinzelt auch in nicht-kirchlichen Kreisen antisemitische Motive zu finden gewesen sein, so blieben sie ohne Wirkung auf die politische Kultur und die öffentliche Meinung. Selbst der italienische Nationalismus war zunächst für die antisemitische Sprache unempfänglich. Als das Vorstandsmitglied der „Associazione Nazionalista Italiana“, Francesco Coppola, 1911 in der Verbandszeitschrift „L’Idea nazionale“ seine Sympathie für Charles Maurras und die französischen Antisemiten der „Action Française“ erklärte, musste er zurücktreten. Die politische Kultur und die öffentliche Meinung in Italien blieben solange von antisemitischer Rhetorik frei, wie die ultramontanen und intransigenten Kreise der katholischen Kirche keinen Einfluss auf die nationale Politik hatten. Dies änderte sich, als eine junge Generation von katholischen Intellektuellen in die politische Arena trat und versuchte, eine dezidiert christlich-soziale Politik zu etablieren. Der junge Politiker Alcide De Gasperi etwa, der 1924 Generalsekretär der „Partito Popolare Italiano“ und nach dem Zweiten Weltkrieg eine der zentralen Figuren der „Democrazia Cristiana“ wurde, hatte als junger Autor in den Jahren nach der Jahrhundertwende aus seiner Bewunderung für den österreichischen Antisemiten Karl Lueger keinen Hehl gemacht und auch dessen antisemitische Sprache aufgegriffen. Mit den zivilisatorischen Erschütterungen des Ersten Weltkriegs schlug das politische Klima in Italien um, und auch hier traf antisemitisches Denken auf Resonanz. 1921 gab der einstige Priester und Journalist Giovanni Preziosi eine italienische Übersetzung der Schrift „Die Protokolle der Weisen von Zion“ heraus und eröffnete damit eine erste Welle antisemitischer Propaganda in Italien. Auch wenn Preziosi der im gleichen Jahr gegründeten faschistischen Partei angehörte, war der Faschismus zunächst nicht antisemitisch. Im Gegenteil nahm eine große Zahl von Juden an der faschistischen Bewegung teil, und seit 1933 fanden zahlreiche Juden aus Deutschland in Italien Zuflucht. Dennoch kam es im Jahr 1926 nach einem Attentat auf Mussolini zu einer Welle antisemitischer Ausschreitungen, und zwei Jahre darauf wurde erneut eine antisemitische Pressekampagne entfacht. 1937/38, mit dem Krieg gegen Abessinien und der Bildung der „Achse Berlin-Rom“, schwenkte der italienische Faschismus auf eine antisemitische Linie ein, und dies, ohne dass das nationalsozialistische Deutsche Reich Druck ausgeübt hätte. Ursache dafür war in erster Linie der politische Opportunismus Mussolinis und dessen Anpassung an den im Zenit seiner Macht stehenden Nationalsozialismus. Eine Rolle bei der Einführung der Rassengesetze spielten nicht zuletzt auch die Erfahrungen in dem mit rassistischen Argumenten geführten Kolonialkrieg in Afrika. Eingeleitet hatte die antisemitische Wende im Faschismus der Journalist und politische Weggefährte von Mussolini Paolo Orano mit seiner 1937 erschienenen Schrift „Gli Ebrei in Italia“. Zu den erklärten Antisemiten innerhalb der Führungsgruppe der Faschistischen Partei gehörten daneben der Parteisekretär und Minister Roberto Farinacci sowie der Journalist Telesio Interlandi. Nachdem auch im italienischen Rassediskurs anti-
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semitisches Denken Eingang gefunden hatte, beauftragte Mussolini im Jahr 1938 den Rassenhygieniker und Anthropologen Guido Landra damit, ein antisemitisches Rassenmanifest zu entwerfen, und im August desselben Jahres erschien die erste Nummer der antisemitischen Zeitschrift „La difesa della razza“. Einen Monat später wurden per Dekret alle jüdischen Schüler und Lehrer aus den öffentlichen Schulen des Landes ausgeschlossen. Im November 1938 traten dann mit Zustimmung des Königs die italienischen Rassengesetze (Provvedimenti per la difesa della razza italiana) in Kraft, mit denen der Prozess der Entrechtung sowie die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Ausgrenzung der Juden in Italien sanktioniert wurde. Erstes Opfer wurden die im italienischen Exil lebenden Juden aus Deutschland und Österreich. Die Regierung schränkte die Rechte der Juden in der folgenden Zeit weiter ein. Vor allem nach dem Kriegseintritt Italiens kam es immer wieder zu physischer Gewalt gegen Juden. Im Mai 1942 verpflichtete der Staat alle Jüdinnen und Juden zwischen 18 und 55 Jahren zum Arbeitsdienst. Ein Jahr darauf wurden sie in Lager eingewiesen. Weite Teile der italienischen Gesellschaft beteiligten sich aktiv am sozialen Ausschluss und der Diskriminierung der Juden, doch stieß diese Politik auch auf deutliche Ablehnung. Die gegen die Juden gerichteten Direktiven Mussolinis wurden mitunter bewusst ignoriert, und der mit den Rassengesetzen erlassene Entzug der Aufenthaltserlaubnis für jüdische Flüchtlinge wurde nur unvollständig durchgeführt, wobei sich insbesondere das Außenministerium für verfolgte Juden einsetzte. Eine neue Qualität nahm die Verfolgung der 46.000 vor allem in den nördlichen Regionen lebenden italienischen Juden (ca. 0,1 Prozent der Bevölkerung) im September 1943 an. Nachdem Mussolini im Juli gestürzt und die italienische Übergangsregierung mit den USA und Großbritannien einen Waffenstillstand geschlossen hatte, besetzten deutsche Truppen Norditalien, befreiten Mussolini und ließen ihn die „Republik von Salò“ ausrufen, die mit aller Härte gegen Juden vorging. Unter den deutschen Besatzungskräften, an denen u.a. das Reichssicherheitshauptamt und der Sicherheitsdienst der SS beteiligt waren, setzte die Verfolgung und Verhaftung von Juden ein. Lokale Behörden und die italienische Sicherheitspolizei nahmen daran aktiven Anteil, indem sie Juden verhafteten, in Konzentrationslager einwiesen und sie den deutschen Behörden auslieferten. Italienische Offiziere, Diplomaten und Beamte weigerten sich jedoch mitunter, die ihnen aufgetragenen Verbrechen auszuführen, und selbst Kreise der katholischen Kirche nahmen an Hilfsaktionen zugunsten der Juden teil, da der kirchliche Antisemitismus im Unterschied zu dem vom Faschismus aufgegriffenen rassistischen Antisemitismus zwar auf die Bekämpfung des Judentums und die Bekehrung der Juden zielte, nicht aber auf Mord. Dennoch wurden etwa 7.000 Juden aus Italien in die Vernichtungslager deportiert. Zu den Gründungslegenden der Republik Italien gehörte, dass sich beide großen politischen Lager, sowohl das christdemokratische als auch das kommunistische, auf den Widerstand gegen den Faschismus beriefen. Diese Einstellung ermöglichte es ihnen, einer historisch-politischen Auseinandersetzung mit den spezifischen Formen des Antisemitismus im faschistischen Italien aus dem Weg zu gehen. Entgegen kam dieser NichtBeachtung, dass judenfeindliche Äußerungen und antisemitische Übergriffe in der italienischen Nachkriegsgesellschaft eher sehr vereinzelt auftraten.
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Nach dem Zusammenbruch des etablierten Parteiensystems im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatte sich zwar auch die zu einer demokratischen Partei gewandelte, ehemalige neofaschistische Organisation „Movimento Sociale Italiano“ von ihrer faschistischen und antisemitischen Herkunft distanziert, gleichwohl sind in der gegenwärtigen italienischen Gesellschaft deutliche Symptome von Antisemitismus zu beobachten. Diese kommen insbesondere in neofaschistischen Gruppierungen und unter rechtsradikalen Jugendlichen sowie in Fußball-Clubs zum Ausdruck. Aber auch im linken Spektrum der italienischen Gesellschaft tauchen immer wieder Anzeichen einer neuen, vor allem gegen den Staat Israel gerichteten Form von Judenfeindschaft auf. In den Jahren um 2000 stieg so die Zahl antisemitischer Vorfälle in Italien deutlich an.
Ulrich Wyrwa
Literatur Gudrun Jäger, Liana Novelli-Glaab (Hrsg.), Judentum und Antisemitismus im modernen Italien, Berlin 2007. Attilio Milano, Storia degli Ebrei in Italia, Torino 1963. Stanislao G. Pugliese (Hrsg.), The Most Ancient of Minorities. The Jews of Italy, WestportLondon 2002. Michele Sarfatti, Gli ebrei nell’Italia fascista. Vicende, identità, persecuzione, Turin 2000. Corrado Vivanti (Hrsg.), Gli ebrei in Italia, 2 Bde., Turin 1996/1997. Ulrich Wyrwa, Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich. Aufklärung und Emanzipation in Florenz, Livorno, Berlin und Königsberg i. Pr., Tübingen 2003. Susan Zuccotti, The Italians and the Holocaust. Persecution, rescue and survival, New York 1987.
Jamaika Seit 1655 siedeln sephardische Juden auf Jamaika. In diesem Jahr eroberten die britischen Truppen die große Antilleninsel, die bis dahin kastilische Kolonie war. Portugiesische und spanische Neuchristen siedelten bereits während der kastilischen Epoche (1510-1655) auf Jamaika. Sie waren von altchristlicher Seite her mit dem Vorwurf konfrontiert, Kryptojuden bzw. Marranen zu sein. Dennoch ist für Jamaika im Gegensatz zu anderen spanischsprachigen Kolonien bis dato kein einziger Fall von Verfolgung durch die spanische Inquisition bekannt. Möglicherweise hatte die seit 1538 regierende Familie Kolumbus-Bragança genügend Einfluss, um die Inquisitoren von der Insel fernzuhalten. Ob es tatsächlich gläubige Juden unter den Neuchristen gegeben hat, bleibt trotzdem ungewiss. Sicher hingegen ist, dass es eine portugiesische Minderheit gab und die Bezeichnung „Portugiesen“ im 17. und 18. Jahrhundert oft synonym für „Juden“ verwendet wurde. Die Tatsache, dass Neuchristen von Seiten kirchlicher und weltlich-christlicher Autoritäten sowie konkurrierender Händler und Pflanzer des Judaisierens verdächtigt wurden, muss bereits als frühneuzeitlicher Antisemitismus gewertet werden. Die Errichtung von
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Nach dem Zusammenbruch des etablierten Parteiensystems im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatte sich zwar auch die zu einer demokratischen Partei gewandelte, ehemalige neofaschistische Organisation „Movimento Sociale Italiano“ von ihrer faschistischen und antisemitischen Herkunft distanziert, gleichwohl sind in der gegenwärtigen italienischen Gesellschaft deutliche Symptome von Antisemitismus zu beobachten. Diese kommen insbesondere in neofaschistischen Gruppierungen und unter rechtsradikalen Jugendlichen sowie in Fußball-Clubs zum Ausdruck. Aber auch im linken Spektrum der italienischen Gesellschaft tauchen immer wieder Anzeichen einer neuen, vor allem gegen den Staat Israel gerichteten Form von Judenfeindschaft auf. In den Jahren um 2000 stieg so die Zahl antisemitischer Vorfälle in Italien deutlich an.
Ulrich Wyrwa
Literatur Gudrun Jäger, Liana Novelli-Glaab (Hrsg.), Judentum und Antisemitismus im modernen Italien, Berlin 2007. Attilio Milano, Storia degli Ebrei in Italia, Torino 1963. Stanislao G. Pugliese (Hrsg.), The Most Ancient of Minorities. The Jews of Italy, WestportLondon 2002. Michele Sarfatti, Gli ebrei nell’Italia fascista. Vicende, identità, persecuzione, Turin 2000. Corrado Vivanti (Hrsg.), Gli ebrei in Italia, 2 Bde., Turin 1996/1997. Ulrich Wyrwa, Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich. Aufklärung und Emanzipation in Florenz, Livorno, Berlin und Königsberg i. Pr., Tübingen 2003. Susan Zuccotti, The Italians and the Holocaust. Persecution, rescue and survival, New York 1987.
Jamaika Seit 1655 siedeln sephardische Juden auf Jamaika. In diesem Jahr eroberten die britischen Truppen die große Antilleninsel, die bis dahin kastilische Kolonie war. Portugiesische und spanische Neuchristen siedelten bereits während der kastilischen Epoche (1510-1655) auf Jamaika. Sie waren von altchristlicher Seite her mit dem Vorwurf konfrontiert, Kryptojuden bzw. Marranen zu sein. Dennoch ist für Jamaika im Gegensatz zu anderen spanischsprachigen Kolonien bis dato kein einziger Fall von Verfolgung durch die spanische Inquisition bekannt. Möglicherweise hatte die seit 1538 regierende Familie Kolumbus-Bragança genügend Einfluss, um die Inquisitoren von der Insel fernzuhalten. Ob es tatsächlich gläubige Juden unter den Neuchristen gegeben hat, bleibt trotzdem ungewiss. Sicher hingegen ist, dass es eine portugiesische Minderheit gab und die Bezeichnung „Portugiesen“ im 17. und 18. Jahrhundert oft synonym für „Juden“ verwendet wurde. Die Tatsache, dass Neuchristen von Seiten kirchlicher und weltlich-christlicher Autoritäten sowie konkurrierender Händler und Pflanzer des Judaisierens verdächtigt wurden, muss bereits als frühneuzeitlicher Antisemitismus gewertet werden. Die Errichtung von
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eigenen Inquisitionsgerichtshöfen 1571 in Mexiko-Stadt und 1570 in Lima sowie 1610 in Cartagena de las Indias (vgl. Karte 1) dokumentiert die judenfeindliche Politik der katholischen Königreiche der iberischen Halbinsel, die seit dem Ende des 14. Jahrhunderts eine gewaltsame Missionierungspolitik betrieben. Nach der Eroberung Jamaikas 1655 verließen mit Ausnahme der „Portugiesen“ alle Iberer die Insel. Die Engländer nutzten das portugiesische Know-how bei der Verfolgung spanischer Widerstandsnester, die gemeinsam mit entlaufenen Sklaven (Maroons) in den gebirgigen Regenwaldzonen noch rund ein Jahrzehnt weiterkämpften. Durch die Präsenz der Portugiesen bot sich der Vorteil, sich rasch in spanische, holländische und französische Handelsbeziehungen im karibischen und atlantischen Raum zu integrieren. Durch ihre Kenntnisse über fremde Kulturräume waren Neuchristen und sephardische Juden als optimale Kulturvermittler (Interpreter, Cultural Broker, Interloper) einsetzbar. Cromwells Aufstieg begünstigte die Einwanderung sephardischer Kaufleute nach London und in andere englische Handelsstädte. Jüdische Fernhändler mit Karibikerfahrung, wie etwa der spanische Neuchrist und in Amsterdam ansässige Sepharde Simon de Caceres, versorgten Cromwell mit essentiellen Informationen über die spanischen Befestigungsanlagen im karibischen Raum. Die jüdische Gemeinde auf Jamaika erhielt durch einen Flüchtlingsstrom aus Brasilien Zuwachs, nachdem Holländisch-Brasilien 1654 von Portugal zurückerobert werden konnte und dadurch wieder die intolerante Religionspolitik und Verfolgung durch die Inquisition einsetzte. Simon de Caceres und der Amsterdamer Haham Menasseh Ben Israel suchten bei Cromwell für die jüdischen Flüchtlinge aus Brasilien um Asyl in den neuen britischen Kolonien in der Karibik an. So erreichten die ersten Juden 1655 Jamaika, einige jüdische Siedler wanderten noch im gleichen Jahr nach New Amsterdam (heute New York) weiter. Nachdem sich seit 1655 in Spanish Town eine jüdische Gemeinde zu formieren begann, wurde 1662 die erste jüdische Synagoge errichtet. Neben den aus Brasilien geflüchteten Sepharden wanderten weitere Sepharden aus Europa (England, Niederlande, Hamburg, Iberische Halbinsel) sowie aus anderen karibischen Kolonien, wie ? Barbados, ? Curaçao, Nevis oder von der „Wilden Küste“ der Guyanas ein. Ebenso ließen sich spanische und portugiesische Neuchristen aus ibero-amerikanischen Kolonien auf Jamaika nieder, wo sie großteils rekonvertierten. Darüber hinaus lassen sich auch Juden im Sinne von temporären Migranten erfassen, die zwischen den europäischen Mutterländern, den atlantischen Inseln (São Tomé e Principe, Fernando Po, Kapverde, Madeira) und Küsten als „Lançados“ pendelten. Bis zum groβen Erdbeben von 1692 entwickelten sich in der jamaikanischen Hauptstadt Spanish Town und in der Hafenstadt Port Royal zwei funktionierende jüdische Gemeinden. Ihre Mitgliederzahl dürfte 800 betragen haben. Die aschkenasische Einwanderung ab 1780 führte zu einem Anstieg der jüdischen Bevölkerung auf Jamaika (1881: 2.535). Weitere Zentren jüdischen Lebens befanden sich vom 18. bis ins 20. Jahrhundert auch in Falmouth, Lucovia, Brown´s Town, Morant Bay, Linstead, Port Antonio, Savanna-La-Mar, Lucea und Montego Bay. Ab 1870 wurde der gesamte karibische Raum von einer Einwanderungswelle aus dem Nahen Osten erfasst. Unter den großteils arabischen Immigranten befanden sich
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auch einige osmanische Juden, deren Fluchtmotiv primär die antisemitische Politik der neuen europäischen Imperialmächte Frankreich und Groβbritannien war. Während des Holocausts diente Jamaika als Exilland für viele Flüchtlinge, allerdings blieb davon nur ein kleiner Prozentsatz auf der Antilleninsel, die meisten wanderten in die USA weiter. In der „Windsor Proclamation“ von 1661 versuchte London Kolonisten anzulocken, indem alle auf Jamaika geborenen Nachkommen von Pflanzern zu „free denizens of England“ (eine Art eingebürgerte Ausländer) erklärt wurden. Diese Bestimmung betraf jedoch nur wenige Juden, da diese hauptsächlich als Händler und Kaufleute und weniger als Kolonisten tätig waren. Bis 1700 lassen sich auf Jamaika acht jüdische Plantagen nachweisen. Viele jüdische Händler waren im Gold-, Silber- und Wechselgeschäft tätig, einige waren eng in den Sklavenhandel verstrickt. Diese den neuen kapitalistischen Begebenheiten angepassten Beschäftigungsstrukturen schufen rasch antisemitische Ressentiments. 1681 wurde ein Gesetz gegen die angeblichen „jüdischen Geldfälscher“ auf Jamaika erlassen. Ferner wurden jüdische Sklavenhalter der Unterstützung aufständischer Maroons (gegen die sie einst gekämpft hatten) verdächtigt, und man unterstellte ihnen die illegale Beschäftigung der Sklaven am Sonntag. 1691 sandten christliche Händler Jamaikas eine Petition nach London, worin sie die Ausweisung aller Juden forderten. Die Folge war eine Extrabesteuerung für Juden (1693), die dreimal so hoch wie die normale Steuerabgabe war. Abgesehen von Freiheiten im religiösen (freie Religionsausübung in Synagogen) und materiellen Bereich (Landkauf, Häuserbau) blieb Juden die Partizipation am politischen Leben ebenso untersagt wie die Bekleidung öffentlicher Ämter oder die Teilnahme an Wahlen, womit sich der Rechtsstatus von jenem freier Farbiger nicht unterschied. Als Zeugen vor Gericht waren Juden ebenfalls nicht zugelassen, da von ihnen kein verpflichtender Schwur auf die christliche Bibel (Neues Testament) abgelegt werden konnte. In den meisten Fällen wurde Juden die Naturalisierung verweigert oder zu sehr hohen Summen verkauft, obwohl sie bereits seit mehreren Generationen auf Jamaika siedelten. Im Kampf um Naturalisierung und Gleichberechtigung gerieten Anfang des 19. Jahrhunderts freie Farbige und Juden aneinander. In der ersten von freien Farbigen herausgegebenen Zeitung „The Watchman“ erschienen 1826-1831 verschiedene antisemitische Beiträge. Bis zur vollständigen Emanzipation der Juden am 13. Juli 1831 appellierte die jüdische Gemeinde an die Kolonialregierung in London, doch die jamaikanische Legislative setzte sich stets gegen die Weisungen aus England durch. Da die weiße Oberschicht und die anglikanische Kirche den jüdischen Einfluss fürchteten, blockierten sie die Emanzipation. 1849 waren bereits acht der insgesamt 47 Mitglieder des jamaikanischen „House of Assembly“ Juden, und zu Yom Kippur wurde das Parlament geschlossen. Insgesamt drei Mal wurde das Amt des Bürgermeisters von Kingston von jamaikanischen Juden bekleidet (Richard Stern 1896-1897, Ernest Altamont da Costa 19251927, Eli Matalon 1971-1973). Im Zusammenhang mit dem neu aufflammenden Antisemitismus afroamerikanischer Bevölkerungsgruppen in den USA Ende der 1980er Jahre rund um die muslimische Glaubensgruppe „Nation of Islam“ und ihrer Druckschrift „African-American history: The Secret Relationship Between Blacks and Jews“ (1991) gerieten gerade die letzten
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auf afrokaribischen Inseln verbliebenen Juden unter Beschuss. Eine groβe Überraschung war schließlich der versöhnliche Besuch von Louis Farrakhan in der Synagoge von Kingston im März 2002, der die muslimischen und jüdischen Religionsanhänger einander näher brachte. Heute beträgt die jüdische Bevölkerung Jamaikas gerade noch 250 Personen. Die meisten jamaikanischen Juden haben die Antilleninsel in Richtung USA verlassen. Die „Höhepunkte” des weißen Antisemitismus lagen zwischen 1655 und 1831, wobei gerade die Phasen nach Naturkatastrophen die Lage für die jüdische Minderheit meist verschlechterten. Die britische Politik lieβ im Gegensatz zur spanischen Politik aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus immer nur verdeckten Antisemitismus zu. Von 1820 bis 1840 schien der Wettlauf um die Emanzipation einen afro-jamaikanischen Antisemitismus aufkommen zu lassen, der sich ab den 1960er Jahren in der Diskussion um den jüdischen Einfluss am Sklavenhandel in den muslimischen Black-Power-Bewegungen noch einmal radikalisierte.
Christian Cwik
Literatur Jacob A.P.M Andrade, A Record of the Jews in Jamaica from the English Conquest to the Present Time, Kingston 1941. Mordechai Arbell, The Portuguese Jews of Jamaica, Kingston 2000. Christian Cwik, Neuchristen und Sepharden als cultural broker im karibischen Raum, in: Zeitschrift für Weltgeschichte, 8(2007), 2, S.153-175. Carol Holzberg, Minorities and Power in a Jewish Community of Jamaica, Lanham 1987. Edward Long, The History of Jamaica, Vol.1-3, London 1774.
Japan Jüdische Themen haben in Japan zwar niemals im Mittelpunkt der Öffentlichkeit gestanden, sondern sind nur am Rande behandelt worden. Aber man kann dennoch nicht von einer Abwesenheit des modernen Antisemitismus sprechen, der auch dort existieren kann, wo Juden kaum ansässig sind oder keine religiöse Judenfeindlichkeit vorhanden ist. Die Zahl der in Japan wohnhaften Juden wird heute auf ca. 1.000 geschätzt. Auf dem mit ca. 128 Millionen Einwohnern dicht besiedelten Inselland bilden sie eine sehr kleine Minderheit. Hier zeigt sich ein Beispiel für Antisemitismus ohne Juden, eine verkleidete Form des Antisemitismus, der nicht direkte Verfolgung oder physische Attacke, sondern indirekte und verschleierte Diffamierung bevorzugt, um bestimmte politische und ideologische Ziele zu erreichen oder um individuelle Bedürfnisse zu erfüllen. Nach dem Ende der Landesabschließungspolitik der japanischen Shogunatsregierung im Jahre 1853 zog eine kleine Zahl von Juden meist als Händler aus Europa und Nordamerika in die japanischen Hafenstädte wie Yokohama oder Nagasaki. Sie wurden von den Japanern als „Abendländer“ angesehen, wobei das Judentum keinen Grund bildete,
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sie von den anderen „Weißen“ christlichen Glaubens zu unterscheiden. Sie stießen weder auf religiöser noch auf sozialpolitischer Ebene auf besondere Probleme. Der Japanisch-Russische Krieg 1904/05 bildete in der japanisch-jüdischen Beziehungsgeschichte eine erste Zäsur. Eine Vielzahl von russischen Juden ergriff angesichts der Pogrome in Russland und des judenfeindlichen Zaren Nikolaus II. für Japan Partei. Jakob Schiff, ein aus Frankfurt am Main stammender amerikanischer jüdischer Bankier, gewährte der japanischen Regierung hohe Kriegsanleihen und trug so zum japanischen Sieg von 1905 bei. Schiff wurde zu einer beliebten Figur in Japan, und dies führte zur Herausbildung eines Stereotyps vom Juden als eines reichen und pro-japanischen Kapitalisten. So war es keine Überraschung, dass die japanische Delegation auf der Pariser Friedenskonferenz im Februar 1919 in Übereinkunft mit Großbritannien ihre Bereitschaft zum Ausdruck brachte, die Gründung eines jüdischen „National Homeland“ in Palästina im Geiste der Balfour-Erklärung von 1917 zu unterstützen. Japan wollte dadurch das Wohlwollen Großbritanniens erringen und die deutschen Kolonien in China und im Pazifik unter seine Kontrolle bringen. In den Jahren 1918/19 machte sich antisemitisches Gedankengut in der japanischen Armee bemerkbar. Japan hatte Truppen in großem Umfang zur Intervention gegen die russische bolschewistische Revolution nach Sibirien geschickt. Dort kamen die japanischen Offiziere mit den konterrevolutionären Kräften der russischen „Weißen Armee“ in Kontakt, unter denen antisemitische Literatur einschließlich der „Protokolle der Weisen von Zion“ verbreitet war. Die Japaner, die in ihrem Leben noch nie Juden begegnet waren und nicht das Geringste über das Judentum wussten, schenkten der Propagandaschrift kritiklos Glauben. Innerhalb des Militärs bildete sich ein kleiner Kreis, der sich mit dem „jüdischen Problem“ intensiv zu beschäftigen begann. Oberst Norihiro Yasue, Teilnehmer am Sibirienfeldzug, gehörte zu diesem Kreis. Er war derjenige, der die „Protokolle der Weisen von Zion“ und Henry Fords „The International Jew“ ins Japanische übersetzte und aufgrund seines Forschungsaufenthalts in Palästina Bücher über Judentum und Zionismus veröffentlichte. Yasue avancierte zum Chef des Nachrichtenbüros der Kwantung-Armee, der japanischen Heeresgruppe in der Mandschurei, und galt Anfang der 1930er Jahre im Militär als „Judenspezialist“. Yasue verfügte über enge Beziehungen zu Juden in China und wollte die Juden zu Japans Bestem nutzen. Die Errichtung des Mandschuko, des japanischen Marionettenstaates in der Mandschurei durch die Kwantung-Armee im März 1932, eröffnete eine neue Phase. Dort lebten damals über 10.000 Juden, die aus Russland ausgewandert und zum großen Teil in Harbin (vgl. Karte 3) ansässig waren. Japan wurde zum ersten Mal in seiner Geschichte innerhalb des Herrschaftsbereiches mit so vielen Juden konfrontiert. Die Kwantung-Armee, die als Besatzungsmacht die volle Befehlsgewalt hatte, verfolgte im Bezug auf den Umgang mit den Juden keine besonderen Absichten. Obwohl der Grundsatz der „Koexistenz der Völker“ proklamiert wurde, erwies es sich als schwierig, die weiträumige Mandschurei mit ihren verschiedenen ethnischen Gruppen unter Kontrolle zu bringen. Die Japaner nutzten dabei die antikommunistisch gesinnten Russen der ehemaligen „Weißen Armee“ als Kollaborateure, die seit Jahren mit Juden im Streit lagen. Als im August 1933 Simeon Kaspe, der Sohn eines reichen jüdischen Hotelinhabers in Harbin und Pianist französischer Nationalität durch eine Bande russi-
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scher Faschisten abgeführt und ermordet wurde, erregte dieser Vorfall weltweites Aufsehen. In den USA, wo die antijapanische Stimmung wegen der Eroberungspolitik Japans zugenommen hatte, erweckte das Ereignis Argwohn, dass die japanische Besatzungsmacht antisemitisch eingestellt sei und die Russen zur Judenverfolgung ermutigt hätte. Japaner nahmen den Vorfall zum Anlass, ein klares Konzept im Umgang mit den Juden zu entwickeln. Yasue argumentierte seit Jahren, die „internationale Machtstellung der Juden“ und ihr breites „Weltnetzwerk“ sollten zugunsten japanischer Interessen nutzbar gemacht werden, und er forderte nun zur Mäßigung im Umgang mit Juden auf. Yasue hielt es für vorteilhaft, wenn Japan einflussreiche Juden in den USA für sich gewinnen und dazu bewegen könnte, Kapital in Mandschuko anzulegen. Außerdem kam es darauf an, die jüdischen Wirtschaftsmagnaten in Shanghai, wie z.B. die Familie Sassoon, aus britischamerikanischem Einfluss zu lösen und von Japan abhängig zu machen. Diese Strategie fand im Wirtschaftskreis um Ayukawa Yoshisuke, dem Gründer des Nissan-Konzerns, Widerhall. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 brachte keine unmittelbaren Auswirkungen auf die japanische Judenpolitik mit sich. Medien lieferten anfänglich kein positives Bild des neuen Deutschland und übten offene Kritik an der Judenpolitik der Nationalsozialisten. Aber im Laufe der ersten drei Jahre änderten sich die Töne. Bereits vor dem Abschluss des Antikomintern-Pakts mit NS-Deutschland 1936 wurde ein neues Konzept zum Umgang mit Juden im Kreis um General Nobutaka Shioden entwickelt. Er war derjenige, der sich während des Ersten Weltkrieges als Militärattaché in Frankreich mit antisemitischem Gedankengut vertraut gemacht hatte und seither konsequent vor der „drohenden jüdischen Gefahr“ warnte. Shioden, Epigone von Julius Streicher, bestand nun darauf, der jüdischen Einflussnahme auf Japan, Mandschuko und China mit Elan entgegenzutreten und sprach sich dagegen aus, Juden als Instrument für die japanische Außen- und Kriegspolitik zu benutzen. Es sei ausgeschlossen, mit Juden gute Beziehungen zu pflegen. Shioden gründete 1935 mit den renommierten Politikern des ultranationalistischen Lagers einen antisemitisch ausgerichteten „Forschungskreis“, der den harmlosen Namen „Forschungsgesellschaft zur internationalen Politik und Wirtschaft“ trug. Einer der Mitglieder war Shiratori Toshio, der sich später als Regierungsbevollmächtigter in Italien für den Abschluss des deutsch-italienisch-japanischen Dreimächtepaktes einsetzte. Die japanische Judenpolitik in Mandschuko schwankte zwischen den zwei Positionen der „Judenspezialisten“ im Militär, Yasue und Shioden, wobei im Außenministerium von Anfang an eine pro-deutsche Haltung dominierte, die sich an Shiodens Linie anschloss. Im Dezember 1938 wurden bei der hochrangig besetzten Fünfministerkonferenz die Leitsätze der Judenpolitik der Reichsregierung beschlossen, die drei Punkte beinhalteten: Juden, die in den Hoheitsgebieten von Japan, Mandschuko und China ansässig sind, erfahren die gleiche Behandlung wie andere Ausländer, und es werden keine Maßnahmen unternommen, sie auszugrenzen. Neuzugänge werden nach den allgemeinen Bedingungen der Einreisebestimmungen behandelt. Es soll vermieden werden, Juden zu ermuntern, nach Japan, Mandschuko und China zu kommen, mit Ausnahme von Kapitalisten oder Ingenieuren, die für das Land von Nutzen sind. Hier setzte sich Yasues Posi-
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tion durch. Gefördert durch diesen Beschluss kam die zumindest äußerlich freundliche japanisch-jüdische Kooperation voran. In den Jahren 1937 bis 1939 fand jedes Jahr im Dezember in Harbin unter der japanischen Mitarbeit der Kongress der jüdischen Gemeinden in Fernost statt. Die Initiatoren waren Yasue und Abraham Kaufmann, Vertreter der jüdischen Gemeinden. Bei den Kongressen wurden angesichts des beginnenden jüdischen Flüchtlingsstromes nach Fernost Überlegungen zur Errichtung eines Sonderwohngebiets für Juden angestellt, dessen Vorbild Birobidschan war. Beim dritten Kongress im Dezember 1939 kam es zum geheimen Beschluss, dass sich beide Seiten um die Errichtung des jüdischen Sonderwohngebiets für 30.000 Juden bemühen sollten. Kaufmann äußerte seine Hoffnung auf Finanzhilfe von den amerikanischen Juden. Diese pro-jüdische Politik Yasues rief Kritik sowohl im Außenministerium als auch im Militärkreis um General Shioden hervor. Das Außenministerium setzte die Priorität bei den freundschaftlichen Beziehungen zum nationalsozialistischen Deutschland. Außenminister Arita Hachiro hatte in der Tat vor dem Beschluss der Fünfministerkonferenz einen Rundbrief erlassen, dass die Einreise der Flüchtlinge nach Japan und in seine Kolonialgebiete untersagt sei. Im Jahre 1940 wurden unter dem Druck des Außenministeriums die in Kobe ansässigen Juden per Schiff nach Shanghai transportiert. Der Außenminister Matsuoka Yosuke untersagte angesichts des bevorstehenden Abschlusses des Dreimächtepaktes den japanischen Konsulaten jede Hilfe für die Juden. Unter diesen Bedingungen konnte der im Dezember 1940 geplante vierte Kongress der jüdischen Gemeinden in Fernost nicht stattfinden. Der Ausbruch des pazifischen Krieges im Dezember 1941 machte jede Möglichkeit zunichte, Juden als den letzten Trumpf in den Verhandlungen mit den USA auszuspielen. Die antisemitische Position, vertreten durch den Shioden, nahm nun die Form eines klaren Antiamerikanismus an. Juden wurden in der Kriegspropaganda als Hintermänner des amerikanischen Imperialismus oder als Spione der USA hingestellt. In der antiamerikanischen Propaganda spiegelten sich rassistisch verzerrte Vorurteile gegen Juden wider. Obwohl der japanische Antisemitismus nicht zu einer physischen Vernichtungspolitik führte, verbreitete sich das jüdische Image als „Parasit“ und „Kriegshetzer“ in der Öffentlichkeit. In Shanghai, einer von Japanern besetzten Metropole in China, wurden antisemitische Maßnahmen eingeführt. Im Februar 1943 wurde in Shanghai eine „Restricted Area“ eingerichtet, was faktisch ein „Ghetto ohne Mauer“ bedeutete. Die nun staatenlos gewordenen Juden wurden dort interniert. Die Errichtung des Shanghaier Ghettos scheint ein Kompromiss zwischen den Nationalsozialisten und den Japanern gewesen zu sein. Es war der SS-Offizier Josef Meisinger, der die Japaner von der Notwendigkeit überzeugen wollte, die Shanghaier Juden zu liquidieren. Dies war ihm nicht gelungen, weil die Japaner, für die die Kriegsführung im Vordergrund stand, nur aus sicherheitspolitischen Gründen die Internierung der Juden befürworteten. Die japanische Niederlage im Zweiten Weltkrieg und die Auflösung des japanischen Kolonialreiches lösten die internationalen Konstellationen, die die Grundlage der japanischen Judenpolitik bildeten, völlig auf. Japan wurde von den Amerikanern besetzt, die Shioden als Hauptkriegsverbrecher verhafteten, wenn er auch mangels ausreichender Beweise freigesprochen wurde. In der Nachkriegszeit traten jüdische Themen völlig in
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den Hintergrund, als ob Japaner vor 1945 nichts mit den Juden zu tun gehabt hätten. Nicht einmal die Frage nach der Kollaboration bzw. der Beteiligung der Japaner am Holocaust ist gestellt worden. Der Antisemitismus seit 1945 nimmt drei Formen an: Die erste ist die Form eines Ersatz-Antiamerikanismus, wie es bei der Flut antisemitischer Bücher in den 1980er Jahren der Fall war. Die zweite ist die Holocaust-Leugnung, die gefördert durch den Geschichtsrevisionismus seit den 1990er Jahren in den Vordergrund des japanischen Antisemitismus gerückt ist. Die dritte ist der Antizionismus, eine politische Ideologie, die seit den 1970er Jahren bei den Linken weit verbreitet ist, die sich im Konflikt im Nahen Osten für die arabischen Länder einsetzen. Die Flut antisemitischer Schriften ist insofern vorbei, als von den 2006 auf dem japanischen Buchmarkt erschienenen dreiunddreißig auf jüdische Themen bezogenen neuen Büchern nur drei oder vier der offen antisemitischen Propagandaliteratur zuzurechnen sind, während in den Jahren 1986 und 1987 mindestens dreißig antisemitische Bücher neu publiziert worden waren. Wie lässt sich der Rückgang antisemitischer Publikationen erklären? Als erster Faktor sind die Nachwirkungen eines Medienskandals im Frühjahr 1995 zu nennen, der mittlerweile als „Fall Marco Polo“ bekannt ist. Der Fall ereignete sich im Rahmen der Kampagne einer kleinen Gruppe von Anhängern des IHR (Institute for Historical Review) in Kalifornien, die durch die Holocaust-Leugnung Aufsehen erregen wollten. Der Anlass war ein von dem Arzt Nishioka Masanori geschriebener Artikel, abgedruckt im Februarheft des Monatsmagazins „Marco Polo“ im renommierten Verlag Bungen Shunju. Nishioka behauptete unter dem Titel „Das größte Nachkriegstabu“, dass es in Auschwitz keine Gaskammern gegeben habe und alle Zeugnisse darüber von Polen und Alliierten in der Nachkriegszeit produziert worden wären. Gleich nach dem Erscheinen des Heftes erfuhr der Verlag harsche Kritik von jüdischen Verbänden, u.a. vom Simon Wiesenthal Center Los Angeles. Viele multinationale Unternehmen ließen sofort ihre Anzeigen in den Publikationen des Verlags stornieren. Als Reaktion stellte der Verlag das Magazin ein und kündigte dem für den Artikel verantwortlichen Chefredakteur. In den folgenden Debatten ging es weniger um die im Artikel vorhandenen Fälschungen und Missdeutungen, als vielmehr um die Pressefreiheit in Japan, wo kein strafrechtliches Vorgehen gegen die „Auschwitz-Lüge“ möglich ist. Die Wirkung des Vorfalls erweist sich als zwiespältig. Einerseits hat er die japanischen Verlagshäuser dazu bewogen, mit den jüdischen Themen besonders bedachtsam umzugehen. Eine Reihe von seriösen und qualifizierten Büchern zum Holocaust wurde danach publiziert. Andererseits ist es nicht zu bestreiten, dass der Druck von jüdischer Seite auf den Verlag so direkt und stark war, dass die japanische Öffentlichkeit von der „real existierenden Macht“ der Juden beeindruckt war. Die „Auschwitz-Lüge“ kommt nun in der Öffentlichkeit kaum vor, aber Holocaustleugner haben im Internet ein reges Betätigungsfeld gefunden. Der zweite Grund liegt in der Veränderung der Interessenlage der Leserschaft. Antisemitische Bücher werden in Japan gerne von Jugendlichen und Geschäftsleuten gelesen, die weniger politisch motiviert sind, als dass sie Freude daran haben, sich mit den in der Schule oder der Universität nicht gelehrten „Geheimen Sachen“ vertraut zu machen, ohne sich bewusst zu sein, dass sie dadurch die Ehre und Gefühle der Juden verletzen.
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Das bevorzugte Thema dieser Leserschaft wandelt sich: von der Verschwörungstheorie über die Pseudowissenschaft, den Okkultismus bis zum Geschichtsrevisionismus, der nun zur rapiden Belebung eines neuen Nationalismus beiträgt. Die Autoren antisemitischer Bücher entdecken immer wieder neue Themen in diesen Bereichen. Der gekündigte Chefredakteur des Magazins „Marco Polo“ hat sich zum Chefredakteur einer rechtsgerichteten Monatsschrift verwandelt, die bemüht ist, anstatt der „Auschwitz-Lüge“ die „Nanking-Lüge“ in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Der Rückgang antisemitischer Bücher darf nicht zu dem Schluss führen, dass der Antisemitismus in Japan keinen Nährboden mehr besitzt, im Gegenteil. Der japanische Antisemitismus, der kaum etwas zu tun hat mit dem europäisch-christlichen Antijudaismus und stattdessen in der „Vorstellung einer jüdischen Verschwörung“ seinen wesentlichen Nährboden besitzt, kann leicht in den internationalen Konflikten, wie z.B. im Nahen Osten, Anlässe finden, sich zu aktivieren. Der antisemitische Boom auf dem Buchmarkt in den 1980er Jahren war ohne Zweifel eine ummittelbare Reaktion auf die gezielte „Japan bashing“ durch die US-Amerikaner, die die „rising sun“ als Ursache allen Übels für die Welt hinstellten.
Yuji Ishida
Literatur John Dower, War without Mercy, Race and Power in the Pacific War, New York 1986. Françise Kreissler, Japans Judenpolitik (1931-1945), in: Gerhard Krebs u.a. (Hrsg.), Formierung und Fall der Achse Berlin-Tokyo, München 1994, S.187-210. Uwe Makino, Im Osten Nichts Neues. Zur Leugnung des Holocaust in Japan, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 10(2001), S.204-222. Heinz Eberhard Maul, Japan und die Juden. Studie über die Judenpolitik des Kaiserreiches Japan während der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945, Diss., Bonn 2000. Herbert Worm, Holocaust-Leugner in Japan. Der Fall „Marco Polo“, in: Manfred Pohl (Hrsg.), Japan 1994/1995. Politik und Wirtschaft, Hamburg 1995, S.114-161.
Jugoslawien Antisemitismus und Holocaust haben in der Forschung des ehemaligen Jugoslawien nur eine marginale Rolle gespielt. Einer weitverbreiteten Auffassung zufolge habe es im ersten und zweiten Jugoslawien sowie in den postjugoslawischen Staaten keinen oder zumindest keinen nennenswerten autochthonen Antisemitismus gegeben. Gelegentliche antisemitische Strömungen seien ein „Importprodukt“. In der serbischen Variante dieser Auffassung wird allein „den Kroaten“ ein Hang zum Antisemitismus attestiert, während in der kroatischen Variante der Antisemitismus auf „die Serben“ beschränkt bleibt. Die vermeintliche Abwesenheit von Antisemitismus in der eigenen Gesellschaft erklärt, warum es dazu nur wenige Forschungen gibt, da man nicht untersuchen kann, was nicht existiert. In den 1990er Jahren breitete sich – vor allem in Serbien – neben antisemitischen Verschwörungstheorien auch eine philosemitische Rhetorik aus. Und gelegentlich
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wurden die Serben sogar als „Juden des Balkans“, als „der verlorene 13. Stamm Israels“ apostrophiert.
Antisemitismus von Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Im ersten jugoslawischen Staat (1918-1941), der sich aus sehr unterschiedlichen Landesteilen zusammensetzte, die lange Zeit entweder zum Osmanischen Reich oder zur Habsburger Monarchie und Venedig gehört hatten, und der sich bis 1929 „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ nannte, lebten gemäß den Ergebnissen der Volkszählung von 1921 knapp 65.000 Menschen, die sich zum mosaischen Glauben bekannten (0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung). Siedlungsschwerpunkte waren die Städte Zagreb, Belgrad und Sarajevo sowie eine Reihe kleinerer Städte in Slawonien, in der Wojwodina und Makedonien. Die jüdischen Gemeinden waren ähnlich heterogen wie die einzelnen Landesteile des neuen Staates. In den ehemals osmanischen Territorien südlich von Save und Donau lebten vornehmlich die Nachkommen der aus Spanien und Portugal Ende des 15. Jahrhunderts vertriebenen Sepharden mit Siedlungsschwerpunkten in Sarajevo und Belgrad, während die in Kroatien-Slawonien (Zagreb und Osijek), in der Wojwodina (Novi Sad und Subotica) sowie (seit 1878) z.T. auch in Bosnien beheimateten Aschkenasen erst im Verlauf des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aus anderen Teilen der Habsburger Monarchie zugewandert waren. Während die Mitglieder der ersten Gruppe in der Regel sephardisch/spaniolisch sprachen und gegenüber dem ? Osmanischen Reich, das sie einst mit offenen Armen aufgenommen und ihren Glauben geduldet hatte, loyal waren, sprachen die Aschkenasen vor 1918 zumeist deutsch oder ungarisch. Ihre staatspolitische Loyalität gehörte der Habsburger Monarchie oder dem Königreich Ungarn. 1919 wurde im slawonischen Osijek die „Föderation der jüdischen Religionsgemeinschaften in Jugoslawien“ gegründet, die als Dachorganisation der jüdischen Bevölkerungsgruppen fungierte und diese nach außen vertrat. Aber erst 1929 wurden die Juden als Religionsgemeinschaft im Königreich Jugoslawien gesetzlich anerkannt. De facto – nicht de jure – galten sie auch als nationale Minderheit. Deutsch und kroatisch sprechende Juden schlossen sich in Osijek und Zagreb zu zionistischen Vereinigungen zusammen, die bald auch in anderen Landesteilen Fuß fassten. Im Unterschied zu politischen Strömungen bei den kroatischen Juden, die dem jugoslawischen Staat anfangs ablehnend gegenübergestanden hatten, begrüßten die Zionisten den neuen Staat in der Hoffnung, ihre Ideen unter allen in Jugoslawien lebenden Juden verbreiten und sie damit einigen zu können. Sie besaßen großen Einfluss in der „Föderation der jüdischen Gemeinden“ und propagierten ein jüdisch-nationales Gedankengut. Die Auswanderung nach Palästina hielt sich in bescheidenen Grenzen. Religiös blieben die jüdischen Gemeinden in drei Richtungen gespalten: in die aschkenasischen Neologen (vor allem in den ehemals habsburgischen Territorien), die aschkenasischen Orthodoxen (hauptsächlich in der Wojwodina) und die Sepharden (in den vormals osmanischen Regionen). Ungeachtet der religiösen Differenzen schritt die wechselseitige Integration der jüdischen Gemeinden in Jugoslawien in der Zwischenkriegszeit voran. An die Stelle der früheren Bindungen zu Budapest, Wien, Berlin oder Saloniki trat zunehmend die Orientierung auf den jugoslawischen Staat und der allmähliche Sprachwechsel von Ungarisch, Deutsch, Jiddisch oder
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Spaniolisch zu Serbisch/Kroatisch oder zu einem Bilinguismus, in dem das Serbische/ Kroatische einen immer wichtigeren Platz einnahm. Mehr und mehr entwickelten Aschkenasen und Sepharden ein gemeinsames, jüdisch-national geprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl, wenngleich die Zwischenkriegszeit zu kurz war, um alle Differenzen überwinden zu können. Bei vielen Juden in der Wojwodina behauptete sich die Affinität zu Ungarn, während einige Juden in Kroatien oder Serbien mitunter die Loyalität mit der kroatischen respektive serbischen Nation über die jugoslawische Orientierung stellten. Vergleichbar den bosnischen Muslimen drohten die Juden Jugoslawiens damit zwischen die Fronten der serbisch-kroatischen Auseinandersetzung zu geraten. Doch die wechselseitige Integration der jüdischen Gemeinden und die Akzeptanz Jugoslawiens als gemeinsames staatliches Dach verhinderten, dass das anfängliche Mosaik der jüdischen Gemeinden auseinanderbrach. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs gliederten sich die 75.000-78.000 Juden in Jugoslawien in 117 jüdische Gemeinden, von denen zwölf orthodox waren. Infolge ihres über dem jugoslawischen Durchschnitt liegenden Bildungsniveaus, ihrer starken Verstädterung und ihrer Sprachkenntnisse nahmen die Juden wichtige Positionen im Handel, in der Industrie sowie in freien Berufen ein. In antisemitischen Darstellungen ist ihr wirtschaftlicher Einfluss – fast die Hälfte des jugoslawischen Nationalvermögens sei zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in jüdischen Händen gewesen – allerdings maßlos übertrieben worden. Über antisemitische Strömungen in den ehemals habsburgischen Teilen Jugoslawiens vor 1918 wissen wir bisher wenig. Dass es solche Strömungen gab – sowohl in Gestalt des religiösen Antijudaismus wie in Gestalt des modernen Antisemitismus – steht außer Frage. Über ihre Bedeutung und Stärke kann bislang nur spekuliert werden. Indizien deuten darauf hin, dass der Antisemitismus nach Erlass des Emanzipationsgesetzes von 1873 zunahm. In ? Serbien und in den anderen Gebieten, die lange unter osmanischer Herrschaft gestanden hatten, hatte der religiöse Antisemitismus nie eine so große Rolle gespielt wie in den katholischen und protestantischen Ländern. Erst mit der modernen Staats- und Nationsbildung gerieten die Juden als „Kollaborateure“ der Osmanen gelegentlich ins Schussfeld der Kritik. Nachdem die Großmächte in Artikel 35 des Berliner Vertrags von 1878 Serbien zur Gleichbehandlung aller Religionen verpflichtet hatten, nahm der latente Antisemitismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu. Auf der anderen Seite galten diejenigen Juden, die sich an den Balkankriegen von 1912/13 und am Ersten Weltkrieg beteiligt hatten, als serbische Patrioten. In der Zwischenkriegszeit wurde der Antisemitismus in beiderlei Gestalt von Staats wegen bis 1940 bekämpft. Dennoch blieb Jugoslawien keine antisemitismusfreie Oase. Völkerpsychologische Untersuchungen, Rassenkunde und bevölkerungspolitische Konzepte, darunter die moderne Erbgesundheitslehre (Eugenik), erfreuten sich auch in Jugoslawien wachsender Beliebtheit und beförderten die Entstehung eines rassistischen Antisemitismus, der sich mit ökonomisch, national und religiös konnotierten Vorurteilen verband. Schon in den 1920er Jahren finden sich vereinzelt – etwa in Presseorganen der „Organisation jugoslawischer Nationalisten“ (ORJUNA) – Hetzartikel gegen die Juden als „Parasiten“, „antinationale“ und „antistaatliche Elemente“, deren starker Einfluss in der
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Wirtschaft zurückgedrängt werden müsse. Insbesondere die magyarisierten Juden in der Wojwodina, die gleich der ungarischen Minderheit dem neuen Staat ablehnend gegenüberstanden, sahen sich heftigen Angriffen ausgesetzt. Auch in der serbischen Bewegung der „Gottesanbeter“ (Bogomoljci), einer frommen Laienbewegung aus dem „einfachen Volk“, die nach dem Ersten Weltkrieg vom jungen Bischof der orthodoxen Kirche Nikolaj Velimirović nachhaltig gefördert wurde, breiteten sich antisemitistische Strömungen aus. Unter den Auspizien von Velimirović rückten die Bogomoljci immer weiter nach rechts und entwickelten sich zu einer antiwestlichen, serbisch-nationalistischen Bewegung mit unverkennbaren Sympathien für den Antisemitismus. Ihre Zeitschrift „Hrišćanska zajednica“ (Christliche Gemeinschaft) veröffentlichte bereits 1926 Auszüge aus den „Protokollen der Weisen von Zion“, – gut zehn Jahre bevor die vollständige serbische Übersetzung der „Protokolle“ erschien (und prompt verboten wurde). Aus seiner Bewunderung für Hitler machte Velimirović in den 1930er Jahren keinen Hehl. In einer Schrift aus dem Jahr 1939 „Wohin gehörst du, kleines serbisches Volk?“ (Neuauflage 2001) erklärte er, dass das serbische Volk „arischen Blutes“ sei und die Tore des „arischen Europa“ gegen den Ansturm primitiver Völkerschaften verteidige. Zu der 1935 gegründeten „Jugoslawischen Nationalbewegung Zbor“ unter Führung von Dimitrije Ljotić (1891-1945) bestanden enge personelle Verbindungen. Der „Zbor“ war das serbische Pendant zur kroatischen Ustascha-Bewegung, die sich 1929 im Ausland formiert hatte. Beide waren faschistisch-nationalsozialistisch orientiert, verfügten aber nur über eine vergleichsweise geringe Mitgliederzahl (zwischen 4.000 und 6.000 Personen). Anders als die vom Ausland her agierende Ustascha-Bewegung, die den jugoslawischen Staat zerstören wollte, trat Ljotić für ein starkes Jugoslawien ein, lehnte einen Dialog mit den Kroaten über eine Föderalisierung ab und forderte die „rassische und biologische Verteidigung der nationalen Lebenskraft und Familie“. Trotz der begrenzten Zahl an eingeschriebenen Mitgliedern und ungeachtet desolater Wahlergebnisse verfügte Ljotić über beträchtlichen Einfluss, denn er besaß vielfältige Kontakte zu prominenten serbischen Nationalisten, unter ihnen Bischof Nikolaj Velimirović sowie die künftigen NS-Kollaborateure Milan Aćimović und General Milan Nedić. Auch in den Reihen kroatischer Nationalisten machte sich der Antisemitismus seit Mitte der 1920er Jahre breit und nahm nach der „Machtergreifung“ Hitlers weiter zu. 1929 erschien in Split und Šibenik eine kroatische Übersetzung der „Protokolle der Weisen von Zion“, deren Text in mehreren Zeitschriftenartikeln bereits zwischen 1925 und 1928 vom Professor für katholische Theologie Petar Grabić veröffentlicht worden war. Schon wenige Wochen nach dem Sieg der Nationalsozialisten in Deutschland riefen kroatische Nationalisten zu einem Boykott jüdischer Händler, Ärzte und Anwälte auf. Ende Oktober 1936 überreichte der Führer der Ustascha-Bewegung, Ante Pavelić, seinen nationalsozialistischen Kontaktpersonen ein Memorandum über die kroatische Frage, in dem er die Bewunderung des „kroatischen Volkes“ für Hitler-Deutschland als „den mächtigen Kämpfer für lebendes Recht, wahre Kultur und höhere Zivilisation“ zum Ausdruck brachte. Die Idee des „Jugoslawismus“ wurde nach Pavelićs Ausführungen nur „von einem kleinen, zumeist blutsfremden Teil der Intelligenz“ vertreten, während ihn das kroatische Bauernvolk „instinkthaft als fremd und gefährlich“ ablehne. Zu den Hauptfeinden der Ustascha-Bewegung gehörten – neben der „serbischen Staatsge-
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walt“ als dem eigentlichen Schöpfer und Träger des jugoslawischen Staats – die „internationalen Freimaurer“ und das Judentum, das die nationale Selbständigkeit Kroatiens nicht wünsche, da es vom „nationalen Chaos“ profitiere. Bis in die zweite Hälfte der 1930er Jahre hinein blieb der Antisemitismus in Jugoslawien jedoch eine Randerscheinung. Er war latent als Vorurteil und Feindbild vorhanden (insofern bedarf auch die These vom „Import“ einer Modifizierung), doch erst ab Herbst 1939 fand er Eingang in die Regierungspolitik. Der Antisemitismus „von oben“ manifestierte sich in einer die Juden (an den Universitäten und im Wirtschaftsleben) diskriminierenden Gesetzgebung. Die Tragödie für die in Jugoslawien beheimateten oder dorthin geflüchteten Juden begann mit dem Überfall Hitlers im April 1941. Zwischen 55.000 und 60.000 jugoslawische Juden und ca. 4.000 jüdische Flüchtlinge fielen dem Holocaust zum Opfer. Der größere Teil von ihnen (etwa 37.000) wurde im besetzten und aufgeteilten Jugoslawien ermordet, v.a. in den von der kroatischen Ustascha-Regierung eingerichteten Konzentrationslagern sowie anlässlich deutscher und ungarischer „Vergeltungsmaßnahmen“ in Serbien und der Wojwodina. Rund 28.000 Juden wurden in deutsche Konzentrationslager außerhalb Jugoslawiens deportiert und dort ermordet.
Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Ende des zweiten Jugoslawien 1947 lebten im neuen Jugoslawien rund 12.400 Juden, die von der wieder errichteten „Föderation der Jüdischen Religionsgemeinschaften in Jugoslawien“ vertreten wurden. Zwischen 1948 und 1951 wanderten 7.600 Juden nach Israel aus, sodass sich die Zahl der Juden in Jugoslawien auf knapp 6.200 reduzierte. Gleich den anderen Religionsgemeinschaften sahen sich auch die Juden bis Anfang der 1950er Jahre einer scharfen antireligiösen Politik des sozialistischen Regimes ausgesetzt und ihre einst wohlhabenden Repräsentanten wurden als „Klassenfeinde“ diffamiert. Der religiös, rassisch oder national motivierte Antisemitismus gehörte jedoch der Vergangenheit an. Die Säkularisierung der Juden schritt nach dem Zweiten Weltkrieg rasch voran. Im September 1952 löschte die „Föderation“ das Adjektiv „religiös“ aus ihrem offiziellen Namen. Der Großteil der Juden identifizierte sich mit dem sozialistischen Jugoslawien und seinen Gründungsmythen, und viele deklarierten sich als „Jugoslawen“, nachdem diese Option anlässlich der Volkszählung von 1961 erstmals eröffnet worden war. Die „Jugoslawen“ gehörten zu den prominenten Minderheiten in Jugoslawien, genossen aber im Unterschied zu anderen nationalen Minderheiten keinen Minderheitenschutz. Als der jugoslawische Staat 1991/92 auseinanderbrach, verloren die „Jugoslawen“ ihr Identifikationsobjekt und gerieten unter massiven Entscheidungsdruck. Entweder sie hielten an der (obsolet gewordenen) jugoslawischen Orientierung fest oder identifizierten sich mit den neuen (postjugoslawischen) Nationalstaaten.
Antisemitismus in den postjugoslawischen Staaten Die „Renaissance“ des Nationalismus, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Verlauf oder gegen Ende der 1980er Jahre im ehemaligen Jugoslawien einsetzte, wurde insbesondere in Serbien und Kroatien von einer Mischung aus Antisemitismus und Philosemi-
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tismus begleitet. Die nach Proklamierung der kroatischen Unabhängigkeit 1991 zumindest ansatzweise erfolgte Rehabilitierung des Ustascha-Staates, der serbisch-kroatische Streit um die Zahl der Opfer im kroatischen Konzentrationslager Jasenovac (vgl. Karte 7), wo während des Zweiten Weltkriegs Zehntausende von Serben und Juden ermordet worden waren, sowie verschiedene Passagen im Werk des ersten kroatischen Staatspräsidenten, Franjo Tudjman, „Irrwege der Geschichtswirklichkeit“ (1989) leisteten mit der Verharmlosung der jüngsten kroatischen Vergangenheit auch einer Neuauflage des Antisemitismus Vorschub. Obwohl Tudjman in den 1990er Jahren demonstrativ danach strebte, seine antisemitischen Äußerungen in Wort und Schrift vergessen zu machen und die Kontakte zu Israel zu normalisieren und obwohl sich die jüdische Gemeinde in Kroatien um ein problemloses und „gutes“ Verhältnis zum neuen kroatischen Staat bemühte, waren die Juden beunruhigt und aufgewühlt durch die Art und Weise, wie Teile der kroatischen Gesellschaft mit der „wiedererwachten Geschichte“, insbesondere mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg umgingen. 2001 erschien in Zagreb ein Buch von Petar Vučić über „Judentum und Kroatentum. Ein Beitrag zur Untersuchung der kroatisch-jüdischen Beziehungen“. Die Kernthese des Autors lautet, dass es in Kroatien keinen (oder allenfalls einen „importierten“) Antisemitismus gegeben habe. Der Autor ist kein Holocaust-Leugner und wird nicht müde, antijüdische Stereotypen zu kritisieren. Im Duktus eines um Objektivität, Rationalität und Nüchternheit bemühten Autors versucht er nachzuweisen, dass Äußerungen, die anderswo als Antisemitismus eingestuft werden, im kroatischen Fall nur Realitätsbeschreibungen seien. Er wirbt bei seinen Lesern um Verständnis für die „parasitäre“ Rolle der Juden und ihre internationalistische Orientierung, die bedauerlicherweise in einem Spannungsverhältnis zu den Nations- und Nationalstaatsbildungsprozessen der Kroaten stehe. In Serbien war es vor allem die zunächst von hohen Repräsentanten der Orthodoxen Kirche betriebene Rehabilitierung des 1956 im amerikanischen Exil verstorbenen Bischofs Nikolaj Velimirović, die zu einer Wiederbelebung antisemitischen Gedankenguts führte. Trotz seiner Bewunderung für Hitler hatte Velimirović während der deutschen Besatzung in Serbien (1941-1944) als Nationalist unter Hausarrest gestanden und war im September 1944 für drei Monate in das Konzentrationslager Dachau als „Ehrenhäftling“ eingewiesen worden. Während seiner Internierung hatte er eine Sammlung von Essays geschrieben, die erstmals in den 1980er Jahren unter dem Titel „Worte an das serbische Volk durch das Kerkerfenster“ erschienen. Darin zog Velimirović gegen die „modernen Ideen, namentlich gegen Demokratie, Streiks, Sozialismus, Atheismus, religiöse Toleranz, Pazifismus, globale Revolution, Kapitalismus und Kommunismus“ zu Felde, die er als Erfindungen der „Juden oder ihres Vaters, des Teufels“ bezeichnete. Velimirovićs Apologeten störten sich nicht an dessen Antisemitismus, und im Mai 2003 wurde der Bischof von der Orthodoxen Kirche, die den Antisemitismus offiziell verurteilte, als „Märtyrer“ heilig gesprochen. Seine lange verbotenen Schriften erlebten zahlreiche Neuauflagen. Der serbisch-jüdische Schriftsteller David Albahari, der von 1991 bis 1994 Vorsitzender der Föderation der jüdischen Gemeinden in Jugoslawien war und anschließend nach Kanada emigrierte, beschreibt in seinem Roman „Pijavice“ (Blutegel; dt. Titel: Die Ohrfeige, 2007) die erstickende Mischung aus Nationalismus, Antisemitismus und Verschwörungstheorien in Serbien gegen Ende der 1990er Jahre.
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Parallel zum Antisemitismus verbreitete sich auch eine Art Philosemitismus. Der von Nationalisten beschworene „jahrhundertelange Genozid“ an den Serben als letzte Konsequenz der Unterdrückung durch Islam und Katholizismus legte einen Vergleich mit dem Schicksal der Juden nahe. Serben und Juden galten als Opfernationen und „Schicksalsgemeinschaft“. Nur in scheinbarem Widerspruch dazu standen die in den 1980er und 1990er Jahren – insbesondere während der NATO-Intervention von 1999 – ausufernden Verschwörungstheorien in Serbien, die auch das „Weltjudentum“ einbezogen. Dieses zählte zu den Triebkräften der internationalen Verschwörung gegen Serbien, während die im Lande selbst lebenden Juden (nach den Ergebnissen der Volkszählung von 2002 handelte es sich um 1158 Personen) als Freunde vereinnahmt wurden. Bereits Ende Mai 1988 hatten serbische Nationalisten, darunter Akademiepräsident Ljubomir Tadić, der Schriftsteller Dobrica Ćosić und Milan Bulajić (Autor zahlreicher Bücher und Pamphlete über den Serbenmord im „Unabhängigen Staat Kroatien“), einen serbisch-jüdischen Freundschaftsverein gegründet, der von der Föderation der jüdischen Gemeinden in Belgrad abgelehnt und kritisiert wurde. Mit ihrem demonstrativen Philosemitismus versuchten die Vereinsgründer, die Juden für ihre nationalistischen Ziele (nicht zuletzt gegen die „genozidalen“ Kroaten und die Juden in Zagreb) zu instrumentalisieren. Das Ende der 13jährigen Herrschaft von Slobodan Milošević am 5. Oktober 2000 und die von seinem Nachfolger Zoran Djindjić bis zu dessen Ermordung im März 2003 eingeleitete Öffnung Serbiens gegenüber dem Westen verstärkten den Antiokzidentalismus und die Xenophobie in Teilen der Gesellschaft und verhalfen den nationalistischen Parteien sowie der „Neuen Rechten“ in Gestalt verschiedener Vereinigungen, Zeitschriften und Internetforen zu einem unerwarteten Aufschwung. Zwischen Ende der 1980er Jahre und 2006 erschienen in Serbien mehr als 150 antisemitische Schriften, darunter zwölf verschiedene Ausgaben der „Protokolle der Weisen von Zion“ und mehrere Arbeiten von Ratibor Djurdjević (über den „jüdischen Ritualmord“ u.ä.). Diese Publikationen sowie gelegentliche Schändungen jüdischer Friedhöfe und antisemitische Graffiti wurden von den Behörden und Gerichten in der Regel tatenlos hingenommen. Inwieweit der erneuerte Antisemitismus in der serbischen Gesellschaft dauerhaft Rückhalt findet, bleibt freilich noch abzuwarten.
Holm Sundhaussen
Literatur Jovan Bajford, Potiskivanje i poricanje antisemitizma – sećanje na vladiku Nikolaja Velimirovića u savremenoj srpskoj pravoslavnoj kulturi [Unterdrückung und Leugnung des Antisemitismus – die Erinnerung an den Bischof Nikolaj Velimirović in der zeitgenössischen serbischen orthoxen Kultur], Beograd 2005. Ivan Čerešnješ, Caught in the Wind of War. Jews in the Former Yugoslavia, Jerusalem 1999. Harriett P. Friedenreich, The Jews of Yugoslavia. A Quest for Community, Philadelphia 1979. Ivo und Slavko Goldstein, Holokaust u Zagrebu, Zagreb 2001. Ivo Goldstein, Narcisa Lengel Krizman (Hrsg.), Zna li se 1941-1945. Antisemitism, Holocaust, Antifascism, Zagreb 1997. Slavko Goldstein (Hrsg.), Židovi na tlu Jugoslavije, Zagreb 1988.
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Ari Kerkkänen, Yugoslav Jewry. Aspects of Post-World II and Post-Yugoslav Developments, Helsinki 2001. Nebojša Popović, Jevreji u Srbiji (1918-1941), Beograd 1997. Laslo Sekelj, Antisemitism and Jewish Identity in Serbia after the 1991 Collapse of the Yugoslav State, Jerusalem 1998.
Kanada Dass es in Kanadas Geschichte einen ausgeprägten Antisemitismus gegeben hat, mag überraschen. Eine der inhumansten und rassistischsten Perioden in der kanadischen Einwanderungsgeschichte waren die 1930er und 1940er Jahre. Zu dieser Zeit versuchten Juden, dem in Europa wütenden Holocaust zu entfliehen und nach Kanada zu emigrieren. Die Regierung verweigerte ihnen systematisch die Einreise, obwohl man eindeutig über den in Europa stattfindenden Genozid am jüdischen Volk Bescheid wusste. Die inoffiziell Journalisten gegenüber gemachte Bemerkung eines anonym gebliebenen höheren Einwanderungsbeamten ist tragischerweise charakteristisch für die Regierungspolitik. Auf die Frage, wie viele Juden nach Kanada zugelassen würden, erklärte dieser: „Keiner ist schon zuviel.“ Die jüdische Einwanderung nach Kanada geht bis in das 18. Jahrhundert zurück. Wie der Historiker Abella schreibt, versteckte sich am 15. September 1738 eine 19-jährige Französin, Esther Brandeau, an Bord der „St. Michel“ und erreichte Neufrankreich. Die Behörden waren misstrauisch bezüglich ihrer Herkunft. Nach einer Reihe von Untersuchungen stellte sich heraus, dass sie Jüdin war. Mit dieser Feststellung war klar, dass sie nicht in Neufrankreich bleiben konnte, denn die Ansiedlung von Juden war streng verboten. Die Kirchenbehörden von Quebec ersuchten sie zu konvertieren. Obwohl man fast ein Jahr lang auf sie einredete und sie sogar bedrohte, gab Brandeau nicht nach. Brandeau, die erste dokumentierte jüdische Einwanderin auf dem Gebiet des heutigen Kanada, wurde 1739 auf direkte Anweisung von König Louis XVI. zurück nach Europa deportiert. Bis 1759 blieb es Juden verboten, in der Kolonie Neufrankreich zu siedeln. Dies könnte der Grund dafür sein, dass die meisten Juden Neufrankreichs während der Aufstände von 1837/38 die Partei der Briten ergriffen. Ebenso wie die Migration anderer Gruppen, etwa aus Ostindien oder China, fand jüdische Einwanderung vor dem Hintergrund von Rassismus, Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit statt. Während der ersten jüdischen Einwanderungswelle von Bedeutung in der Mitte des 18. Jahrhunderts kamen Juden aus den USA und aus England. Jene aus England waren meist mittel- und osteuropäischer Herkunft, die aus den USA Kommenden überwiegend sephardisch. 1768 wurde in Montreal die erste jüdische Gemeinde gegründet, die der sephardischen Tradition folgende spanisch-portugiesische Shearith Israel-Gemeinde. Ebenfalls in Montreal wurde 1846 mit der Shaar Hashomayin-Gemeinde die erste aschkenasische Synagoge etabliert. Der erste offizielle Zensus, der die jüdische Bevölkerung in Oberkanada (Upper Canada) erfasste, schätzte 1831 die Zahl der jüdischen Einwohner auf 107. Die jüdische
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Ari Kerkkänen, Yugoslav Jewry. Aspects of Post-World II and Post-Yugoslav Developments, Helsinki 2001. Nebojša Popović, Jevreji u Srbiji (1918-1941), Beograd 1997. Laslo Sekelj, Antisemitism and Jewish Identity in Serbia after the 1991 Collapse of the Yugoslav State, Jerusalem 1998.
Kanada Dass es in Kanadas Geschichte einen ausgeprägten Antisemitismus gegeben hat, mag überraschen. Eine der inhumansten und rassistischsten Perioden in der kanadischen Einwanderungsgeschichte waren die 1930er und 1940er Jahre. Zu dieser Zeit versuchten Juden, dem in Europa wütenden Holocaust zu entfliehen und nach Kanada zu emigrieren. Die Regierung verweigerte ihnen systematisch die Einreise, obwohl man eindeutig über den in Europa stattfindenden Genozid am jüdischen Volk Bescheid wusste. Die inoffiziell Journalisten gegenüber gemachte Bemerkung eines anonym gebliebenen höheren Einwanderungsbeamten ist tragischerweise charakteristisch für die Regierungspolitik. Auf die Frage, wie viele Juden nach Kanada zugelassen würden, erklärte dieser: „Keiner ist schon zuviel.“ Die jüdische Einwanderung nach Kanada geht bis in das 18. Jahrhundert zurück. Wie der Historiker Abella schreibt, versteckte sich am 15. September 1738 eine 19-jährige Französin, Esther Brandeau, an Bord der „St. Michel“ und erreichte Neufrankreich. Die Behörden waren misstrauisch bezüglich ihrer Herkunft. Nach einer Reihe von Untersuchungen stellte sich heraus, dass sie Jüdin war. Mit dieser Feststellung war klar, dass sie nicht in Neufrankreich bleiben konnte, denn die Ansiedlung von Juden war streng verboten. Die Kirchenbehörden von Quebec ersuchten sie zu konvertieren. Obwohl man fast ein Jahr lang auf sie einredete und sie sogar bedrohte, gab Brandeau nicht nach. Brandeau, die erste dokumentierte jüdische Einwanderin auf dem Gebiet des heutigen Kanada, wurde 1739 auf direkte Anweisung von König Louis XVI. zurück nach Europa deportiert. Bis 1759 blieb es Juden verboten, in der Kolonie Neufrankreich zu siedeln. Dies könnte der Grund dafür sein, dass die meisten Juden Neufrankreichs während der Aufstände von 1837/38 die Partei der Briten ergriffen. Ebenso wie die Migration anderer Gruppen, etwa aus Ostindien oder China, fand jüdische Einwanderung vor dem Hintergrund von Rassismus, Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit statt. Während der ersten jüdischen Einwanderungswelle von Bedeutung in der Mitte des 18. Jahrhunderts kamen Juden aus den USA und aus England. Jene aus England waren meist mittel- und osteuropäischer Herkunft, die aus den USA Kommenden überwiegend sephardisch. 1768 wurde in Montreal die erste jüdische Gemeinde gegründet, die der sephardischen Tradition folgende spanisch-portugiesische Shearith Israel-Gemeinde. Ebenfalls in Montreal wurde 1846 mit der Shaar Hashomayin-Gemeinde die erste aschkenasische Synagoge etabliert. Der erste offizielle Zensus, der die jüdische Bevölkerung in Oberkanada (Upper Canada) erfasste, schätzte 1831 die Zahl der jüdischen Einwohner auf 107. Die jüdische
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Einwanderung nahm in den 1880er und 1890er Jahren signifikant zu. Während dieser Zeit fanden in Osteuropa, insbesondere im Russischen Reich, Verfolgungen und Pogrome statt. Viele Juden entkamen nach Kanada. In den 1880er Jahren verdreifachte sich die Zahl der kanadischen Juden fast auf 6.500. Der Zensus von 1921 zählte bereits 126.201 Juden in ganz Kanada, etwa je 48.000 in Quebec und Ontario und etwa 17.000 in Manitoba. Montreal hatte in diesem Jahr mit 45.014 Juden die größte Gemeinde, während 2.444 Juden über den Rest der Provinz verstreut lebten. 1931 lebten laut Zensus 155.000 Juden in Kanada. Auch vor der Ankunft jüdischer Immigranten war Antisemitismus in der kanadischen Gesellschaft verbreitet. Aus Europa importierte rassistische, biologische und theologische Theorien fanden weite Akzeptanz. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand der Wechsel vom religiös begründeten Antijudaismus zum modernen Rassen-Antisemitismus statt. Ursprünglich basierte die Differenz auf Sprache. Als die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften eine „rassische“ Bedeutung annahm, begann die akademische Forschung damit, die beiden „Rassen“ zu definieren. Die Einwanderung von Juden verstärkte diese Tendenzen noch. Henri Bourassa, Parlamentsmitglied und Gründer der französischsprachigen Zeitung „Le Devoir“, behauptete beispielsweise 1908 im Parlament anlässlich der Regierungsdebatte über die Zulassung der Opfer russischer Pogrome nach Kanada, dass die russischen Bauern seit Jahrhunderten von Juden ausgesaugt worden seien. So verwundere es nicht, dass sie nun von ihnen schrecklich behandelt würden. Jedes zivilisierte Land hätte die Erfahrung gemacht, dass Juden die am wenigsten wünschenswerte Klasse von Menschen für ein Land seien. 1935 kam der berüchtigte Mackenzie King als Führer der „Liberalen Partei“ an die Macht. Während der ersten beiden Jahre seiner Premierministerschaft kamen so gut wie keine jüdischen Flüchtlinge nach Kanada. Jene, denen es gelang, konnten unter speziellen Ausnahmeregelungen (Orders-in-Canada), die sie von den üblichen Einwanderungsbestimmungen ausnahmen, einreisen. Bis 1938 waren Juden vollkommen von der Einwanderung ausgeschlossen, vor allem dank des ausgeprägten Rassismus von F.C. Blair, dem Leiter der Einwanderungsbehörde. Die Historiker Abella und Troper haben gezeigt, dass er selbst die Bearbeitung aller jüdischen Anträge übernahm, um sicherzustellen, dass kein einziger Jude durchkam. Blair bemühte sich aktiv darum, alle Lücken zu stopfen, durch die europäischen jüdischen Flüchtlingen möglicherweise die Einwanderung gelingen konnte. Im März 1938 behielt Kanada die restriktive Politik gegenüber jüdischer Einwanderung bei. Infolge des Anschlusses Österreichs wurden einige hunderttausend weitere Juden zu Flüchtlingen. In den USA kam es zu öffentlichen Protesten wegen der Behandlung von Juden und es wurde die Unterstützung der Flüchtlinge gefordert. Präsident Franklin Roosevelt lud anlässlich der Flüchtlingskrise mehr als 30 Nationen zu dem Treffen in Evian (6. bis 15. Juli 1938) ein. Laut Aussage von US-Außenminister Cordell Hull bestand die Absicht der USA darin, in die Offensive zu gehen und den Druck zu kanalisieren, vor allem, um einer Liberalisierung der Einwanderungsgesetze zuvorzukommen. Die kanadischen Vertreter nahmen nur unwillig an der Konferenz teil. King befürchtete, dass Roosevelt bei Teilnahme an der Konferenz die Aufnahme jüdischer
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Flüchtlinge verlangen würde. King und Blair waren alarmiert und warnten das Kabinett. King und sein Kabinett waren besessen von der Vorstellung, dass die Zulassung jüdischer Flüchtlinge Kanada zerstören würde, wie ein Blick in Kings Tagebuch zeigt. Seinen Aufzeichnungen zufolge müsse Kanada frei von Unruhe und von einer zu massiven „Mischung mit fremdem Blut“ gehalten werden. Beides würde zwangsläufig die Folge sein, wenn man in dem Bemühen, ein internationales Problem zu lösen, ein internes kreieren würde. Sobald Kanada seine Teilnahme an der Konferenz in Evian zugesagt hatte, versuchten Vertreter der jüdischen Gemeinde, ihr Anliegen vorzutragen. Aber jüdische Interessen wurden abgeblockt, da der zuständige Ausschuss im Kabinett ausschließlich aus flüchtlingsfeindlich eingestellten Parlamentariern bestand, die dafür sorgten, dass die Politik entsprechend blieb. Blair präsentierte in Evian die Position Kanadas und sprach sich für einen Boykott der Flüchtlinge aus. Der Hauptdelegierte der USA, Taylor, hielt die erste Rede und verkündete, dass die Flüchtlingskrise bereits dadurch gelöst werden könne, dass die US-Regierung die sich auf 27.730 belaufende deutsch-österreichische Quote ausfüllen würde. Die Konferenzteilnehmer waren erleichtert. Für die europäischen Juden war die Position der USA eine grausame Enttäuschung. Es war allen Anwesenden klar, dass kein anderes Land handeln würde, wenn nicht einmal die USA zu Aktionen von Bedeutung bereit waren. Die einzige Nation, die sich auf der Konferenz zur Aufnahme von mehr Flüchtlingen bereit erklärte, war die ? Dominikanische Republik. Obwohl Kings Einstellung über die Maßen rassistisch war – seine Sorge darüber, wie das Land, insbesondere Quebec, auf jüdische Flüchtlinge reagieren würde, war nicht ganz unbegründet. Er war davon überzeugt, dass Gewalttaten folgen würden, wenn jüdische Flüchtlinge nach Quebec kämen. Französischsprachige Zeitungen aller politischen Richtungen in Quebec warnten davor, europäische Juden aufzunehmen. Die in Montreal erscheinende linke Tageszeitung „Le Devoir“ stellte die rhetorische Frage, warum man denn angesichts der Tatsache, dass jüdische Ladenbesitzer am St. Laurent-Boulevard nichts zur Bereicherung der Ressourcen des Landes beitrügen, jüdische Flüchtlinge ins Land lassen solle. Regelmäßig fanden sich in Zeitungen wie „La Nation“, „L’Action Catholique“ und „L’Action Nationale“ antisemitische Attacken. Auch führende Politiker und Kirchenleute gingen von einer angeblichen jüdischen Gefahr aus. Der Quebecer Nationalismus hatte stets, zumindest in den Randbereichen, rassistische Elemente. In den 1920er Jahren gründete Adrien Arcand eine faschistische Bewegung. Seine Publikationen, in denen unter anderem die Ritualmordlegende verbreitet wurde, richteten sich gegen die Juden in Quebec. Die Quebecer Nationalisten waren für Wirtschaftsisolationismus, Refranzösisierung und gegen Einwanderung. Juden galten, da sie sich schnell anglisierten, als Hindernis, wurden aber auch von der anglophonen Bevölkerung nicht willkommen geheißen. Sie galten im Sprachkonflikt als Feinde, da sie die englische Bevölkerung stärkten, was unter anderem auch auf die Abschottung der frankophonen Bevölkerung zurückzuführen war. Quebecer Juden unterhielten familiäre und wirtschaftliche Kontakte und institutionelle Bindungen zu Juden in den USA, in Großbritannien und in anderen Teilen Kanadas. Deshalb war die englische Sprache für sie – wie für andere ethnische Gruppen auch – nützlicher als die französische.
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1893 wurde aus Protest gegen die „ersten jüdischen Invasionen“ die „L’Association Catholique de la Jeunesse Canadienne“ (L’ACJC) gegründet, eine katholische Jugendorganisation, die in der Folge an vorderster Front gegen die Anwesenheit von Juden in Quebec kämpfte. Die Treffen der L’ACJC waren Foren für antisemitische Hetzreden und judenfeindliche Agitation. Der Abbé Lionel Groulx, „Schutzheiliger“ der Unabhängigkeitsbewegung, war ein virulenter Antisemit und begeisterter Faschist. Er bewunderte während der 1930er Jahre ganz offen Mussolini, Dollfuß und Salazar und bezichtigte die Quebecer Führung der Schwäche. Groulx schrieb in seinem Tagebuch, dass er gegen Juden, Freimaurer und jeglichen „Fanatismus fremder Rassen“ kämpfe, der der französischen Bevölkerung nicht verzeihen könne, dass sie französisch bleiben wolle. Schon früher hatte Groulx geschrieben, dass die kanadische Seele durch die „kosmopolitischen europäischen Immigranten“ bedroht sei, eine codierte Bemerkung, die sich auf die Juden bezog. Wie Delise und Richler untersucht haben, gründete er 1922, stark beeinflusst von dem Faschisten Maurras, die Zeitung „L’Action Francaise“, benannt nach der faschistischen Partei Frankreichs. Er veröffentlichte unter einem Pseudonym den Roman „L’Appel de la Race“. 1933 legte er seine Vorstellung von „rassischer Reinheit“ in „L’Action Nationale“ dar und kam zu dem Schluss, dass es von entscheidender Bedeutung sei, den Juden bürgerliche und politische Rechte zu verweigern. Er betonte die Wichtigkeit einer Blockierung jeglicher jüdischer Einwanderung aus Deutschland. 1934 war er eine Schlüsselfigur der „Achat Chez Nous“-Bewegung, einer durch die Kirche finanzierten Bewegung, die versuchte, Quebecer davon zu überzeugen, jüdische Läden und Einrichtungen zu meiden, da den Juden – laut einem Artikel in „Le Devoir“ – angeblich „Korruption und Betrug im Blut“ lägen. Die Kirche hatte in der Quebecer Gesellschaft entscheidenden Einfluss. Ihre Doktrin lehrte, dass die Juden verantwortlich für den Tod Christi waren. Auch Politiker hatten antisemitische Anschauungen. Zum Beispiel behauptete 1939 Roger Duhamel, Präsident der „St. Jean Baptiste Society“ und Chefredakteur von „Le Devoir“, dass Juden in der ganzen Welt parasitäre Aktivitäten entfalteten und damit die allgemeine Moral senkten. Am 14. November 1938 organisierten die kanadischen Juden einen Tag der öffentlichen Trauer angesichts der sich verschlimmernden Lage der deutschen Juden. Die Unterstützung von Seiten der Bevölkerung war überwältigend, in ganz Kanada zeigten Tausende Solidarität mit den deutschen Juden. In offenen Briefen baten Politiker, Kirchenleute und andere Führungspersönlichkeiten King um die Zulassung von mindestens 10.000 jüdischen Flüchtlingen. Aber die Quebecer Kabinettsminister, angeführt durch Ernest Lapointe, waren nicht bereit, ihre Einstellung zu ändern. Jüdische Führer, darunter auch Parlamentsabgeordnete, bemühten sich um Treffen mit Regierungsvertretern, die ihnen jedoch verweigert wurden. Nach Ansicht der Historiker Abella und Troper erwies sich im März 1939 die wahre Natur der kanadischen Einwanderungspolitik. Eine Handvoll deutscher Juden hielten sich in Kanada mit Touristenvisa auf. Die Regierung bestand felsenfest auf ihrer Ausweisung. Ein liberales Parlamentsmitglied wies Blair darauf hin, dass die Ausweisung dieser Juden nach Deutschland „einem Todesurteil gleichkäme“. Blair erwiderte, er sei „überhaupt nicht beunruhigt“ über das Schicksal der ihre Abschiebung erwartenden Menschen und bestand weiter auf einer Anwendung der geltenden Regeln. Sie wurden ausgewie-
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sen. Im Mai 1939 ereignete sich ein weiteres unrühmliches Kapitel der kanadischen Einwanderungsgeschichte. Am 15. Mai 1939 verließen 907 deutsche Juden Hamburg an Bord der „St. Louis“. In Deutschland hatte man sie ihres Eigentums beraubt, aus ihren Geschäften und Häusern vertrieben und ihnen dann Visa für Kuba gegeben. Als sie Havanna am 30. Mai erreichten, verweigerte die kubanische Regierung die Anerkennung der Visa. Sie durften nicht an Land gehen, auch Frauen und Kinder nicht, selbst dann nicht, als die Passagiere mit einem Massenselbstmord drohten. Am 2. Juni musste die „St. Louis“ die kubanischen Gewässer verlassen. Die letzte Hoffnung für die Passagiere waren Kanada und die USA. Die US-Regierung antwortete nicht auf ihren Appell, sondern schickte ein Kriegsschiff der Marine mit dem Auftrag, sicherzustellen, dass die „St. Louis“ der US-Küste nicht zu nahe kam. King war der Ansicht, dies sei kein kanadisches Problem, bat jedoch Lapointe und Blair um eine Einschätzung der Situation. Sie gaben an, dass diese Flüchtlinge nach den Einwanderungsrichtlinien nicht für eine Einreise in Frage kämen und dass Kanada ohnehin bereits „zuviel für die Juden getan“ habe. Nachdem nun alle Möglichkeiten ausgeschöpft waren, musste die „St. Louis“ zwangsläufig nach Europa zurückkehren. Viele der Passagiere starben später in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Selbst als die Welt vom Holocaust erfuhr, weigerte sich Kanada noch, den verbliebenen europäischen Juden, die entkommen wollten, zu helfen. Antisemitismus existierte in allen Bereichen der kanadischen Gesellschaft. Im Januar 1944 wurde in einer Gallup-Umfrage, wie bereits ein Jahr zuvor, folgende Frage gestellt: „Sollte Kanada nach dem Krieg seine Grenzen für Einwanderer öffnen oder nicht?“ Zu diesem Zeitpunkt waren, aufgrund der ausgiebigen nationalen Debatte, für die kanadische Bevölkerung Einwanderer gleichbedeutend mit Juden. Laut Abella und Troper befürworteten 1944 nur 13 Prozent der Bevölkerung jüdische Einwanderung, während es 1943 noch 14 Prozent gewesen waren. In einer detaillierten und vertraulichen Auswertung der Umfrage stellte das „War Information Board“ der Regierung fest, dass jene, die sich für eine Einwanderungsbeschränkung aussprachen, Immigranten in erster Linie anhand ihrer „rassischen oder nationalen Herkunft, zweitens anhand ihrer Eignung für das Leben in Kanada“ auswählen würden. Juden passten nach gängiger Meinung in keine der beiden Kategorien. Wenn es darum ging, welche Gruppen als ungeeignet für eine Einwanderung angesehen wurden, nannten viele, insbesondere Quebecer, in der Kategorie „rassische Auswahlkriterien“ Juden als die am wenigsten geeignete Gruppe von Einwanderern. Blair war bis zum Schluss stolz auf seine Erfolge. Nach der Abfahrt der „St. Louis“ äußerte er gegenüber Kollegen, dass er nicht die Absicht habe, „die Entscheidung publik zu machen“, obwohl sie ihn mit „großer Befriedigung“ erfüllte. Die Sorge des Premierministers King um Wählerstimmen führte zusammen mit seinem Antisemitismus dazu, dass nur einige wenige Juden nach Kanada gelangten. Nach Auskunft des Simon Wiesenthal Centers gestattete Kanada nach dem Krieg dagegen mindestens 1.000 NSKriegsverbrechern die Einwanderung. 1978 schwor Wiesenthal, wegen der mangelnden Bereitschaft der kanadischen Regierung, die Anwesenheit von Kriegsverbrechern zuzugeben, niemals wieder einen Fuß auf kanadischen Boden zu setzen. Der Menschenrechtsexperte David Matas belegt, dass die Regierung einigen NS-Verbrechern Unter-
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schlupf gewährte, die sich derzeit noch immer in Kanada aufhalten. Aufgrund des kanadischen Antisemitismus und Antikommunismus war es für jene, die durch ihr Engagement für den Nationalsozialismus ihren Antikommunismus bewiesen hatten, weit einfacher, nach Kanada zu kommen, als für Opfer des Nationalsozialismus. Gelegentlich war die Mitgliedschaft in der NSDAP ein ausreichender Lackmustest für die Eignung eines Flüchtlings für Kanada. Derzeit leben in ganz Kanada etwa 265.000 Juden, was etwa 0,98 Prozent der Bevölkerung entspricht, etwa je 100.000 in Montreal und Toronto und 65.000 über den Rest des Landes verteilt. Der heutige Antisemitismus in Kanada unterscheidet sich von dem der Kriegszeit. Es sind zwar deutliche Verbesserungen zu konstatieren, was das Maß an Antisemitismus und anderen Formen von Rassismus in der kanadischen Gesellschaft betrifft, doch ist die Gegenwart nicht ohne Probleme und Herausforderungen. So wurde in einer durchgeführten Umfrage im Jahr 2007 festgestellt, dass 79 Prozent aller Juden in Montreal innerhalb der letzten fünf Jahre Antisemitismus erlebt hatten, während 61 Prozent glaubten, dass der Antisemitismus im Zunehmen begriffen ist. Die jüdische Bevölkerung in den städtischen Zentren Kanadas weist, insbesondere in Montreal, eine starke Segregation auf. De facto ist die Segregation der Juden in Montreal größer als die von Afroamerikanern in US-Städten. Dieses einzigartige Phänomen ist insbesondere angesichts des wirtschaftlichen Erfolges und der sozialen Mobilität der meisten Gemeindemitglieder erstaunlich. Trotzdem bilden sie die am stärksten segregierte Bevölkerungsgruppe in der Stadt und in ganz Kanada. Dies ist unmittelbares Ergebnis von Jahrzehnten judenfeindlicher Ressentiments sowohl der anglophonen als auch der frankophonen Bevölkerung. Der ausgeprägte Antisemitismus führte dazu, dass Juden in bestimmten Stadtteilen nicht wohnen durften und in bestimmten Bildungs- und Wirtschaftsinstitutionen (überwiegend den anglophonen, etwa der McGill-Universität oder dem Banken- und Versicherungswesen) strikten Quoten unterlagen sowie von den Leistungen vieler sozialer Einrichtungen, etwa katholischer Krankenhäuser (überwiegend frankophon) ausgeschlossen waren. Es ist diese einzigartige Geschichte, die dazu geführt hat, dass die Gemeinden einen sehr starken Zusammenhalt haben, ihre eigenen Einrichtungen gegründet und entwickelt haben und räumlich separiert leben. Dieses Erbe ist derzeit auf sozioökonomischer, politischer und kultureller Ebene in der Quebecer und der kanadischen Gesellschaft noch deutlich. 2007 hat die Regierung von Quebec eine Kommission eingesetzt, deren Aufgabe es ist, die Möglichkeiten „angemessener Anpassung“ (reasonable accommodation) zu untersuchen, die sich auf die Entwicklung zukünftiger kultureller Strategien für Diversität und Integration beziehen. Die Kommission wurde von zwei angesehenen Wissenschaftlern, Charles Taylor und Gerard Bouchard, geleitet, und führte in ganz Quebec öffentliche Anhörungen durch. Bei diesen öffentlichen Veranstaltungen kam es regelmäßig zu xenophoben Ausbrüchen gegen Juden, insbesondere Chassiden (Hasidim), und gegen Muslime. Der Widerstand gegen kulturelle Anpassung (accomodation) wurde oft in Form von Sorge über die Wahrung des traditionellen katholischen Erbes Quebecs und so genannter „progressiver Werte“, etwa Gleichberechtigung der Geschlechter, in der modernen Quebecer Gesellschaft ausgedrückt. Die Berichterstattung und die Kommentare
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in den Medien anlässlich dieser öffentlichen Foren über die jüdische Gemeinde und andere Minderheitengruppen waren bedenklich. Bei den öffentlichen Anhörungen wurde klar, dass das Maß soziokultureller Isolation der jüdischen Gemeinde nach wie vor groß ist. Nach Ansicht des Soziologen Weinfeld wurde auch deutlich, dass die Quebecer Gesellschaft weder in der Lage gewesen ist, eine Lösung für ihre problematischen Einstellungen gegenüber den jüdischen Quebecern zu finden, noch ihr antisemitisches Erbe der 1930er und 1940er Jahre überwinden konnte. Generell sind sowohl populäre als auch elitäre Einstellungen derzeit im frankophonen Teil in Quebec mit größerer Wahrscheinlichkeit antiamerikanisch und antiisraelisch als im anglophonen Kanada. Marginalität bleibt ein Merkmal jüdischen Lebens in Quebec. Die antisemitischen Einstellungen, die in den Anhörungen über angemessene Anpassung zum Ausdruck kamen, entsprechen den allgemeinen Befunden und Trends des 2006 von der „Liga für Menschenrechte“ (League for Human Rights) von „B’nai Brith Kanada“ herausgegebenen Berichts über antisemitische Vorfälle. Der Bericht meldete für ganz Kanada 935 antisemitische Vorfälle, die höchste je im Land registrierte Zahl. Die Zunahme betrug 12,8 Prozent gegenüber 2005. Gegenüber 2002 hatten sich die Zahlen mehr als verdoppelt. Ebenso wie in Europa war die Zunahme 2006 in der Kategorie der gewalttätigen Übergriffe besonders groß, hier gab es gegenüber 2004 eine Zunahme um 20 Prozent. Fälle von Belästigung machten 62,9 Prozent aller Vorfälle aus, Vandalismus 33,9 Prozent und gewalttätige Übergriffe 3,2 Prozent. Die Zahl der Drohungen gegen Personen oder jüdische Einrichtungen, einschließlich Bombendrohungen und Androhung physischer Gewalt gegen Personen, nahm verglichen mit 2005 um 13,5 Prozent zu. An Schulen wurden in ganz Kanada 54 Vorfälle registriert. Ein besonders schwerer Vorfall war der Angriff auf die „Skver-Toldos Jewish Boys School“ in Montreal mit einem Molotowcocktail. Es war in einem Zeitraum von zwei Jahren bereits die zweite jüdische Schule in Montreal, die mit einer Brandbombe angegriffen wurde. In Toronto, wo die jüdische Gemeinde relativ klein ist, galten 29 Prozent aller Hassdelikte Juden, während bei acht Prozent der Delikte Muslime das Ziel waren. Antisemitische Vorfälle erreichten im Jahr 2006 während zwei Perioden Höchststände. Die erste war im Februar im Zusammenhang mit den Karikaturen über den Propheten Mohammed und der anschließenden Kontroverse. Der zweite Höchststand wurde im Juli und August verzeichnet, als Israel und die Hisbollah im Kriegszustand waren. Im Februar kam es zu einer Zunahme antisemitischer Vorfälle von 14,3 Prozent, außerdem wurde eine erhöhte Zahl von Neonazi- und Holocaustleugnungsaktivitäten verzeichnet. Im Juli und August stieg die Zahl der antisemitischen Vorfälle um 28 Prozent. Nach Angaben des Berichts von 2006 gehörte dazu die Belästigung jüdischer Personen und Einrichtungen durch Telefonanrufe und E-mails, oft verbunden mit Einschüchterungen und physischen Drohungen. Zum Beispiel kam es in dieser Periode zu einer Bombendrohung gegen eine Synagoge, einem Angriff auf einen Rabbiner und der Sendung eines Schweinekopfes an eine jüdische Familie. In der überwältigenden Mehrheit der Fälle artikulierten die Täter unmissverständlich einen Zusammenhang mit den Ereignissen im Nahen Osten und bezeichneten ihre Taten oft als „Rache“ am jüdischen Volk. Insgesamt hatten in Kanada 131 aller Vorkommnisse einen expliziten Bezug zum Nahostkonflikt, und 95 dieser
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Vorfälle fanden im Juli und August 2006 statt. Quebec erlebte mit 34 Prozent den höchsten Anteil an den Vorfällen, Ontario 25 Prozent. In der Folge erklärte B’nai Brith eine erhöhte Sicherheitsstufe für die gesamte jüdische Gemeinde, was von den Polizeibehörden landesweit sehr ernst genommen wurde. Einer der schlimmsten Vorfälle im Zusammenhang mit dem zweiten Libanonkrieg ereignete sich im August 2006 in Montreal. Eine Demonstration, die Tausende von Menschen anzog, gab sich als Friedensdemonstration aus. Die Veranstaltung hatte jedoch nach Augenzeugenberichten einen antiisraelischen Charakter, einige Demonstranten bedrohten Zuschauer mit antijüdischen Beschimpfungen. Man sah viele Hisbollah-Flaggen und einige Demonstranten skandierten Unterstützung für diese Organisation, die sich für die Zerstörung Israels einsetzt und von der kanadischen Regierung verboten ist. Erstaunlicherweise befanden sich unter den Demonstranten der Vorsitzende des „Bloc Quebecois“, Gilles Duceppe, der Vorsitzende der „Parti Quebecois“, Andre Boisclair, und andere Parlamentsmitglieder von der Liberalen Partei. Diese Tatsache führte zu diplomatischen Spannungen mit Israel, das von der kanadischen Regierung eine Erklärung verlangte. Außerdem forderten Vertreter von jüdischen und anderen Menschenrechtsorganisationen ein Verbot von Pro-Hisbollah-Demonstrationen, da Kanada die Hisbollah als terroristische Organisation einstuft. Zu den Befunden des Berichts von 2006 gehört auch das Klima der Einschüchterung an den Universitäten des Landes. Viele jüdische Studenten zögerten, antisemitische Äußerungen oder Handlungen von Kommilitonen und Professoren zu melden. Ein weiteres besorgniserregendes Feld antisemitischer Aktivitäten in Kanada ist das Internet. Laut einem Bericht des Simon Wiesenthal Center existieren weltweit über 7.000 Websites, die zu Hass und Terrorismus aufrufen. Der Bericht stellt fest, dass viele davon von Kanada aus betrieben werden. Zum Beispiel propagieren zwei in British Columbia ansässige Websites, „BC White Pride“ und „Jihad Unspun“, rassistische, antisemitische und antiisraelische Ziele. Die Polizei von Calgary entdeckte die „Aryan Guard“-Website, nachdem Behörden in Calgary auf Flugblätter und Werbung für diese Website in diversen Zeitungen in Calgary aufmerksam geworden waren. Die Site war im Juli 2004 registriert und von Bill Noble auf einen US-Server platziert worden. Noble wurde in British Columbia wegen des Vorwurfs der vorsätzlichen Förderung von Hass vor Gericht gestellt. Der Prozess ist Ergebnis einer 2004 von B’nai Brith Kanada gegen ihn erhobenen Klage. Laut Wiesenthal Center wird die „Aryan Guard“-Website wie die meisten kanadischen Hasswebsites von US-Servern aus betrieben. Dadurch sind sie durch die US-Verfassung geschützt und der juristischen Verfolgung durch kanadische Behörden entzogen. Auch Holocaustleugner gibt es in Kanada. Professor Shiraz Dossa von der St. Francis Xavier University, der im Dezember 2006 an der Holocaustleugnerkonferenz im Iran teilnahm, schrieb in der Juniausgabe 2007 des „Literary Review of Canada“, dass die Kritik an seiner Teilnahme an dieser Konferenz „eine spanische Inquisition im Kleinformat“ gewesen sei, initiiert durch zwei jüdische Professoren und den christlichen Vorsitzenden des politikwissenschaftlichen Instituts der St. Francis Xavier Universität. Dossa behauptete in seinem Artikel, der iranische Präsident Ahmadinedschad habe den Holocaust nie geleugnet. Es seien die Zionisten und die Neonazis gewesen, die, aufgrund sehr unterschiedlicher Eigeninteressen, die Konferenz als Veranstaltung von Holocaustleug-
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nern dargestellt und damit bereitwillig den Islamophoben in die Hände gespielt hätten. Der Geschäftsführer der kanadischen Vereinigung der Hochschullehrer verteidigte Dossa und verglich dessen Behandlung durch seine Kritiker mit dem Vorgehen McCarthys. Dies trug seinen Teil dazu bei, die Atmosphäre an den Universitäten in Kanada zu vergiften. In Kanadas Geschichte gab es stets Antisemitismus. Die Wirkung dieser Form der Intoleranz hat sich auf den Verlauf der Einwanderung nach Kanada ausgewirkt. Antisemitismus spielte eine Schlüsselrolle beim Ausschluss der Juden von der Einwanderung in fast der gesamten Frühgeschichte des Landes. Dies war selbst während der Grauen der Shoah der Fall, als die Beschränkung der jüdischen Einwanderung den Tod potentieller Flüchtlinge im von den Nationalsozialisten besetzten Europa zur Folge hatte. Die politischen Entscheidungsträger in Kanada waren sich der Tragweite ihrer Entscheidungen voll bewusst. Diese Tradition des Antisemitismus wirkt sich, wenn auch in veränderter Form, nach wie vor auf die räumliche Segregation der Bevölkerung aus. In einigen Gegenden Quebecs scheint man nach wie vor die Vergangenheit nur ungern zu thematisieren. Bewertet man die zeitgenössischen Formen des Antisemitismus in Zusammenhang mit empirischen Ergebnissen, so zeigt sich, dass Antisemitismus in der kanadischen Gesellschaft nicht nur nach wie vor besteht, sondern dass im Jahr 2006 die bislang höchste Zahl antisemitischer Vorfälle stattgefunden hat.
Charles Asher Small Übersetzt aus dem Englischen von Claudia Curio
Literatur Irving Abella and Harold Troper, None is Too Many: Canada and the Jews of Europe, Toronto 1983. Michael Brown, Jew of Juif? Jews, French Canadians, and Anglo Canadians, 1759-1914, New York 1986. Human Rights First. Hate Crime Survey, New York 2007. League For Human Rights, B'Nai Brith Canada, 2006 Audit of Anti-Semitic Incidents, Montreal 2007. Rafael Medoff and Alex Grobman, Holocaust Denial: A Global Survey – 2007, Washington 2007. Mordecai Richler, Oh Canada! Oh Quebec! Requiem for a Divided Country, Toronto 1992. William Shaffir and Morton Weinfeld, Canada and the Jews: An Introduction, in: M. Weinfeld, W. Shaffir, I. Cotler (Hrsg.), The Canadian Jewish Mosaic, Ontario 1981. Charles Small, Social Theory: An Historical Analysis of Canadian Socio-Cultural Policies, Doctorate thesis, Oxford University, Oxford 1996. Simon Wiesenthal Center, Digital Terrorism and Hate 2007, Los Angles 2007. David Wyman, Paper Walls: America and the Refugee Crisis 1938-1941, New York 1985.
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Kolumbien Die jüdische Präsenz in Kolumbien geht zurück in die Zeit der spanischen Conquista. Die Juden kamen einzeln als „conversos“ (Konvertiten) oder Neuchristen, denn ihre Vertreibung aus Spanien fiel mit der Ankunft der Spanier in Amerika zusammen (1492). In dieser frühen Zeit sind noch keine organisierten Gemeinden entstanden. Im 19. Jahrhundert, zur Zeit der Unabhängigkeitskriege, haben Juden aus ? Curaçao Simón Bolívar unterstützt, und 1823 führte der jüdische Unternehmer Johann Bernhard Elbers die Schifffahrt auf dem Magdalena-Fluss ein. Die Anfänge einer sephardischen Gemeinde sind in den 1820er Jahren zu suchen, als eine Krise auf Curaçao die dortigen Juden zwang, in andere Regionen der Karibik auszuwandern. Sie siedelten sich in Santa Marta, Ríohacha, Cartagena und Barranquilla an (vgl. Karte 1). Hier wurden 1857 ein Friedhof und 1874 die „Comunidad Israelita de Colombia“ gegründet, die 64 Mitglieder zählte. Die Juden aus Barranquilla waren Händler, die Geschäfte mit New York, Hamburg, Bremen und Häfen in der Karibik trieben. Einer von ihnen, Ernesto Cortissoz, war 1919 an der Gründung der Scadta, der ersten kolumbianischen Fluggesellschaft beteiligt. Mit der Konstituierung der Republik erhielten die kolumbianischen Juden eine freiheitliche Rechtsstellung. Ihre Anzahl war immer noch gering: Zur Zeit des Ersten Weltkriegs gab es in Kolumbien etwa 80 Juden, um die 55 von ihnen lebten in Barranquilla. Eine verstärkte Einwanderung setzte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ein, die ihren Ursprung in Russland, Polen und Rumänien hatte. Andere sind aus dem Nahen Osten gekommen, vor allem aus ehemaligen Gebieten des Osmanischen Reiches. Deshalb wurden sie von einigen Leuten auch als „Türken“ bezeichnet. Insgesamt kamen zwischen 1919 und 1933 etwa 3.000 Juden nach Kolumbien. Wichtige Gemeinden bildeten sich in Santa Marta und Barranquilla, viele Juden zogen nach Bogotá, Cali, Manizales und Neiva. Die nächste Einwanderung erstreckte sich von 1933 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. Sie war mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus verbunden und der Tatsache, dass viele Länder den Juden die Aufnahme verweigerten oder einschränkten. 1941 lebten in Kolumbien 3.000 aus Deutschland stammende Juden, zusammen mit den bereits früher eingewanderten Sepharden und Aschkenasen waren es insgesamt 6.000. Zwischen 1945 und 1947 kamen überwiegend Juden aus Deutschland sowie aus Polen, Russland und Rumänien, sodass Ende der 1940er Jahre die Zahl auf 9.000 anstieg. Die jüdische Gemeinschaft konsolidierte sich im 20. Jahrhundert. Sie hat mehrere Synagogen, Schulen und Klubs. Die Mehrzahl ihrer Mitglieder gehört den oberen Schichten der Gesellschaft an und der Rest der Mittelklasse. Die Mehrheit sind Aschkenasen, sie bilden 75 Prozent der Gemeinschaft. Der Rückgang der Gemeinschaft auf heute ca. 4.000 Personen ist dem Umstand geschuldet, dass viele Jugendliche ins Ausland gingen und nicht nach Kolumbien zurückkehrten. In den 1990er Jahren sind Hunderte von ihnen aufgrund der Unsicherheit im Lande nach Miami, Panama, Costa Rica und Israel ausgewandert. Mit 80 Prozent der Mitglieder der Gemeinschaft ist die Gemeinde in Bogotá die gegenwärtig größte, gefolgt von Cali und Barranquilla.
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Juristisch gesehen genießen die Juden alle bürgerlichen Freiheiten. Trotzdem gibt es vereinzelte antisemitische Ausbrüche, die aber nicht systematischer Natur sind. Es handelt sich dabei weder um einen tief sitzenden noch um organisierten Antisemitismus. Ende der 1930er, Anfang der 1940er Jahre erregte die damalige jüdische Einwanderung in bestimmten Kreisen eine Abwehrhaltung, etwa bei Händlern und einem Teil der Eliten des Landes. Da sich die Juden in den wenigen Städten Kolumbiens niederließen und kleine Geschäfte aufmachten, sahen sich die ortsansässigen Geschäftsleute mit einer unerwarteten Konkurrenz konfrontiert und dies erregte den Argwohn der Handelskammern. Die einzige bis dahin in Kolumbien verfolgte antisemitische Staatspolitik stand mit Außenminister López de Mesa in Zusammenhang, berühmt für seine rassistischen Ideen. Er verschärfte die Einwanderungsgesetze, sodass der Zustrom an Einwanderern zurückging. Die Regierung beschloss, dass Personen „mit gewissen Rassenmerkmalen“ (con ciertas características raciales) keine Visa erhalten sollten und dass sie eine Geldsumme entrichten mussten, die nicht alle aufbringen konnten. Um nach Kolumbien zu kommen, mussten einige Juden zum Katholizismus übertreten. Die damalige öffentliche Meinung hat das Problem auf eine Weise diskutiert, die zeigt, dass nicht die ganze Elite antisemitisch eingestellt war. Außerdem hat es zu jenem Zeitpunkt keine gegen die bereits in Kolumbien ansässigen Juden gerichtete Politik gegeben. Seit den 1920er Jahren hatte ein Klassenvorurteil die Beziehungen zwischen Juden und Kolumbianern getrübt. Obwohl die Juden in den Ober- und Mittelschichten verkehrten, hat die traditionelle Elite sie nicht als ebenbürtig betrachtet. Sie wurden als „Polakken“ bezeichnet. Da sie nicht in die Klubs der Eliten in Barranquilla, Cali und Bogotá aufgenommen wurden, gründeten sie ihre eigenen Klubs. Gegenwärtig sind jedoch einige bereits Mitglieder bei einem traditionellen Klub in Bogotá (Country Club Bogotá). Mitte 2006 sind während des Libanonkriegs antisemitische Graffiti im Zuge von Antikriegsdemonstrationen an Wände gemalt worden. Dies war der einzige von der Anti-Defamation League in Kolumbien registrierte Tatbestand zwischen 2002 und 2007. Der Antisemitismus nationalistischen Ursprungs macht sich hin und wieder bei einzelnen Mitgliedern der Bildungselite bemerkbar. In der breiten Masse ist hingegen Antisemitismus nicht verbreitet.
Luis Eduardo Bosemberg Ramírez Übersetzt aus dem Spanischen von Hans Huber Abendroth
Literatur Daniel Mesa Bernal, De los judíos en la historia de Colombia. La azarosa y apasionante historia de los inmigrantes hebreos desde los tiempos de la conquista hasta la colonización antioqueña, Bogotá 1996. Galit Stroh Birmaher, La construcción de una ilusión identitaria en Cali, Colombia. Conflictos y estrategias de cohesión, Tesis de grado, Universidad de los Andes, Bogotá 2006. Simón Guberek, Yo vi crecer un país, Bogotá 1987. Adelaida Sourdis Nájera, El registro oculto. Los sefardíes del Caribe en la formación de la nación colombiana 1813-1886, Bogotá 2001. John Kenneth Smith, Jewish Education in Colombia. Group Survival versus Assimilation, Dissertation, University of Wisconsin 1972.
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Kroatien Im Mittelalter waren die jüdischen Gemeinden (Dubrovnik, Split, Zagreb) sehr klein, und willkürlich überlieferte Ereignisse sollten eher als Reflexion traditioneller Abneigung gegen Juden angesehen werden, denn als Antisemitismus. Die Juden wurden vermutlich in den 1450er Jahren aus Zagreb vertrieben, und im Jahr 1502 wurden Juden in Dubrovnik des Ritualmordes an einer alten Frau beschuldigt. Als einige Juden unter Folter gestanden, wurden sieben von ihnen zum Tode verurteilt. Als die Einwanderung von Juden im Norden Kroatiens ab Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte, wurde der Antisemitismus aus den üblichen Quellen gespeist: Antagonismus zwischen Christentum und Judaismus, Konkurrenz durch jüdische Händler, allgemeines Gefühl von Fremdenfeindlichkeit gegenüber den Juden als Neuankömmlinge und „ewige Migranten“. In Kroatien bestand ein weiterer Grund für das Misstrauen gegenüber Juden darin, dass die erste Einwanderergeneration in der Regel ungarisch und deutsch sprach. Unter den sehr komplizierten politischen und kulturellen Umständen des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erregte dies die Empfindlichkeit von Mitgliedern der kroatischen Nationalbewegung. Die ersten Bekundungen von Judenfeindschaft waren 1769 und 1780 die Proteste kroatischer Händler gegen die jüdischen Konkurrenten in Zagreb. Katholische Händler begründeten ihre Auflehnung mit Hinweis auf die Verletzung ihrer historischen Rechte und mit religiösen Argumenten. Die Einstellung wichtiger Persönlichkeiten der kroatischen Geschichte gegenüber Juden war gespalten: Der katholische Bischof von Djakovo, Josip Juraj Strossmayer (1815-1905), Verfechter der Zusammenarbeit mit der orthodoxen Kirche, großer Mäzen und Aufklärer, drückte öffentlich seine Bewunderung für jüdische Ethik, Kultur und andere Werte aus. Er war mit einigen Rabbinern befreundet und Mitglied des „Hevra Kaddish“ von Djakovo. In persönlichen Briefen, die lange nach seinem Tod veröffentlicht wurden, nannte er jedoch die Juden „Degenerierte der Menschheit, Feinde des Christentums, Wucherer, Liebhaber Ungarns, nationale Verräter, unmoralische und stinkende Individuen“. Die anti-ungarischen Demonstrationen von 1883 waren auch gegen Juden gerichtet, in erster Linie als Fremde sowie als verhasste Händler und Kapitalisten (besonders für die bäuerliche Bevölkerung). Ein Teil der antisemitischen Atmosphäre erreichte Kroatien aus Prag. Viele kroatische Studenten und Intellektuelle gingen um 1900 nach Prag. In späteren politischen und journalistischen Tätigkeiten äußerten einige von ihnen sehr negative Ansichten gegen Juden, die denen, die sie wahrscheinlich in Prag gehört hatten, sehr ähnlich waren. Während der Dreyfus-Affäre wollten einige Kreise in der kroatischen Politik „Zola als jüdischen Gefolgsmann enttarnt sehen“. Zur gleichen Zeit bewerteten einige die Werke von Houston Stewart Chamberlain als „gedanklich tief und faktisch logisch“. Die glühendsten antisemitischen Äußerungen kamen von Grga Tuškan, einem angesehenen Mitglied der Staatsrechtspartei. Beim ersten kroatischen Katholikenkongress 1900 in Zagreb bezichtigte er die Juden als die alleinig Schuldigen für die Armut der Bevölkerung. Die Mehrheit der Kongressteilnehmer stimmte allerdings nicht mit seinen Ansichten überein.
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Einer der wichtigsten Ursachen für den Antisemitismus waren die politischen Aktivitäten von Josip Frank (1844-1911), der ein getaufter Jude und Anführer der nationalistischen, pro-Wiener „Reinen“-Staatsrechtspartei war. Er ernannte sich selbst zum Förderer der strengen Observanz des kroatischen Bewusstseins, sodass sich seine politischen Gegner seine Herkunft zunutze machen konnten: ihnen zufolge arbeitete Frank für „eine Art modern-jüdischen Liberalismus“, seine Parteizeitung wurde als „koscher“ bzw. „koscherer Journalismus“ bezeichnet. Antisemitismus war auch in den serbischen politischen Kreisen stark vertreten, insbesondere in der Serbischen Unabhängigen Partei und ihrer Zeitung „Srbobran“. Ihr Antisemitismus wurzelte hauptsächlich im Wettbewerb zwischen serbischen und jüdischen Händlern und Geschäftsleuten. In einer weiteren serbischen Zeitung, der „Vrač Pogadač“ (Zagreb, 1896-1902), waren die Begriffe „Itzige“ und „Kroaten“ regelmäßig in Symbiose, und es gab viele Sticheleien und Gedichte über „Neu-Palästina“, womit Kroatien gemeint war. Am Ende des Ersten Weltkriegs, als die Habsburger Monarchie zerfiel und die Staatsgewalt des neu geformten ? Jugoslawien (bis 1929 „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“) langsam begründet wurde, nahm die Plünderung und Zerstörung jüdischer Geschäfte und Besitztümer im ganzen Norden Kroatiens zu. In einigen größeren Städten (Bjelovar, Varaždin) wurden jüdische Gemeinden gezwungen, hohe Schutzgelder gegen Plünderung und Vertreibung zu zahlen. Von 1919 an war es für viele aschkenasische Juden ein Problem, die Staatsbürgerschaft zu erhalten, weil die jugoslawischen Behörden diejenigen aus ihrem Staatsgebiet ausweisen wollten, die außerhalb des neu gegründeten Jugoslawien geboren waren (d.h. in anderen Teilen des ehemaligen Österreich-Ungarns). Die Intervention jüdischer Organisationen konnte in der Regel die Ausweisungen abwenden, aber viele wurden dabei finanziell schwer geschädigt. Zu dieser Zeit regte sich der Antisemitismus manchmal auch noch in kirchlichen Kreisen (obwohl die Anschuldigungen, dass die Juden Jesus ermordet hätten, damals sogar in der Populärkultur zurückgingen), und ebenso in der neu entstandenen „jugoslawischen“ Identität, der zufolge „die Slawen“ besser als „die Anderen“ – sprich Deutsche, Ungarn und die Juden – seien, die als jahrhundertelange „Unterdrücker“ galten. Der Antisemitismus der 1920er Jahre war zum Teil Ergebnis des vergleichsweise großen sozialen Gefälles, das zu dieser Zeit in manchen Teilen der kroatischen Gesellschaft zwischen Juden und Nichtjuden noch existierte. In den 1930er Jahren schloss sich diese Lücke langsam, als der Mittelschicht nach und nach bewusst wurde, dass die Juden gleichberechtigte Bürger waren und sie als solche behandelt werden sollten. Allerdings war es auch der Zeitpunkt der lancierten nationalsozialistischen Propaganda, die die Juden für alle Missstände verantwortlich machte. Antisemitismus war der einfachste Weg, die NS-Ideologie in den anderen europäischen Ländern zu verbreiten, so auch in Kroatien und ? Jugoslawien. Der „Schwere-Zeiten-Effekt“ stellte die öffentliche Unterstützung für den Antisemitismus sicher, da die Menschen nach der Großen Depression von 1929 mit Nostalgie an die Zeiten zurückdachten, in denen sie finanziell besser gestellt gewesen waren und mehr Sicherheit genossen hatten.
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Antisemitische Artikel in der kroatischen und jugoslawischen Presse wurden nach 1933 zahlreicher und aggressiver, ideologisch beeinflusst und finanziell unterstützt von der zunehmenden nationalsozialistischen Propaganda. Die Basis dieser verbalen Angriffe waren rassistische Theorien, vermengt mit einigen anderen traditionellen Elementen. Die Kampagne wurde von kleinen unbedeutenden Zeitungen organisiert („Revolverblätter“), die manchmal durch die Polizei verboten wurden. Sie benutzten einprägsame Begriffe wie „Judeo-Liberal“, „Judenwucherer“, „Judeo-Kapitalisten“, „Judeo-Demokraten“, „Judeo-Marxisten“, usw. Beispielsweise beteuerte der Leitartikel der ersten Ausgabe von „Mlada Hrvatska“, eine typische pro-nationalsozialistischen Zeitschrift (1936 bis 1938), dass sie „die Juden nicht mit Rassetheorien konfrontieren werden“. Dies war aber nur aus formalen Gründen erfolgt, um die Polizei zu täuschen und ein Verbot zu vermeiden. Jede Ausgabe von „Mlada Hrvatska“ war voller Karikaturen, die die Juden mit großen Nasen und anderen vorgeblich jüdischen Rassencharakteristika darstellten. „Mlada Hrvatska“ war die erste Zeitschrift in Kroatien, die eine integrale Form des modernen Antisemitismus präsentierte, der auf der Auffassung vom Judentum als Rassenproblem beruhte. Eine häufige Methode antisemitischer Propaganda war die skrupellose Verallgemeinerung, wenn etwas, worin einzelne Juden auf irgendeine Weise involviert waren, ausgebreitet und auf alle Juden übertragen wurde. So wurden Juden als Kommunisten angegriffen, aber auch als Kapitalisten, Kosmopoliten, als ungenügend patriotisch, usw. Die jüdische Wochenzeitung „Židov“ schrieb, dass Antisemiten zur Verbreitung von Hass zwei Methoden benutzen, nämlich „unethische Verallgemeinerung“ und „unethische Spezialisierung“: Wenn ein Jude etwas Unrechtes tut, wird sofort die gesamte jüdische Gemeinde beschuldigt. Zugleich wird außer Acht gelassen, dass „es genauso viele Nachrichten über die gleichen Verstöße gibt, die von Nichtjuden begangen wurden“. Die Art und Weise, in der einige kroatische Zeitungen nach 1933 über die nationalsozialistische Judenverfolgung in Deutschland schrieben, zeigt sehr deutlich die unterschiedlichen Einstellungen gegenüber den Juden in den späten 1930er Jahren und während der Zeit des „Unabhängigen Staates Kroatien“ (1941-1945). Die Zagreber Zeitungen „Jutarnji list“, „Obzor“ und „Večer“ verurteilten aufgrund ihrer demokratischen Einstellung die Gewalt. „Obzor“ griff die Schriften der antisemitischen Zeitschrift „Nezavisnost“ scharf an, darauf hinweisend, dass es oberflächlich wäre, „die rassische Abstammung von Menschen mit ihren politischen Interessen zu verbinden“. „Obzor“ schrieb mit viel Mitgefühl auch über die schwierige Lage der deutschen Juden. Einige Rechte stuften deshalb solche Zeitungen als „semitisch“ ein. Obwohl diese antisemitischen Schriften eine bösartige Gesinnung ausdrückten, hatten sie keine Massenbewegung hinter sich, noch gab es eine legale politische Partei in Kroatien mit einem klar antisemitischen Programm. Bis zur Gründung des „Unabhängigen Staates Kroatien“ (Nezavisma Država Hrvatska, NDH) im April 1941 gab es nicht einmal vereinzelte Akte physischer Gewalt gegen Juden, weder in Kroatien noch in ? Jugoslawien. Vladko Maček, Vorsitzender der Kroatischen Bauernpartei, sagte 1938, dass der Antisemitismus „ein ungewöhnliches und lächerliches Phänomen“ sei. Er erklärte, dass „die jüdische Gefahr“ nicht existiere und versicherte, dass es nichts als „die Halluzination“ einiger Kreise sei.
Kroatien
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Hauptsächlich aufgrund des nationalsozialistischen Drucks hatte die jugoslawische Regierung im September und Oktober 1940 zwei Gesetze erlassen, die die Rechte der Juden einschränkten: Zunächst den „Erlass von Maßnahmen gegenüber Juden, die im Lebensmittelbereich tätig sind“, der in der Tat die Arbeit aller Nahrungsmittelbetriebe verbot, deren Besitzer oder Mitbesitzer Juden waren. Danach folgte der „Erlass über die Zulassung von Personen jüdischer Abstammung an Universitäten, Oberstufen, Sekundarstufen, Lehrerausbildungs- und anderen Berufsschulen“, der einen „numerus clausus“ für Juden einführte. Beide Erlasse wurden nur sehr selten umgesetzt, besonders der zweite. Aber das Gefühl innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, dass sie nicht länger gleichwertige Bürger waren, wurde offensichtlich. Bald danach, im April 1941, begann der Krieg. In den ersten Monaten des Bestehens des „Unabhängigen Staates Kroatien“ setzte eine heftige antisemitische Propaganda ein. Hunderte Artikel wurden in der Presse und in zahlreichen Broschüren veröffentlicht. Gegen Ende des Jahres 1941 war diese Kampagne rückläufig, weil nach offizieller Erklärung „die Judenfrage gelöst war“. Das bedeutete, dass die Mehrheit der kroatischen Juden bereits in Konzentrationslager deportiert worden war. Die Einstellung der Juden zum kommunistischen jugoslawischen Regime, und umgekehrt, die Einstellung des jugoslawischen Regimes zur jüdischen Minderheit nach dem Zweiten Weltkrieg unterschied sich stark von der in den übrigen Ostblockstaaten. Ausbrüche von Antizionismus, die sich leicht in eine spezifische Art von Antisemitismus verwandelten, setzten erst ein, nachdem Jugoslawien 1967, als Folge des Sechs-TageKrieges und der stärkeren Verbindungen mit vielen arabischen Ländern, die diplomatischen Beziehungen zu Israel abgebrochen hatte.
Ivo Goldstein Übersetzt aus dem Englischen von Regina Schulz
Literatur Harriet Pass Freidenreich, The Jews of Yugoslavia. A Quest for Community, Philadelphia 1979. Ivo Goldstein, Anti-Semitism in Croatia, in: Ivo Goldstein, Narcisa Lengel Krizman (Hrsg.), Anti-Semitism, Holocaust, Antifascism, Zagreb 1997, S.12-52. Ivo und Slavko Goldstein, Holokaust u Zagrebu [Holocaust in Zagreb], Zagreb 2001. Ivo Goldstein, Židovi u Zagrebu 1918-1941 [Die Juden in Zagreb 1918-1941], Zagreb 2004. Ivo Goldstein, Restoring Jewish Life in Communist Yugoslavia (1945-1967), in: Eastern European Jewish Affairs, 34(2004), 1, S.58-71. Ari Kerkkänen, Yugoslav Jewry. Aspects of Post-World War II and Post-Yugoslav Developments, in: Studia Orientalia, 93(2001).
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Kuba Auf Kuba spielten Juden, von der allgemeinen Verfolgung und den Regeln des Umgangs mit Juden und so genannten Neuchristen in den iberischen, katholischen Königreichen und Imperien der frühen Neuzeit sowie den Debatten um die verlorenen „Stämme“ Israels im neu entdeckten Amerika abgesehen, vor 1860 nur eine extrem minimale Rolle. Es hat sie aber immer gegeben. Debattiert wurde und wird auch immer mal wieder eine jüdische Herkunft der Familie des Kolumbus, der auf seiner ersten und zweiten Reise 1492-1493 und 1493-1496 Kuba berührte. Die Neuchristen und Marranen-Problematik – ein Phänomen des gesamten Iberoatlantik – manifestierten sich auch auf Kuba. Im portugiesischen Imperium waren Sepharden zwar auch aus den Zentren des Reiches verwiesen worden, sammelten sich aber als „cristãos novos“ (Neuchristen), meist als „portugueses“ (Portugiesen) bezeichnet, an den Peripherien der atlantischen Imperien Portugals und Spaniens oder überschritten diese Grenzen als Atlantikkreolen und „lançados“ (nichtmonopolistische Händler, die mit afrikanischen Eliten Beziehungen aufnahmen), einige wohl auch als Konquistadoren. Eine besondere Rolle spielte zwischen 1495 und 1600 die Insel São Tomé in der Bucht von Benin. Wegen der fehlenden nativen Bevölkerung ließ die Krone in Lissabon arme Portugiesen und 1492 aus Kastilien vertriebene sephardische Juden, zumindest einen Teil davon, nämlich ihre Kinder, als „degredados“ (Verbannte) auf der Insel siedeln. In Wirklichkeit war dies eine Dauerverbannung, was die Schwierigkeiten zeigt, iberische Siedler zu finden. Der „mährische Sammelchronist” Valentin Ferdinand (Valentim Fernandes) schreibt um 1511, es seien etwa 2.000 Kinder gewesen, von denen zur Zeit seines Besuches noch 600 gelebt hätten, die mit schwarzen Frauen, oft aus der Kongo-Elite, verheiratet seien. Eine jüdisch-afrikanische, wirklich neu-christliche Elite formierte sich, die von São Tomé aus den Sklavenschmuggel und Handel des Atlantiks entscheidend mitbestimmte. Havanna auf Kuba war seit Mitte des 16. Jahrhunderts der wichtigste imperiale Schnittpunkt zwischen Amerika, Europa und Afrika. Im Hafen sammelten sich die Silberflotten des imperialen Monopolhandels vor der Rückkehr nach Europa. Isabel de Bobadilla, Frau eines der Konquistadoren von Peru und Gouverneurs von Kuba, Hernando de Soto, war Neuchristin. Für die Zeit zwischen 1596 und 1610 bildete die „portugiesische Nation“ etwa 10 Prozent der Bevölkerung Havannas. Einige dieser Portugiesen gehörten zu den reichsten und einflussreichsten Bürgern der atlantischen Metropole. Neben dem von Krone und privilegierten Kaufleuten, scharf kontrollierten Monopolhandel, der hohe Preise diktierte und darauf angelegt war, Silber nach Europa zu lenken, breitete sich nichtmonopolistischer Handel in der Karibik und im atlantischen Raum aus. Anfang des 17. Jahrhunderts wurde der Großteil dieses Handels, auch Sklavenschmuggel, durch so genannte Korsaren (corsarios) ausgeübt, die die Küsten des Atlantiks zwischen Europa, Afrika und Amerika befuhren und auch in Häfen oder an Küsten Kubas anlegten und „rescate“ (Schmuggel-, Sklaven-, Tausch- und Raubhandel) betrieben. Das Wort „corsario“, im Sinne von herumfahren, hatte noch nicht unbedingt einen negativen Beiklang und „rescate“ wurde meist als friedlicher Tauschhandel verstanden, auch als transatlantischer Wein- und Textilhandel. Dieser ziemlich weit verbreitete Handel war der Krone
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und den privilegierten Kaufleuten, vor allem in Sevilla, ein Dorn im Auge. Die Krone schuf eine Flotte, die die Korsaren-Kaufleute als „Schmuggler“ verfolgte und den in ihren Augen illegitimen Schmuggelhandel unterbinden sollte. Der Vorwurf gegen die „Interloper“ lautete oft: Marrane oder einfach „Portugiese“. Portugiesen versorgten die neuen Siedlungen der Iberer in der Karibik auch dort, wo sich nie ein Kaufmann oder ein Schiff des monopolistischen Handels blicken ließen – oft von Basen in Afrika aus, von São Tomé, Cacheu, später auch Angola oder von Landepunkten an den brasilianischen Küsten. Erst durch intensive Aktionen der Krone gegen den Schmuggel bekam das Wort „Korsar“ einen negativen Beiklang. Die Krone wies „die Portugiesen“ auch aus Havanna aus (1608) und ließ sogar 1613 einen reichen Kaufmann, Francisco López de León, unter dem Vorwurf, er sei ein „Judaisierer“ (judaízante), hinrichten und zog sein Vermögen ein. Nach 1600 kam mehr und mehr das Wort „pirata“ für Korsaren auf, in dem Verständnis, dass es sich um Schmuggler und Verbrecher sowie Marranen handelte. Während der Kolonialzeit (1511-1898) gibt es kaum Nachrichten über Juden auf Kuba. Noch im 18. Jahrhundert spielte die Erinnerung an Konvertiten, oft in den Debatten um Funktionäre der Krone und Kirche eine wichtige Rolle. Don Pedro Agustín Morell de Santa Cruz y de Lora stammte aus einer Familie von freien Farbigen und war Nachkomme jüdischer Konvertiten; er kam 1719 als junger Mann nach Santiago de Cuba. Die Morells waren treue Diener der Krone. Pedro Morell tat sich besonders als Vermittler bei den Aufständen der Tabakbauern von Kuba (vegueros) und der Bergwerkssklaven der Kupferminen von El Cobre (1731) hervor. Dabei vertrat er durchaus die Interessen der Landbevölkerung und der Sklaven gegen die kreolische Elite der Insel. 1753 wurde Morell Bischof von Santiago de Cuba. Während einer großen Pastoralreise auf Kuba (1755-1757), waren alle 44 von Bischof Morell besuchten Ortschaften selbst nach den Maßstäben des 18. Jahrhunderts große ländliche Marktflecken. Auf Grundlage der gesammelten Daten entstand die erste Geschichte Kubas (Historia de la Isla y Catedral de Cuba), die, auch wegen der Konflikte um vermutete jüdische Einflüsse bei Morell, erst 1929 publiziert wurde. Während dieser Pastoralreisen, auf denen er von Guane im Westen bis Baracoa im Osten der Insel auch Schulen und Hospitäler gründete, verfasste der wortmächtige Bischof Denkschriften und Memoranden, die heute einen wichtigen Quellenfundus darstellen, ebenso wie sein lange verloren geglaubtes Tagebuch. Morell veranlasste die erste Bevölkerungsschätzung Kubas (Padrón General, 1757). Während die Kontinentalkolonien Spanisch-Amerikas in den Unabhängigkeitskriegen 1810-1830 die Kolonialherrschaft des Mutterlandes abschüttelten, blieb Kuba (wie Puerto Rico) bis 1898 Kolonie. Als Spanien die Insel nach Jahren der Quasi-Autonomie 1837 wieder schärfer unter Kontrolle nahm, strebten einige Mitglieder der Eliten, Kuba den USA anzuschließen. Bei den so genannten Flibustier-Expeditionen gab es auch Versuche des spanisch-venezolanischen Generals Narciso López, Kuba von den Südstaaten der USA aus zu befreien. Narciso war es gelungen, Major Louis Schlesinger (18201900), einen ungarischen Juden, als Befehlshaber einer der Invasionskolonnen zu gewinnen. Schlesinger wurde gefangen genommen und nach Ceuta verbannt, Narciso López und einige seiner Offiziere wurden mit dem Würgeeisen öffentlich hingerichtet. Schlesinger konnte aus Ceuta fliehen, schrieb seine Autobiographie und emigrierte später nach Guatemala.
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Weitere spärliche Informationen besagen, dass sich aschkenasische Juden aus Osteuropa 1868-1878 an der „Guerra de los Diez Años“ (auch „guerra larga“) beteiligten. Ein jüdischer Abenteurer aus der Ukraine, Akiva Rolland, kam um 1860 nach Santa Clara und entwickelte sich als Carlos Roloff (Carlos Roloff Mialowski) zu einem der Anführer der antispanischen Gruppierungen und, als der Krieg 1868 ausgebrochen war, zu einem bedeutenden General der Unabhängigkeitskämpfer (mambises) und Militärchef von Las Villas. Im zweiten Unabhängigkeitskrieg 1895-1898 wurde Roloff Generalstabschef. Nach 1902, mit der Gründung der ersten Republik auf Kuba, war Roloff konservativer Finanzminister. Unter seinem Namen wurde 1901 das „Indice de Roloff“ publiziert, eine für die kubanische Identität extrem wichtige (und sehr umstrittene) Ehrenliste der „Mambises“ des Krieges 1895-1898. „Mambises“ wurden in der kubanischen Republik von 1902 als Gründerväter und Befreier (libertadores) geehrt und hatten Anrecht auf eine Ehrenrente. Spanien hatte die Immigration von Juden nach Kuba und Puerto Rico erstmals 1881 erlaubt. Allerdings war die Ausübung nichtkatholischer Gottesdienste noch bis zur USamerikanischen Intervention und Besetzung Kubas 1898-1902 strikt untersagt. Auf Kuba fanden sich bis zum Ende der spanischen Kolonialherrschaft 1898 zwischen 50 und 100 Menschen aus meist sehr reichen jüdischen Familien, die auch enge Verbindungen in die britische, niederländische Karibik, nach Panama und in die USA oder nach Hamburg und Europa hatten und kaum nach religiösen Regeln lebten: zum Beispiel die Marchenas, Machados, Maduros, Brandons und Dovelles. Auf beiden Seiten des Spanisch-Amerikanischen Krieges hatten Männer jüdischer Herkunft gekämpft, von denen einige nach 1898 auf Kuba blieben. Es waren allerdings nur sehr wenige. 1900 gab es unter ca. zwei Millionen Einwohnern auf Kuba weniger als 1.000 Europäer, die keine Spanier waren. 1907 handelte es sich bereits um 11.800 nichtspanische Ausländer, von denen ca. 6.000 aus den USA kamen. Zwischen 1900 und 1918 fand, auch weil in Mexiko Krieg und Revolution herrschten, eine intensive Einwanderung von Juden aus der Türkei und aus Syrien, bzw. eine Re-Emigration aus Mexiko nach Kuba statt. Einige wurden mächtige Tabakexporteure, wie die BarouchBrüder aus der Türkei. Als Unternehmer, Kaufleute und Verleger waren sie Arbeitgeber und oft auch Ausbeuter ihrer armen aschkenasischen Glaubensbrüder, die die Masse jüdischer Migranten nach Kuba stellten. 1916 sollen allein in Havanna 4.000 Sepharden gelebt haben. Bereits 1906 hatten amerikanische Juden in Havanna eine Synagoge, die „United Hebrew Congregation“ gegründet, die bis Mitte der 1960er Jahre existierte und die Dienste in Englisch zelebrierte. Die Masse der Gläubigen waren jüdische Auswanderer aus Rumänien, die auf Kuba meist als „americanos“ bezeichnet wurden. Nach dem Ende des Revolutionskrieges in Mexiko kehrten viele Juden nach Mexiko zurück oder wanderten weiter in die USA. Die jüdische Massenmigration nach Kuba begann im März 1921, als eine Änderung in den US-amerikanischen Einwanderungsgesetzen es den Menschen, die in die USA immigrieren wollten, ermöglichte, ihre Anträge während eines Aufenthaltes von einem „adjacent territory“ aus zu tun. Kuba galt als ein solch „anhängiges Gebiet“, besser wohl „abhängiges Gebiet“. Fast alle Juden, die durch „Akhsanie Kuba“ (Hotel Kuba) kamen,
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emigrierten in den nächsten Jahren (bis 1923) in die USA. Aber einige blieben auch auf Kuba. Aus den Migrationen von Juden entstanden drei separate Gemeinschaften, die der englischsprachigen „Americans“, die der jiddischsprachigen Aschkenasen sowie die der Sepharden. In den 1930er Jahren kam eine vierte Gemeinschaft hinzu, die der deutschsprachigen Juden aus Deutschland und Mitteleuropa. Nur einige der „Amerikaner“ wurden schließlich auch zum exklusiven Miramar Yacht Club zugelassen, wo Sepharden, Aschkenasen oder deutschsprachige Juden nicht Mitglied werden konnten. Trotz einiger extrem schwieriger Jahre für die Masse der Immigranten seit 1921 konnten sich viele jüdische Familien durch harte Arbeit in die privilegierte Welt der kubanischen Mittelklasse integrieren. Viele von ihnen siedelten sich in den Vierteln Westhavannas (Vedado, Miramar) an. Gefördert wurden die jüdischen Aufstiegsbemühungen durch das bestehende verdeckte Rassensystem, das die Masse der farbigen oder schwarzen Kubaner aus Mittelklassejobs (Handel, höheren Dienstleistungen, Medizin, Universität, Medien) ausschloss, Juden als „Weiße“ und Angehörige der westlichen Kultur aber, trotz aller Schwierigkeiten, privilegierte. Die afro-kubanische Kulturen und Religionen (u.a. Santería, Palo monte, Voudou) des Landes, die von Menschen ausgeübt wurden, die oft länger als alle nichtfarbigen Immigranten auf der Insel lebten, sahen jüdische Einwanderer immer mit Distanz. Aschkenasen waren meist junge Männer, Sepharden emigrierten in Familie. Viele wurden zunächst Hausierer (buhuneros) und gründeten dann oft Quincallerien (Kleineisengeschäfte, wie Messer, Schrauben, Werkzeuge, Scheren, etc.). Viele dieser Emigranten integrierten sich ganz in die kubanische Lebensweise. Die erste aschkenasische Synagoge wurde 1925 in Havanna gegründet. Auch in der ersten Hälfte der 1920er Jahre gegründeten „Partido Comunista Cubano“ (PCC) spielten Juden eine Rolle. Nach Ausschluss oder Tod der romantischen Gründergeneration kamen durch Fabio Grobart (Yunger Semjovich bzw. Abraham Yunger Simchowitz, geb. 1905 in Polen – gest. 1994 in Havanna), der mit einer Gruppe jüdischer politischer Immigranten nach Kuba gekommen war, seit Ende der 1920er Jahre dauerhafte personelle Verbindungen zwischen der Kommunistischen Partei Kubas und der Kommunistischen Internationale zustande. Einige deutschsprachige jüdische Intellektuelle weilten nur kurz auf der Insel, übten und üben aber einen langanhaltenden Einfluss aus, auch auf die Historiographie, wie Heinrich Friedlaender mit seiner eminenten „Historia Económica de Cuba“. Die nächste Generation kubanischer Juden, die zwischen 1945 und 1960 in das Erwachsenenalter kam, sah sich als Kubanerinnen und Kubaner, obwohl sie – wie andere Elitegruppen auch – mehr kosmopolitisch oder in Richtung Europa bzw. USA orientiert waren. Die Revolutionäre um Fidel Castro betrachteten sie bald alle als „Bourgeois“. Am Vorabend der kubanischen Revolution von 1959 gab es 11.000 bis 14.000 Juden auf Kuba, bei einer Gesamtbevölkerung von rund sechs Millionen Menschen. Etwa ein Viertel davon waren Sepharden, die große Mehrheit stammte aus Osteuropa. Etwa 3.000 Juden lebten in Zentralkuba (Las Villas), der Viehprovinz Camagüey oder ganz im Osten (Oriente). Sogar im äußersten Osten, in Guantánamo, gab es eine organisierte jüdische Gemeinde, vorrangig von Menschen aus der Türkei und Syrien. Wenn es irgend ging,
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versuchten Juden, vor allem im Interior (die Insel außerhalb Havannas), ihre Kinder auf private protestantische Schulen zu schicken. Nach der Machtübernahme durch die Guerrilleros um Fidel Castro spielte neben Fabio Grobart eine Reihe von „nichtjüdischen Juden“, meist aschkenasischer Herkunft, eine Rolle im castroistischen Kuba. Max Lesnick, Sohn einer katholischen Mutter und eines polnisch-jüdischen Vaters, war in den Anfangsjahren des Castrismus Präsident der nationalen Studentenorganisation. Enrique Oltuski Osachki, aus einer polnisch-jüdischen Immigrantenfamilie, und Máximo Bergmann stellten zeitweilig Minister in Regierungen unter Fidel Castro: Oltuski Kommunikationsminister und Bergmann Innenminister. Viele dieser Menschen aus jüdischen Familien hatten ihr Judentum zugunsten einer Integration in die kubanische Bevölkerung oder in politische Bewegungen aufgegeben und sahen sich nicht als Juden. Einige aus dieser Gruppe arbeiteten im revolutionären Kuba als Diplomaten, aber besonders als Ingenieure, Mediziner oder Chemiker und andere als hochrangige Wissenschaftler. Die Mittel- und Oberklasse der kubanischen Juden aber nahm, wie die gesamte kubanische Oberklasse und große Teile der Mittelklassen, mehr und mehr Abstand zum sich herausbildenden Castrismus. Die staatlichen Beziehungen zwischen Israel und Kuba, die 1959 und 1960 noch gut und von Sympathie geprägt gewesen waren, verschlechterten sich mit der Formierung des Großmächtekonflikts um und über Kuba. Bis 1973 aber hielten sie sich, ohne große Öffentlichkeit, auf einem zumindest nicht feindlichen Niveau, wobei Fidel Castro selbst Sympathien für Israel nachgesagt werden und der máximo líder durchaus von Zeit zu Zeit Eigenständigkeit der kubanischen Politik demonstrierte. Seit dem Beginn der 1960er Jahre setzten auf Kuba die Enteignungen ein, zunächst großer Besitz und 1968 schließlich auch Läden, Taxis und Kleineigentum; die Städtereform entmachtete Vermieter und Hausbesitzer. Alle Privatfirmen wurden im Laufe des Nationalisierungsprogramms enteignet; einige Unternehmer und Eigentümer erhielten Kompensationen, andere nicht. Schätzungen besagen, dass ca. 70 Prozent der kubanischen Juden, fast alles eingebürgerte Kubanerinnen und Kubaner, die Insel verließen. Die meisten gingen in die USA, aber auch nach Israel, Puerto Rico, Venezuela oder nach Mexiko. Denen, die nach Israel auswanderten, stempelten die kubanischen Behörden ein „repatriado“ (repatriiert) in die Pässe. Obwohl besonders nach der Invasion in der Schweinebucht (1961) eine heftige, auch stark ideologisierte Offensive des revolutionären Staates gegen Kirche und Religionen einsetzte, besonders gegen die katholische Amtskirche und eine Reihe von ultrakonservativen Gruppierungen, aber auch gegen die afrokubanischen Religionen, sind Juden auf Kuba niemals religiös verfolgt worden. Allerdings verschlechterten sich ihre Lebensumstände rapide. Die wenigen, ca. 2.500 verbliebenen Juden auf Kuba passten sich an. Die meisten lebten in den Provinzen des Interior (vgl. Karte 1); koschere Küche lief nun unter dem Label „Yiddische Küche“. In den 1990er Jahren lebten noch rund 300 jüdische Familien auf Kuba; 80 Prozent davon in Havanna. Um 2000 mögen es noch zwischen 1.000 und 1.500 Menschen gewesen sein. Als die Krise der 1990er Jahre in Kuba auf ihrem Höhepunkt war, kam wieder etwas Bewegung in die Beziehungen zwischen Kuba und Israel. Zumindest einige
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israelische Wissenschaftler und Politiker erhielten Einreisevisa und es kam ein sehr kleiner Dialog zustande. Die kubanische Politik gegenüber Minoritäten und nichtkatholischen Religionsgruppen verbesserte sich aus innenpolitischen Gründen und auf äußeren Druck, was zunächst vor allem bedeutete, dass die Religionsgruppen unter Kontrolle des Staates ihre Religion, ihre Bräuche und ihren Glauben an bestimmten Orten und im Innern von Gebäuden praktizieren durften.
Michael Zeuske
Literatur Ruth Behar, While Waiting for the Ferry to Cuba: Afterthoughts About Adio Kerida, in: Michigan Quarterly Review, 41(2002), 4, S.651-667. Maritza Corrales, The chosen island: Jews in Cuba, Chicago 2005. Judith L. Elkin, Juden in den spanischen und portugiesischen Kolonien, in: Elkin, 150 Jahre Einsamkeit: die Geschichte der Juden in Lateinamerika. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Benthack, Hamburg 1980, S.15-51. Ilena S. Goldman, Documentaries About Jewish Renewal in Contemporary Cuba: Hope or Hype?, in: Latin American Research Review, 32(1997), 3, S.258-268. Dana E. Kaplan, A Jewish renaissance in Castro’s Cuba, in: Judaism, 49(2000), 2, S.218236. Dana E. Kaplan, Fleeing the Revolution: the Exodus of Cuban Jewry, in: Cuban Studies, 36 (2005), 1, S.129-154. Reinaldo Sánchez Porro, Tradición y modernidad: Los júdios en La Habana, in: Cuadernos de Historia Contemporánea, 18(1996), S.175-192. Michael Zeuske, Insel der Extreme. Kuba im 20. Jahrhundert, Zürich 2004. Michael Zeuske, Kleine Geschichte Kubas, München 2007.
Lettland Die deutschen Kreuzfahrer, die im 13. Jahrhundert die baltischen Länder eroberten, importierten einen religiös-christlichen Antijudaismus. Siegfried von Feuchtwangen, der Ordensmeister des Deutschen Ordens in Livland, erließ 1306 (nach anderen Quellen 1309) ein Dekret, das „Juden, Zauberern und Magiern” untersagte, sich auf dem Boden des Ordens niederzulassen. Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als die Livländische Konföderation auseinanderbrach, durften Juden nach Süd-Kurland einwandern. Die Herzöge von Kurland (1561-1795) gestatteten die Einreise von Juden aus Deutschland, Litauen und Polen, begrenzten jedoch deren Aufenthaltsrecht, verboten die Anlage von jüdischen Friedhöfen (Verstorbene mussten in Litauen bestattet werden) und erlegten den Juden besondere Steuern auf. Die Herzöge übertrugen vielen Juden Beamtenaufgaben wie z.B. als Zöllner, Steuereintreiber oder Verwalter, was unter dem kurländischen Adel Empörung hervorrief. Im 18. Jahrhundert gestatteten die Herzöge Ernst und Peter Biron die Einwanderung einer großen Zahl von jüdischen Handwerkern und
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israelische Wissenschaftler und Politiker erhielten Einreisevisa und es kam ein sehr kleiner Dialog zustande. Die kubanische Politik gegenüber Minoritäten und nichtkatholischen Religionsgruppen verbesserte sich aus innenpolitischen Gründen und auf äußeren Druck, was zunächst vor allem bedeutete, dass die Religionsgruppen unter Kontrolle des Staates ihre Religion, ihre Bräuche und ihren Glauben an bestimmten Orten und im Innern von Gebäuden praktizieren durften.
Michael Zeuske
Literatur Ruth Behar, While Waiting for the Ferry to Cuba: Afterthoughts About Adio Kerida, in: Michigan Quarterly Review, 41(2002), 4, S.651-667. Maritza Corrales, The chosen island: Jews in Cuba, Chicago 2005. Judith L. Elkin, Juden in den spanischen und portugiesischen Kolonien, in: Elkin, 150 Jahre Einsamkeit: die Geschichte der Juden in Lateinamerika. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Benthack, Hamburg 1980, S.15-51. Ilena S. Goldman, Documentaries About Jewish Renewal in Contemporary Cuba: Hope or Hype?, in: Latin American Research Review, 32(1997), 3, S.258-268. Dana E. Kaplan, A Jewish renaissance in Castro’s Cuba, in: Judaism, 49(2000), 2, S.218236. Dana E. Kaplan, Fleeing the Revolution: the Exodus of Cuban Jewry, in: Cuban Studies, 36 (2005), 1, S.129-154. Reinaldo Sánchez Porro, Tradición y modernidad: Los júdios en La Habana, in: Cuadernos de Historia Contemporánea, 18(1996), S.175-192. Michael Zeuske, Insel der Extreme. Kuba im 20. Jahrhundert, Zürich 2004. Michael Zeuske, Kleine Geschichte Kubas, München 2007.
Lettland Die deutschen Kreuzfahrer, die im 13. Jahrhundert die baltischen Länder eroberten, importierten einen religiös-christlichen Antijudaismus. Siegfried von Feuchtwangen, der Ordensmeister des Deutschen Ordens in Livland, erließ 1306 (nach anderen Quellen 1309) ein Dekret, das „Juden, Zauberern und Magiern” untersagte, sich auf dem Boden des Ordens niederzulassen. Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als die Livländische Konföderation auseinanderbrach, durften Juden nach Süd-Kurland einwandern. Die Herzöge von Kurland (1561-1795) gestatteten die Einreise von Juden aus Deutschland, Litauen und Polen, begrenzten jedoch deren Aufenthaltsrecht, verboten die Anlage von jüdischen Friedhöfen (Verstorbene mussten in Litauen bestattet werden) und erlegten den Juden besondere Steuern auf. Die Herzöge übertrugen vielen Juden Beamtenaufgaben wie z.B. als Zöllner, Steuereintreiber oder Verwalter, was unter dem kurländischen Adel Empörung hervorrief. Im 18. Jahrhundert gestatteten die Herzöge Ernst und Peter Biron die Einwanderung einer großen Zahl von jüdischen Handwerkern und
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ausgebildeten Fachleuten aus Deutschland. Eine Reihe von Gesetzesbeschränkungen für Juden wurden in der Folgezeit aufgehoben. Eine deutlich andere Situation entwickelte sich im Osten von Lettland (Latgallen, polnisch: Inflanty Polskie), wohin im 17. und 18. Jahrhundert Juden aus ? Weißrussland, ? Litauen und der ? Ukraine einwanderten. Nach polnischem Gesetz erwarben sie hier das Recht, Güter zu pachten und zu verwalten bzw. Gasthäuser und Geschäfte zu betreiben. Dies bewirkte einerseits eine spürbare Belebung der Wirtschaft, brachte jedoch auch soziale Spannungen mit der katholischen Bevölkerung sowie dem polnischen Adel mit sich. Religiös begründete antisemitische Vorurteile und Feindschaften führten immer wieder zu offenen Gewalttätigkeiten. So wurde 1768 im Kreis Ludza ein jüdischer Schneider auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Im 18. Jahrhundert wurde Lettland Teil des russischen Zarenreichs (? Russland) und dessen antisemitische Gesetze und Dekrete wirkten sich auch hier aus: 1742 verfügte ein Gesetz die Ausweisung der Juden, 1778 wurde in Ostlettland (Latgallen) die Umsiedlung der Juden aus der ländlichen Umgebung in die Städte verordnet und 1812 die Vertreibung aller kurländischen Juden aus Riga. 1844 wurde eine Steuer für das Tragen der traditionellen jüdischen Bekleidung eingeführt; der Rigaer Stadtrat erließ eine Anordnung, die jüdischen Handwerkern untersagte, nichtjüdische Lehrlinge oder Gehilfen zu beschäftigen; Juden waren von den Zünften ausgeschlossen und die jüdischen Meister hatten die doppelte Handwerkersteuer zu entrichten. Im gleichen Jahr hob ein Erlass in Latgallen die Kahal (jüdische Gemeindeselbstverwaltung) auf und die Gemeinden wurden der allgemeinen Bezirksverwaltung und den örtlichen Gerichten unterstellt. Im Frühjahr 1881 wurden in Liepāja (vgl. Karte 3) Gerüchte und Lügen kolportiert, wonach Juden vor Ostern Ritualmorde begangen hätten. Die Stadtpolizei konnte jedoch ein Pogrom verhindern und die Juden schützen. Bis Ende der 1870er Jahre war antisemitische Agitation eher selten. Die Führer der junglettischen Bewegung, wie z.B. Krišjānis Valdemārs, riefen zu Toleranz gegenüber den Juden auf und forderten die Letten auf, sich für deren Rechte und den Erhalt von Sprache, Kultur und Religion einzusetzen. Erst nach 1881 erschienen in der nationalistischen Presse zunehmend gegen Juden gerichtete Artikel. Sowohl in der Zeitung „Balss” (Die Stimme) als auch in der Zeitschrift „Pagalms” (Der Hof) wurde behauptet, dass jüdische Unternehmer und Händler ihre Konkurrenten mit unredlichen Mitteln schädigten, die Erzeugerpreise der Land- und Forstwirte unterböten und viele fleißige Arbeiter ruinierten. Auf geistigem Gebiet wurden die Juden der Verbreitung unpatriotischen und unmoralischen Gedankenguts beschuldigt. Auch im Zentrum der sich formierenden lettischen Intelligenz tauchten Verbreiter des Antisemitismus auf: der Pfarrer Janis Sanders, der Volkswirt Ludwigs Grens, später auch die Schriftsteller Andrievs Niedra und Jānis Poruks sowie der Publizist und Rechtsanwalt Frīdrihs Veinbergs, der 1902 die lettische Zeitschrift „Rīgas Avize” (Rigaer Zeitung) in ein antijüdisches Sprachrohr verwandelte. Gegen den Antisemitismus wandten sich die lettische Sozialdemokratie sowie Schriftsteller wie Janis Rainis, Rūdolfs Blaumanis und Augusts Deglavs. Die Diskussion der „Judenfrage” verschärfte sich besonders in den Revolutionsjahren 1905-1907, als sich viele Juden der lettischen Revolutionsbewegung anschlossen. Andererseits arbeiteten jü-
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dische Liberale mit lettischen demokratischen Politikern zusammen, um eine Koalition für die Wahl zum russischen Reichstag (Duma) zu bilden. Die Spaltung der lettischen Intelligenz in der jüdischen Frage wurde deutlich durch die Polemiken der Zeitungen anläßlich des Kiewer Prozesses (1912-1914) gegen Mendel Beilis, der wegen angeblicher „schwarzer Rituale” geführt wurde, die dieser veranstaltet haben soll. Zum größten Teil verurteilte die lettische Presse dies, wie auch den Ultraantisemitismus der in Jelgava (Mitau) erscheinenden Zeitschrift „Latviešu Avīzes” (Lettische Zeitungen). Dieses Blatt veröffentlichte erstmals Fragmente der „Protokolle der Weisen von Zion” in lettischer Sprache. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs bezeichneten russische und lettische Antisemiten die Juden als Freunde der Deutschen und ihrer Verbündeten. Der Oberkommandeur der Russischen Armee, Großfürst Nikolai Nikolajewitsch, beharrte auf dem Wissen um die Existenz der „progermanischen Judenheit”. Im Frühjahr 1915 wurden ohne Beweise und ohne konkrete Anklage 40.000 Juden aus dem Kurland in Viehwagen während 48 Stunden zwangsweise ins Innere Russlands deportiert. Etwa 80.000 Juden verließen Lettland als Kriegsflüchtlinge. Auf den Waggons mit den Flüchtlingen war oft mit Kreide in russischer Schrift die Aufschrift „Deutsche Spione” gemalt. Am 18. November 1918 wurde in Riga die unabhängige Lettische Republik proklamiert, die die Gleichberechtigung der Juden mit allen übrigen Staatsbürgern anerkannte. Bis Januar 1920 herrschte Bürgerkrieg zwischen nationalen und kommunistischen Kräften. Mit englischer und französischer Unterstützung siegten die lettischen nationalen Kräfte und im Frühjahr 1920 fanden Wahlen zur Nationalversammlung statt. Die Mehrheit der lettischen Juden unterstützte die neue Regierung und mehr als 1.000 Juden kämpften in den Reihen der Armee. Ungeachtet dieser Loyalität und des Patriotismus der Juden begann ab 1920 ein Teil der lettischen Intelligenz (junge Offiziere, Journalisten und Studenten) zusammen mit Angehörigen der unteren Beamtenschaft und nationalistischer Gruppierungen, Intoleranz und Feindschaft gegenüber den Juden zu verbreiten. Der nationale Antisemitismus propagierte, den Juden die aktive Teilnahme am Aufbau des nationalen Staatswesens zu verweigern, weil dieses ausschließlich ethnisch lettisches Vorrecht sei. Solche Standpunkte vertraten nationalistische Zeitungen wie „Latvijas Sargs” (Lettischer Wächter), „Tautas Balss” (Volksstimme), „Zemgalietis” (Der Semgaler), „Kurzemes Vārds” (Das Wort Kurlands) und die klerikale Zeitschrift „Vairogs” (Der Schild). Darin wurde u.a. gefordert, die Zahl der zurückkehrenden jüdischen Kriegsflüchtlinge zu begrenzen, die jiddische Sprache im öffentlichen Raum zu verbieten, Quoten für jüdische Studenten an Hochschulen festzulegen, keine Juden in Beamtenpositionen bzw. als Offiziere in die Armee aufzunehmen. Zugleich zeigte sich ein ideologischer Antisemitismus, der die jüdische Religion und jüdische Kultur als Verbreitung feindlichen Ideenguts gegenüber der christlichen Zivilisation und Weltanschauung bezeichnete. Die eifrigsten antijüdischen Ideologen waren der Schulinspektor Jānis Dāvis, der Theologe Jānis Sanders und die Journalisten Hermanis Asars und Ernests Blanks. Jānis Sanders und Jānis Dāvis forderten in ihren Publikationen die Ausschließung des Alten Testaments (der Thora) von der christlichen Grundlehre und die Isolation der Juden aus der nationalen Gesellschaft.
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Mehrere nationalistische Klubs und Studentenverbindungen provozierten 1920 bis 1925 auf Straßen, in Restaurants, in Auditorien der Universität und auf Bahnhöfen Überfälle auf Juden. Im Januar 1925 wurde auf eine Synagoge in Riga eine Handgranate geworfen. Die lettische Regierung und ihre Sicherheitsdienste wandten sich gegen diesen Terror. Zeitungen, die den Vandalismus unterstützten, erhielten hohe Geldstrafen. 1932 wurde die Organisation „Ugunskrusts“ (Feuerkreuz) mit ca. 2.000 Mitgliedern gegründet, die seit 1933 „Perkonkrusts“ (Donnerkreuz) hieß. Unter dem Motto „Lettland den Letten“ forderte sie die Einschränkung der Bürgerrechte von Deutschen und Juden in Lettland. Die Führer von Perkonkrusts waren die fanatischen Antisemiten Gustavs Celmiņš, Arvīds Melliņš, Juris Plāķis und Jēkabs Vītols; ultrarechte Hochschullehrer und Studenten bildeten einen Kern dieser Organisation. Donnerkreuzler veranstalteten Aufmärsche und zahlreiche „Volksversammlungen“ mit antisemitischer Agitation. Die Zeitschriften „Baltische Monatshefte“ und „Jomburg“, herausgegeben von deutschbaltischen Politikern, waren Plattformen zur Verbreitung antisemitischer Hetze. Am 15. Mai 1934 erlebte Lettland einen Staatsstreich, die Auflösung des Parlaments und die Aussetzung der Verfassung. Die autoritäre Regierung unter Kārlis Ulmanis hatte die Macht übernommen. Sie war zwar nationalistisch, unterstützte aber die antisemitische Bewegung nicht: Sie verbot die Herausgabe und Verbreitung antisemitischer Literatur in lettischer Sprache und unterstützte zionistische Organisationen. Die Aktivitäten von Perkonkrusts wurden verboten und weiter agitierende Führer wie Ādolfs Šilde erhielten Gefängnisstrafen. Die von Perkonkrusts geschaffene antisemitische Stimmung konnte hingegen nicht beseitigt werden. Das Regime Ulmanis schränkte offiziell die berufliche Betätigung von Nicht-Letten ein und begrenzte ab 1934 die Zahl der jüdischen Hochschulzugänger. Nachdem die Sowjetunion im Juni 1940 Lettland annektierte, wurden säkulare und religiöse Organisationen der jüdischen Gemeinden geschlossen und ihre Leiter verhaftet. Im Mai und Juni 1941 wurden in Lettland mehr als 20.000 Menschen festgenommen, 13 Prozent waren Juden. Viele wurden erschossen oder in sowjetischen Straflagern umgebracht. Noch vor Deutschlands Angriff auf die Sowjetunion wurde in Berlin beschlossen, auf lettischem Territorium mit der völligen Vernichtung der örtlichen Juden zu beginnen. Hierzu sollte die deutsche Einsatzgruppe A, in Zusammenarbeit mit der vom deutschen Propagandaministerium entsandten Einheit, die lettischen Donnerkreuzler und andere organisierte örtliche Antisemiten einbinden und die aktive Teilnahme der lettischen Nationalisten an der Liquidation der Juden erreichen. Während der deutschen Okkupation wurden Zeitungen und Zeitschriften in lettischer und russischer Sprache herausgegeben, die gegen die Juden hetzten. Viele bekannte antisemitische Autoren schrieben für die einschlägige Presse. Deren Hauptsprachrohr war die Rigaer Zeitung „Tēvija“ (Vaterland), die gehässigsten Blätter allerdings erschienen in der Provinz und in Städten wie Ventspils (Windau), Jelgava (Mitau), Valmiera (Wolmar) und Daugavpils (Dünaburg). Sie äußerten „Dankbarkeit“ gegenüber „Großdeutschland“ für das „Verschwinden“ der Juden und priesen lettische Polizisten und Angehörige des Sicherheitsdienstes für die Kollaboration mit den Deutschen. Letten, die Mitgefühl mit den Juden zeigten und diesen halfen, wurden verunglimpft.
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Im Sommer 1941 wurde das Antisemitismus-Institut in Riga gegründet, dessen Leiter Jānis Martinsons und Arvīds Melliņš waren. Mit Unterstützung des Instituts wurde 1942 das antisemitische Bilderkompendium „Baigais gads“ („Das Jahr des Grauens“) über die Juden erarbeitet, dessen faktische Autoren Referenten aus dem Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete waren, die „literarische“ Bearbeitung stammt von den antisemitisch orientierten lettischen Journalisten Pauls Kovaļevskis, Oskars Norītis und Miķelis Goppers. An mehr als 200 Plätzen wurden in Lettland Juden ermordet. Die meisten Menschen sind in den Wäldern von Biķernieki (6.000 Opfer) und Rumbula (25.000 Opfer) bei Riga ermordet worden. Weitere Morde wurden auf den Truppenübungsplätzen in Grīva (bei Daugavpils) und Rēzekne verübt; am Strand von Šķēde bei Liepāja (Libau) wurden etwa 3.000 Menschen getötet. Auf lettischem Territorium sind insgesamt mehr als 80.000 Juden ermordet worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde den in Lettland lebenden Juden verboten, jüdische Schulen und Kulturvereinigungen wiederzueröffnen oder neue zu gründen. Das Gebäude des ehemaligen jüdischen Theaters in Riga wurde dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei als Propagandazentrale übereignet. 1950 schlossen die Behörden die Hauptsynagoge in Riga; das Studium der Judaistik und jüdischer Religionsunterricht wurden verboten. 1949 wurde eine Kampagne gegen den Zionismus gestartet, den der Kreml dem Kosmopolitismus zurechnete, der angeblich die Ideologie der USA und Israels verbreiten würde. 1953 wurden in Zusammenhang mit der „Moskauer Ärzte-Affäre“ in Riga jüdische Kulturschaffende verhaftet. In der kommunistischen Presse und in inszenierten „Versammlungen der Werktätigen“ wurde der Zionismus beschuldigt, die Ziele des „amerikanischen Imperialismus“ zu vertreten, und es wurde gefordert, Zionisten vor Gericht zu stellen und zu bestrafen. Nach dem israelischen Sieg im Sechs-Tage-Krieg begann die Verfolgung derjenigen Juden, die nach Israel auswandern wollten. 1970 fand in Riga ein Prozess gegen vier „Propagandisten der Repatriierung“ statt, die zu einer Haftstrafe von drei Jahren in einem Lager im Norden von Mordwinien verurteilt wurden. Viele Juden wurden aus verantwortlichen Tätigkeiten entlassen, an der Fortführung wissenschaftlicher Karrieren gehindert oder in psychiatrische Kliniken eingewiesen. Zwischen 1968 und 1989 verließen mehr als 16.000 Juden Lettland und wanderten nach Israel oder in westeuropäische Länder aus. In der unabhängigen Lettischen Republik ist Antisemitismus keine verbreitete Erscheinung. Am 19. September 1991 erließ der Oberste Rat (Parlament) der Lettischen Republik die Deklaration „Über die Bestrafung und Nichtzulässigkeit von Genozid und Antisemitismus in Lettland“ [Par genocīda un antisemītisma nosodījumu un nepieļaujamību Latvijā]. Es gibt freilich antidemokratische, marginale Gruppierungen, wie den „Verein der nationalen Kräfte“, und Zeitungen, die sich des Antisemitismus bedienen, und es gibt Bemühungen, die illegale Bewegung Perkonkrusts („Donnerkreuz“) zu erneuern. Täter aus diesen Kreisen schleuderten in den 1990er Jahren drei Mal Sprengkörper gegen die Synagoge in Riga. 1992-1995 erschienen in den ultranationalistischen Zeitungen „Pilsonis“ (Der Bürger) und „Pavalstnieks“ (Der Staatsbürger) regelmäßig antisemitische Artikel. In der Wochenschrift „Latvietis Latvijā“ (Der Lette in Lettland) sind
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antisemitische Artikel von 1998 bis 2005 in jeder Ausgabe erschienen. Hier waren auch neonazistische Spekulationen über „die Schuld der Juden“ an der Auslösung des Zweiten Weltkriegs und der Auslieferung Lettlands an Stalins Herrschaft nachzulesen. 2005 wurde die Herausgabe von „Latvietis Latvijā“ eingestellt. 1997 ist das antisemitische Bilderkompendium „Baigais gads“ aus dem Jahr 1942 erneut publiziert und verbreitet worden. Herausgeber war Leonard Inkins, das Vorwort schrieb der ultrakonservative Theologe Kārlis Zuika, der 1945 nach Deutschland geflohen war und seitdem dort lebt. Inzwischen ist dieses Werk in mehreren Sprachen übersetzt und wird im Internet in voller Länge, samt Fotos, verbreitet. Der Herausgeber der extrem nationalistischen Zeitschrift „DDD“ (Deokupacija, Dekolonizacija, Deboļševizācija), Aivars Garda, ist für die Veröffentlichung einer Übersetzung der „Protokolle der Weisen von Zion“ mitverantwortlich. Ein Merkmal des gegenwärtigen Antisemitismus in Lettland ist das Verbreiten von Lüge und Hetze gegen Repräsentanten des Staates, unter anderem gegen die frühere Staatspräsidentin Vaira Vīķe-Freiberga, die beschuldigt wird, „Juden und Freimaurern hörig zu sein“. Hinzu kommen Verleumdungen über die „Agressivität“ des Zionismus. Des Weiteren gibt es Versuche, ultranationalistische Jugendgruppen zu bilden, wie z.B. die von Viktors Birze (Statujevs) angeführte „Vereinigung Nationaler Kräfte“, deren harter Kern sich in Riga und Liepāja (Libau) befindet.
Leo Dribins
Literatur Wolfgang Benz und Juliane Wetzel (Hrsg.), Solidarität und Hilfe für Juden während der NSZeit. Regionalstudien 2, Berlin 1998. Leo Dribins, Antisemitisms un ta izpausmes Latvijā. Vēstures atskats, Riga 2002. Leo Dribins, Armands Gutmanis, Margers Vestermanis, Latvia’s Jewish Community. History. Tragedy. Revival, Riga 2001. Occupied Latvia in 20th Century (1940s). Research of the Commission of the Historians of Latvia 2004, Riga 2005. Aivars Stranga, Ebreji un diktatūras Baltijā 1926-1940, Riga 2002. The Issues of the Holocaust research in Latvia. Reports of an International Seminar 29 November 2001, Riga and the Holocaust Studies in Latvia in 2001–2002, Riga 2003.
Libanon ? Syrien und Libanon
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Libyen Juden leben in Libyen seit 597 v.u.Z., als die Zerstörung des Tempels in Jerusalem eine jüdische Diaspora in die Regionen entlang der Küste des Mittelmeers auslöste. Im Jahre 70 n.u.Z. verließen infolge der Eroberung Jerusalems durch die Römer und die damit einhergehenden Übergriffe auf Juden viele von ihnen das Gebiet und siedelten sich an der libyschen Küste an. Zwischen 641 und 644 besetzten die Araber die Region. Die ansässigen Berber nahmen den Islam an, die Juden erhielten Mitte des 7. Jahrhunderts den Status von „Schutzbefohlenen“ (ahl al-dhimma). Nach einer mehr als 40 Jahre dauernden katholischen Herrschaft, zuerst unter den Spaniern, dann unter den Maltesern (Rittern von Malta), übernahmen 1551 die Osmanen die Herrschaft über Libyen. Für die jüdische Gemeinde Libyens begann damit eine lange Phase ohne Verfolgungsdruck, die bis 1911 anhielt, als Italien das Land eroberte. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kam es zwischen Juden und Muslimen erstmals zu Problemen. Die Mehrheit der Juden gehörte der Handwerkerschicht an, wohnte in heruntergekommenen Behausungen und lebte an der Armutsgrenze. Daneben gab es eine kleine wohlhabende Schicht von Juden, die besser auf die Herausforderungen der Moderne vorbereitet war als die arabische Gesellschaft. Gleichzeitig entwickelte sich ein arabisch-islamisches Politikverständnis, das von Beginn an mit antijüdischen Stereotypen europäischer Provenienz durchdrungen war. Die antisemitischen Tendenzen in der arabischen Bevölkerung allerdings wurden von der herrschenden Regierung des Osmanischen Reiches nicht mitgetragen, sie akzeptierte die jüdische Gemeinschaft, untersagte ihr aber, Waffen zu tragen und Pferde zu reiten. Der arabische Volksnationalismus entlud sich in öffentlichen Tumulten und xenophoben Übergriffen auf Europäer, insbesondere aber auf Juden, die als europäisiert wahrgenommen wurden. Ende des 19. Jahrhunderts hatte die antisemitische Stimmung in der arabischen Bevölkerung einen Höhepunkt erreicht, Juden wurden beschimpft, angegriffen, mit Steinen beworfen und jüdische Friedhöfe wurden geschändet.
Die Italienische Kolonie (1911-1943) Ende September 1911 richtete Italien ein Ultimatum an die Türkei, besetzte die Osmanische Provinz Tripolis und löste damit am 5. Oktober 1911 den italienisch-türkischen Krieg aus. Einen Monat später annektierte Italien die Provinz. Gegenüber den Juden verhielt sich die Besatzungsmacht bis in die frühen 30er Jahre eher zurückhaltend, musste sie sich doch zunächst mit drängenderen Problemen beschäftigen. Mit äußerster Brutalität gegen die in der Provinz lebenden Araber und Berber versuchte sie die Region zu „befrieden“; rund 100.000 libysche Wüstenkrieger und Zivilisten kamen dabei ums Leben. Der 1931 durchgeführten Volkszählung zufolge stellte die damals in Libyen lebende jüdische Bevölkerung 3,6 Prozent der Gesamtbevölkerung. Von den 25.103 Juden lebten 15.637 in Tripolis, 5.871 in Tripolitanien, 2.767 in Bengasi und 828 in der Cyrenaika. 1932 gerieten die Beziehungen zwischen der italienischen Kolonialmacht und der jüdischen Gemeinde über die Frage des samstäglichen Schulbesuchs in eine Krise. Die italienische Besatzungsmacht führte den Sonntag als Ruhetag ein und schaffte sowohl den
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jüdischen Samstag als auch den muslimischen Freitag als Ruhetag ab. Ab dem Schuljahr 1932/33 wurde der Schulbesuch am Samstag obligatorisch. Die jüdische Bevölkerung wehrte sich dagegen, musste die Regelung aber schließlich doch akzeptieren. Diese Auseinandersetzungen fielen in eine Phase, in der die Juden zunehmend Ziel arabischer Übergriffe wurden. Der Konflikt in Palästina zwischen Muslimen und Juden übertrug sich auch auf Libyen. Die Solidarität der libyschen arabischen Bevölkerung mit den Arabern in Palästina entlud sich gegen die Juden im eigenen Land. Die Unruhen wurden durch die Auseinandersetzungen zwischen den italienischen Kolonialbehörden und der jüdischen Gemeinde über den samstäglichen Schulbesuch zudem angeheizt. Anfang Juni 1933 kam es zu mehreren Zwischenfällen und zu Verletzten auf beiden Seiten. Um dem entgegenzuwirken, verhängte Generalgouverneur Pietro Badoglio zunächst eine Geldstrafe gegen die jüdische Gemeinde, anschließend ließ er die Hauptprotagonisten – Araber und Juden – als Verursacher für die Unruhen öffentlich auspeitschen. Im Januar 1934 traf in Tripolis der neue Generalgouverneur für Libyen, Italo Balbo, ein. Balbo, ein Mann aus der Führungsriege der Faschisten, wollte Libyen zu einem modernen, ökonomisch hoch entwickelten Land ausbauen. Hilfe erwartete er sich von einer Italienisierung der wohlhabenden Schichten der jüdisch-libyschen Gemeinde. Eine solche Assimilation war seiner Meinung nach aber nur zu erreichen, wenn auf rückschrittliche religiöse Praktiken verzichtet wurde, deshalb hielt er an der Regelung des samstäglichen Schulbesuchs fest. Seit dem 1. Dezember 1936 wurde die sonntägliche Ruhetagsregelung auch auf den Handel ausgedehnt. Nach den neuen Bestimmungen mussten die Geschäfte jeden Tag, außer sonntags, geöffnet sein. Bei Nichtbefolgung drohte Lizenzentzug. In einem Bericht der Zeitung „Avvenire di Tripoli“, dem offiziellen faschistischen Organ in Tripolis, wurde der Bericht über die neue Maßnahme mit dem Kommentar versehen: „Tripolis ist nicht Tel Aviv“. Die Regelung versetzte die jüdischen Geschäftsleute in Tripolis in Aufruhr, einige unter ihnen widersetzten sich der Maßnahme und hielten ihre Geschäfte am Samstag geschlossen. Balbo reagierte mit drakonischen Strafen. An zwei Geschäftsleuten, die als Anführer des Aufstands galten, statuierte er ein Exempel und ließ sie öffentlich auspeitschen. Am 13. September 1938 trat das Dekret Nr. 1390 (Reggio Decreto Legge) in Kraft, das alle jüdischen Schüler und Lehrer aus den öffentlichen Schulen Italiens und seiner Kolonien vertrieb. Am 6. Oktober gab der „Große Faschistische Rat“ eine „Erklärung über die Rasse“ ab, die bestimmte, wer als Angehöriger der „jüdischen Rasse“ zu gelten hatte, und am 17. November trat das „Gesetz zur Verteidigung der italienischen Rasse“ in Kraft. Bereits ab September 1938 begann die faschistische Regierung auch in Libyen mit der Einführung anti-jüdischer Maßnahmen, die zunächst – bis zum Erlass eigener Gesetze für die Kolonie – nur in Form von Dekreten des Gouverneurs vorlagen. Betroffen waren rund 30.000 Personen, zunächst vor allem Juden mit italienischer Staatsbürgerschaft. Es gelang Gouverneur Balbo, der sich öffentlich gegen die Rassenpolitik der Nationalsozialisten ausgesprochen hatte, mit Hilfe eines Briefes an Mussolini, die libyschen Juden zunächst von den Dekreten auszunehmen. Auch die vorgesehene Ausweisung aller ausländischen Juden wurde nur zum Teil durchgesetzt. Nach und nach allerdings fanden die antijüdischen Gesetze und Verordnungen schließlich doch Anwendung. Das speziell auf Libyen abgestimmte anti-jüdische Gesetz Nr. 1420 mit dem Titel „Be-
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schränkungen des Vermögens der Angehörigen der jüdischen Rasse in Libyen“ wurde am 9. Oktober 1942 erlassen, nur einige Monate vor der Befreiung des Landes durch die Briten. Die Fassung des Gesetzes folgte dem Muster der Gesetzgebung, die in Italien galt, allerdings mit dem Unterschied, dass „arisch“ durch muslimisch ersetzt wurde. Hier zeigt sich, dass die faschistische Verfolgungspolitik in Libyen weniger einen antisemitischen Charakter aufwies, als vielmehr auf religiös bedingten anti-judaistischen Vorstellungen beruhte. Mit dem Kriegseintritt Italiens gegen England und Frankreich im Juni 1940 verschlechterte sich die Situation der Juden Libyens. Ihr Lebensraum wurde immer weiter eingeschränkt. Nicht nur die jüdischen Kinder mussten die italienischen Schulen verlassen, sondern auch die Berufstätigen wurden von ihren Arbeitsplätzen verdrängt und Juden, die als politisch „suspekt“ galten, wurden in Tajura (18 km von Tripolis entfernt), in Buerat el-Hsun (in der Syrte) und in Houn (im Bezirk al-Jufrah im Zentrum Libyens) interniert. Im Juli 1942 wurden rund 1.000 Männer zwischen 18 und 45 Jahren zur Zwangsarbeit in die Lager Sidi Azaz, 150 Kilometer südlich von Tripolis und später in Bukbuk in der Cyrenaika, das an der Grenze zu Ägypten in der Nähe von Tobruk liegt, verschleppt. Auf Anweisung der italienischen Behörden musste ein Komitee der jüdischen Gemeinde die Einberufung zur Zwangsarbeit für den Bau einer Straßenverbindung zwischen Libyen und Ägypten vornehmen. Nachdem Ettore Bastico im Juli 1941 als neuer Generalgouverneur in Libyen eingesetzt worden war, begann er damit, die Entscheidung des Ministeriums für das Italienische Afrika umzusetzen, die vorsah, die etwa 7.000 in Libyen ansässigen Ausländer zu evakuieren. Französische Staatsbürger ließ er nach Tunesien abschieben, Bürger neutraler Länder wie Spanier, Schweizer und Türken schickte er nach Europa. Bürger feindlicher Staaten wie Griechen, Anglo-Malteser und Juden mit britischer Staatsbürgerschaft ließ er nach Italien deportieren und dort internieren. Die anglo-libyschen Juden wurden am 14. Januar 1942 auf die „Monginevro“ eingeschifft und eskortiert von Carabinieri nach Neapel gebracht. Von dort wurden sie auf fünf Internierungslager verteilt: Civitella del Tronto in der Provinz Teramo, Civitella della Chiana und Badia al Pino in der Provinz Arezzo, Bagno a Ripoli in der Provinz Florenz und Pollenza in der Provinz Macerata. Andere Gruppen wurden erst später deportiert und in verstreut liegende Wohnungen in der Provinz Bologna, in den Gemeinden Camugnano und Bazzano sowie in den Provinzen Modena und Cosenza zwangseingewiesen bzw. im Konzentrationslager Ferramonti interniert. Etwa 400 Juden waren von dieser Zwangsüberstellung betroffen. Nachdem am 8. September 1943 große Teile Italiens unter deutsche Besatzung gerieten und die „Repubblica Sociale Italiana“ in Salò konstituiert worden war, wurden sowohl die italienischen als auch die in Italien lebenden ausländischen Juden nach Auschwitz deportiert, die anglo-libyschen Juden kamen in das Auffang- und Arbeitserziehungslager für Zivilarbeiter Reichenau in Österreich bzw. in das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Die Gruppe der Deportierten, die in Civitella del Tronto interniert war, blieb länger in Italien. Die männlichen Internierten mussten zunächst Zwangsarbeit an der Südfront Italiens leisten. Ein Teil von ihnen, 83 Personen, wurde später nach Bergen-Belsen über-
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stellt und einige Tage vor der Befreiung in das Kriegsgefangenenlager „Lager Lindele“ in Biberach gebracht, wo sie befreit wurden. Die Deportierten aus Libyen, die zunächst in Italien interniert und dann ins Reich verlegt worden waren, überlebten alle – mit Ausnahme von zwei Todesfällen im Lager Reichenau, die auf Misshandlungen durch das Wachpersonal zurückzuführen waren. In der Versammlung des Ministerrats in Rom am 7. Februar 1942 berichtete Außenminister Ciano, dass während des italienischen Rückzugs aus der Cyrenaika im Dezember 1941 und Januar 1942, als die britischen Streitkräfte immer näher rückten, libysche Juden mit der islamischen Ordensgemeinschaft der Senussi-Bruderschaft und den Briten gemeinsame Sache gemacht und einige italienische Bauerndörfer zerstört und geplündert hätten. Nachdem Mussolini befohlen hatte, alle Juden der Cyrenaika zu internieren, wurden sie ab Juni/Juli 1942 familienweise Hunderte von Kilometer südlich von Tripolis in kleine Internierungslager in Gharian und in das Konzentrationslager Giado deportiert. Als im Dezember 1942 in beiden Lagern eine Flecktyphusepidemie ausbrach, starben 562 Menschen an deren Folgen. Bei der Übergabe von Tripolis durch die zivile Verwaltung am 23. Januar 1943 an den britischen General Bernard Law Montgomery befanden sich in den Lagern 480 Schwerkranke.
Die Situation der Juden seit Kriegsende Tripolis wurde am 23. Januar 1943 befreit. Mit der britischen Armee traf auch eine Einheit der „Jewish Brigade“ in Libyen ein, die der jüdischen Gemeinde beim Wiederaufbau ihrer Einrichtungen half. Unter UN-Aufsicht unterstand Libyen britischer Verwaltung. Diese „Fremdherrschaft“ ließ einen arabischen Nationalismus wiedererwachen, der mit anti-jüdischen Feindseligkeiten einherging. Die Feierlichkeiten zum 28. Jahrestag der Balfour-Erklärung am 2. November 1945 gaben letztlich den Ausschlag, dass die aufgeheizte Stimmung unter der arabischen Bevölkerung in Tripolis vom 4. bis 7. November in gewalttätigen Ausschreitungen mündete. Hunderte von Häusern, in denen Juden lebten, wurden geplündert, Geschäfte gestürmt und Synagogen geschändet und zum Teil zerstört. 200 bis 300 Menschen kamen ums Leben. Die britischen Behörden intervenierten erst am dritten Tag. Einen Monat nach der Staatsgründung Israels, im Juni 1948, äußerte sich die antisemitische Stimmung erneut in pogromartigen Übergriffen in Bengasi und Tripolis. Dieses Mal jedoch war die jüdische Gemeinschaft nicht unvorbereitet und verteidigte sich, trotzdem wurden 131 Juden verletzt und 14 ermordet, bevor die britische Polizei intervenierte. Bereits nach dem ersten Pogrom 1945 hatten die libyschen Juden begonnen, das Land zu verlassen. Rund 30.000 Juden wanderten bis 1951 nach Israel aus, nur einige Tausend blieben im Land. Nachdem Libyen 1951 in die Unabhängigkeit entlassen worden war und nun von einer moderaten Senussi-Regierung geführt wurde, verbesserten sich für die verbliebenen Juden allmählich Lebensumstände und ökonomische Situation. Allerdings blieben der arabisch-israelische Konflikt und die Beziehungen Libyens zur arabischen Liga in den 50er und 60er Jahren nicht ohne Folgen für die libyschen Juden. Auch Repressionen von Seiten der Regierung blieben nicht aus; diese betrafen vor allem Organisationen, die in engem Kontakt zu Israel standen. 1958 wurde ein Gesetz erlassen, wonach der jüdische
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Gemeinderat aufzulösen war. Ein 1961 eingeführtes Gesetz bestimmte, dass jeder Bürger einen Ausweis, der seine libysche Staatsbürgerschaft bewies, beantragen musste. Nur fünf jüdischen Bürgern wurde dieses Dokument gewährt. Mit Ausbruch des Sechs-Tage-Krieges 1967, als nur noch etwa 7.000 Juden im Land lebten, kam es abermals zu Unruhen: 17 Juden kamen ums Leben, viele wurden verletzt und verhaftet. Führende Vertreter der jüdischen Gemeinde erwirkten daraufhin bei König Idris I. die Erlaubnis, dass die Juden das Land verlassen durften. Mit einer Luftbrücke und Schiffen gelang es der italienischen Marine innerhalb eines Monats, 6.000 Juden nach Rom zu bringen. Von dort emigrierten etwa 4.000 nach Israel bzw. in die USA. Als sich Muammar al-Gaddafi am 1. September 1969 an die Macht geputscht hatte, lebten noch etwa 100 Juden im Land, die erneut Verfolgungen ausgesetzt waren. Am 21. Juli 1970 erließ das Revolutionsregime ein Gesetz, wonach sämtliches italienisches und jüdisches Eigentum verstaatlicht wurde. Obwohl Juden die Auswanderung verboten war, gelang es einigen dennoch das Land zu verlassen. 1974 lebten noch 20 Juden in Libyen, seit 2002 gibt es keine Juden mehr im Land.
Liliana Picciotto Übersetzt aus dem Italienischen von Juliane Wetzel
Literatur Renzo De Felice, Jews in an Arab Land: Libya 1835-1970, Austin 1985. Abramski-Bligh Irit, Pinkas Ha-keilloth: Luv. Tunisia, Yad Vashem, Jerusalem 1997, S.29204 (in Hebräisch). Marcello Ortona, Il pogrom dimenticato, in: Diario, 2(1997) 35, S.14-23. Marcello Ortona, Una persecuzione all’acqua di rose? Agosto 1938-gennaio 1943: da Balbo a Montgomery, la legge razziale a Tripoli nel ricordo dell’ultimo testimone, in: Agorà 5 (2001), S.252-289. Liliana Picciotto, Gli ebrei in Libia sotto la dominazione italiana, in: Ebraismo e rapporti con le culture del Mediterraneo nei secoli XVIII-XX”, hrsg. V. Martino Contu, Nicola Melis, Giovannino Pinna, Florenz 2003, S.79-106.
Litauen Im Großfürstentum Litauen haben sich Juden im 14. Jahrhundert angesiedelt und standen unter dem Schutz der jeweiligen Herrscher, die ihnen Privilegien gewährten. Das erste Privileg stammt von Großfürst Vytautas (Witold), das er 1388 der jüdischen Gemeinde von Brest (Litowsk) verlieh. Eine Ausnahme in der toleranten Haltung bildete 1495 die von Großfürst Alexander verfügte Vertreibung der Juden, deren Rückkehr jedoch bereits 1503 wieder gestattet wurde. Eine anti-jüdische Haltung offenbarten katholische Geistliche sowie christliche Stadtbewohner, letztere wegen der wirtschaftlichen Konkurrenz. Sie bewirkten in den Städten die Einführung von Beschäftigungseinschränkungen (u.a. Wareneinfuhrverbot für Juden und Restriktionen im Einzelhandel) sowie die Einengung der Wohnsitzwahl (durch Zu-
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weisung spezieller Stadtbezirke). Im 17. Jahrhundert kam es immer wieder zu antijüdischen Gewaltausbrüchen. Die Lage der Juden veränderte sich infolge der Aufteilung des litauisch-polnischen Staates durch Russland, Preußen und Österreich Ende des 18. Jahrhunderts. Litauen wurde Bestandteil des russischen Zarenreiches. Als „kultureller Code“ existierte der Antisemitismus im Litauen des 19. Jahrhundert in verschiedenen sozialen Gruppierungen. Dabei ist zwischen elitärem (adeligem), staatlichem (bürokratischem) sowie volkstümlichem (bäuerlichem) Antisemitismus zu unterscheiden. Die adelige Gesellschaft hielt die Juden zwar für einen „Fremdkörper“, kam aber im wirtschaftlichen Bereich ohne sie nicht aus. Als Beginn der politischen Diskriminierung gilt das Jahr 1794, als den Juden die doppelte Besteuerung auferlegt wurde. Begründet wurde dies mit dem Hinweis auf den jüdischen „Fanatismus“, d.h. dem Festhalten der Juden an ihrer Religion, ihren Sitten, ihrer Sprache (Jiddisch) und ihrer Absonderung gegenüber der Mehrheitsbevölkerung. Das Attribut der „Ausbeutung“ spielte ebenfalls eine Rolle, d.h. der Vorwurf, dass Juden andere Gruppen (insbesondere die Bauern) wirtschaftlich ausnutzen würden. Das Judenbild des einfachen Volkes wurde durch den wirtschaftlichen Kontakt als auch durch die Geistlichkeit geprägt. Für die Bauern galten die Juden als „Fremde“, in religiöser Hinsicht wie auch in ihrem Äußeren und ihrem Lebensstil. Das Juden-Konzept der katholischen Geistlichkeit wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Bischof von Žemaitija und dem einflussreichen katholischen Geistlichen Motiejus Valančius (Maciej Wołonczewski) geprägt. In seinen Streitschriften und Hirtenbriefen verbreitete der Bischof Misstrauen gegenüber den Juden. Die Judenkritik in den Texten von Valančius war säkular, sie enthielt keine religiösen Motive. Er unterschied zwischen „unnützen“ (z.B. Schankwirte) sowie „nützlichen“ Juden. Eine solche Unterscheidung ist bei Vincas Kurdika (1858-1899), dem Vertreter der litauischen Nationalbewegung, schon nicht mehr vorhanden. In seinen Schriften vom Ende des 19. Jahrhunderts gibt es bereits keine „nützlichen“ Juden mehr, Juden werden insgesamt als „moralisch verkommen“ bezeichnet. Diese Veränderung in der Einstufung hängt mit der Programmatik des litauischen Nationalismus Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts zusammen. Die Nationalisten sahen neben der Bekämpfung des kulturellen „polnischen“ und des politischen „russischen“ Elements vor allem die sozio-ökonomische Emanzipation der litauischen Bauern vor, aus der das „moderne litauische Volk“ hervorgehen sollte. Bei der Umsetzung dieses Vorhabens wurden die Juden, die traditionell in Handel und Handwerk dominierten und eine große städtische Bevölkerungsgruppe ausmachten, als „Problem“ identifiziert. Anfang der 1880er Jahre gab es einige antijüdische Ausschreitungen, wie beispielsweise am 3. August 1882 in Prienai (vgl. Karte 3): Dabei wurden bis zu 20 Juden verletzt sowie 70 Wohnhäuser, 17 Läden und 8 Wirtshäuser beschädigt. 1900 wurden in Nordlitauen über 20 Konflikte und Ausschreitungen gemeldet, die meisten davon erfolgten sonntags, an kirchlichen Feiertagen oder an Markttagen, zu denen Menschen aus den Dörfern und Kleinstädten zusammenkamen. Während der Revolution von 1905 entstanden öfters aus kleinen Konflikten Ausschreitungen gegen Juden, wie z.B. in Dusetos und danach in Buivydiškės.
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Trotz der Existenz des Antisemitismus als „kultureller Code“ sowie der Fälle von antijüdischer Gewalt stellte der Antisemitismus bis Anfang der 1920er Jahre keinen bedeutsamen Teil des national-litauischen Programms dar. Dies war vor allem durch den niedrigen Modernisierungsgrad Litauens bedingt. Die langsame marktwirtschaftliche Entwicklung und die spärliche Industrie änderte kaum die gefestigte Arbeitsteilung: Die Mehrheit der Litauer war in der Landwirtschaft tätig, während die Juden traditionell in Handel und Handwerk dominierten. Diese ökonomische Segregation trug zwar nicht zu einem gegenseitigen Verständnis bei, schuf aber auch keine Konflikte, die auf Konkurrenz basierten. Der litauische Nationalismus, der sich an einem homogenen Staatsmodell orientierte, sah zwar in den Angehörigen anderer Ethnien ein Hindernis auf dem Weg zur Staatsgründung. Allerdings sprachen sich die Führer der litauischen Nationalbewegung auf der Suche nach Verbündeten zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den Juden ab, etwa bei den Wahlen zur russischen Duma im Gouvernement Kovno (Kaunas). Insgesamt versuchte der Staat, auch wenn er judeophobische Stimmungen in der Gesellschaft tolerierte und mitunter auch selbst förderte, offene antijüdische Gewalt zu verhindern. Nach dem Ersten Weltkrieg verkündeten litauische Politiker das Programm der Wiedererrichtung des litauischen Staates, das sich an einem homogenen Nationalstaat orientierte. Sowohl im Kampf um das zum polnischen Staat gehörende Wilna (Vilnius), als auch zur internationalen Anerkennung benötigten die Litauer allerdings Verbündete und die fanden sie zuallererst unter den Zionisten. Als Folge dieses Bündnisses konnten sich die Juden in der Republik Litauen Anfang der 1920er Jahre einer weitgehenden Autonomie erfreuen. Doch mit der Schwäche der liberalen Demokratie und dem Wandel der internationalen Lage begann man schon ab 1923 die jüdische Autonomie einzuschränken. Fälle antijüdischer Gewalt und antisemitischer Agitation waren in der Republik Litauen nicht sehr zahlreich. Diese Situation erklärt sich nicht nur aus der verspäteten wirtschaftlichen Modernisierung, als vielmehr aus der taktischen Haltung der politischen Eliten und von Präsident Antanas Smetona, der nach dem Staatsstreich 1926 ein autoritäres Regime führte. Smetona war davon überzeugt, dass im Kampf um das von Polen annektierte Wilna (Vilnius) die Unterstützung der Juden nötig sei. In diesem Zusammenhang achtete die Zensur darauf, dass in den Medien keine radikalen antisemitischen Publikationen erschienen; Sicherheitsdienst und Polizei versuchten antijüdische Gewaltaktionen soweit wie möglich zu verhindern. Trotzdem erhielten antisemitische Strömungen und Agitationen zunehmend Auftrieb und waren Ende der 1930er Jahre gesellschaftlich weit verbreitet. Zu einem der bedeutenderen Konflikte kam es 1929 in Kaunas, als linksgerichtete Arbeiter – zumeist Juden – eine Demonstration anlässlich des „Tages gegen imperialistische Kriege“ ausriefen. Hierbei entstanden Auseinandersetzungen mit litauischen Arbeitern, die zu nächtlichen Unruhen in Vilijampolė, einem Stadtviertel von Kaunas, führten. Mitglieder radikaler Organisationen (u.a. „Eiserner Wolf“) patrouillierten in den Straßen und verprügelten Juden. Der Antisemitismus der Zwischenkriegszeit wird durch die 1930 gegründete „Litauische Union der Händler, Industriellen und Handwerker“ sowie ihre Zeitschrift „Verslas“ („Das Geschäft“) repräsentiert und geprägt. Diese Organisation propagierte die Unterstützung litauischer Geschäftsleute sowie die Entfernung der Juden aus dem Marktge-
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schehen. Ihr antisemitisches Programm fand in der Gesellschaft, in der das Bild vom „jüdischen Ausbeuter“ nach wie vor weit verbreitet war, deutlichen Anklang. Zudem protegierte der Staat die litauischen Geschäftsleute durch staatliche Aufträge, Lizenzvergabe und Krediterleichterung (die jüdischen Konkurrenten unzugänglich waren) und förderte auf diese Weise die Litauisierung der Wirtschaft. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahr nahmen Verbreitung antijüdischer Flugblätter, Schmierereien, Scheibenwürfe sowie Fälle kollektiver Gewaltanwendung zu. Ein Pogrom fand am 18. Mai 1939, an einem Sonntag nach der Massenbeichte zu Mariä Himmelfahrt, in Leipalingis (vgl. Karte 6) statt. Obwohl es im unabhängigen Litauen keine antisemitischen Gesetze gab, wurden Juden aus dem Staatsdienst entfernt. Der Großteil der litauischen Gesellschaft stand Ende der 1930er Jahre unter dem Eindruck der Machtlosigkeit, als die Regierung der Republik die bedingungslosen Ultimaten der Nachbarstaaten annahm: 1938 das Ultimatum von Polen über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen; 1939 das deutsche Ultimatum zur Übergabe des so genannten Memellandes sowie der sowjetische Vertrag über die Zulassung von Militärstützpunkten und Truppenstationierungen in Litauen im Austausch für Vilnius; 1940 die Angliederung Litauens an die Sowjetunion. Diese politischen Ereignisse führten nicht nur zu einer Staatskrise, sondern auch zur Demoralisierung breiter Bevölkerungsschichten. Teile der Gesellschaft versuchten ihre Frustration durch das Finden eines „Sündenbocks“ zu überwinden. Antisemitische Einstellungen und Äußerungen verstärkten sich ab Ende der 1930er Jahre. Die Zeitung „Verslas“ („Das Geschäft“) erfuhr eine Auflagensteigerung von 2.000 auf 8.000 Exemplare zwischen Sommer 1938 und Frühjahr 1939. Antisemitische Einstellungen verstärkten sich noch während der sowjetischen Okkupationszeit 1940-1941. Die Bildungs- und Kulturpolitik war in der zweiten Litauischen Republik (19181940) am Ideal der Bildung eines ethnisch homogenen Staates ausgerichtet. In der jungen Generation und in oppositionellen Gruppen nahm die litauische Nationalidee radikalere Formen an. Dieses Ideal hatte Anfang der ersten sowjetischen Okkupation eine starke Auswirkung auf die antijüdische Stimmung unter den Litauern. Radikal antisemitische Ansichten artikulierte besonders die im November 1940 gegründete „Front der Aktivisten Litauens“ (Lietuvių aktyvistų frontas, LAF), die aus einer Untergrundorganisation in Litauen und der Zentrale in Berlin bestand, und deren erklärtes Ziel die Wiederherstellung des litauischen Staates war. Nach dem Angriff des nationalsozialistischen Deutschland auf die Sowjetunion begann am 22. Juni 1941 in Litauen ein Aufstand gegen die sowjetische Herrschaft. Ein Teil der Aufständischen, die sich selbst „Partisanen“ nannten, aber von anderen „Weißarmbindler“ genannt wurden (da sie am linken Arm eine weiße Binde trugen, litauisch „baltaraiščiai“) suchte auch gewaltsame „Abrechnung“ mit der Zivilbevölkerung, vor allem mit Juden. Die am 23. Juni gebildete provisorische Regierung organisierte zwar keinen Judenmord, sie distanzierte sich aber auch nicht öffentlich von diesen Verbrechen und veröffentlichte selbst mehrere Dokumente gegen Juden mit dem Ziel ihrer Segregation oder Expropriation. Außerdem veröffentlichten ihre Medien antisemitische Artikel. Ab Anfang Juli 1941 wurde der Judenmord vom Einsatzkommando 3, dem auch litauische Polizeibataillone dienten, durchgeführt.
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Die Verfolgung geschah durch Ghettoisierung, Ausplünderung, organisierte Massenerschießungen und für die Überlebenden durch Deportation in die nationalsozialistischen Konzentrationslager, die litauische Juden als Zwangsarbeiter der deutschen Rüstungsindustrie zur Verfügung stellten. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Litauen (einschließlich Vilnius) etwa 250.000 Juden und bildeten mit acht Prozent Bevölkerungsanteil die größte Minderheit im Land. Während des Zweiten Weltkriegs kamen rund 95 Prozent aller litauischen Juden ums Leben. Die kleine jüdische Nachkriegsgemeinde in Litauen wurde durch russischsprachige Juden ergänzt, die aus anderen Sowjetrepubliken stammten. So wuchs die Anzahl der Juden zwischen 1946 und 1959 von 10.000 auf 24.600. In der ? Sowjetunion tolerierte der Staat keine jüdischen kulturellen Aktivitäten oder Organisation. Der Großteil der litauischen Juden wanderte zunehmend nach Israel aus. In der 1991 unabhängig gewordenen Republik Litauen erfuhr die Gesellschaft aufgrund der Bemühungen von Historikern und Politikern schrittweise über den Holocaust und die litauische Beteiligung am Judenmord. Obwohl in Litauen nur noch einige Tausend Juden leben, sind in der Gesellschaft latent antisemitische Einstellungen anzutreffen. Hauptthemen antisemitischer Äußerungen sind neben der Rückgabe jüdischen Eigentums, die Vergangenheitsdebatte und dabei besonders die litauische Teilnahme am Holocaust. In einigen Veröffentlichungen marginaler radikaler politischer Kräfte wird die Theorie des „doppelten Genozids“ verbreitet, wonach die Juden in der ersten Sowjetzeit 1940/41 einen Genozid an den Litauern durchgeführt und die Litauer nach der Besetzung Litauens durch die Nationalsozialisten an den Juden Rache geübt hätten.
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Literatur Vincas Bartusevičius, Joachim Tauber und Wolfram Wette (Hrsg.), Holocaust in Litauen. Krieg, Judenmorde und Kollaboration im Jahre 1941, Köln, Weimar, Wien 2003. Wolfgang Benz und Marion Neiss (Hrsg.), Judenmord in Litauen. Studien und Dokumente. Berlin 1999. Alfonsas Eidintas (Hrsg.), Lietuvos žydų žudynių byla [The Case of the Massacre of the Lithuanian Jews. Selected Documents and Articles], Vilnius 2001. Alvydas Nikžentaitis, Stefan Schreiner, Darius Staliūnas (Hrsg.), The Vanished World of Lithuanian Jews, Amsterdam, New York 2004. Vladas Sirutavičius, Darius Staliūnas (Hrsg.), Kai ksenofobija virsta prievarta. Lietuvių ir žydų santykių dinamika XIX a. – XX a. pirmojoje pusėje [When Xenophobia turns to violence: The dynamics of Lithuanian-Jewish relations during the nineteenth century and first half of the twentieth century], Vilnius 2005. Darius Staliūnas, Anti-Jewish disturbances in the North-Western provinces in the early 1880s, in: East European Jewish Affairs, 34(2004), 2, S.119-138. Joachim Tauber (Hrsg.), „Kollaboration“ in Nordosteuropa. Erscheinungsformen und Deutungen im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2006. Liudas Truska, Vygantas Vareikis, Holokausto Prielaidos: Antisemitizmas Lietuvoje XIX A. Antroji Puse-1941 M. Birzelis [The Preconditions for the Holocaust: Anti-Semitism in Lithuania Second Half of the 19th Century-June 1941], Vilnius 2004.
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Luxemburg Erst seit dem 13. Jahrhundert lassen sich einzelne jüdische Familien für das damalige Herzogtum Luxemburg nachweisen. Sichere Belege für die Existenz eines Ghettos oder eines Judenviertels in der mittelalterlichen Stadt gibt es nicht. Im 14. Jahrhundert mehren sich Hinweise auf eine dauerhafte Ansiedlung von Juden und auf gleichzeitig auftretende judenfeindliche Aktionen. Wie überall in Europa müssen die in Luxemburg ansässigen Juden Sondersteuern oder Schutzgelder entrichten. 1433 findet in der Stadt ein Pogrom statt. 1443 wird beim Einzug Philipps von Burgund jüdisches Eigentum beschlagnahmt. Ähnliche Fälle von Raub und Vertreibung kommen in den Jahren 1447 und 1448 vor. Die antijüdischen Maßnahmen beschränken sich nicht nur auf die Besitztümer der ansässigen Familien: 1454 wird eine Jüdin wegen angeblicher Gotteslästerung und Äußerungen gegen die christliche Religion zum Tode verurteilt und öffentlich verbrannt. Ein Jahr später muss ein Jude die Stadt Arlon verlassen und kommt auf der Flucht gewaltsam ums Leben. 1478 kommt es zu einem Pogrom in Luxemburg, bei dem die Häuser geplündert und die Juden misshandelt werden. Daraufhin verlassen sie für die Dauer von zwölf Jahren die Stadt. Auch wenn die Juden im Herzogtum Luxemburg demografisch, sozial, politisch und wirtschaftlich nur eine untergeordnete Rolle spielen, so sehen die Nichtjuden in ihnen immer wieder eine unliebsame Konkurrenz. Im Jahre 1513 kommt es zum Streit zwischen Tuchhändlern, der mit dem teilweisen Ausschluss der Juden vom örtlichen Stoffhandel endet. 1532 wird schließlich den Juden der Aufenthalt in den spanischen Niederlanden, zu denen Luxemburg gehört, ganz verboten. Bis zum 18. Jahrhundert gibt es im Herzogtum keine dauerhafte jüdische Präsenz und somit keine jüdische Gemeinde mehr. Es sind vereinzelte Juden, zumeist Händler, die sich für eine kurze Zeit aufhalten dürfen oder die auf der Durchreise sind. In den Städten müssen sie in der Regel den so genannten Judenzoll entrichten. Die 1791 in Frankreich eingeführte Gleichberechtigung der Juden gilt auch in Luxemburg, das 1794-1814 zu Frankreich gehört. Mit der Judenemanzipation entsteht auch wieder eine kleine israelitische Gemeinde in Luxemburg, die bis 1808 auf etwa 75 Personen anwächst. Erst in nachnapoleonischer Zeit kommt es mit der Abschaffung der Patente zu einer wirklichen Verbesserung ihrer rechtlichen Stellung. Der niederländische König, der in Personalunion Großherzog von Luxemburg ist, erlässt eine Reihe Verordnungen, welche auch in Luxemburg die Rechtsstellung der jüdischen Gemeinden regulieren und diese der staatlichen Kontrolle unterwerfen. Im Jahre 1816 stellen die Verwaltungen Listen zusammen, in denen alle Juden den Nachweis für ihre Unbescholtenheit erbringen müssen. Diese Maßnahme ist ein Zeichen des grundlegenden Misstrauens der Regierung gegenüber den Andersgläubigen, die als „Sekte“ bezeichnet werden. Trotz der rechtlichen Verbesserungen gibt es unter der katholischen Bevölkerungsmehrheit immer noch antijüdische Ressentiments, auch wenn sie sich nur sporadisch entladen: 1816 etwa muss die Obrigkeit nach einem durch einen Juden begangenen Mord besondere Maßnahmen gegen die Volksmenge ergreifen, welche die jüdischen Bürger einschüchtert. 1821 wird anlässlich eines Ostergottesdienstes in der Stadt Luxemburg
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der jüdische Lehrer der Kirche verwiesen, woraufhin eine aufgebrachte Menge den Lehrer bedroht und beleidigt. Diese und ähnliche Vorkommnisse verstärken zweifellos innerhalb der jüdischen Minderheit das Gefühl der Diskriminierung und Unsicherheit. Ist seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der jüdische Kultus dem katholischen formalrechtlich gleichgestellt, so sind Benachteiligungen durch die Verwaltung doch weiterhin spürbar: 1808, 1815 und 1818 werden besondere Judenzählungen vorgenommen. Die erste Synagoge muss ohne staatliche Hilfe eingerichtet werden, bis 1843 hat die jüdische Gemeinde keinen eigenen Rabbiner und erhält auch keine regelmäßigen staatlichen Subventionen. Die Forderungen nach einer jüdischen Schule bleiben über Jahre hinweg unbeachtet. Die Gründung einer israelitischen Grundschule in der Hauptstadt Luxemburg scheitert, da sich Stadtverwaltung und Regierung nicht über die Übernahme der anfallenden Kosten einigen können. Mit dem Argument, dass die Juden sich von den anderen Nichtjuden absondern würden, spricht sich die Stadtverwaltung gegen die Gründung einer öffentlichen jüdischen Schule aus. Drei Jahre nach der Unabhängigkeit oktroyiert König-Großherzog Wilhelm I. im Jahre 1842 die erste Verfassung des Großherzogtums, die in Artikel 41 die „Gleichheit der Luxemburger vor dem Gesetz, ohne Unterschied von Religion, von Rang und Geburt“ und die „Freiheit religiöser Meinungen und Ausübung des Gottesdienstes“ verkündet. Die damit verbundene Rechtssicherheit für alle im Land vertretenen Konfessionen wird durch die nachfolgenden Verfassungstexte weiter ausgebaut. Die liberale Verfassung von 1848 legt das Konkordatsprinzip fest und seit 1856 gehören Gehalts- und Pensionszahlungen der „Cultus-Diener“ durch den Staat zu den verfassungsmäßigen Rechten auch der jüdischen Gemeinde. Die Rechtsgleichheit ändert freilich nichts an den Vorurteilen gegenüber Juden: 1846 protestieren mehrere Einwohner aus Sandweiler gegen die Ernennung eines jüdischen Notabeln zum Bürgermeister. Die Regierung hält an der Nominierung des Textilfabrikanten Godchaux fest, während der in den Niederlanden residierende König-Großherzog Verständnis für die aufgebrachten Bewohner der kleinen Gemeinde zeigt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steigt die Zahl der Juden durch Einwanderung aus den Nachbarländern von 75 (1808) auf etwas mehr als 500 (1871), dann auf über 1.000 (1895), wobei es sich hauptsächlich um assimilierte Juden handelt. Der Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt Anfang des 20. Jahrhunderts bei etwa 0,5 Prozent. Mit zunehmendem wirtschaftlichen Erfolg einiger jüdischer Geschäftsleute (Vieh- und Textilhändler, Kaufhausbesitzer) gewinnt auch die judenfeindliche Propaganda an Boden. 1888 kommt es zu einem Prozess gegen das katholische „Luxemburger Wort“, weil die Tageszeitung eine Artikelserie unter dem Titel „Die Juden, die Könige unserer Zeit!“ veröffentlicht hatte, in denen die Juden verleumdet wurden. Während der öffentlichen Gerichtsverhandlung attackiert der Anwalt der Zeitung die z.T. aus Preußen kommenden jüdischen Händler und Geschäftsleute und hält eine antisemitische Hetzrede gegen die „Judenrace“, welche die „Jahrmärkte“ beherrsche. Zwar wird der verantwortliche Redakteur wegen „Beleidigung und Aufreizung zum Hasse“ verurteilt, aber die „Verteidigungsrede“ des Anwalts wird vom „Luxemburger Wort“ gedruckt und unter den Abonnenten verteilt. Noch in den 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre fällt das „Luxemburger Wort“ mit antisemitischen bzw. judenkritischen Artikeln auf, in denen der ver-
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meintliche Einfluss der Juden auf das wirtschaftliche, kulturelle und politische Leben angeprangert wird (z.B. 1922 „Der Vormarsch des Judentums“ oder 1932 „Eine jüdische Internationale“). Angst vor Ein- und Zuwanderung sowie die unsichere Lage des Kleinstaates Luxemburg zwischen den europäischen Großmächten Deutschland und Frankreich verstärken das noch junge Nationalgefühl, führen gleichzeitig aber auch zu Abgrenzungstendenzen gegenüber dem Fremden. Die 1910 von Studenten gegründete „Luxemburger Nationalunion“ (LN) ist zunächst eine eher patriotische Vereinigung, die sich für den Erhalt von kultureller Eigenart und die Besinnung auf historische Wurzeln einsetzt. Während der deutschen Besetzung 1914-1918 verschärft sich der nationalistische Ton und es kommt in der Vereinszeitung zu verbalen Ausfällen gegen die ansässigen jüdischen Geschäftsleute. Um die Jahrhundertwende werden antisemitische Publikationen aus Deutschland und Frankreich rezipiert, ebenso die berüchtigten „Protokolle der Weisen von Zion“. Nach dem Ersten Weltkrieg vergiftet sich die Stimmung zusätzlich: Nach 1918 werden galizische Einwanderer von den Herausgebern der Zeitung „Nation“ als „Ungeziefer“, „Polakkenplage“ oder gar als „Parasiten“ verunglimpft. Die LN zählt allerdings nur wenige Mitglieder (1910: etwa 110) und verschwindet Anfang der 1920er Jahre in der politischen Versenkung. Die nationalistischen und antijüdischen Tendenzen gehen auch an der Literatur nicht spurlos vorbei: In einigen populären Theaterstücken werden Juden karikiert bzw. verunglimpft, so z.B. in der Komödie „Zwei Juden als Schmuggler“. Antisemitische Züge trägt auch der Roman „Ketten“ (1928/29) des bekannten Schriftstellers Lucien Koenig, der 1910 zu den Mitbegründern der LN gehörte. In den von wirtschaftlichen und sozialen Problemen geprägten 1930er Jahren erstarken Antijudaismus und Antisemitismus wieder. Es sind u.a. katholische Jugendorganisationen, die durch nationalistische, fremdenfeindliche und antijüdische Veröffentlichungen auf sich aufmerksam machen. Ein 1933 nach Hitlers „Machtergreifung“ einsetzender Flüchtlingsstrom aus Deutschland und später aus Österreich löst in Teilen der Bevölkerung fremdenfeindliche Gefühle aus, die sich mit einem latent vorhandenen Antijudaismus verbinden. Luxemburg nimmt zwar in den ersten Jahren zahlreiche jüdische Emigranten auf, ergreift aber angesichts steigender Flüchtlingszahlen restriktive Maßnahmen und führt eine Visumpflicht ein. Es kommt auch zu Abschiebungen illegaler Flüchtlinge nach Deutschland. Im Dezember 1938 überlegt man im Luxemburger Außenministerium die Einrichtung von „Konzentrationslagern“ an der Grenze, um die illegalen Einwanderer dort zu internieren. Als Grund für diese nie umgesetzten Pläne gibt man „surabondance de juifs“ (eine Überfülle von Juden) an, die den Antisemitismus im Lande provozieren würde. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre kommt es im Fahrwasser der deutschen NSDAP zur Gründung verschiedener rechtsextremer Gruppierungen. Häufig haben sie nur eine kurze Lebensdauer, wie z.B. die „Luxemburger Nationale Front“ (1935), die sich später in „Luxemburger National-Partei“, dann in „Korporative Luxemburger Volksbewegung“ umbenennt. Die in geringer Auflage erscheinenden Zeitschriften, wie das „National-Echo“, verbreiten offen antisemitische Parteiprogramme (ab 1936). Seit 1932 gibt es ein Lokal in Luxemburg-Stadt, das Juden den Zutritt verweigert und Ende
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der 1930er Jahre entsteht ein „Mouvement Antisémitique Luxembourgeois“. Mitglieder dieser Vereinigung werden wegen antisemitischer Beleidigung und Bedrohung von Juden 1938/39 zu Geldstrafen verurteilt. Die einzelnen rechtskonservativen, ultrakatholischen und populistischen Gruppierungen bleiben insgesamt betrachtet relativ unbedeutend und spielen bei den Vorkriegswahlen kaum eine Rolle. Sie tragen jedoch mit ihrer antisemitischen und fremdenfeindlichen Propaganda zur Vergiftung der politischen Atmosphäre bei. Später werden aus den extremistischen Kreisen auch nationalsozialistische Kollaborateure rekrutiert. Im Mai 1940 besetzen deutsche Truppen das neutrale Luxemburg, woraufhin Regierung und Staatsoberhaupt ins Exil gehen. Das Land wird de facto annektiert und gleichgeschaltet. Entrechtung und Ausplünderung, Vertreibung und Deportation der Juden Luxemburgs während der deutschen Besetzung (1940-1944) werden deshalb unter der Federführung der deutschen Zivilverwaltung sowie der Gestapo organisiert und durchgeführt. Einzelne Kollaborateure beteiligen sich an antisemitischen Aktionen, wie dem Überfall auf die Synagoge oder der Beschlagnahme und Veräußerung jüdischen Besitzes, während sich die Masse der Luxemburger Bevölkerung ablehnend gegenüber der Besatzungsmacht verhält. Luxemburger spielen in der Regel keine aktive Rolle bei der Verschleppung und Ermordung von Juden. Anlässlich der Vorführung des antisemitischen Propagandafilmes „Jud Süß“ (Ende 1940) kommt es laut Gestapo-Berichten zwar zu „Äußerungen gegen das Judentum“, aber die nationalsozialistische Propaganda zeigt keine nachhaltige Wirkung. Es bleiben aber aus dem Jahre 1941 die frühen politischen Nachkriegsprogramme einiger Widerstandsorganisationen, die fremdenfeindliche, antijüdische und antidemokratische Züge tragen. Zum Teil kursieren diese Vorstellungen sogar noch in den ersten Nachkriegsmonaten. Widerstand gegen die Verfolgung und Deportation der in Luxemburg verbliebenen Juden regt sich kaum, die Mehrheit der nichtjüdischen Luxemburger bleibt indifferent oder nimmt das Schicksal der Juden nur am Rande wahr. Spontane Hilfe und Solidaritätsbekundungen kommen durchaus vor, bleiben aber eher die Ausnahme, während ab 1942 den Luxemburgern, die vor der Zwangsrekrutierung desertieren, massive Hilfe zuteil wird. Die katholische Kirche Luxemburgs nimmt offiziell keine Stellung zur Verfolgung der Juden, allerdings demonstrieren Mitglieder des Klerus anlässlich der ersten Judendeportation nach Polen im Oktober 1941 Mitgefühl und verabschieden die Juden am Bahnhof. 1943 findet die letzte Deportation statt und bis auf wenige Ausnahmen gibt es keine Juden mehr. Mit der Befreiung werden 1944 sämtliche antijüdischen Maßnahmen der NS-Verwaltung umgehend aufgehoben. Der überwiegende Teil der alteingesessenen Familien kehrt nach dem Kriegsende aus dem Exil zurück, ebenso die Überlebenden der Konzentrationslager. Auch wenn man nach 1945 nicht von einer Diskriminierung der Juden sprechen kann, so lässt sich ein gewisser Mangel an Sensibilität nicht von der Hand weisen. 1947 verbietet eine neue Schlachtverordnung de facto die rituelle Schlachtung. Das Schächten wird im darauf folgenden Jahr nach Beschwerde der jüdischen Gemeinde bei den zuständigen Behörden wieder zugelassen, wenn auch unter Auflagen.
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Bis weit in die 1950er Jahre gibt es Hinweise auf einen starken verbalen Antisemitismus, der in Spottversen und Redensarten zum Ausdruck kommt. In diesen Jahren muss das Konsistorium gegen die Aufführung judenfeindlicher Theaterstücke protestieren. 1996 kommt es zu einer heftigen Kontroverse um das von der staatlichen Wörterbuchkommission herausgegebene „Luxemburger Wörterbuch“. Der Artikel „Judd“ (Jude) war in einer aus dem Jahr 1958 stammenden Fassung erschienen und gab zahlreiche judenfeindliche und abwertende Redewendungen wieder. Seinerzeit hatte der Rabbiner Lehrmann die Veröffentlichung des Artikels „Judd“ gutgeheißen. Jahre später werfen Kritiker dem Wörterbuch antisemitische, rassistische und fremdenfeindliche Tendenzen vor. Auf öffentlichen Druck hin wird es schließlich vom Markt genommen. Insgesamt betrachtet treten nach 1945 antisemitische Aktionen, wie das Verschicken anonymer Briefe an das Konsistorium oder Grabschändungen, nur vereinzelt auf. Der EUMC-Länderbericht „Manifestations of Antisemitism in the EU“ aus dem Jahre 2003 hat beispielsweise keine Fälle zu berichten. Das „Luxemburger Wort“ hat keinerlei antijüdische Tendenzen mehr, sondern ist seit dem Kalten Krieg pro-israelisch eingestellt. 1997 ersetzt ein neues Gesetz die Dekrete aus napoleonischer Zeit, in dem die Beziehungen zwischen Staat und jüdischem Kultus geregelt werden, der in jeder Hinsicht den christlichen Konfessionen gleichgestellt ist. Etwa 1.200 Juden leben heute in Luxemburg, das sind weniger als 0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung.
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Literatur Lucien Blau, Histoire de l’extrême-droite au Grand-Duché de Luxembourg au XXe siècle, Esch-sur-Alzette 1998. Paul Cerf, L’étoile juive au Luxembourg. Préface de Serge Klarsfeld, Luxemburg 1986. Emile Krier, Les juifs au Grand-Duché au XIXe siècle, in: Le choc des libertés. L’église en Luxembourg de Pie VII à Léon XIII (1800-1880), Bastogne 2001, S.119-128. Charles Lehrmann, Graziella Lehrmann, La communauté juive du Luxembourg dans le passé et dans le présent. Histoire illustrée, Esch-Alzette 1953. Laurent Moyse, Marc Schoentgen (Hrsg.), La présence juive au Luxembourg du Moyen Âge au XXe siècle, Luxemburg 2001. Marc Schoentgen, Luxemburger und Juden im Zweiten Weltkrieg. Zwischen Solidarität und Schweigen, in: et wor alles net esou einfach. Fragen an die Geschichte Luxemburgs im Zweiten Weltkrieg. Ein Lesebuch zur Ausstellung, Luxemburg 2002, S.150-163. Jean-Marie Yante, Les Juifs dans le Luxembourg au moyen âge, in: Bulletin trimestriel de l’Institut archéologique du Luxembourg (Arlon), 62(1986), S.3-33.
Malaysia ? Indonesien und Malaysia
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Marokko Die Situation der jüdischen Bevölkerung Marokkos hat sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Ende der 1940er Jahre lebten 250.000 bis 270.000 Juden in Marokko. Innerhalb von drei Jahrzehnten sank die Zahl auf 25.000. Die heutige jüdische Bevölkerung, die vor allem in Casablanca ansässig ist, wird auf 3.000 bis 5.000 Personen geschätzt. Trotz dieser Entwicklung stehen die jüngere marokkanische Geschichte und insbesondere die Herrschaftszeit von König Muhammad V. (1927-1961) in der Erinnerung vieler marokkanischer Juden für eine Zeit relativer Sicherheit und Protektion. Bereits für die Ära des Römischen Reiches lassen sich jüdische Gemeinden in der Region des nordwestlichen Afrika ausmachen. Bis zur arabisch-islamischen Eroberung Ende des 7. Jahrhunderts verbreitete sich das Judentum dabei auch unter zahlreichen einheimischen Berber-Stämmen. Als „Schutzbefohlene“ standen sie nach islamischer Tradition unter dem Schutz der Herrscher. Im Gegenzug waren die „dhimmi“ zur Zahlung einer Kopfsteuer verpflichtet. Einen Einschnitt markierte die Herrschaft der Almohaden im 12. Jahrhundert, welche die Juden vor die Wahl zwischen Übertritt zum Islam oder Vertreibung stellten. Erst nach dem Ende der almohadischen Herrschaft in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts kehrte eine größere Zahl an Juden zurück. Die Verfolgungen in ? Spanien, die 1492 in der Vertreibung der Juden gipfelten, führten zu einem deutlichen Anwachsen der jüdischen Bevölkerung. Die Etablierung der alawidischen Dynastie in Marokko Mitte des 17. Jahrhunderts bedeutete eine zunehmende Willkür gegenüber den Untertanen des Herrschers. Trotz der Berufung einzelner Juden in offizielle Positionen als Berater, Unterhändler und Gesandte sah sich die jüdische Bevölkerung wiederholt Drohungen und Verfolgungen der jeweiligen Machthaber gegenüber. Die Beschränkung der Juden auf die jüdischen Viertel (mellahs) sowie die diskriminierenden Verbote und Kleidervorschriften in der Öffentlichkeit gingen oft über die Regelungen in den Gebieten unter osmanischer Herrschaft hinaus. Noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts entlud sich die Unzufriedenheit der muslimischen Bevölkerung während politischer und ökonomischer Krisen in Übergriffen gegen jüdische Gemeinden. Ähnlich wie ? Algerien und ? Tunesien geriet auch Marokko im Verlaufe des 19. Jahrhunderts zunehmend in den Einflussbereich der europäischen Mächte. Wie Frankreich, Spanien und Portugal entwickelten auch Großbritannien, die USA und Deutschland ökonomische und politische Ambitionen im nordwestlichen Afrika. Für die jüdische Bevölkerung waren dabei vor allem die Aktivitäten der französischen „Alliance Israélite Universelle“ entscheidend, deren säkulare Schulen seit den 1860er Jahren zu einer Modernisierung der jüdischen Gemeinden beigetragen hatten. Die Intervention Sir Moses Montefiores 1864 zugunsten der marokkanischen Juden erwirkte zumindest ein formales Bekenntnis des Sultans zum Schutze seiner jüdischen Untertanen. Auf Drängen Montefiores erließ der Sultan ein Dekret, welches die herrschaftliche Protektion der Juden entsprechend der islamischen Tradition bekräftigte. Dies bedeutete jedoch keine formale Gleichstellung mit den muslimischen Untertanen, wie sie in jener Zeit im ? Osmanischen Reich im Rahmen der so genannten Tanzimat-Reformen beschlossen wurde.
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Französisches Protektorat Die jüdische Bevölkerung verband große Hoffnungen mit der Einrichtung des französischen Protektorats im Frühjahr 1912. Angesichts der wiederholten antijüdischen Ausschreitungen in der Vergangenheit und der rechtlichen Benachteiligungen gegenüber der muslimischen Bevölkerung weckte die französische Herrschaft Hoffnungen auf deutliche Verbesserungen. Dennoch ging mit dem direkten Einfluss Frankreichs keine wesentliche Änderung des rechtlichen Status der einheimischen Juden einher. Anders als in ? Algerien und ? Tunesien stand einer Naturalisierung der marokkanischen Juden aus französischer Sicht die Sorge um mögliche Proteste der muslimischen Bevölkerung entgegen. Nicht weniger problematisch erschien der zu erwartende Widerstand der europäischen Siedler. Auch vom Sultan war die Einwilligung in die Einbürgerung der Juden nicht zu erwarten. Bereits im Rahmen der Madrid-Konferenz von 1880, auf der die europäischen Interessen in Marokko zur Diskussion standen, hatte sich der Sultan ausdrücklich gegen die Gewährung von Staatsbürgerrechten der europäischen Kolonialmächte an marokkanische Bürger ausgesprochen. Die traditionellen Regelungen der islamischen „dhimma“ galten ihm als Garant des innergesellschaftlichen Friedens. Die Entwicklungen in Deutschland in den 1930er Jahren hinterließen deutliche Spuren im Zusammenleben von marokkanischen Muslimen und Juden. Auch die Spannungen in Palästina führten unter marokkanischen Nationalisten zu einer Radikalisierung der politischen Visionen. Die nationalsozialistische Propaganda bestärkte den unmittelbaren Einfluss faschistischer und antisemitischer Ideologien. Der Spanische Bürgerkrieg und die Rekrutierung tausender marokkanischer Muslime für die aufständischen Truppen unter General Franco verschärften die Konflikte zwischen Juden und Muslimen. Schließlich spiegelten sich die Erfolge der „Front Populaire“ in Frankreich im Jahr 1936 sowohl auf jüdischer als auch auf muslimisch-nationalistischer Seite im selbstbewussteren Auftreten in der Öffentlichkeit. Die Grenzen der Unterstützung, die seitens der jüdischen Bevölkerung von der französischen Protektoratsverwaltung zu erwarten war, wurden im September 1939 nach dem deutschen Angriff auf Polen deutlich. Unmittelbar nach Beginn des Krieges hatten sich Hunderte Juden um die Aufnahme in die französische Armee beworben. Wie bereits in der Vergangenheit – und im Unterschied zum Umgang mit den muslimischen Freiwilligen – zeigte man sich auf französischer Seite allerdings nicht bereit, auf das Angebot der jüdischen Freiwilligen einzugehen. Die Angst vor muslimischen Protesten diente erneut als Begründung, um die Aufnahme von jüdischen Freiwilligen aus Marokko abzulehnen.
Das Vichy-Regime in Marokko Die deutsche Besetzung Frankreichs im Juni 1940 und die Errichtung des Vichy-Regimes unter Marschall Pétain bedeuteten eine weitere Verschlechterung der Situation der marokkanischen Juden. Bereits wenige Tage nach der französischen Niederlage hatte der amtierende Generalrepräsentant, Charles Noguès, seinen anfänglichen Widerstand gegen einen Waffenstillstand aufgegeben. Entsprechend den deutsch-französischen Vereinbarungen blieb das französische Protektorat über Marokko unangetastet. Die antijüdischen Gesetze, die bereits in den ersten Monaten des Vichy-Regimes erlassen und gegenüber
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dem Sultan im französischen Protektorat durchgesetzt wurden, markierten den Beginn einer staatlichen Politik der Diskriminierungen und Repressionen. Bereits im Sommer 1940 ließ sich ein Aufleben der antisemitischen Hetze in der französischsprachigen Presse in Nordafrika beobachten. Das „Juden-Statut“ vom 3. Oktober 1940, das die Grundlagen für den Ausschluss der Juden aus dem politischen und wirtschaftlichen Leben legte, wurde wenige Wochen später in einer geänderten Fassung auch in Marokko übernommen. Weitere Gesetze, die sich an den Vorgaben aus Frankreich orientierten, enthielten detaillierte Bestimmungen, mit denen die Ausübung zahlreicher Berufe und die freie Wahl des Wohnsitzes beschränkt wurde. So brachte die Neuregelung des „Juden-Statutes“ von Juni 1941, die wenig später auch in Marokko Anwendung fand, den Ausschluss der Juden aus zahlreichen Berufen. Arbeiten in der öffentlichen Verwaltung, im Bankgeschäft, im Immobilienhandel und Geldverleih fielen ebenso unter dieses Verbot wie Tätigkeiten im Journalismus. Der Anteil der jüdischen Anwälte und Ärzte wurde deutlich begrenzt. Quoten galten auch an staatlichen Schulen und Universitäten. Ende August 1941 folgte eine weitere Regelung, die selbst über die im Vichy-kontrollierten Frankreich geltenden Einschränkungen hinausging: Bis auf wenige Ausnahmen wurde Juden das Wohnen außerhalb der jüdischen Viertel (mellahs) untersagt. Gravierende Benachteiligungen bestanden zudem hinsichtlich der kriegsbedingt verschlechterten Versorgung mit Lebensmitteln. Dabei war die Durchsetzung dieser Regelungen nicht einheitlich. Sorgen um den inneren Frieden, die auch von einzelnen Vertretern der französischen Verwaltung geteilt wurden, und die ablehnende Haltung des Sultans verhinderten die strikte Umsetzung der antijüdischen Gesetze. Bereits während der Verhandlungen bezüglich des französischen „Juden-Statutes“ vom 3. Oktober 1940 wurde der Widerwille deutlich, mit dem Sultan Muhammad V. den geplanten Maßnahmen gegenübertrat. Angesichts der traditionellen Protektion der Juden als “Schutzbefohlene“ widersprachen die antijüdischen Diskriminierungen dem Selbstverständnis des Sultans als islamischer Herrscher. Aus Sicht der jüdischen Bevölkerung zeichnete der Sultan selbst für viele dieser Abmilderungen der antijüdischen Gesetze verantwortlich. Während die Ausgrenzungen und Verbote vor allem die wohlhabenden und europäisierten Schichten trafen, blieb die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung von den antijüdischen Maßnahmen verschont. Gerade in den alltäglichen Beziehungen zur muslimischen Bevölkerung bot der traditionelle Status als „dhimmi“ einen relativen Schutz vor den Auswirkungen der von der französischen Protektoratsmacht initiierten Gesetze. Eine solche religiös begründete Sicherheit war umso wichtiger als auch in der muslimischen Bevölkerung die Ausbreitung antisemitischer Ressentiments zu beobachten war. Die massive deutsche Propaganda tat ein Übriges, um die Angst der Juden vor einer Verschärfung der Stimmung gerade im nationalistischen Milieu zu schüren. Öffentliche Sympathiebekundungen für Hitler und Schadenfreude über das Schicksal der deutschen Juden bestärkten das Gefühl der Unsicherheit unter den einheimischen Juden. Internierung und Zwangsarbeit bildeten die schärfsten Formen der staatlichen Repressionen unter der Herrschaft Vichys. Bereits im Januar 1940 hatte ein Dekret des Sultans die rechtlichen Grundlagen für Inhaftierungen von Personen geschaffen, die der Beeinträchtigung der Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit des Landes verdächtigt wurden.
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Kommunisten und andere Oppositionelle sowie ausländische Flüchtlinge, darunter vor allem ausländische Juden, zählten zu den Insassen der über zwanzig Internierungs- und Arbeitslager, die in Marokko unter dem Einfluss des Vichy-Regimes errichtet wurden. Eine größere Gruppe stellten jüdische Soldaten, die nach ihrem Ausschluss aus der französischen Armee zur Zwangsarbeit deportiert wurden. Über 2.000 europäische Juden kamen allein beim Bau der transsaharischen Eisenbahnstrecke im marokkanisch-algerischen Grenzgebiet zum Einsatz. Die Situation in der spanischen Zone Marokkos unterschied sich in dieser Zeit deutlich von jener im Gebiet unter französischem Protektorat. Anders als in der französischen Zone sah das Franco-Regime von der Durchsetzung antijüdischer Gesetze ab. Bedrohungen gingen hier vor allem von radikalen arabisch-nationalistischen Gruppierungen aus, von denen sich einige offen zum Nationalsozialismus bekannten. Auch in der internationalen Zone Tangers, die im Juni 1940 von Spanien besetzt wurde, blieben Repressionen aus, wie sie im Vichy-kontrollierten Teil Marokkos durchgesetzt wurden. Trotz des Arbeitsverbotes, das für die zahlreichen jüdischen Flüchtlinge erlassen wurde, profitierte die jüdische Bevölkerung hier von politischen und ökonomischen Freiräumen, die ihnen in der französischen Zone genommen wurden. Die Landung der Alliierten am 8. November 1942 in Nordafrika bedeutete kein Ende der staatlichen Diskriminierungen. Angesichts der amerikanischen Nichteinmischung in die französischen Belange dauerte es bis Juni 1943, bevor der Einfluss des Vichy-Regimes in Marokko durch die Einrichtung des „Comité Français de la Libération Nationale“ in Algier unter Charles de Gaulle verdrängt wurde.
Der Nahostkonflikt und nationale Unabhängigkeit Die Gründung Israels im Mai 1948 und die palästinensische „nakba“ (Katastrophe) der Vertreibung und Flucht bedeuteten einen spürbaren Einschnitt in das muslimisch-jüdische Zusammenleben Marokkos. Bereits in den Jahren vor der Staatsgründung Israels gewannen zionistische Organisationen in der einheimischen Bevölkerung merklich an Zulauf. Der Konflikt in Israel/Palästina spiegelte sich auch in Marokko in wiederholten Übergriffen auf Juden und Angriffen auf jüdische Einrichtungen. So kamen allein bei Ausschreitungen im Juni 1948, die im Zeichen einer verschärften antizionistischen Stimmung standen, 47 Juden ums Leben. Durch die verstärkte Auswanderung sank die Zahl der Juden deutlich. Die zunehmende Konfrontation zwischen der französischen Protektoratsmacht und dem Sultan, der sich den nationalistischen Strömungen annäherte, verschärfte diese Spannungen zu Beginn der 1950er Jahre weiter. In verschiedenen Städten kam es erneut zu Ausschreitungen, die sich sowohl gegen Europäer als auch gegen einheimische Juden richteten. Die Unabhängigkeit Marokkos im Frühjahr 1956 bedeutete das Ende des französischen Einflusses und der damit verbundenen Hoffnungen der jüdischen Bevölkerung. Angesichts der nationalistischen und antizionistischen Agitation insbesondere aus den Reihen der Istiqlal-Partei drohte mit der Aufhebung des Protektorats eine Radikalisierung der staatlichen Politik gegenüber den Juden. Dennoch verbesserte sich die Position der Juden nach der Unabhängigkeit in mehrfacher Hinsicht. So gewährte das neue Regime unter Muhammad V. den marokkanischen Juden gleiche Rechte und volles Wahl-
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recht. Mehrere Juden gelangten in dieser Zeit ins Parlament und in führende Positionen der staatlichen Verwaltung. Dagegen wurde die Emigration nach Israel untersagt. Nach Ansicht des Sultans und der nationalistischen Organisationen widersprachen die zionistischen Bestrebungen dem nationalen Interesse Marokkos. Angesichts der fortwährend schlechten ökonomischen Verhältnisse und der sich weiter verschärfenden antizionistischen Kampagnen, die von nasseristischen Strömungen angeheizt wurden, setzte sich die Auswanderung auf illegalen Wegen fort. Erst 1961 lenkte Muhammad V. auf internationalen Druck ein und gab seine ablehnende Haltung gegenüber einer Auswanderung auf. Der damit eingeleitete Richtungswandel wurde auch nach dem Tod Muhammads V. im Februar 1961 von seinem Nachfolger Hasan II. beibehalten. In den 1960er Jahren folgte eine massive Auswanderung, die sich durch antisemitische Kampagnen der nationalistischen Opposition weiter verstärkte. In der Folgezeit boten ethnisch-religiöse Spannungen zwischen den nationalistischen und islamistischen Strömungen und der berberischen Bevölkerung Ansatzpunkte für Solidarisierungen mit den marokkanischen Juden. Das autoritäre Regime, das bis in die späten 1990er Jahre mit schärfsten Mitteln gegen die politische Opposition vorging, stellte sich aus Sicht der jüdischen Bevölkerung zwiespältig dar. Trotz der massiven Menschenrechtsverletzungen bot das Regime einen relativen Schutz vor Agitation gegen die jüdische Bevölkerung. Neben den Konflikten im Nahen Osten sind bis heute auch Entwicklungen und Ereignisse in Marokko selbst Ausgangspunkte für nationalistische und islamistische Mobilisierungen. Insbesondere die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zu Israel 1994 war Anlass für scharfe Kritik der Opposition an der Politik des marokkanischen Königshauses. Seit Ende der 1970er Jahre kommt islamistischen Strömungen dabei eine besondere Rolle zu. Im Zusammenhang mit staatlichen Reformbemühungen seit den 1990er Jahren, die auf eine Modernisierung der Gesellschaft zielen, bedienten sich islamistische Organisationen wie die populäre „Jamaat al-Adl wa-l-Ihsan“ wiederholt antisemitischer Argumentationen. Die ausdrückliche Zuwendung, die der einheimischen jüdischen Bevölkerung vom marokkanischen Königshaus entgegengebracht wird, ist dabei ein weiterer Anknüpfungspunkt für politische Kampagnen. Trotz der Aussetzung der diplomatischen Beziehungen mit Beginn der Intifada im Oktober 2000 wird Marokko von arabischen und islamischen Staaten und Organisationen vorgeworfen, die „Normalisierung“ der Beziehungen zu Israel voranzutreiben. Die Anschläge in Casablanca vom 16. Mai 2003 gegen jüdische und europäische Einrichtungen stehen in diesem Zusammenhang. Neben den zwölf Attentätern kamen bei den Selbstmordanschlägen, die sich u.a. gegen ein jüdisches Gemeindezentrum und einen jüdischen Friedhof richteten, 33 Personen ums Leben. Die Anschläge, die einer alQaida-nahen Gruppierung zugeschrieben werden, stießen in der marokkanischen Öffentlichkeit auf breite Ablehnung. Verschiedentlich wurde dabei auch auf die antisemitischen Hintergründe der Anschläge hingewiesen.
Götz Nordbruch
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Literatur Michel Abitbol, The Jews of North Africa during the Second World War, Detroit 1989. Robert Assaraf, Une certaine Histoire des Juifs du Maroc, 1860-1999, Paris 2005. Michael M. Laskier, North African Jewry in the twentieth century, New York 1994. Robert Satloff, Among the righteous. Lost stories of the Holocaust’s long reach into Arab lands, New York 2006. Daniel J. Schröter, From dhimmis to colonized subjects: Moroccan Jews and the Sharifian and French colonial state, in: Ezra Mendelsohn (Hrsg.), Jews and the State: Dangerous Alliances and the Perils of Privilege, New York 2004, S.104-123.
Mexiko Die jüdische Gemeinschaft im heutigen Mexiko geht in erster Linie auf die Einwanderungsbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Die jüdische Präsenz lässt sich aber weiter zurückdatieren. Bereits an der Eroberung Neuspaniens 1521 durch Hernán Cortés nahmen einige Konquistadoren jüdischer Herkunft teil. Bei den im 15. und 16. Jahrhundert aus Spanien und dann auch aus Portugal ausgewanderten Konvertiten handelte es sich einerseits um die so genannten Kryptojuden, die nach ihrer Zwangskonversion im Geheimen weiter an ihren Traditionen festhielten, andererseits um die Nachkommen aus Überzeugung konvertierter Juden, die angesichts der Politik der „limpieza de sangre“ (Reinheit des Bluts) versuchten, ihre jüdische Herkunft zu verbergen. Wenngleich die spanische Krone nahezu von Beginn an mit immer neuen Verboten versuchte, die Einwanderung von Juden und Konvertiten in die neuen Gebiete zu verbieten, kam es dennoch während der gesamten Kolonialzeit zu Ansiedlungen. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts hatten sich jüdische Gemeinschaften insbesondere in Mexiko-Stadt, Veracruz und Guadalajara (vgl. Karte 1) gebildet. Nachdem bereits Ende der 1520er Jahre die ersten Konvertiten der Verfolgung zum Opfer gefallen waren, wurde die Judenverfolgung mit der Errichtung des „Tribunal del Santo Oficio“ 1571 in Mexiko-Stadt institutionalisiert. Damit unterstand das gesamte Vizekönigreich der Gerichtsbarkeit der Inquisition, die die Kryptojuden, abwertend auch „Marranen“ (marranos) genannt, des „Judaismus“ beschuldigte, verfolgte und vor das Inquisitionsgericht stellte. Die religiöse Intoleranz, der Antijudaismus und die öffentlichen Prozesse der großen Autodafés verringerten die jüdische Gemeinschaft erheblich. Angesichts der Verfolgung und der erzwungenen Klandestinität der Kryptojuden hat die Kolonialzeit kaum jüdische Spuren hinterlassen. Dies änderte sich erst mit der Unabhängigkeit Mexikos und insbesondere gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Im Zuge der gezielten Förderung der europäischen Einwanderung kam es während der Regierungszeit von Porfirio Díaz (1877-1911) auch zur Ansiedlung von assimilierten westeuropäischen Juden, die als Geschäftsleute einflussreiche Positionen erlangten und u.a. an der Gründung der „Banco Nacional de México“ sowie der Eisenbahn mitwirkten.
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Nach den turbulenten Revolutionsjahren stieg die jüdische Bevölkerung durch die massive Einwanderung osteuropäischer und levantinischer Juden zwischen 1920 und 1930 auf etwa 20.000 an. Die neuen Einwanderer ließen sich in erster Linie als Händler und Handwerker nieder und gründeten zahlreiche religiöse und kulturelle Institutionen. In diese Zeit fällt auch die Gründung der ersten jüdischen Schule, des „Colegio Israelita de México“ im Jahr 1924. Durch die unterschiedlichen Zuwanderungswellen aus Osteuropa, dem Mittleren Osten, der Türkei, dem Libanon und Syrien kam es gleichzeitig zu einer Ausdifferenzierung der jüdischen Minderheit nach Herkunft, Sprache und Glaubensrichtung. Die öffentliche Präsenz jüdischer Gemeinschaftsstrukturen und die parallele chinesische Einwanderung lösten zunehmend eine juden- und fremdenfeindliche Haltung in der mexikanischen Bevölkerung aus. Infolge der Wirtschaftskrise nahm die Fremden- und Judenfeindlichkeit weiter zu und Anti-Ausländer-Komitees und Wirtschaftskammern riefen im ganzen Land zum Boykott von Handel und Gewerbe treibenden Juden und Chinesen auf. Seit 1930 organisierten sich nationalistische Gruppen wie das „Comité Pro-Raza“, die „Liga Anti-Judía“ und die „Acción Revolucionaria Mexicanista“, zu der auch die 1934 gegründeten fremdenfeindlichen und antisemitischen „Camisas Doradas“ („Goldhemden“) gehörten. Das Anliegen dieser Gruppen war die Beschränkung der jüdischen Einwanderung und der Schutz der mexikanischen Identität, der „mexicanidad“. Mit den antisemitischen Aktionen dieser Gruppen sowie antijüdischen Angriffen in Teilen der Presse nahm auch die Unsicherheit der Juden in Mexiko zu. Die erste öffentliche antisemitische Demonstration war 1931 die Vertreibung jüdischer Händler vom Markt „La Lagunilla“ in Mexiko-Stadt. Anknüpfend an die seit der Kolonialzeit in der mexikanischen Gesellschaft verwurzelten antijüdischen Stereotype und Vorurteile wurden die Juden als Sündenböcke für die Wirtschaftskrise dargestellt und zugleich mit dem internationalen Kommunismus identifiziert. Unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934-1940) wurde der Einfluss der juden- und fremdenfeindlichen Organisationen zunächst zurückgedrängt und eine neue Bevölkerungspolitik ins Leben gerufen. Die Einwanderungspolitik blieb jedoch restriktiv und weiterhin an den nationalen Interessen und der Assimilationsfähigkeit der Einwanderer ausgerichtet. Dies zeigte sich auch in den jährlichen Einwanderungsquoten des Allgemeinen Bevölkerungsgesetzes von 1936, die die hispanische Einwanderung bevorzugten. Im Gegensatz zu der großzügigen Handhabung der Zuwanderung von Flüchtlingen des Spanischen Bürgerkriegs oder der Aufnahmebereitschaft anderer lateinamerikanischer Staaten war die Bereitschaft, jüdische Flüchtlinge ins Land zu lassen, recht gering (ca. 1.850 Juden). Während die mexikanische Regierung nach außen Öffnung und Toleranz zeigte (z.B. auf der Konferenz von Evian, 1938), blieb ihre Einwanderungspolitik in der Praxis durch Restriktionen gekennzeichnet. Diese Politik beruhte jedoch weniger auf dem latenten Antisemitismus als vielmehr auf den ideologischen Konzepten der „mexicanidad“ und „mestizaje“. Die restriktive Haltung gegenüber jüdischen Flüchtlingen manifestierte sich in einer weiteren Verschärfung der Einwanderungsquoten, der Nicht-Anerkennung von Touristen-Visa sowie der Abweisung von Schiffen mit jüdischen Flüchtlingen im Hafen von Veracruz 1939.
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Als Reaktion auf die Verfolgung in Europa und den wachsenden Antisemitismus in Mexiko wurde 1938 das „Zentralkomitee der jüdischen Gemeinde in Mexiko“ (Comité Central de la Comunidad Judía de México, CCCJM) zur Unterstützung der Flüchtlinge und als Interessenvertretung gegenüber der Regierung gegründet. Das Zentralkomitee verstand sich als erste Institution, die alle Juden, ungeachtet ihrer Herkunft, repräsentieren sollte. Die weitgehend assimilierten deutschsprachigen Juden organisierten sich nicht in den bestehenden jüdischen Einrichtungen, sondern gründeten 1938 die „Menorah“, die Vereinigung deutschsprachiger Juden. Nach dem Höhepunkt der antisemitischen Tendenzen in den 1930er Jahren, kam es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs periodisch zu antisemitischen Vorfällen, die meist im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt standen. Das Problem der mexikanischen Juden lässt sich daher nicht so sehr im latenten Antisemitismus einer katholischen Bevölkerung beschreiben, sondern im patriotischen Diskurs des postrevolutionären Mexiko, der von den jüdischen Einwanderern verlangte, sich als Mexikaner zu verstehen. Seit einigen Jahren lässt sich eine Zunahme antisemitischer Tendenzen verfolgen, meist in Form von Drohungen oder Graffitis. Im Kontext des Irakkrieges kam es zudem zu antizionistischen Manifestationen. Mit der Verabschiedung des Antidiskriminierungsgesetzes 2003, das Antisemitismus als Form der Diskriminierung benennt, wurde jedoch ein wichtiger Schritt zur Eindämmung antijüdischer Vorurteile und Stereotype vollzogen. Die jüdische Minderheit in Mexiko umfasst heute ungefähr 40.000 Mitglieder, die durch das „Zentralkomitee der jüdischen Gemeinde in Mexiko“ vertreten werden. Die jüdische Gemeinschaft zeichnet sich durch ein breites Angebot religiöser und kultureller Institutionen sowie zahlreiche Bildungseinrichtungen und Sportklubs aus. Während die überwiegende Mehrheit in Mexiko-Stadt lebt, gibt es noch größere Gemeinden in Guadalajara und Monterrey. Die jüdische Gemeinschaft ist nicht nur in die beiden großen Gruppen der Sepharden und Aschkenasen gespalten, sondern differenziert sich noch weiter in verschiedene Gemeinschaften aus. Ethnische und linguistische Unterschiede haben bis heute eine extreme Fragmentierung des Gemeinschaftslebens zur Folge. Trotz ihrer wiederholten Verfolgung und Marginalisierung stellt die jüdische Bevölkerung bis heute einen wichtigen Faktor in der ökonomischen, kulturellen und intellektuellen Entwicklung Mexikos dar.
Nina Elsemann
Literatur Judit de Bokser Liwerant, Cárdenas y los judíos. Entre el exilio y la inmigración, in: Canadian Journal of Latin American and Caribbean Studies 20(1995), 39/40, S.13-37. Adina Cimet, Ashkenazi Jews in Mexico. Ideologies in the Structuring of a Community, New York 1997. Alicia de Gojman Backal, Camisas, escudos y desfiles militares. Los dorados y el antisemitismo en México (1934 – 1940), México D.F. 2000. Liz Hamui de Halabe, Transformaciones en la religiosidad de los judíos en México, Mexiko 2005.
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Manuel Hernández Gómez, Entre la cruz y la hoguera. Sefarditas, conversos y anusim, Guadalajara 2003². Corinne Azen Krause, Los judíos en México. Una historia con énfasis especial en el periodo de 1857 a 1930, México 1987. Miguel Guadalupe Zárate, México y la diáspora judía, México D.F. 1986.
Moldova Der größte Teil der heutigen Republik Moldova liegt im Zentrum der historischen Region ? Bessarabien. Die ersten sephardischen Juden ließen sich in der Region Ende des 14. Jahrhunderts nieder, zwei Jahrhunderte später kamen Aschkenasen aus Polen und Deutschland. In der 1930 durchgeführten Volkszählung wurden in Bessarabien 206.958 Juden gezählt, in Chişinău stellten Juden 36,05 Prozent der Einwohner. Auch in Bălţi, Bender, Soroca, Orhei, Dubăsari, Edineţ, Rîşcani, Teleneţi und Lipscani lebten zahlreiche Juden. Der erste Nachkriegszensus der UdSSR von 1959 zählte in der SSR Moldova etwa 95.000 Juden. Im Land war eine deutliche Zunahme des Staatsantisemitismus zu verzeichnen. Nach Stalins Tod ließ dessen Heftigkeit nach, aber viele Berufe blieben den Juden versperrt und der Zugang zu Universitäten war eingeschränkt. Viele enttäuschte Juden entschieden sich für die Auswanderung, 1989 lebten nur noch 65.800 im Land. Nach dem Zerfall der Sowjetunion setzte sich der Exodus fort, hauptsächlich in Richtung Israel: Zwischen 1989 und 1998 verließen etwa 44.000 Juden Moldova. Schätzungen zufolge zählt die jüdische Gemeinschaft derzeit 25.000 Mitglieder, davon 15.000 in Chişinău, 2.500 in Bălţi und Umgebung, 1.600 in Tiraspol, 1.000 in Bender und 4.000 in anderen Städten. Die Periode nach der Unabhängigkeitserklärung der Republik Moldova (27. August 1991) brachte eine Wiederanregung öffentlichen jüdischen Lebens, belebte allerdings auch den Antisemitismus wieder, der seinen Ursprung in der Zwischenkriegszeit hatte und im Nationalismus verwurzelt war. Juden fanden sich im Zentrum des Konfliktes zwischen russischen und moldawischen Gruppen wieder. Da viele Juden kein Rumänisch (die moldawische Nationalsprache) sprachen, sondern nur Russisch, standen sie einem pro-rumänischen nationalistischen Bevölkerungsanteil gegenüber, mussten jedoch auch auf der Hut vor pro-russischen freiwilligen Kosakenmilizen in ? Transnistrien sein, von denen viele ganz offen faschistisch und antisemitisch waren. In den Medien erschienen 1990-1991 Hass-Reden, während einige rechtextreme Zeitungen den Juden die Schuld am vergangenen kommunistischen Regime und den gegenwärtigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes gaben. Flugblätter, die im April 1994 in Chişinău in Briefkästen geworfen wurden, und antisemitische Graffitis rumänischer Nationalisten forderten: „Jidanii şi ruşii afară din Moldova“ („Jidden und Russen raus aus Moldova“) oder Vergeltung. Die erste unabhängige Regierung (1992-1997) setzte sich für die Akzeptanz ethnischer Minderheiten ein. Führer der jüdischen Gemeinde beklagten jedoch, dass einige
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antisemitische Taten von lokalen Autoritäten als „Hooliganismus“ oder Vandalismus verharmlost wurden. Zudem sind viele Versprechungen der Regierung – etwa die Unterstützung des Neuaufbaus jüdischer Kultur und die Bereitstellung von Gebäuden für Synagogen – bislang unerfüllt geblieben. Die Regierung behauptet, die finanziellen Schwierigkeiten des Landes seien der Grund. Generell, so berichtete 1996 Zalman Abelsky, seit Jahren religiöses Oberhaupt der Juden in Chişinău, gebe es „wenig Antisemitismus“ in Moldova und trotz seines schwarzen Bartes und Hutes, die ihn als Lubawitcher Juden ausweisen, habe er „wenig Probleme“ gehabt. In der unabhängigen Republik Moldova hat sich die jüdische Gemeinde zu einer lebendigen Gemeinschaft mit Verbindungen zur moldawisch-jüdischen Diaspora in Israel und den USA entfaltet. In Chişinău existieren zwei jüdische Schulen, ein Kindergarten, die Open University of Israel, Agudat Israel Yeshiva, ein jüdisches Frauencollege mit pädagogischer Ausrichtung, Zweigstellen des internationalen Hillel’s Studentenklubs und der Makkabibewegung, das „Theater des jüdischen Liedes“ und ein Jiddisches Zentrum. In Moldova gibt es etwa ein Dutzend jüdische Chabad-Lubawitch-Gemeinden. Die jüdischen Medien werden durch Fernsehprogramme und zwei jüdische Zeitungen repräsentiert: „Evreiiskoe Mestechko“ (Jüdisches Shtetl) und „Istoky“ (Wurzeln). Seitdem 2001 die kommunistische Partei die Regierung übernommen hat, gibt es stärkere Bemühungen, die Minderheiten, also auch die Juden, durch Gesetzgebung zu schützen. Die Behörden legen nun auch Wert auf die Errichtung von Gedenkstätten für die Opfer des Holocaust. Mit Beiträgen jüdischer Organisationen und von Opferverbänden sowie mit Unterstützung der Lokalverwaltungen wurden z.B. in Chişinău, Bender, Orhei, Bălţi, Soroca, Tiraspol, Rîbniţa Denkmäler errichtet. Trotz alledem bleibt der Holocaust, der auf moldawischem Boden stattfand, ein kontroverses Thema in der Gesellschaft. Die Mehrheit der führenden Historiker stellt den Gebrauch des Terminus „Holocaust“ für die Ereignisse, die in Moldova unter rumänischer Besatzung stattfanden, in Frage. Obwohl derzeit keine politische Partei oder Zeitschrift eine antisemitische Agenda hat, kommt es immer wieder zu antisemitischen Vorfällen. Zum Beispiel wurde 2003 die Radiotalkshow des nationalistischen Aktivisten Oleg Brega wegen Verherrlichung Hitlers und Antonescus, der Anstiftung zur Gewalt und der Förderung von Fremdenhass eingestellt. Derzeit hat Moldova keine politischen Parteien von Bedeutung, deren Programm oder Veröffentlichungen antisemitische Ideen enthalten. Genauso wenig gibt es Zeitschriften dieser Art. Allerdings bedeutet die Abwesenheit von organisiertem politischen Antisemitismus nicht, dass es keinen individuellen Antisemitismus gäbe. Die jüdischen Friedhöfe in Chişinău, Tiraspol und Soroca sind regelmäßig Ziel vandalistischer Akte.
Diana Dumitru Übersetzt aus dem Englischen von Claudia Curio
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Literatur Sergiu Nazaria, File din istorie. Holocaust. Pe teritoriul Moldovei şi regiunile limitrofe ale Ucrainei 1941-1944, Chişinău 2005. The Stephen Roth Institute for the Study of Antisemitism and Racism, Annual Reports, Tel Aviv, 1993-2005. Efim Tcaci (Hrsg.), Antiudaism sau lumea grotelor, Chişinău 1999. Miriam Weiner, Jewish Roots in Ukraine and Moldova: Pages from the Past and Archival Inventories, New York 1999.
Neuseeland Mit der europäischen Kolonisation seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts kamen auch Einwanderer jüdischer Herkunft nach Neuseeland, die sich meist als Kaufleute ein Auskommen suchten. Erste Gemeinden entstanden bereits um 1840 in Wellington und in Auckland – bis heute die beiden bedeutendsten des Landes. Es gab in Neuseeland nie explizit diskriminierende antijüdische Gesetze, die die Existenz von Juden einschränkten. Das lag auch daran, dass sie immer nur eine sehr kleine Minderheit bildeten, die nie mehr als 0,3 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte. Nach dem Zensus von 2006 bekannten sich 6.858 (0,17 Prozent) unter den 4,1 Millionen Befragten zur jüdischen Konfession. Der tatsächliche Bevölkerungsanteil jüdischer Herkunft dürfte bei ca. 10.000 liegen. Gemessen an ihrer geringen Zahl leisteten Juden einen überaus bemerkenswerten Beitrag zur wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung Neuseelands. Früh etablierten Juden führende Handels- und Industrieunternehmen und engagierten sich in vielfacher Weise im öffentlichen Leben. Auf lokaler wie nationaler Ebene stiegen Juden bis in die höchsten Regierungs- und Verwaltungspositionen auf. Die beiden größten Städte des Landes wählten mehrfach Juden zu ihren Oberbürgermeistern, es gab Minister jüdischer Herkunft in mehreren Regierungen und Julius Vogel (1835-1899), der aus London über Australien nach Neuseeland kam, war einer der bedeutendsten neuseeländischen Politiker im 19. Jahrhundert, der zweimal als Premierminister in den 1870er Jahren das Land regierte. Mit den Einwanderern aus Europa kamen aber auch antijüdische Ressentiments nach Neuseeland. Kontakte zwischen Juden und der einheimischen Maoribevölkerung blieben davon weitestgehend unberührt. Es sind die aus der europäischen Geschichte bekannten religiösen und dann rassistischen antisemitischen Stereotype. So wurde etwa Julius Vogel als „Ungläubiger“ bei Christen denunziert oder – im Hinblick auf seine weitreichenden Finanzpläne – als „Jew-lius Rex“ attackiert. Existenzbedrohendes Ausmaß erreichte solcher Antisemitismus kaum, er blieb persönliche Verunglimpfung. Sein inhumanes Potential wurde aber auch in Neuseeland bereits im 19. Jahrhundert evident: In einem Akt internationaler Solidarität protestierte im Jahre 1892 die neuseeländische Regierung im Namen aller Neuseeländer beim russischen Zaren gegen die Verfolgung von Juden in Russland. Als jedoch knapp zwei Jahre später bekannt wurde, dass eine größere Gruppe
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Literatur Sergiu Nazaria, File din istorie. Holocaust. Pe teritoriul Moldovei şi regiunile limitrofe ale Ucrainei 1941-1944, Chişinău 2005. The Stephen Roth Institute for the Study of Antisemitism and Racism, Annual Reports, Tel Aviv, 1993-2005. Efim Tcaci (Hrsg.), Antiudaism sau lumea grotelor, Chişinău 1999. Miriam Weiner, Jewish Roots in Ukraine and Moldova: Pages from the Past and Archival Inventories, New York 1999.
Neuseeland Mit der europäischen Kolonisation seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts kamen auch Einwanderer jüdischer Herkunft nach Neuseeland, die sich meist als Kaufleute ein Auskommen suchten. Erste Gemeinden entstanden bereits um 1840 in Wellington und in Auckland – bis heute die beiden bedeutendsten des Landes. Es gab in Neuseeland nie explizit diskriminierende antijüdische Gesetze, die die Existenz von Juden einschränkten. Das lag auch daran, dass sie immer nur eine sehr kleine Minderheit bildeten, die nie mehr als 0,3 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte. Nach dem Zensus von 2006 bekannten sich 6.858 (0,17 Prozent) unter den 4,1 Millionen Befragten zur jüdischen Konfession. Der tatsächliche Bevölkerungsanteil jüdischer Herkunft dürfte bei ca. 10.000 liegen. Gemessen an ihrer geringen Zahl leisteten Juden einen überaus bemerkenswerten Beitrag zur wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung Neuseelands. Früh etablierten Juden führende Handels- und Industrieunternehmen und engagierten sich in vielfacher Weise im öffentlichen Leben. Auf lokaler wie nationaler Ebene stiegen Juden bis in die höchsten Regierungs- und Verwaltungspositionen auf. Die beiden größten Städte des Landes wählten mehrfach Juden zu ihren Oberbürgermeistern, es gab Minister jüdischer Herkunft in mehreren Regierungen und Julius Vogel (1835-1899), der aus London über Australien nach Neuseeland kam, war einer der bedeutendsten neuseeländischen Politiker im 19. Jahrhundert, der zweimal als Premierminister in den 1870er Jahren das Land regierte. Mit den Einwanderern aus Europa kamen aber auch antijüdische Ressentiments nach Neuseeland. Kontakte zwischen Juden und der einheimischen Maoribevölkerung blieben davon weitestgehend unberührt. Es sind die aus der europäischen Geschichte bekannten religiösen und dann rassistischen antisemitischen Stereotype. So wurde etwa Julius Vogel als „Ungläubiger“ bei Christen denunziert oder – im Hinblick auf seine weitreichenden Finanzpläne – als „Jew-lius Rex“ attackiert. Existenzbedrohendes Ausmaß erreichte solcher Antisemitismus kaum, er blieb persönliche Verunglimpfung. Sein inhumanes Potential wurde aber auch in Neuseeland bereits im 19. Jahrhundert evident: In einem Akt internationaler Solidarität protestierte im Jahre 1892 die neuseeländische Regierung im Namen aller Neuseeländer beim russischen Zaren gegen die Verfolgung von Juden in Russland. Als jedoch knapp zwei Jahre später bekannt wurde, dass eine größere Gruppe
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russischer Juden von London nach Neuseeland auswandern wollte, tat dieselbe Regierung alles, um deren Ankunft zu verhindern. Der Widerstand kam besonders aus Handwerks- und Handelsorganisationen, die die Armut und schlechte Ausbildung dieser Juden hervorhoben und die Angst vor unwillkommener Konkurrenz mit antisemitischen Angriffen schürten. Nur wenigen russischen Juden wurde damals die Einwanderung gestattet. Rassistisches Denken prägte bis weit ins 20. Jahrhundert das Handeln der europäischen Kolonialisten, die die wirtschaftliche und politische Macht innehatten, gegenüber der Maori-Bevölkerung – mit zeitweilig verheerenden Folgen für deren physisches wie kulturelles Überleben. In den 1930er Jahren gelangte dann auch nazistisches Gedankengut nach Neuseeland, ohne freilich eine nennenswerte Gefolgschaft zu finden. Als sich erste Flüchtlinge aus Deutschland um eine Einwanderung bemühten, meldeten sich erneut Widerstände gegen eine mögliche Konkurrenz. Die zahnärztliche Vereinigung wandte sich an die Regierung mit dem Antrag, keine „nicht-arischen“ Zahnärzte aus Deutschland ins Land zu lassen. Ärzte mit nicht-britischer Qualifikation mussten nochmals ein dreijähriges Studium absolvieren, bevor man ihnen gestattete, ihren Beruf wieder auszuüben. Insgesamt nahm Neuseeland nur eine vergleichsweise geringe Zahl von Flüchtlingen aus Deutschland und Österreich auf – unter ihnen der Philosoph Karl Popper und der Dichter Karl Wolfskehl – und betrieb eine sehr selektive Visapolitik. Bis über das Kriegsende hinaus gehörten Juden nicht zu den erwünschten Einwanderern. Selbst von den ansässigen Juden wurde diese Einwanderung nicht immer vorbehaltlos unterstützt, nicht zuletzt aus Furcht, antisemitische und anti-deutsche Ressentiments zu bestärken. Deutsche Juden, die in Neuseeland Zuflucht gefunden hatten, wurden während des Krieges als „enemy aliens“ registriert. Sie waren strikten Beschränkungen unterworfen und wurden in Verkennung ihrer Situation nicht selten als mögliche Sympathisanten des Kriegsgegners beargwöhnt. Antisemitisches Gedankengut lebte und lebt auch nach dem Kriege bis in die Gegenwart in einigen rechtsradikalen Splittergruppen weiter, die jedoch politisch bedeutungslos blieben. Es kam durch sie bis in jüngste Zeit zu vereinzelten Friedhofsschändungen und antijüdischen Schmierereien, die in den Medien und der Öffentlichkeit einhellig verurteilt und deren Täter juristisch verfolgt wurden. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts vollzog sich ein tief greifender Wandel der ehemals homogenen neuseeländischen Bevölkerung. Auf Grund steter Einwanderung entstand eine zunehmend multiethnische, multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft. Zwei Institutionen, die in den 1970er Jahren geschaffen wurden, die „Human Rights Commission“ und der „Race Relation Conciliator“, trugen wesentlich dazu bei, dass sich ein breiteres Verständnis für die kulturelle Integrität von Minderheitsgruppen bildete. An diese Institutionen konnten sich Gruppen wie Einzelpersonen im Falle von Diskriminierungen oder Konflikten wenden. Ein führendes Mitglied der jüdischen Gemeinde, Walter Hirsh, fungierte von 1985 bis 1989 als „Race Relation Conciliator“. Antisemitismus äußert sich in Neuseeland kaum mehr in seinen traditionellen religiösen oder krude rassistischen Formen, sondern im moderneren Gewand als Leugnen des Holocaust oder als „anti-zionistische“ Israelkritik. Fälle mögen illustrieren, wie man mit
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solchem Antisemitismus in Neuseeland heute umgeht. Im Jahre 1993 legte Joel Hayward eine umfangreiche Magisterarbeit unter dem vermessenen Titel „The Fate of Jews in German Hands“ zur Historiographie der so genannten Holocaust Revisionisten (Paul Rassinier, Arthur R. Butz, Fred A. Leuchter, David Irving u.a.) an der Universität von Canterbury in Christchurch vor, die von zwei Historikern betreut und begutachtet und mit der höchsten Note ausgezeichnet wurde. In dieser Arbeit akzeptierte Hayward nicht nur die wesentlichen „Ergebnisse“ dieser notorischen Holocaustleugner, er zog auch eigene skandalöse Schlüsse über die Anzahl der Opfer, die behauptete Nichtexistenz von Gaskammern und das angebliche Fehlen eines Befehls von Hitler zur Vernichtung der Juden Europas. Völlig ungewöhnlich für das neuseeländische Universitätssystem und im Wissen um die provokative Brisanz seiner Arbeit belegte Hayward seine Arbeit mit einer sechsjährigen Sperre, gab jedoch einige Exemplare an bekannte Holocaustleugner in England und Australien. Als die Arbeit Ende 1999 zugänglich wurde, protestierte das New Zealand Jewish Council bei der Universität gegen die Arbeit, die eine Verunglimpfung der Überlebenden des Holocaust darstelle und verlangte die Aberkennung des durch sie erlangten Magistergrades. Nach eingehender Kritik der Arbeit und beharrlicher Aufklärung durch Dov Bing, Politologe an der Universität von Waikato und führendes Mitglied der dortigen jüdischen Gemeinde, sowie wachsendem öffentlichen Druck, setzte die Universität von Canterbury einen unabhängigen Untersuchungsausschuss ein. Zwar wurde der akademische Grad nicht aberkannt, aber doch die „Ergebnisse“ der Arbeit und ihre inkompetente Betreuung in allen wesentlichen Punkten gerügt. Die Kontroverse um die Arbeit endete mit einer Entschuldigung der Universität beim Jewish Council. Das Ansehen Haywards, inzwischen Dozent an einer anderen Universität des Landes, war trotz des Widerrufs seiner „Schlüsse“ so beschädigt, dass er seine Dozentur aufgab. Fast zur selben Zeit akzeptierte man an der Universität von Waikato in Hamilton ein Promotionsvorhaben eines deutschen Immigranten zur Stellung der deutschen Sprache in Neuseeland. Hans-Joachim Kupka war im Internet als Holocaustleugner aufgefallen und es stellte sich heraus, dass er in Deutschland führendes Mitglied der Partei der Republikaner in Bayern war. Als dieses Projekt an der Universität bekannt wurde, protestierten jüdische und nicht-jüdische Dozenten und Studenten dagegen. Da die Arbeit u.a. auf Interviews mit deutschen Einwanderern basieren sollte, befürchtete man die Verletzung der „cultural safety“. Man verwies auf die kaum vermeidbare untragbare Situation, dass jüdische Überlebende des Holocaust ohne deren Wissen von einem Holocaustleugner und Neonazi interviewt werden könnten. Abermals zwang öffentlicher Druck die zunächst sich sperrende Universität, eine Untersuchungskommission zu berufen, die dann den Klägern Recht gab. Kupka gab sein Promotionsvorhaben auf und zog es vor, das Land zu verlassen. Einer der bekanntesten neuseeländischen Karikaturisten, Malcom Evans, verlor 2003 seinen langjährigen Vertrag mit der auflagenstärksten Tageszeitung „New Zealand Herald“, nachdem seine israelkritischen Karikaturen immer wieder wegen ihrer undifferenzierten anti-zionistischen, dabei auch jüdische Symbole wie den Magen David missbrauchenden Tendenz Anstoß erregt hatten. Solange man sich in Neuseeland der ethnischen Vielfalt bewusst bleibt und sie als Fundament schützt, wird Antisemitismus auch in seinen zeittypischen Erscheinungen zu
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Beginn des 21. Jahrhunderts dort nur wenig Resonanz finden. Latente Reste werden nicht verschwinden, genährt nicht zuletzt durch Unkenntnis jüdischer Kultur in Gegenwart und Geschichte. Antisemitismus wird, wo immer er sich in Wort und Tat artikuliert, auf die wachsame Aufmerksamkeit der kleinen jüdischen Minderheit stoßen, der wirkungsvolle Institutionen wie die Human Rights Commission, liberale Medien und eine tolerante Gesellschaft zur Seite stehen.
Friedrich Voit
Literatur Ann Gluckman (Hrsg.), Identity and Involvement. Auckland Jewry, Past and Present, Palmerston North 1990. Ann and Laurie Gluckman (Hrsg.), Identity and Involvement (II), Auckland Jewry, Past and Present, Palmerston North 1993. Lazarus Morris Goldman, The History of the Jews in New Zealand, Wellington 1958. Stephen Levine (Hrsg.), A Standard for the People. The 150th Anniversary of the Hebrew Congregation 1843-1993, Wellington 1995. Stephen Levine, The New Zealand Jewish Community, Lanham u.a. 1999. Paul Spoonley, Helen Cox, Antisemitism in New Zealand since 1945, Wellington 1982.
Niederlande In mittelalterlichen Quellen wird von jüdischen Händlern und Geldverleihern berichtet, die durch den Osten und den Süden des Landes zogen, und es werden jüdische Ärzte erwähnt. Trotz der geringen Zahl der Juden hatte der theologische Antijudaismus auch in dieser Region Einfluss. Die Bevölkerung sah in den Juden vor allem Mörder Christi. In den „niederen Landen“ fanden zur Zeit der Kreuzzüge und während der Pestepidemie von 1348 Judenverfolgungen statt. Der Bürgermeister und Chronist der Stadt Zwolle berichtete 1349, dass die Juden in seiner Stadt „aus Liebe zu Gott“ ermordet worden seien. Aus den nördlichen Niederlanden ist nur eine Legende über eine Hostienschändung bekannt: In einem Dorf in der Provinz Groningen hätten angeblich drei Juden einen silbernen Kelch mit einigen geweihten Hostien gestohlen. Im 16. Jahrhundert, zur Zeit der spanischen Herrschaft, war es Juden verboten, sich in den niederländischen Territorien aufzuhalten oder anzusiedeln. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts verlor der spanische König Philipp II. seine Macht über die nördlichen Niederlande, der Calvinismus wurde zur herrschenden Religion und Gruppen portugiesischer Juden siedelte sich an. Die Städte bestimmten selbst, wen sie in ihren Stadtgrenzen duldeten. Amsterdam, Rotterdam und Den Haag gewährten Juden freies Niederlassungsrecht, gestanden ihnen jedoch keine Bürgerrechte zu. In Städten wie Utrecht und Deventer sowie in weiten Teilen der ländlichen Regionen waren Juden hingegen unerwünscht. In der Zeit der Republik der Vereinigten Niederlande (im 17. und 18. Jahrhundert) konnten Juden ungehindert Eigentum erwerben und brauchten keine Erkennungszeichen zu tragen. Jüdische Ghettos gab es in den Niederlanden nicht, und es kam bis zum Zweiten
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Weltkrieg auch zu keinen Vertreibungen. Insbesondere Amsterdam profitierte wirtschaftlich vom Zuzug jüdischer Kaufleute, die anfangs hauptsächlich aus Südeuropa (Sepharden) und später auch aus Deutschland und Polen (Aschkenasen) kamen. Durch das Zunftwesen waren Juden jedoch von den meisten Handwerksberufen und zahlreichen Formen des Kleinhandels ausgeschlossen. Im 17. und 18. Jahrhundert waren Juden in den Niederlanden eine tolerierte Minderheit. Ihre Religion durften sie frei ausüben. Die offiziell etablierte calvinistische Ordnung lehnte es ab, Juden Rechte zu verleihen oder bestehende Rechte zu erweitern. Protestantische niederländische Theologen fällten meist ein hartes Urteil über das Judentum: Da es den Glauben an Jesus Christus ablehnte, betrachtete man es als eine „falsche Religion“. Aus diesem negativen Urteil, das in zahlreichen polemischen und theologischen Schriften aus diesem Zeitraum nachzulesen ist, zog jedoch niemand die Schlussfolgerung, man müsse Juden schlecht behandeln oder des Landes verweisen. Der theologische Antijudaismus führte in der Republik der Vereinigten Niederlande nicht zu antisemitischer Gewalt. Im Gegenteil: Juden genossen in den Niederlanden mitunter mehr Privilegien als Katholiken: Juden in Amsterdam durften ihre Synagogen an der öffentlichen Straße errichten, Katholiken hingegen lediglich mehr oder weniger geduldete „schuilkerken“ (versteckte Kirchen). Infolge von Wirtschaftskrisen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verarmten die jüdischen Gemeinschaften in den Niederlanden. Aus volkstümlicher niederländischer Literatur des 18. Jahrhunderts geht hervor, dass das Stereotyp des „smous-jood“ (des unehrlichen Juden, dem man nicht trauen kann, der wenig Bildung besitzt und mit einem auffälligen Akzent spricht) in dieser Zeit stärker in den Vordergrund trat. Die wohlhabende und gebildete sephardische Elite aus dem 17. Jahrhundert fand in der Skandallektüre und den populären antijüdischen Publikationen kaum mehr Erwähnung. Hingegen wurde das Bild des „windigen und betrügerischen jüdischen Trödlers“ weit verbreitet. Dies führte aber nicht zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden. In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts nahm die Zahl der jüdischen Gemeinschaften in den Niederlanden stark zu. Einschränkende Verordnungen wurden aufgehoben und im ganzen Land bildeten sich kleine jüdische Gemeinden mit einer eigenen Synagoge und einem eigenen Friedhof. Die Französische Revolution und die französische Herrschaft über die Niederlande (bis 1814) bedeutet ab 1796 für die Juden die offizielle Gleichberechtigung. Juden waren nicht mehr aus den Zünften ausgeschlossen, sie wurden als Bürger stimmberechtigt und konnten öffentliche Ämter bekleiden. Zum ersten Mal wurde auch Juden die Hilfe der öffentlichen Armenfürsorge zuteil. Die Begeisterung, mit der Juden zum Beispiel in Frankreich, Deutschland, Italien und Österreich die Emanzipation begrüßten, galt nicht für die Niederlande. Die rechtliche Gleichstellung bedeutete auch die Aufgabe eines Teils der Identität: Der Gebrauch des Jiddischen in Schule und Synagoge wurde verboten und die traditionelle Autonomie der jüdischen Gemeinden wurde eingeschränkt. Nur eine kleine aufgeklärte jüdische Minderheit begrüßte die Gleichberechtigung, die große Mehrheit lehnte eine weitergehende Akkulturation ab.
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Während die Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert in anderen europäischen Ländern Anlass zu neuem oder verstärktem Antisemitismus gab, war dies in den Niederlanden kaum zu beobachten. Es entstand kein Unbehagen über einen zu schnellen Durchbruch vieler Juden an die Spitze des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Es gab einige Ärzte und Juristen, die leitende Funktionen in jüdischen und nichtjüdischen Institutionen übernahmen, doch diese bildeten keine Bedrohung der traditionellen Eliten. Die große Masse der jüdischen Niederländer war arm, und eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage kam nur mühsam in Gang. In Amsterdam gab es nie ein jüdisches Ghetto, jedoch viele jüdische Elendsgassen. Nach 1860 begann eine Phase des langsamen Fortschritts, u.a. durch den Aufschwung des Diamantgewerbes, in dem viele Juden Arbeit fanden. Der wirtschaftliche Fortschritt schlug sich in demografischen Zahlen nieder: Zwischen 1860 und 1920 verdoppelte sich die jüdische Bevölkerung der Niederlande auf 115.000. Wenn es auch im 19. Jahrhundert in den Niederlanden mehr als im Jahrhundert zuvor gegen den kulturellen Konsens verstieß, öffentlich und unverblümt Hass gegen Juden zu bekunden, gab es durchaus Äußerungen von Antisemitismus. Der Schimpfname „smous“ war im Vergleich zum 18. Jahrhundert weniger gebräuchlich, lebte jedoch im katholischen Süden des Landes weiter. Im konservativen katholischen Teil der Niederlande herrschten vor allem Ende des 19. Jahrhunderts – genährt von ausländischen Publikationen – mehr und heftigere antijüdische Ressentiments als im protestantischen Teil. Prominente Meinungsführer des katholischen Milieus kritisierten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Antisemitismus im eigenen Kreis und in der niederländischen Gesellschaft. Trotzdem fanden ausländische, ins Niederländische übersetzte Schriften mit antisemitischer Tendenz ihren Weg zu konservativ-katholischen Lesern. Auch ein prominenter protestantischer Vordenker, Dr. Abraham Kuyper, ließ sich regelmäßig äußerst negativ über Juden aus, in deren Händen sich seiner Ansicht nach die liberale Presse befand. Doch gegen den Vorwurf des Antisemitismus wehrte sich der spätere Ministerpräsident stets heftig. Der jüdisch-niederländische Historiker Mozes Heiman Gans bezeichnet ihn als „typisch niederländisch“: sich hin und wieder eine antijüdische Bemerkung erlauben, um danach den Vorwurf, Antisemit zu sein, als grobe Beleidigung zurückzuweisen. Die Lage der Juden in den Niederlanden vor 1940 lässt sich am besten mit dem Begriff „angepasst“ beschreiben. Etwa 60 Prozent der niederländischen Juden lebten in Amsterdam. Die jüdischen Niederländer waren obrigkeitstreu und fühlten sich dem Königshaus eng verbunden. Der zionistischen Bewegung gelang es in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nicht, im niederländischen Judentum wirklich Wurzeln zu schlagen. Die Amsterdamer Juden tendierten eher zur niederländischen Sozialdemokratie als zum internationalen Zionismus. Eine antisemitische Bewegung gab es in den Niederlanden vor dem Zweiten Weltkrieg kaum. Im Ersten Weltkrieg konnten die Niederlande ihre Neutralität wahren, und kaum jemand machte die Juden für die Wirtschaftskrise in den dreißiger Jahren verantwortlich. Es gab ein paar faschistische bzw. nationalsozialistische Splitterparteien mit antisemitischer Ausrichtung, die jedoch bei Wahlen scheiterten. Die einzige nationalsozialistische Partei, die tatsächlich Wahlerfolge verbuchte, war die Nationalsozialistische Bewegung (NSB) unter dem Vorsitz von Dr. Anton Mussert. Diese Partei, die bei landes-
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weiten Wahlen 1937 vier Prozent der Stimmen erhielt, hatte jedoch kein offen antisemitisches Profil. Bei der Gründung der NSB 1931 waren keine antijüdischen Punkte ins Parteiprogramm aufgenommen worden, und die NSB nahm auch Juden als Mitglieder auf. Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 kamen einige zehntausend deutsch-jüdische Flüchtlinge in die Niederlande. Nach dem Novemberpogrom 1938 versuchten noch 40.000 deutsche Juden, ein Visum für die Niederlande zu erhalten. Nur 7.000 wurden ins Land gelassen, durften sich jedoch nicht frei bewegen, sondern wurden in Auffanglagern untergebracht. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zählte die jüdische Bevölkerung in den Niederlanden ungefähr 140.000 Personen. Im Mai 1940 wurden die Niederlande vom nationalsozialistischen Deutschland überfallen und besetzt. Nur wenigen Juden gelang die Flucht. Im November 1940 ordnete die deutsche Besatzungsmacht an, dass sämtliche Juden, die im öffentlichen Dienst tätig waren, namentlich erfasst wurden. Alle Beamten mussten eine Erklärung unterzeichnen, aus der hervorging, wer Jude war und wer nicht. Mit dieser berüchtigten „Ariererklärung“ begann die Judenverfolgung. Zur Registrierung von Juden schaltete die Besatzungsmacht auch niederländische Behörden ein, insbesondere die Einwohnermeldeämter. Die Deutschen erließen eine Ausweisverordnung, nach der jeder niederländische Bürger im Besitz eines Personalausweises sein musste. Juden bekamen bei der Aushändigung des Ausweises ein schwarzes J in ihr Dokument gestempelt. Im August 1941 zählten die Deutschen in den Niederlanden 160.820 Personen mit jüdischer Herkunft: 140.522 Juden, 14.549 „Halbjuden“ und 5.719 „Vierteljuden“. Im selben Jahr schränkten die Deutschen die Bewegungsfreiheit der Juden mit einer langen Reihe von Verordnungen ein, und im Judenviertel von Amsterdam kam es zum ersten Pogrom. Von April 1942 an waren Juden verpflichtet, in der Öffentlichkeit den gelben Stern zu tragen, und es folgten Zwangsmaßnahmen zur Vorbereitung der Deportation. In immer mehr Gebieten des Landes wurde ein Aufenthaltsverbot für Juden verhängt. Von Juli 1942 an wurden Juden gruppenweise verhaftet und die meisten von ihnen zuerst in dem „Judendurchgangslager Westerbork“ (vgl. Karte 7) in der nördlichen Provinz Drenthe interniert. Insgesamt verbrachten mehr als 100.000 Juden eine kürzere oder längere Zeit in Westerbork. Von Juli 1942 bis September 1944 fuhren von dort aus wöchentlich Deportationszüge in die Konzentrations- und Vernichtungslager in Polen und Deutschland. In einem der letzten Züge befand sich auch Anne Frank. Zwischen 1941 und 1945 wurden ungefähr 80 Prozent der niederländischen Juden ermordet. In den ersten Nachkriegsjahren herrschten in den Niederlanden mehr antijüdische Ressentiments als vor dem Krieg. Die antijüdische Propaganda der Deutschen, die Beschränkungen, die jüdischen Niederländern während des Kriegs auferlegt worden waren, sowie die erzwungene Isolation der Juden waren nicht ohne Wirkung geblieben und beeinflussten das Klima auch nach dem Krieg. In der öffentlichen Meinung der Niederlande hatte sich die Vorstellung verstärkt, Juden seien „anders“ als Nichtjuden. Das Aufleben des Antisemitismus nach dem Krieg führte jedoch nicht zu Exzessen und war auch nur von kurzer Dauer. In den ersten Nachkriegsjahren emigrierten ungefähr 5.000 niederländische Juden, viele von ihnen nach Israel. Heute leben zwischen 30.000 und
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40.000 Juden in den Niederlanden, von denen ein Viertel die israelische Staatsangehörigkeit besitzt. Gespeist durch die Erinnerung an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs herrscht in den Niederlanden ein Tabu gegenüber antisemitischen Äußerungen in der Öffentlichkeit. Dennoch kommt es zu antisemitischen Vorfällen, wenn auch teilweise in den Randzonen der Gesellschaft. Heutiger Antisemitismus in den Niederlanden lässt sich in vier Kategorien einteilen: An erster Stelle sind antisemitisch motivierte Gewalttaten zu nennen, die in begrenztem Umfang vorkommen, etwa das Zerstören oder Beschmieren jüdischer Objekte (Friedhöfe, Synagogen). Bei Delikten dieser Art kommen die Täter meist aus neonazistischen Kreisen. Antisemitismus findet auch im niederländischsprachigen Teil des Internets Verbreitung. Insbesondere Webforen muslimischer und rechtsextremer Jugendlicher enthalten häufig antisemitische Beiträge. Zugleich sehen sich jüdische (und nichtjüdische) Niederländer manchmal einem „neuen Antisemitismus“ gegenüber: Antisemitismus, der in direktem Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern steht. Lehrer in Amsterdamer Schulen beklagen, dass sie mit juden- und israelfeindlichen Äußerungen konfrontiert werden. Und schließlich muss hier noch die Leugnung des Holocaust erwähnt werden, ein Phänomen, das sich in den letzten Jahren fast ausschließlich im Internet abspielt. Obgleich die Zahl der überzeugten HolocaustLeugner in den Niederlanden klein ist, erlangen sie bei der Verbreitung ihrer Ideen über das Web eine große Reichweite.
Jaap Tanja Übersetzt aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert
Literatur J.C.H. Blom, R.G. Fuks-Mansveld und I. Schöfer (Redaktion), Geschiedenis van de joden in Nederland [Geschichte der Juden in den Niederlanden], Amsterdam 1995. Mozes Heiman Gans, Memorboek. Platenatlas van het leven der joden in Nederland van de middeleeuwen tot 1940 [Bilderatlas vom Leben der Juden in den Niederlanden vom Mittelalter bis 1940], Baarn 1971. Dienke Hondius, Terugkeer – Antisemitisme in Nederland rond de bevrijding [Heimkehr – Antisemitismus in den Niederlanden rund um die Befreiung], Den Haag 1998. Hans Jansen, Christelijke Theologie na Auschwitz, Teil 1. Theologische en kerkelijke wortels van het antisemitisme [Christliche Theologie nach Auschwitz, Teil 1: Theologische und kirchliche Wurzeln des Antisemitismus], Den Haag 1981. Ruben Konig, Christelijke religie en antisemitisme in Nederland 1990 [Christliche Religion und Antisemitismus in den Niederlanden 1990], Kampen 1997. Marcel Poorthuis und Theo Salemink, Een donkere spiegel. Nederlandse katholieken over joden – tussen antisemitisme en erkenning – 1870-2005 [Ein dunkler Spiegel. Niederländische Katholiken über Juden – Zwischen Antisemitismus und Anerkennung, 1870-2005], Valkhof Pers 2006. Jaap Tanja (Anne Frank Haus), Vijftig vragen over antisemitisme. Uitgeverij Boom [Fünfzig Fragen über Antisemitismus], Meppel 2005.
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Norwegen Der Antisemitismus in Norwegen ist nicht mit dem in Deutschland, Österreich, Frankreich und Osteuropa vergleichbar. Es gab keine Pogrome, antisemitische Parteien oder Fluten von antisemitischen Schriften. Er war nicht einmal ein sekundäres Problem, höchstens ein tertiäres. Das bedeutet nicht, dass Norwegen ein Land ohne Antisemitismus und Antisemiten war, in Krisenzeiten blühte Judenfeindschaft auf. Artikel 2 des Grundgesetzes von 1814 verbot Juden und Jesuiten den Aufenthalt im Lande. Der Ausschluss wurde 1851 nach einer mehrjährigen Debatte revidiert, die sich an der Forderung des Dichters Henrik Wergeland entzündete, den „Judenparagrafen“ aufzuheben. Die Furcht, dass es nun zu einer „Judeninvasion“ kommen könnte, bewahrheitete sich nicht. 1875 gab es in Christiania (Oslo) 17 Juden. 1910 lebten etwa 1.000 Juden im ganzen Lande. Einen Zugang zur Frage der Judenbilder vor dem Ersten Weltkrieg vermittelt die Rezeption der antisemitischen Schrift „Jøde og gojim“ (Jude und Goi) des Anwalts Eivind Saxlund (1910 und drei weitere Auflagen). Der Autor berief sich u.a. auf Luther, Chamberlain und Fritsch und bediente sich aller gängigen Stereotypen. Dennoch wurde das Buch von der Mehrzahl der Rezensenten als objektiv und neutral aufgefasst. Kirchliche Kreise empfahlen es, da es der Bevölkerung die Augen über die Gefährlichkeit des „materialistischen jüdischen Geistes“ öffnen könne. War vor dem Ersten Weltkrieg das Judenbild in erster Linie durch die lutherische Staatskirche und Konkurrenzangst geprägt, verstärkte sich nun die Furcht von einer „Judeninvasion“, die erheblich dramatisiert und durch die Konnotation Jude gleich Kommunist sowie Konspirationstheorien verstärkt wurde. Juden wurden dehumanisiert, Presse und Polizei berichteten von „jüdischen Banden“ im Lande und der „Zerstörung der europäischen Kultur“ durch die Juden. Die einheimischen Juden wurden als Spione und Mithelfer der russischen „Revolutionsjuden“ verdächtigt. Der Zuzug von Juden nach dem Ersten Weltkrieg wurde mit Naturkatastrophen verglichen: Juden „überschwemmten“ das Land, sie kämen wie ein „Heringsschwarm“ oder wie „Raubvögel“, die die Universität, die Nationalgalerie, Zeitungen und Banken übernehmen würden. Das waren Bilder, die stark an Treitschkes Szenario erinnerten. Kriminalromane in Massenauflagen popularisierten das Bild vom betrügenden, verbrecherischen, schmutzigen, manipulierenden, revolutionären oder kapitalistischen Juden. Die Debatte um das Schächten, die sich über Jahrzehnte hinzog und 1929 mit einem Verbot des rituellen Schlachtens endete, hatte einen erheblichen antisemitischen Subtext, in dem die Juden als unwillkommene Gäste definiert und ihre Religion als „barbarisch“ bezeichnet wurde. Juden wurden mit Kommunismus, dem Völkerbund, Wurzellosigkeit, Schlauheit, Intellektualismus, Modernität, „modernem Heidentum“, Gefühlskälte und einer Gefährdung des Christentums assoziiert. Die Maßnahmen der Nationalsozialisten gegen die Juden in Deutschland wurden von der konservativen und agrarisch orientierten Presse, teilweise auch von der Judenmission (protestantische Missionsbewegung) bagatellisiert oder als berechtigt angesehen. Für ihr Schicksal in Deutschland seien die Juden selbst verantwortlich, lautete der Tenor. Nach 1933 begegneten Bürokratie und Presse der Flüchtlingsfrage erneut mit Metaphern wie „Invasion“, „Überschwemmung“ und „Heringsschwarm“ und suggerierten eine natio-
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nale Gefährdung durch jüdische Flüchtlinge. Die Antisemiten hielten daran fest, dass das Glück des eigenen Volkes nicht durch die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge gefährdet werden dürfe. Die Behörden sahen besonders in elternlosen Kindern eine Gefahr, da sie in Zukunft ein bleibendes „jüdisches Element“ bilden könnten. Da nicht unbegründet bei einer Aufnahme von Juden mit einem Anwachsen des Antisemitismus gerechnet wurde, traf dies auch die knapp 2.000 norwegischen Juden, die schon vorher stigmatisiert in einem unsichtbaren Ghetto lebten. Die negativen Konnotationen sollten, zusammen mit Gleichgültigkeit und kultureller Distanz, eine Voraussetzung für eine norwegische Beteiligung an den Deportationen werden. Dessen war sich offenbar auch die deutsche Besatzungsmacht bewusst, als sie es im Herbst 1942 den Norwegern überließ, die im Lande befindlichen Juden zu verhaften und der deutschen Besatzungsmacht zu übergeben. Ungefähr 1.100 Juden konnten sich nach Schweden retten, von 767 Deportierten überlebten nur 30. Nach 1945 wurden die Judenverfolgungen zu einer deutschen Angelegenheit erklärt, eine norwegische Beteiligung weitgehend verschwiegen und stattdessen ein positives Selbstbild in der Tradition von Wergeland und Nansen konstruiert. Die Existenz eines einheimischen Antisemitismus wurde nur in Bezug auf die kompromisslosen Antisemiten (Quislings „Nasjonal Samling“) zugegeben und peripheren Autoren, Zeitschriften und Kleinorganisationen eingeräumt. Das Forschungsinteresse galt nicht dem Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft. Als sich die regierende Arbeiterpartei 1946/47 für die Aufnahme von „displaced persons“ einsetzte, zeigte eine Meinungsumfrage, dass über ein Viertel der Befragten diese Entscheidung für falsch hielt. Zu einer rechtlichen Ahndung von Verbrechen an den Juden kam es nicht. Ihr Schicksal geriet bei Politikern und Historikern schnell in Vergessenheit. Zu Restitutionsleistungen kam es erst 1999. Mit dem Sechs-Tage-Krieg bahnte sich ein Umschwung in der öffentlichen Meinung gegenüber den norwegischen Juden, besonders innerhalb der Linken an, die sich zunehmend mit der palästinensischen Bevölkerung solidarisierte und nicht zwischen der israelischen Politik und den Juden unterschied. So wurden auch die norwegischen Juden häufig kollektiv für Israels Politik mitverantwortlich gemacht. Diese Haltungen kulminierten 2007 in Schüssen gegen die Synagoge in Oslo, Boykottaufrufen gegen israelische Waren durch linke Organisationen, Parteien und Gewerkschaften sowie der Attacke des bekannten Autors Jostein Gaarder.
Einhart Lorenz
Literatur Terje Emberland, Antisemittismen i Norge 1900-1940, in: Trond Berg Eriksen, Håkon Harket, Einhart Lorenz, Jødehat. Antisemittismens historie fra antikken til i dag [Judenhass. Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis heute], Oslo 2005. Per Ole Johansen, Oss selv nærmest. Norge og jødene 1914-1943 [Uns selbst am nächsten. Norwegen und die Juden 1914-1943], Oslo 1984. Einhart Lorenz, Antisemitische Judenbilder und die norwegische Haltung zur Deportation, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 16(2007), S.217-238.
Österreich
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Oskar Mendelsohn, Jødenes historie i Norge gjennom 300 år [Geschichte der Juden in Norwegen durch 300 Jahre], 2 Bde., Oslo 1986.
Österreich Der Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts, d.h. eine programmatisch untermauerte Bewegung, die sich durch politische Parteien, Vereine und Presse ein permanentes Dasein sichert, ist von der vormodernen, meist religiös geprägten Judenfeindschaft zu unterscheiden, obwohl diese zwei Gattungen einige thematische Gemeinsamkeiten aufweisen. Das Phänomen, das wir als Antisemitismus kennen, hatte seinen Ursprung in der rechtlichen Gleichstellung („Emanzipation“) der Juden, die sich ab 1791, dem französischen Beispiel folgend, in Europa vollzog. Diese bezog sich nicht nur auf eine veränderte Rechtslage, sondern auch auf den allmählichen – und in Österreich weitreichenden – Eintritt in das Besitzbürgertum und in Berufe, die ihnen bis dahin verschlossen waren. In dieser Form begegnet man dem Judenhass nicht mehr als Emotion, die zu unsystematischen Gewaltausbrüchen führt, sondern als Rechtfertigung für politische Aktionen. Juden erscheinen als eine Gefahr, die dank ihrer vermuteten Macht Staat und Gesellschaft bedrohen. Angesichts dieser Gefahr muss die Gleichberechtigung verweigert, eingeengt oder rückgängig gemacht werden. Es handelt sich hier zwar nicht um eine „Endlösung”, aber um eine „Apartheid”, die die geistigen Voraussetzungen für eine „Endlösung” enthält. Eine jüdische Bevölkerung gab es in den habsburgischen Ländern ab der Mitte des 13. Jahrhunderts, zuerst in Wien und den alpinen Regionen. Als Ungarn und die Länder der böhmischen Krone 1526 an Habsburg fielen, erweiterte sich das jüdische Siedlungsgebiet nach Norden und Osten. Mit einer jüdischen Bevölkerung von maximal 11.500 avancierte Prag zu einem der bedeutendsten Zentren jüdischer Kultur. Durch den Erwerb Galiziens im Laufe der polnischen Teilungen (1772-1795) verdoppelte sich die jüdische Bevölkerung des habsburgischen Herrschaftsgebietes. 1785 lebten schätzungsweise 70.000 Juden in Böhmen und Mähren, 80.000 in Ungarn und 215.000 in Galizien. 1910 gab es in der westlichen Reichshälfte der Doppelmonarchie („Cisleithanien“) 1.313.687 Einwohner jüdischen Glaubens. Von denen lebten 66 Prozent in Galizien, 14 Prozent in Wien, 11 Prozent in Böhmen, Mähren und Schlesien und 6,5 Prozent in der Bukowina. Vom 12. bis zum 18. Jahrhundert blieben Pogrome und Vertreibungen der Juden episodisch. Sie gingen gegebenenfalls vom jeweiligen Herrscher, vom städtischen Bürgertum, dem niederen Volke oder dem Klerus aus. Zu anderen Zeiten gestalteten sich Herrscher oder Kirche als Beschützer der Juden. Diese Episoden änderten nichts am ungleichen, aber zumeist statischen Verhältnis zwischen Juden und der christlichen Umwelt – ein Verhältnis, das erst durch die Aufklärung infrage gestellt wurde. Das Judenprivileg des Babenberger Herzogs Friedrich II. (1244) bot den zuziehenden Juden relativ günstige Rahmenbedingungen, vor allem im Erwerbsleben, die bis zur Wiener Geserah vom Jahre 1420/21 andauerten. Die Vertreibung der Juden Wiens durch Albrecht V. in diesen zwei Jahren gipfelte, nach jüdischer Ablehnung der angebotenen
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Oskar Mendelsohn, Jødenes historie i Norge gjennom 300 år [Geschichte der Juden in Norwegen durch 300 Jahre], 2 Bde., Oslo 1986.
Österreich Der Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts, d.h. eine programmatisch untermauerte Bewegung, die sich durch politische Parteien, Vereine und Presse ein permanentes Dasein sichert, ist von der vormodernen, meist religiös geprägten Judenfeindschaft zu unterscheiden, obwohl diese zwei Gattungen einige thematische Gemeinsamkeiten aufweisen. Das Phänomen, das wir als Antisemitismus kennen, hatte seinen Ursprung in der rechtlichen Gleichstellung („Emanzipation“) der Juden, die sich ab 1791, dem französischen Beispiel folgend, in Europa vollzog. Diese bezog sich nicht nur auf eine veränderte Rechtslage, sondern auch auf den allmählichen – und in Österreich weitreichenden – Eintritt in das Besitzbürgertum und in Berufe, die ihnen bis dahin verschlossen waren. In dieser Form begegnet man dem Judenhass nicht mehr als Emotion, die zu unsystematischen Gewaltausbrüchen führt, sondern als Rechtfertigung für politische Aktionen. Juden erscheinen als eine Gefahr, die dank ihrer vermuteten Macht Staat und Gesellschaft bedrohen. Angesichts dieser Gefahr muss die Gleichberechtigung verweigert, eingeengt oder rückgängig gemacht werden. Es handelt sich hier zwar nicht um eine „Endlösung”, aber um eine „Apartheid”, die die geistigen Voraussetzungen für eine „Endlösung” enthält. Eine jüdische Bevölkerung gab es in den habsburgischen Ländern ab der Mitte des 13. Jahrhunderts, zuerst in Wien und den alpinen Regionen. Als Ungarn und die Länder der böhmischen Krone 1526 an Habsburg fielen, erweiterte sich das jüdische Siedlungsgebiet nach Norden und Osten. Mit einer jüdischen Bevölkerung von maximal 11.500 avancierte Prag zu einem der bedeutendsten Zentren jüdischer Kultur. Durch den Erwerb Galiziens im Laufe der polnischen Teilungen (1772-1795) verdoppelte sich die jüdische Bevölkerung des habsburgischen Herrschaftsgebietes. 1785 lebten schätzungsweise 70.000 Juden in Böhmen und Mähren, 80.000 in Ungarn und 215.000 in Galizien. 1910 gab es in der westlichen Reichshälfte der Doppelmonarchie („Cisleithanien“) 1.313.687 Einwohner jüdischen Glaubens. Von denen lebten 66 Prozent in Galizien, 14 Prozent in Wien, 11 Prozent in Böhmen, Mähren und Schlesien und 6,5 Prozent in der Bukowina. Vom 12. bis zum 18. Jahrhundert blieben Pogrome und Vertreibungen der Juden episodisch. Sie gingen gegebenenfalls vom jeweiligen Herrscher, vom städtischen Bürgertum, dem niederen Volke oder dem Klerus aus. Zu anderen Zeiten gestalteten sich Herrscher oder Kirche als Beschützer der Juden. Diese Episoden änderten nichts am ungleichen, aber zumeist statischen Verhältnis zwischen Juden und der christlichen Umwelt – ein Verhältnis, das erst durch die Aufklärung infrage gestellt wurde. Das Judenprivileg des Babenberger Herzogs Friedrich II. (1244) bot den zuziehenden Juden relativ günstige Rahmenbedingungen, vor allem im Erwerbsleben, die bis zur Wiener Geserah vom Jahre 1420/21 andauerten. Die Vertreibung der Juden Wiens durch Albrecht V. in diesen zwei Jahren gipfelte, nach jüdischer Ablehnung der angebotenen
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Taufe, in einem vielfachen Freitod und der Verbrennung der mehr als 200 übrig gebliebenen Juden auf dem Scheiterhaufen. Mittlerweile hatte es auch lokale Verfolgungen gegeben. Blutige Ausschreitungen gab es im Jahr 1293 in Krems auf Grund einer Ritualmordverdächtigung, die erste aber keineswegs die letzte ihrer Art, im Jahr 1338 von Pulkau in Niederösterreich ausgehend auf Grund einer angeblichen Hostienschändung. Weitere Ritualmordbeschuldigungen tauchten in Tirol auf, 1475 in Trient und 1651 wegen des 1462 angeblich ermordeten Andreas („Anderl”) Oxner in Rinn. Beide Orte (vgl. Karte 2) blieben Ziele von Wallfahrten bis spät in das 20. Jahrhundert. Die offizielle Wiederzulassung einer Wiener jüdischen Gemeinde durch Ferdinand II. im Jahr 1624 in einem Ghetto in der jetzigen Leopoldstadt endete 1670 mit einer neuerlichen Vertreibung durch Leopold I. Stärkster Gegner einer jüdischen Ansiedlung war der Wiener Magistrat. 1637 forderte er, dass „kein Jud zu ewigen Zeiten allhie in der Statt“ geduldet werden solle. Es war auch der Druck des Wiener Bürgertums sowie des Wiener Neustädter Bischofs Graf Kollonitsch, dem Leopold II. wich. Die allmähliche Verschlechterung der Lage der österreichischen Juden hatte mehrere Ursachen. Sie spiegelten Entwicklungen in der christlichen Theologie: Der Glaube an Ritualmord oder Hostienschändung wuchs, indem die Kirche die physischen Leiden Christi und die Transsubstantiation in zunehmendem Maße betonte. Von außen kommende politische Gefahren – die Hussitenkriege um 1420 und die Türkenkriege um 1670 – boten ebenso Anlass für intolerantes Handeln. An finanziellen Beweggründen für Gewalttätigkeiten fehlte es nie. Durch die fortschreitende Ghettoisierung und den Zwang, eine besondere Tracht zu tragen (1551 von Ferdinand I. verordnet) lebten die Juden immer mehr abgesondert. Umso leichter wurde es daher, Phantastisches über sie zu glauben. Aufgrund dieser Entwicklungen setzte im Zeitalter der Gegenreformation und des Barock eine gewohnheitsmäßige Abneigung gegen Juden ein, die durch volkstümliche Kultur, z.B. Passionsspiele, Bänkellieder, Holzschnitte und Volkspredigten an Verbreitung gewann. Einer der einflussreichsten Prediger, dessen derber Ton lange Zeit bei judenfeindlichen Themen maßgeblich war, war der Augustinermönch Hans Ulrich Megerle (Abraham a Sancta Clara), für den „die verzweyffelte Juden“ als der „Abflaum aller gottlosen und ungläubigen Leuthe“ galten. Die Rolle der Herrscher war überwiegend opportunistisch. Die Erhaltung von Ruhe und Ordnung galt ihnen als oberste Priorität. Gewalttätige Ausschreitungen wurden daher nicht geduldet. Illustrativ für die Zwiespältigkeit der habsburgischen Politik war Kaiserin Maria Theresia. Einerseits kannte sie „keine ärgere Pest im Staate als diese Nazion“ und vertrieb die Juden aus Prag im Jahr 1770. Andererseits erkannte sie die wirtschaftliche Nützlichkeit der Juden und förderte durch ihre Judenordnungen die Gründung von Handelsfirmen und Manufakturen. Den Ungereimtheiten der Maßnahmen seiner Vorgänger setzte sich Joseph II. im Namen der Aufklärung entgegen. Seine Toleranzpatente für die verschiedenen Kronländer (1782-1789) sind im Kontext seiner allgemeinen Reformpolitik zu sehen. So wie er der Leibeigenschaft ein Ende machte, schaffte er die jüdische Leibmaut (Leibzoll) ab, eröffnete den Juden weitere Wirtschaftszweige und verbesserte ihre Rechtslage – all dies gegen die Widerstände verschiedener Landstände und des Wiener Magistrats. Mangels einer interessierten Öffentlichkeit in Österreich zu diesem Zeitpunkt gab es, im Vergleich
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zu Frankreich oder Preußen, keine weitverbreitete Publizistik für oder gegen die kaiserliche Reformpolitik. Auch während der napoleonischen Kriege und nach der Reaktion blieb es um die „Judenfrage“ ziemlich still. Nachdem es der Regierung Metternichs gelang, alle nationalistischen oder emanzipatorischen Regungen zu unterdrücken, gab es auch weniger Anlass, den Status der Juden als Angehörige einer Volksgruppe oder als Staatsbürger zur Debatte zu stellen. All dies änderte sich schlagartig im Revolutionsjahr 1848. Der Antisemitismus bedarf einer politischen Öffentlichkeit, die erst in diesem Jahr in Österreich erwachte, um in der Lage zu sein, das Publikum zu mobilisieren. Er bedarf außerdem einer Auseinandersetzung über die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte der jüdischen Bevölkerung sowie einer auffallenden Teilnahme jüdischerseits am öffentlichen Leben. Auch diese Bedingungen wurden erst im Revolutionsjahr erfüllt. Während eine Judenemanzipation Teil der revolutionären Forderungen bildete, gab es auch Gegenstimmen, deren Argumente langfristig die Themen des politischen Antisemitismus bestimmen sollten. Sie waren sowohl religiöser als auch ökonomischer Art. Vor allem provozierte der zumeist demokratische und antiklerikale Ton vieler von Juden redigierten Zeitungen einen Gegenangriff. So gab es Klagen über die jüdische „Parthei des Umsturzes“ und den „jung-israelitischen Schreiberschwarm“. Sebastian Brunner, Herausgeber der Wiener Kirchenzeitung, prägte auch den später populären Ausdruck „Judenpresse“. Gegen eine Liberalisierung der Wirtschaft wandte sich die Innung der bürgerlichen Schuhmacher, die eine weitere Verschlechterung ihrer Lage durch eine Judenemanzipation befürchtete. Vereinzelt waren auch Stimmen gegen „asiatische Fremdlinge” (Matthias Koch) und „Semiten” (Brunner) zu vernehmen. Kurzfristig hatte dieses judenfeindliche Schrifttum geringen Einfluss. In den darauf folgenden vom Liberalismus geprägten Jahrzehnten fristeten Antisemiten eine eher unterirdische Existenz. Langfristig bestimmten sie aber das Programm und die Rhetorik der späteren antisemitischen Bewegung. Der österreichische Antisemitismus als Massenbewegung bekam seinen Ansporn durch die Wirtschaftskrise der späten siebziger und frühen achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Er wurde aus drei verschiedenen Richtungen gespeist, die mit der Zeit in einem, wenn auch brüchigen judenfeindlichen Konsens in der österreichischen Gesellschaft mündeten. Der führende Sprecher der sozialkonservativen Richtung war Karl Freiherr von Vogelsang, ab 1875 Leiter der Tageszeitung „Das Vaterland“. Er hatte sich nie mit dem „liberalen Umschwung [der] durch und durch von jüdischen Geiste durchzogen ist”, dem er auch die Schuld an den wirtschaftlichen Missständen zuwies, abfinden können. Nichts veranschaulichte besser das neue Thema des Juden als gefährlichen Machthaber. Noch mehr Aufsehen erregte der Prager Theologieprofessor August Rohling, dessen mehrmals aufgelegte, aber bald diskreditierte Schrift „Der Talmudjude“ die Gleichberechtigung zu unterminieren versuchte mit dem Argument, Juden seien nicht an ihren Eid gebunden. Als Nachkomme einer kleinbürgerlich-demokratischen Richtung wurde die „Gesellschaft zum Schutz des Handwerks“ 1880, ab 1882 „Österreichischer Reformverein“, gegründet, dessen Antiliberalismus von Anfang an stark antisemitisch gefärbt war. Ursprünglich umfasste die Handwerkerbewegung sowohl christliche als auch ehemalige liberale Befürworter eines Wirtschaftsprotektionismus. Als sie sich gemeinsam mit
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den Sozialkonservativen Ende der 1880er Jahre in einen „Christlich-sozialen Verein” umwandelte, schieden die meisten Ex-Liberalen aus. Die einflussreichste Figur dieser Richtung war Georg Ritter von Schönerer. Dieser forderte 1885, in einem Zusatz zum „Linzer Programm” des Deutschnationalen Vereins, „die Beseitigung des jüdischen Einflusses auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens”. Mit dieser Forderung setzte er sich an die Spitze der radikalsten, völkisch-rassistischen Tendenz des Antisemitismus, die sich nicht nur gegen den Wirtschaftsliberalismus, sondern auch die staatserhaltende Rolle der österreichischen Juden richtete. Bis zum Ende der Monarchie blieb Schönerer ein Massenerfolg versagt. Er war eher einer der Pioniere eines radikal antidemokratischen Populismus, der sich als ein Merkmal der Politik des 20. Jahrhunderts erweisen sollte. Seine Gefolgschaft fand er vor allem in den farbentragenden Korporationen der Studentenschaft, die 1896 beschlossen, Juden die Satisfaktion zu verweigern. Auch im provinziellen Bürgertum und der Beamtenschaft gewann er Anhänger, mit dem Ergebnis, dass viele bürgerliche Vereine, wie Turnvereine oder der Alpenverein einen „Arierparagraphen” verhängten. Ungleich erfolgreicher in der Bearbeitung des neuen politischen Massenmarktes war die christlich-soziale Bewegung, vor allem nachdem sie 1887 im ehemaligen Demokraten Dr. Karl Lueger einen unwiderstehlichen Volkstribun gewann. Sein Antisemitismus war im Unterschied zu vielen seiner Gefolgsleute opportunistisch und nie der einzige Bestandteil seines Programms. Der Antisemitismus seiner Partei war aber während ihres Aufstiegs und ihrer Machtausübung nicht wegzudenken. Trotz der Bedenken der katholischen Hierarchie und des Widerstandes des Kaisers Franz Joseph, aber dank der Unterstützung des niederen Klerus und dem Wohlwollen des Vatikans, gelang es der Christlichsozialen Partei, 1895 die Mehrheit im Wiener Gemeinderat zu gewinnen. Von 1897 bis zu seinem Tod 1910 war Lueger Bürgermeister der Reichshauptstadt. Nach der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts (1905) wurde die Christlichsoziale Partei die stärkste deutsche Partei im Reichsrat. Das Aufkommen einer erfolgreichen antisemitischen Massenbewegung war der Unzeitmäßigkeit der politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Österreich zuzuschreiben. Die Politik der Massen wuchs innerhalb einer weitgehend vor-industriellen ökonomischen Struktur. Es war daher nicht schwer, die latent stets vorhandenen judenfeindlichen Regungen neu zu instrumentalisieren. Mit traditionellen Zielsetzungen, aber mit modernen agitatorischen Methoden gelang der antisemitischen Bewegung ein Durchbruch, der analogen Bewegungen anderswo in Europa verschlossen blieb. Trotz der Wahlerfolge von Parteien mit antisemitischen Programmpunkten blieb die Gleichberechtigung der Juden, wie sie seit 1867 festgesetzt war, unangetastet. Eine Rückdrängung der Juden in ein vermeintliches oder reales Ghetto wäre zu diesem Zeitpunkt nicht praktikabel gewesen; zu eng waren die Institutionen, die mit Juden identifiziert waren, mit dem täglichen Leben verflochten. Stillschweigende Diskriminierungen gab es immerhin. Ohne Taufe war es nicht leicht, in den Staatsdienst einzutreten oder dort befördert zu werden. Der Antisemitismus der letzten Jahrzehnte der Monarchie war ein Schlagwort und ein Code, kein Aktionsprogramm. Seine Praktiker, Geistliche sowie Laien, waren in ihrer derben und volkstümlichen Demagogie die direkten Nachkommen von Abraham a Sanc-
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ta Clara. Wie tief die auf diese Art erzeugte antisemitische Grundstimmung in das Bewusstsein der Bevölkerung drang, wie ausschlaggebend sie für politische Entscheidungen oder soziales Handeln war, lässt sich rückblickend schwer erfassen. Dass dieser Antisemitismus es zumeist bei Worten beließ, denen keine Taten folgten, darf nicht über seine Auswirkung auf das öffentliche Empfinden und auf alltägliche Gedankengänge hinwegtäuschen. Die allgemeine Radikalisierung der Politik, die als Folge der sozialen und nationalen Spannungen während des Ersten Weltkrieges, des Endes der Monarchie und der revolutionären Unruhen von 1918/19 eintrat, bedeutete auch eine Verschärfung des Antisemitismus. Dazu war der geschwächte Staat der Republik nicht immer in der Lage oder gewillt, antisemitischer Gewalt entgegenzutreten, z.B. den Angriffen auf die Teilnehmer des Zionistischen Kongresses von 1925 oder den regelmäßigen Verprügelungen jüdischer Studenten an den Wiener Hochschulen. Als nach dem Ende der Monarchie die Christlichsozialen kein übernationales Staatsgebilde mehr unterstützen mussten, gab es bei ihnen eine Annäherung an die gemäßigten Deutschnationalen, jetzt in der „Großdeutschen Volkspartei“ vereinigt. Schon vor 1914 hatte sich der politische Antisemitismus zunehmend gegen die „verjudete“ Sozialdemokratie gewandt. Als diese 1918 einen Machtanspruch verkündete und das neue Österreich eine vom Staatsrechtler Hans Kelsen konzipierte Verfassung annahm, vermehrten sich die Ressentiments gegen „den wahren absoluten Souverän unserer elenden Judenrepublik” (Anton Orel). Als Gegenwehr zur Verwirklichung des Prinzips der Rechtsgleichheit bildeten sich Vereinigungen wie der „Deutsch-österreichische Schutzverein Antisemitenbund” und die „Deutsche Gemeinschaft”, in denen Christlichsoziale und Deutschnationale zusammenarbeiteten. 1930 versuchte die Universität Wien im Namen einer „Volksbürgerschaft“ einen „numerus clausus“ einzuführen. Das Verlangen nach einem Fremdenrecht für Juden war weit verbreitet. Der Vorsitzende der „Christlichsozialen Partei“ und zeitweiliger Unterrichtsminister Emmerich Czermak war der Meinung, Juden sollten „in unserer nationalen Kultur … nicht anders denn als Gäste sprechen“. Auch die dritte politische Kraft im Lande, die Sozialdemokratie, litt an Ambivalenzen in der „Judenfrage“ in der Republik, ebenso wie früher in der Monarchie. Sie bekämpfte zwar den agitatorischen Antisemitismus und trat gegen jede Diskriminierung ein. Ihr Anti-Antisemitismus wirkte aber nicht immer korrigierend. Gerade weil Juden so prominent in den obersten Rängen der Partei waren, war sie stets darauf bedacht, nicht als „Judenschutztruppe“ zu erscheinen. Das antikapitalistische Vokabular der Partei und die Karikaturen in ihren Publikationen trugen häufig – bewusst oder unbewusst – zur Verstärkung des negativen Stereotyps des Juden bei. Die Machtübernahme Hitlers in Deutschland bereitete österreichischen Judengegnern ein Dilemma. Im deutschnationalen Lager wurde sie begrüßt, nicht nur wegen des antisemitischen Programms der Nationalsozialisten. Vielen im katholischen Lager hingegen bedeutete das „Dritte Reich“ ein Ende von großdeutschen Träumen und Anschlussgedanken. Wer so dachte, musste logischerweise die Juden Österreichs als Verbündete gegen einen „braunen“ Anschluss betrachten, was manchen Christlichsozialen und manchen Juden nicht leicht fiel. Ein weiterer Ausweg bot sich in einer differenzierten Judenfeindschaft. In einem Hirtenbrief, den der Linzer Bischof Johannes Gföllner neun Tage vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler verkündete, verwarf dieser zwar den „Ras-
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segedanken“, betonte aber, dass es „nicht nur gutes Recht, sondern strenge Gewissenspflicht eines jeden überzeugten Christen“ sei, „das entartete Judentum in Bunde mit der Weltfreimaurerei“ zu bekämpfen. Durch den „Anschluss“ Österreichs an das „Dritte Reich“ im März 1938 erstreckten sich die judenfeindlichen Maßnahmen des Hitler-Regimes auf die „Ostmark“ (vgl. Karte 6), taten es aber auf besondere Art. Die massenhaften Gewalttaten, Demütigungen und wilden „Arisierungen“, denen Juden nun ausgesetzt waren, unterstrichen, wie weitverbreitet die Ablehnung rechtsstaatlicher Normen in der Bevölkerung war. Dies zeigte sich auch in der überdurchschnittlichen österreichischen Vertretung in den Organen der Verfolgung und des Genozids, wie NSDAP, SA und SS, sowie bei führenden Vollstreckern der „Endlösung“, wie Adolf Eichmann, Odilo Globocnik, Ernst Kaltenbrunner, Alois Brunner oder Franz Stangl. Während ungefähr zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung sich durch Emigration retten konnten, wurden 60.000 Juden deportiert und ermordet. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte der Antisemitismus nicht mehr so offen ausgetragen werden wie früher. Er existierte weiter, wenn auch nun versteckt und in leicht verständlichen Codierungen verkleidet. Es gibt ein Gesetz gegen die Wiederbelebung des Nationalsozialismus, unter der auch die Holocaustleugnung sanktioniert wird. Die These, dass Österreich das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen sei, stand lange Zeit einem Ansatz zur Vergangenheitsbewältigung im Weg. Wellen des Antisemitismus kamen aus verschiedenen Anlässen auf: der „displaced persons” in den Nachkriegsjahren, der Forderungen zur Wiedergutmachung, der Kontroverse um die Präsidentschaftskandidatur Kurt Waldheims und des Aufstiegs der Freiheitlichen Partei unter Jörg Haider. Andererseits sind eine aufrichtige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und eine Gegenwehr gegen rassistisches Gedankengut eingetreten, die stärker sind als im 19. oder früheren 20. Jahrhundert.
Peter Pulzer
Literatur Gerhard Botz u.a. (Hrsg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Wien 2002. Klaus Lohrmann, Zwischen Finanz und Toleranz. Das Haus Habsburg und die Juden. Ein historischer Essay, Graz 1977. Bruce Pauley, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993. Peter Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867-1914, Göttingen 2004. Herbert Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938-1945, Wien 1978. Heinz P. Wassermann, Antisemitismus in Österreich nach 1945. Ergebnisse, Positionen und Perspektiven der Forschung, Innsbruck 2002. Robert S. Wistrich (Hrsg.), Austrians and Jews in the Twentieth Century. From Franz Joseph to Waldheim, London 1992. Ruth Wodak u.a., “Wir sind alle unschuldige Täter!”. Diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus, Frankfurt am Main 1990.
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Osmanisches Reich Das Osmanische Reich verdankte seine im 16. Jahrhundert etwa 150.000 jüdischen Bewohner (3 Prozent der Bevölkerung) überwiegend den Pressionen und Vertreibungen gegenüber Juden und ehemals jüdischen Konvertiten im christlichen Europa. Die Sultane betrieben von Anbeginn eine aktive Siedlungspolitik, um die neu eroberten Städte aufzubauen. Hierzu wurde neben Zwangsumsiedlungen vom Land und aus Kleinstädten unter osmanischer Hoheit auch eine aktive Propaganda unter mitteleuropäischen Aschkenasen und ab 1492 unter den vertriebenen Sepharden betrieben. Die aus Spanien, Portugal und nach Zwischenaufenthalten auch aus vielen italienischen Staaten ausgewiesenen spanischsprachigen Juden sowie die später unter dem Druck der Inquisition vertriebenen sephardischen Konvertiten assimilierten bald die ortsansässigen rumeliotischen (byzantinischen) und teilweise die arabischsprachigen Juden. Große jüdische Gemeinden bildeten sich in Bagdad und Kairo, während die größte jüdische Bevölkerung sich in Istanbul (1535 56.490 bzw. 5 Prozent) befand. Einzigartig war ferner die Hafenstadt Saloniki, deren 24.000 jüdische Einwohner 1589 die Bevölkerungsmehrheit darstellten. Die Juden des Osmanischen Reiches hatten im Prinzip denselben rechtlichen Status als „Schutzbefohlene“ (dhimmi) wie die christlichen Gemeinschaften. Aufgrund der gemeinsamen Grundlage ihrer Religionen mit dem Islam hatten Juden und Christen Anrecht auf einen bedingten Schutz ihrer Religion und ihrer Gemeinden, wenn sie auch in der Ausübung ihres Kultus und im täglichen Leben gewissen diskriminierenden Regeln unterworfen waren: Einschränkungen durch Kleider-, Bau-, Waffen-, Reitverordnungen, die aber nicht immer durchgehend angewandt wurden. Eine Kopfsteuer wurde als Gegenleistung für den gewährten Schutz und die Ausnahme von der Militärpflicht erhoben. Die „dhimmi“ waren durch den Staat in verschiedenen „millets“ zusammengefasst, die im Prinzip mit den Konfessionen übereinstimmen sollten und die Aufgaben hatten, das Steuerkontingent ihrer Gemeinde zu gewährleisten und die eigenen Angehörigen zur Einhaltung der osmanischen Gesetze anzuhalten. Im Austausch wurde den nichtmuslimischen Gemeinschaften Autonomie in der Regelung ihrer internen Angelegenheiten zugestanden, wie Bildung, Sozialwesen und niedere Gerichtsbarkeit in Fällen, in denen keine Angehörige anderer Konfessionen oder Staatsbelange betroffen waren. Diese Aufgaben fielen im Fall der jüdischen Gemeinschaft in jeder Stadt einem Großrabbiner (hahambaşı) zu. Im Vergleich mit ihrer Situation in Europa waren die Juden so im Osmanischen Reich Gleiche unter Ungleichen. Sie durften sich in den meisten Handwerken, Dienstleistungen und Handelsbereichen betätigen, lediglich die Armee und der höhere Staatsdienst waren Muslimen vorbehalten. Der Staat betrieb nur in Ausnahmefällen Konversionsdruck. Während die Handels- und Geschäftsviertel der meisten osmanischen Städte keine Segregation kannten, existierten auch im Osmanischen Reich oft jüdische Wohnviertel. Dies war jedoch nicht Ergebnis einer gezielten Ghettoisierungspolitik, sondern Ausdruck der „millet“ als Organisationsprinzip des geistlichen und sozialen Lebens, nach dem die Stadtbewohner in Nähe zu den Gebetshäusern, Schulen und Autoritäten ihrer Gemeinde wohnen sollten. Auch das weit verbreitete Absperren einzelner Straßenzüge bei Nacht
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Karte 2: Osmanisches Reich
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diente nicht dem Zweck, eine Religionsgemeinschaft abzusondern, sondern die Sicherheit einer unmittelbaren Nachbarschaft zu gewährleisten. Eine Ausnahme in der weitgehenden Tolerierung der Juden durch den Osmanischen Staat stellt die Bewegung um Sabbatai Zwi (1625-1676) dar. Dieser in Smyrna geborene Jude wurde zum charismatischen Anführer einer apokalyptischen Bewegung, die ihn zum Messias erklärte. Diese Bewegung wurde für den osmanischen Staat zum Ordnungsproblem, da sie gegen zwei Prinzipien verstieß: Zum einen bedrohte eine charismatische Bewegung die Zuordnung der Menschen zu den hierarchisch organisierten religiösen Gemeinschaften, die in den Augen der Behörden eine stabilisierende und staatlich notwendige Aufgabe übernahmen. Zum anderen stellte eine auf dem Judentum basierende werbende religiöse Bewegung die Vorherrschaft des Islam im öffentlichen Raum in Frage, vor allem da Sabbatai Zwi sich selbst als König verehren ließ und den Sturz des Sultans angekündigt hatte. Er wurde unter Androhung der Todesstrafe zur Konversion zum Islam aufgefordert. Nachdem er und viele seiner Anhänger dieser Aufforderung Folge geleistet hatten und somit das Primat des Islam anerkannt und die staatlichen Hierarchien stabilisiert waren, duldeten die Behörden, dass diese Bewegung eigene Gemeinden bildete, die auf eklektische Weise islamische und jüdische Elemente mit ihren eigenen Lehren verbanden und bis ins 20. Jahrhundert als von anderen Muslimen distinkte Gruppen agierten (ma’min, türk. Dönme). Doch trotz der Abwesenheit systematischer oder zentral gelenkter antijüdischer Maßnahmen kam es auch im Osmanischen Reich zu wiederholten, phasenweise und örtlich erdrückenden Übergriffen gegenüber Juden. Diese speisten sich oft aus der Konkurrenz mit anderen Gruppen um einflussreiche Positionen in der Gesellschaft und am Hof. Während im 15. und 16. Jahrhundert das Osmanische Reich rasch expandierte und die finanziellen, diplomatischen und technischen Kenntnisse der iberischen Juden für das noch junge Weltreich willkommen waren, waren die Juden im 17. und 18. Jahrhundert, als die Expansion zum Stillstand kam, einer harten Konkurrenz und teilweise Pressionen ausgesetzt. Aus christlicher Sicht erschienen die Juden als Hauptnutznießer und Unterstützer muslimischer Herrschaft, die aber eine leichtere Zielscheibe als die Muslime selbst darstellten. Eine gewisse Sicherheit gegenüber Pressionen konnten einzelne jüdische Persönlichkeiten erreichen, die im Umfeld des Sultans Einfluss ausübten. Mit dem Verlust einflussreicher Positionen und dem zunehmenden Unvermögen des Hofs, sich gegenüber den nachgeordneten Instanzen und den Provinzmachthabern durchzusetzen, versagte oft auch dieser Schutz. Besonders existentiell bedrohlich waren die Übergriffe der Janitscharentruppen, die aus Zwangsrekrutierungen und Zwangsbekehrungen unter der christlichen Bevölkerung (devşirme – Knabenlese) hervorgegangen waren. Da Janitscharen oft ohne oder nur mit unzureichendem Sold dastanden, entwickelten sie eigene Praktiken, um zusätzliche Einnahmen zu erzielen. Diese richteten sich nicht ausschließlich gegen Juden. Da die Janitscharen jedoch bemüht waren, eine populäre Basis in den städtischen Unterschichten zu mobilisieren, flossen oft deren Ressentiments in ihre Motivation ebenso ein wie die relative Schutzlosigkeit der Juden. So konnten Janitscharentruppen in den ersten zwei Jahrzehnten nach der Einnahme Kairos 1517 die jüdischen Stadtviertel plündern, bis örtliche jüdische Kaufleute sich als Zwischenhändler für die Kriegsbeute der Janitscharen anbo-
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ten und im Gegenzug die Einstellung der Überfälle aushandeln konnten. Die jüdischen Viertel Salonikis wurden im 18. Jahrhundert zehn Mal durch Janitscharen, teilweise unter Beteiligung der übrigen Bevölkerung, geplündert, aus so unterschiedlichen Anlässen wie Staatsstreichen, ausbleibendem Sold, Truppendurchzügen oder Erdbeben. Weitgehend willkürlich erhobene Sonderabgaben durch Janitscharen und aus der „devşirme“ hervorgegangenen zivilen Würdenträgern wie eine Verdoppelung der Steuern auf jüdische Gilden oder Zwangsarbeiten im Straßenbau bzw. auf den Gütern einzelner Janitscharen ergänzten die Ausbeutung auf weniger spektakuläre Weise. In der arabischen Reichshälfte erreichten die Mamluken, eine aus ehemaligen Sklaven hervorgegangene Verwaltungselite, eine ähnliche Mischung aus direkter Gewalt und diskriminierenden Vorschriften, die auf einer populären antijüdischen Stimmung, ausgehend von der Kritik an bestimmten jüdischen Kaufleuten und Steuerpächtern fußte. Auch auf dem Balkan stellten semi-unabhängige Provinzstatthalter eine Gefahr da. Der Tod des abtrünnigen Gouverneurs von Vidin, Osman Pasvanoğlu, im Jahre 1807 wurde beispielsweise seinem jüdischen Arzt angelastet und zog ein Massaker im jüdischen Viertel nach sich. In der christlichen Bevölkerung kamen zur Rivalität um einflussreiche Stellungen in Gesellschaft und Staat noch tradierte Auffassungen dazu, nach denen die Juden Feinde der Griechen und der Christen seien und bei den osmanischen Eroberungen und der Aufrechthaltung der Staatsmacht aktive Beihilfe geleistet hätten. So kam es, insbesondere zu den Oster- und Pessachfeiertagen zu Ritualmordvorwürfen und Ausschreitungen, an denen sich teilweise auch Muslime beteiligten. Der erste bekannte Fall ereignete sich um 1530 im nordanatolischen Amasya. Die armenischen Notabeln erreichten bei den örtlichen Behörden die Hinrichtung des Rabbiners und mehrerer jüdischer Würdenträger, denen der angebliche Ritualmord angelastet wurde. Die armenischen Anzeiger wurden jedoch ihrerseits bestraft, als das verlorene Kind nach den Hinrichtungen aufgefunden wurde. Als es im benachbarten Tokat zu Ostern zu einer ähnlichen Empörung unter Griechen kam, erließ Süleyman I. (der Prächtige, 1520-1566) auf Drängen der jüdischen Gemeinde eine Verordnung, die die Gerichtsbarkeit bei Ritualmordanklagen den lokalen Gerichten entzog und unmittelbar dem Reichsrat unterstellte. 1663 bezichtigten zwei erst kürzlich zum Islam übergetretene Janitscharen die Juden des Istanbuler Viertels Balat, den Sohn des Einen getötet zu haben, worauf ein überwiegend aus Griechen rekrutierter Mob das Viertel plünderte und fast zwanzig Menschen tötete. Als der Vater des Kindes als eigentlicher Mörder überführt wurde, wurden beide Janitscharen auf Geheiß des Großwesirs hingerichtet. Der Vorwurf der Komplizenschaft mit den Osmanen wurde bei separatistischen Aufständen und Einfällen christlicher Heere oft zum Anlass, dass Juden und Muslime zusammen massakriert oder ihre Viertel zerstört wurden, unter anderem beim Loslösungsversuch der Wallachei 1593 in Bukarest, 1679 bei der Besetzung Sarajevos durch Eugen von Savoyen, 1688 bei der Einnahme Budas durch die Habsburger und 1694 bei der venezianischen Besetzung von Chios. Das 19. Jahrhundert brachte zugleich Verbesserungen und Verschlechterungen mit sich. Einerseits konnte der Hof Militär und Provinzverwaltungen wieder besser kontrollieren und so mehr Sicherheit garantieren. 1839 wurde die prinzipielle Gleichheit aller
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Untertanen erklärt, was zur schrittweisen Aufhebung der diskriminierenden Kleider-, Bau- und Steuerordnungen führte und neue partizipative Chancen eröffnete. Zugleich beschleunigte sich jedoch der territoriale Verfall des Reiches durch ausländische Invasionen und Separationsbewegungen. Dies ging einher mit dem Aufkommen eines ethnischreligiös definierten Nationalismus, der für Juden keinen Platz ließ. Bereits 1801 führten Ritualmordvorwürfe und antijüdische Pamphlete zu Ausschreitungen in Bukarest. Die russischen Besatzer von Moldau und Walachei (1806-1812) führten antijüdische Gesetze ein. Russische Truppen brannten das Judenviertel von Rusçuk (Russe) nieder. Die serbischen Aufständischen gegen die Festung Belgrad wiesen vorübergehend alle Juden und Muslime aus der Stadt aus. Im Rahmen des griechischen Sezessionskriegs (1821-1830) wurden über 5.000 Juden neben Muslimen ermordet. Auch die Eroberung Bulgariens durch Russland 1876-1878 markierte muslimische und jüdische Zivilisten als Kriegsgegner, sodass Soldaten und Kosaken teilweise unter Beihilfe der örtlichen Bevölkerung die Gemeinden von Sofia, Vidin, Kazanlâk, Svištov, Stara Zagora und Nikopol angriffen und plünderten. Die Kriege wirkten sich auch unmittelbar auf die interreligiösen Beziehungen außerhalb der Aufstandsgebiete aus, und Juden wurden in die Auseinandersetzungen und wechselseitigen Massaker zwischen Christen und Muslimen hineingezogen. Als der Großwesir Benderli Ali Pascha als Reaktion auf den griechischen Aufstand den griechischen Patriarchen in Istanbul zu Ostern 1821 aufhängen ließ und einer Gruppe Juden befahl, den Leichnam zu beseitigen, führte dies zu reichsweiten Ausschreitungen. Infolge der interethnischen Spannungen im 19. Jahrhundert nahm die Anzahl der Ausschreitungen anlässlich von Ritualmordvorwürfen wieder deutlich zu. Herausragend unter diesen war der Pogrom von Damaskus 1840, der hunderte Tote zur Folge hatte. Hier flossen Enttäuschungen über die Niederschlagung der Herrschaft Mohamed Alis ein. Neun weitere solche Vorfälle fanden allein in Damaskus bis zur Jahrhundertwende statt. 1865 starben 300 Juden bei einem durch Griechen angestifteten Ritualmordpogrom im asiatischen Teil Istanbuls. Vor allem in Saloniki und Istanbul mit ihren großen jüdischen Bevölkerungen kam es im Gegenzug auch zu kollektiven Aktionen vonseiten der Juden. So führte das Verschwinden eines jüdischen Kindes 1839 in Saloniki zu einem stadtweiten Boykott gegen Christen. 1852 hatte eine Auseinandersetzung zwischen zwei betrunkenen Griechen und jüdischen Arbeitern, bei denen es zu einem Toten auf jeder Seite kam, monatelange Spannungen zur Folge, da die konfessionellen, staatlichen und ausländischen Machtinstanzen sich nicht auf eine friedliche Beilegung einigen konnten. Die Tatsache, dass sich manche Juden an Massakern durch Muslime beteiligten, beispielsweise an den Ausschreitungen in Istanbul gegen Armenier 1896 und 1908, machte die Gemeinden zu Zielscheiben für Vergeltungen. Gegen Ende des Jahrhunderts verfiel das Ideal eines modernen Gemeinwesens auf der Basis verfassungsmäßig garantierter Gleichheit zusehends. Der neoabsolutistisch regierende Sultan Abdülhamid II. (1876-1909) versuchte, dem Reich einen Türken und Araber verbindenden muslimischen Charakter zu verleihen. Dies brachte ihn in Konflikt mit den Zionisten, da er auf die berechtigten Sorgen der Einheimischen wegen der ost- und mitteleuropäischen jüdischen Siedler im Heiligen Land reagieren musste und sich als Wächter der muslimischen heiligen Stätten in der Region bewähren wollte. Deren Zahl
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betrug Ende des 19. Jahrhunderts bereits Zehntausende. Zeitweise wurde ausländischen Juden die Einreise nach Syrien/Palästina nur unter schweren Auflagen erlaubt oder ganz verweigert. Unter jungtürkischen Oppositionellen setzte sich ein noch engerer Identitätsbegriff durch, der auf einer einheitlichen Herkunft des Staatsvolkes aus Zentralasien basierte. Dieser frühe türkische Nationalismus (Ziya Gökalp, Tekin Alp, ? Türkei) nahm Inspirationen aus der französischen Ethnologie, der deutschen völkischen Rechten und russischer volkstümlicher Bewegungen auf, die gemäß dem Zeitgeist sich an Nationalcharakteren und dem Konzept der im sozialdarwinistischen Kampf antagonistisch miteinander wetteifernden Völker orientierten. Als Anderes dieser imaginierten Nation galten die nichtmuslimischen Minderheiten, denen ihre beherrschende Stellung im Handel vorgeworfen wurde. Bilder, wie sie im westeuropäischen Antisemitismus üblich waren, wurden im spätosmanischen Kontext auf Juden, Griechen und vor allem Armenier angewandt – so die Figur des geldgierigen Krämers, der die unbescholtene Landbevölkerung ausbeutet, oder der vaterlandslose internationale Kapitalist. Deutsche Turkophile unterstützten zum Teil aktiv diese Stereotypenbildung. Die Wiedereinführung der Verfassung (Jungtürkenrevolution 1908) schuf Hoffnungen, dass das Reich ein Staat für alle ethnischen und religiösen Gruppen werden könne. Doch nach kurzer Pause nahmen die nationalistischen Unruhen wieder zu, bis im Rahmen des ersten Balkankriegs (1912) serbische, bulgarische und griechische Truppen die europäische Türkei eroberten und vielerorts Muslime und teilweise auch Juden töteten. Vor allem in Saloniki plünderten die Besatzungstruppen und übten Gewalt aus, obwohl die Stadt kampflos übergeben worden war. Die Balkankriege führten auch die politischen Kräfte im verbliebenen Reich dazu, die konstitutionelle Staatsidee aufzugeben und endgültig auf ein autoritär geprägtes muslimisch-türkisches Gemeinwesen zu setzen. In der Presse intensivierte sich eine Kampagne, die die Nichtmuslime zu Staatsfeinden deklarierte, Rücksichten auf die Sabbat- und Sonntagsruhe zu streichen und ein türkisches Handelsbürgertum zu etablieren forderte, um Armenier, Griechen und Juden aus diesen Positionen zu vertreiben. Diese Haltung schlug sich jedoch zunächst in Vertreibungen von Griechen nieder (die 1914 aus außenpolitischen Rücksichten eingestellt wurden) und dann ab 1915 vor allem gegen Armenier, die durch das diktatorische Regime während des Weltkrieges massenhaft und systematisch deportiert und ermordet wurden. Erst in der Türkischen Republik wurden auch Juden verstärkt Opfer von ausgrenzenden Maßnahmen.
Malte Fuhrmann und Florian Riedler
Literatur Selim Deringil, The Ottomans, the Turks, and World Power Politics. Collected Essays, Istanbul 2000. Eyal Ginio, Mobilizing the Ottoman Nation during the Balkan Wars (1912-13) – Awakening from the Ottoman Dream, in: War In History, 12(2005), S.156-177. Hans-Lukas Kieser, Die Herausbildung des nationalistischen Geschichtsdiskurses in der Türkei (spätes 19. – Mitte 20. Jahrhundert), in: Marus Krzoska, Hans-Christian Maner (Hrsg.),
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Beruf und Berufung. Geschichtswissenschaft und Nationsbildung im Ostmittel- und Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2005, S.59-98. Bruce Masters, Christians and Jews in the Ottoman Arab World. The Roots of Sectarianism, Cambridge 2001. Mark Mazower, Salonica: City of Ghosts. Christians, Muslims and Jews 1430-1950, London 2004. Stanford J. Shaw, The Jews of the Ottoman Empire and the Turkish Republic, New York 1991.
Palästina Im Konflikt um Israel/Palästina stehen sich religiöse und politische Interessen gegenüber. Dennoch lässt sich die Konfliktgeschichte nicht auf einen Gegensatz von rational begründeten Interessen reduzieren. In den Konfliktdeutungen der muslimischen und christlichen Bevölkerung gewannen antisemitische Denkmuster im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer stärker an Bedeutung. Konkurrenzen um Land, ökonomische Ressourcen und religiöse Geltungsansprüche vermischten sich mit Vorstellungen eines überhistorischen Konfliktes, in dem sich die arabische Bevölkerung einer vermeintlich monolithischen jüdischen Bedrohung gegenübersah.
Religiöse Beziehungen an der Schwelle zur Moderne Die Bedeutung Palästinas für Judentum, Christentum und Islam beschränkt sich nicht auf Heiligtümer und Orte, welche sich mit Ereignissen der jeweiligen religiösen Geschichte in Verbindung bringen lassen. Bis heute besitzt das „Heilige Land“ in den Lehren der drei monotheistischen Religionen eine besondere Symbolik, die über territoriale Herrschaftsansprüche hinausgeht. Während sich die geographischen Grenzen des jüdischen Eretz Israel, des christlichen Jerusalems und des islamischen al-Haram al-Sharif, dem heiligen Bezirk auf dem Tempelberg, unterscheiden, ähnelt sich der Stellenwert der Region im Selbstverständnis der jüdischen, christlichen und islamischen Glaubensgemeinschaften. Mit den Modernisierungsprozessen, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts im ? Osmanischen Reich angestoßen wurden, veränderten sich die Beziehungen zwischen den religiösen Gemeinschaften. Die Grenzen dieser Gemeinschaften waren keineswegs klar umrissen, sondern unterlagen beständigen Verschiebungen, die mit den Reformen der Tanzimat-Epoche (1839-1876/8) weiter forciert wurden. Die Organisation der Konfessionen in „millets“ beförderte die Gemeinschaftsbildung entlang religiöser Loyalitäten. Gleichzeitig bedeutete die rechtliche Gleichstellung aller Subjekte des Osmanischen Reiches einen zumindest formalen Bruch mit den Benachteiligungen, die zuvor im System der „dhimma“ festgeschrieben waren. Die Betonung der formalen individuellen Gleichheit veränderte dabei nicht nur das Verhältnis zwischen den christlichen und jüdischen Minderheiten und der muslimischen Mehrheit. Auch im Verhältnis des Einzelnen zur konfessionellen Gemeinschaft hinterließen diese Veränderungen ihre Spuren.
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Beruf und Berufung. Geschichtswissenschaft und Nationsbildung im Ostmittel- und Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2005, S.59-98. Bruce Masters, Christians and Jews in the Ottoman Arab World. The Roots of Sectarianism, Cambridge 2001. Mark Mazower, Salonica: City of Ghosts. Christians, Muslims and Jews 1430-1950, London 2004. Stanford J. Shaw, The Jews of the Ottoman Empire and the Turkish Republic, New York 1991.
Palästina Im Konflikt um Israel/Palästina stehen sich religiöse und politische Interessen gegenüber. Dennoch lässt sich die Konfliktgeschichte nicht auf einen Gegensatz von rational begründeten Interessen reduzieren. In den Konfliktdeutungen der muslimischen und christlichen Bevölkerung gewannen antisemitische Denkmuster im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer stärker an Bedeutung. Konkurrenzen um Land, ökonomische Ressourcen und religiöse Geltungsansprüche vermischten sich mit Vorstellungen eines überhistorischen Konfliktes, in dem sich die arabische Bevölkerung einer vermeintlich monolithischen jüdischen Bedrohung gegenübersah.
Religiöse Beziehungen an der Schwelle zur Moderne Die Bedeutung Palästinas für Judentum, Christentum und Islam beschränkt sich nicht auf Heiligtümer und Orte, welche sich mit Ereignissen der jeweiligen religiösen Geschichte in Verbindung bringen lassen. Bis heute besitzt das „Heilige Land“ in den Lehren der drei monotheistischen Religionen eine besondere Symbolik, die über territoriale Herrschaftsansprüche hinausgeht. Während sich die geographischen Grenzen des jüdischen Eretz Israel, des christlichen Jerusalems und des islamischen al-Haram al-Sharif, dem heiligen Bezirk auf dem Tempelberg, unterscheiden, ähnelt sich der Stellenwert der Region im Selbstverständnis der jüdischen, christlichen und islamischen Glaubensgemeinschaften. Mit den Modernisierungsprozessen, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts im ? Osmanischen Reich angestoßen wurden, veränderten sich die Beziehungen zwischen den religiösen Gemeinschaften. Die Grenzen dieser Gemeinschaften waren keineswegs klar umrissen, sondern unterlagen beständigen Verschiebungen, die mit den Reformen der Tanzimat-Epoche (1839-1876/8) weiter forciert wurden. Die Organisation der Konfessionen in „millets“ beförderte die Gemeinschaftsbildung entlang religiöser Loyalitäten. Gleichzeitig bedeutete die rechtliche Gleichstellung aller Subjekte des Osmanischen Reiches einen zumindest formalen Bruch mit den Benachteiligungen, die zuvor im System der „dhimma“ festgeschrieben waren. Die Betonung der formalen individuellen Gleichheit veränderte dabei nicht nur das Verhältnis zwischen den christlichen und jüdischen Minderheiten und der muslimischen Mehrheit. Auch im Verhältnis des Einzelnen zur konfessionellen Gemeinschaft hinterließen diese Veränderungen ihre Spuren.
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Die Beziehungen zwischen den Gemeinschaften basierten nicht allein auf religiösen Überlieferungen und Traditionen. Für das Zusammenleben ebenso bedeutsam waren wirtschaftliche und politische Interessen, die die gegenseitigen Wahrnehmungen prägten. Die zunehmenden Einflussnahmen der europäischen Mächte, welche die osmanischen Herrscher im Laufe des 19. Jahrhunderts zu formalen Zugeständnissen gegenüber den einheimischen Christen und Juden nötigten, spiegelten sich im Alltag der religiösen Gemeinschaften. In der Wahrnehmung der muslimischen Bevölkerung verknüpften sich dabei die kolonialen Ambitionen der europäischen Staaten mit einem Bedeutungszuwachs der christlichen und jüdischen Minderheiten. Die gesellschaftliche Modernisierung, die mit einer Emanzipation der religiösen Minderheiten einherging, bedeute insofern eine Umkehr der aus dem religiösen Selbstverständnis abgeleiteten Dominanz der muslimischen Gemeinschaft.
Frühe arabische Reaktionen auf den Zionismus Die zionistische Einwanderung in den 1880er Jahren bekräftigte diese Verschiebungen der gemeinschaftlichen Strukturen. Die Ankunft von 20.000 bis 30.000 überwiegend osteuropäischen Einwanderern allein in der Zeit zwischen 1881 und 1903 stellte die bisherige Ordnung in Frage. Der massive Landkauf und die politischen Ziele der zionistischen Bewegung ließen keinen Zweifel an der Nachhaltigkeit dieser Veränderungen. Die einheimischen Reaktionen folgten dabei oft unmittelbaren ökonomischen Interessen und Zwängen. Während zahlreiche muslimische und christliche Notabeln bereitwillig über den Verkauf von Ländereien verhandelten, bedeutete der Landverkauf für viele, die in der Landwirtschaft tätig waren, eine existentielle Bedrohung. Konflikte um Weide- und Anbauflächen entwickelten sich in diesen Jahren zu einer Quelle des Widerstandes gegen eine weitere jüdische Einwanderung. Der Beginn des Ersten Weltkrieges leitete eine Phase ein, in der sich die Gegensätze zwischen der entstehenden palästinensischen Nationalbewegung und den zionistischen Einwanderern deutlich verschärften. Die Spannungen, die im Frühjahr 1920, im Mai 1921 und schließlich 1928/29 in gewalttätigen Übergriffen gegen Juden gipfelten, standen für eine Ausweitung des Konfliktes, an dem sich immer weitere Kreise der palästinensisch-arabischen Bevölkerung beteiligten. Die Unruhen markierten zudem eine Loslösung der Konfrontation von konkreten Anlässen im alltäglichen Zusammenleben. Angriffe richteten sich nicht mehr allein gegen zionistische Einrichtungen, sondern, wie im Falle der Unruhen, die im August 1929 von Jerusalem auf Hebron und Safed übergriffen, immer öfter auch gegen die alteingesessene jüdische Bevölkerung. In den 1930er Jahren eskalierten diese Spannungen weiter. Trotz wiederholter Versuche der britischen Mandatsverwaltung, die Einwanderung zu begrenzen und den Landkauf zu erschweren, führten die beginnenden Verfolgungen in Deutschland zu einem sprunghaften Anstieg der Zahl der Neuankömmlinge. Die arabische Revolte, die 1936 zunächst mit einem Generalstreik begann und sich nach der Veröffentlichung des Teilungsplans der britischen Peel-Kommission im Juli 1937 zu einem bewaffneten Aufstand entwickelte, war Ausdruck einer Radikalisierung der arabischen Bevölkerung. Während sich gerade in der Anfangsphase des Streikes einzelne Strömungen der nationalistischen Bewegung darum bemühten, die Proteste auf britische und zionistische Ziele zu beschränken, richteten sich
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die Aktionen in der Folgezeit immer stärker auch gegen die jüdische Bevölkerung als solche. Bei den bewaffneten Auseinandersetzungen, die von britischer und zionistischer Seite mit Gewalt erwidert wurden, kamen bis 1939 bis zu 6.000 Menschen ums Leben. Eine wesentliche Rolle bei der Radikalisierung des palästinensisch-arabischen Widerstandes spielte Hajj Amin al-Husaini, der Mufti von Jerusalem. Während Husainis Einfluss in den Unruhen der 1920er Jahre umstritten bleibt, besteht über seine zunehmend aktive Rolle in der 1936 beginnenden arabischen Revolte weitgehende Einigkeit. Husainis Flucht nach Beirut im Oktober 1937 und zwei Jahre später nach Bagdad setzten seinem unmittelbaren Einfluss im britischen Mandatsgebiet spürbare Grenzen; umso intensiver wurden dagegen seine Bemühungen um Kooperationen mit dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien. Bereits während des Aufstandes von 1936 hatten Berichte über deutsche und vor allem italienische Waffenlieferungen an die Aufständischen die Unruhe in der britischen Verwaltung und der jüdischen Bevölkerung geschürt. Angesichts der Popularität der nationalsozialistischen Radiopropaganda ließ sich das Potential für Annäherungen und Kooperationen mit den Achsenmächten innerhalb der palästinensisch-arabischen Nationalbewegung erahnen. Husainis Exil und seine aktive Beteiligung an den arabisch-nationalistischen Aktivitäten in Beirut, Damaskus und vor allem in Bagdad führten zu einer weiteren Annäherung seiner Anhängerschaft an die Achse, die mit gemeinsamen Kriegszielen und ideologischen Übereinstimmungen begründet wurde. Husainis Flucht nach Berlin, wo er sich ab November 1941 nach der Niederlage der von Deutschland unterstützten irakischen Revolte gegen Großbritannien niederließ, spiegelte diese Gemeinsamkeiten vor allem auch hinsichtlich der antisemitischen Programmatik wider. Die Freiräume und die materielle Unterstützung, die Husaini bis zur deutschen Kapitulation im Mai 1945 in Deutschland genoss, weisen auf die Bedeutung hin, die dem Mufti seitens der nationalsozialistischen Führung vor allem auch für die Nachkriegszeit beigemessen wurde. In Palästina selbst beruhigten sich die arabisch-jüdischen Spannungen, die während der arabischen Revolte eskaliert waren, in den Kriegsjahren deutlich. Gerade im Vergleich zu den Nachbarländern, in denen antijüdische Demonstrationen und Übergriffe anhielten und Anfang Juni 1941 in Bagdad in einem Pogrom ihren Höhepunkt fanden, gelang es der britischen Mandatsverwaltung in Palästina, Proteste der arabischen Bevölkerung zu unterbinden. Im Unterschied zur Politik Husainis entschieden sich weite Kreise der palästinensischen Bevölkerung für ein zumindest vorläufiges Arrangement mit der britischen Mandatsmacht.
Antizionismus und Antisemitismus nach der Staatsgründung Israels Die Staatsgründung Israels im Mai 1948 ging als „nakba“ (Katastrophe) in die arabischen politischen Diskurse ein. Die Flucht und Vertreibung von 700.000 palästinensischen Arabern, die im Gefolge der Kämpfe das Land verließen, und der territoriale Verlust eines Großteils des ehemaligen Mandatsgebietes standen aus arabischer Sicht für die fortwährenden Intrigen der europäischen Mächte. Als Symbol für imperialistische Bedrohungen rückte die Palästina-Frage in den 1950er und 1960er Jahren ins Zentrum panarabischer Ideologie und Politik. Die erneute arabische Niederlage im Juni-Krieg von
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1967 und die Besetzung des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens durch die israelische Armee markierten das Scheitern einer am Panarabismus orientierten Politik. Auf politischer Ebene äußerte sich dies in der Übernahme der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) durch Yasir Arafat, der als Chef der Fatah im Februar 1969 zum Präsidenten des Bündnisses palästinensischer Gruppen ernannt wurde. In der bereits 1968 verfassten Palästinensischen Nationalcharta wurde die „Befreiung Palästinas“ zur nationalen Pflicht erklärt, die einzig auf dem Wege des bewaffneten Kampfes zu erreichen sei. Neben Kommandoaktionen gegen Ziele in den besetzten Gebieten und Israel zählten auch Sprengstoffanschläge, Geiselnahmen und Flugzeugentführungen zu den Aktionen, welche von Gruppierungen aus dem Spektrum der PLO begangen wurden. Trotz dieser Anschläge beharrten Teile der PLO darauf, in politischen Stellungnahmen zwischen Juden und Zionisten zu unterscheiden. In der Folgezeit kam es zu vereinzelten Verbindungen zu europäischen neonazistischen Gruppierungen. In einer parallelen Entwicklung sahen sich die islamistischen Strömungen, die sich im Umfeld der 1928 in Ägypten gegründeten Organisation der Muslimbruderschaft herausgebildet hatten, in ihrer Kritik der modernistischen Bewegungen und Regime des arabischen Nationalismus bestätigt. Das Scheitern des Panarabismus bestärkte das Streben nach einer Islamisierung der Gesellschaft und den Kampf um die „umma“, der islamischen Gemeinschaft. In den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten äußerte sich der Aufstieg der islamistischen Bewegungen vor allem in der Gründung der Organisation der Hamas in der Frühphase der ersten Intifada. Die 1988 veröffentlichte Gründungscharta der Hamas fasst wesentliche Elemente der islamistischen Weltanschauung zusammen. Dabei steht der Kampf um Palästina im Mittelpunkt, der sich nicht auf die nach 1967 besetzten Gebiete beschränkt, sondern das Territorium Israels ausdrücklich einschließt. Als religiöses Stiftungsland, so heißt es in der Charta, sei Palästina den Muslimen von Gott bis zum Tage des Jüngsten Gerichts anvertraut. Der „Heilige Krieg“, der zur Befreiung des Landes propagiert wird, richtet sich dabei auch gegen die Juden, die in der Charta als treibende Kraft der jüngeren Weltgeschichte beschrieben werden. Dabei spiegelt sich in den explizit antijüdischen Passagen der Charta der umfassende Charakter der zugrundeliegenden antisemitischen Ideologie. Die „Protokolle der Weisen von Zion“ gelten hier als Beleg für eine umfassende jüdische Verschwörung. Die Hamas zählt bis heute zu jenen Strömungen in der palästinensischen Gesellschaft, die sich einer Anerkennung Israels verweigern. Die Politik der Selbstmordanschläge gegen israelische Zivilisten, mit denen die Hamas bereits 1994 gegen einen Friedensschluss mit Israel agierte, wurde während der zweiten Intifada intensiviert. Dennoch beschränkt sich die politische Umsetzung der islamistischen Ideologie nicht auf Anschläge gegen israelische Ziele. Die Aktionen der Hamas, die bei den Parlamentswahlen vom Januar 2006 die Mehrheit erlangte und sich nach fortwährenden Konflikten mit Präsident Mahmud Abbas im Juni 2007 in Gaza an die Macht putschte, richten sich dabei immer wieder auch gegen vermeintliche Verräter und Kollaborateure in der palästinensischen Bevölkerung. Trotz starken innerpalästinensischen und internationalen Druckes, von einem Kampf gegen Israel in den Grenzen von 1967 abzurücken, hält die Hamas bis heute an den in der Gründungscharta formulierten Zielen fest.
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Antisemitische Stereotypen und Ressentiments finden sich nicht nur in politischen Stellungnahmen und Veröffentlichungen der verschiedenen palästinensischen Organisationen. Gerade im Zusammenhang mit der Islamisierung des Konfliktes spielen religiös begründete Agitationen gegen „die Juden“ eine wichtige Rolle. So wird in Freitagspredigten immer wieder auf antijüdische Elemente der islamischen Tradition Bezug genommen, um die Gläubigen zu mobilisieren und auf eine Verteidigung der Gemeinschaft einzuschwören. Problematisch ist in dieser Hinsicht auch der islamische Religionsunterricht, der in palästinensischen Schulen angeboten wird. Die Berichte aus dem Leben des Propheten Muhammads, in denen die Konflikte mit den jüdischen Stämmen in der Region der arabischen Halbinsel eine wichtige Rolle spielen, sind in der islamischen Erziehung von besonderer Bedeutung. Die Reform des palästinensischen Curriculums, die 1994 mit der Etablierung der palästinensischen Autonomiebehörde begonnen wurde, hat in dieser Hinsicht zu deutlichen Verbesserungen geführt. Im Gegensatz zu älteren Schulbüchern, die aus Ägypten und Jordanien übernommen wurden, lassen die mittlerweile vollständig neu verfassten Schulbücher das Bemühen erkennen, explizit negative Darstellungen von Juden zu vermeiden. Eine Anerkennung des Judentums oder Israels ist damit jedoch nicht verbunden. Vielmehr zeugen die aktuellen Inhalte der Schulbücher von einer nahezu durchgängigen Nicht-Erwähnung der Juden, dem Judentum und dem israelischen Staat. Von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang auch Darstellungen in den palästinensischen Medien. Neben Verschwörungstheorien und Ritualmordvorwürfen, die in Zeitungen und Fernsehprogrammen Verbreitung finden, sind es vor allem Karikaturen, in denen offen antisemitische Stereotypen verwendet werden. Ebenso wie diabolische und blutrünstige Darstellungen von Juden und Israel zählt dabei die Gleichsetzung von Judentum/Zionismus mit dem Nationalsozialismus zu einem oft wiederkehrenden Motiv. Ähnliche Motive finden sich auch in den örtlichen Fernsehprogrammen. Neben den teilweise unverhüllt antisemitischen Predigten und religiösen Sendungen gehören aufstachelnde Videos von Demonstrationen und Konfrontationen mit dem israelischen Militär weiterhin zum Programm. In diesen Sendungen, die sich teilweise ausdrücklich an ein jugendliches Publikum wenden, verbindet sich eine Verklärung von militantem Widerstand mit entmenschlichenden Darstellungen von Juden und Israelis. Das Scheitern des Friedensprozesses und die Ereignisse während der zweiten Intifada haben zu einer erneuten Eskalation antisemitischer Agitationen beitragen. Dennoch lassen sich seit Abschluss der Osloer Verträge 1993 Tendenzen ausmachen, die diesen Entwicklungen entgegenstehen. Insbesondere angesichts von Relativierungen und Leugnungen des Holocausts, die bis in die 1990er Jahre in der palästinensischen Öffentlichkeit nahezu unwidersprochen blieben, wurde in der jüngeren Vergangenheit wiederholt deutliche Kritik geäußert. So beschrieben Intellektuelle und Politiker wie Azmi Bishara eine Anerkennung des Holocaust als Notwendigkeit, um zu einer Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes zu gelangen. Die Äußerungen des ehemaligen palästinensischen Premierministers Mahmud Abbas, der im Juni 2003 während eines Gipfeltreffens mit dem israelischen Premierminister Ariel Sharon ausdrücklich auf die Bedeutung einer Anerkennung des historischen Leids der Juden hingewiesen hatte, machen einen solchen Wandel deutlich. Abbas hatte sich in einer 1984 verfassten Schrift über die vermeintlichen Kollaborationen der zionistischen Bewegung mit dem Nationalsozialismus aus-
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drücklich auf den französischen Holocaustleugner Robert Faurisson berufen und damit jene Thesen bekräftigt, die auch heute noch weite Teile des öffentlichen Diskurses bestimmen. Während die Erfolge der Hamas bei den Parlamentswahlen im Januar 2006 für den Bedeutungsgewinn islamistischer Ideologien und für eine Radikalisierung der antisemitischen Agitationen stehen, lassen sich gerade im universitären und zivilgesellschaftlichen Bereich gegenläufige Tendenzen ausmachen. Neben den anti-liberalen und irrationalen Elementen werden von Kritikern auch die fortschrittshemmenden und konfliktverschärfenden Konsequenzen von antisemitischen Ressentiments und Verschwörungstheorien hervorgehoben.
Götz Nordbruch
Literatur Alexander Flores, Judeophobia in Context: Anti-Semitism among Modern Palestinians, in: Welt des Islams, 3(2006), S.307–330. Michael Kiefer, Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften. Der Palästina-Konflikt und der Transfer eines Feindbildes, Düsseldorf 2002. Gudrun Krämer, Geschichte Palästinas, München 2002. Barry Rubin, The PLO between Anti-Zionism and Antisemitism. Background and Recent Developments, Jerusalem 1993. René Wildangel, „Der größte Feind der Menschheit”. Der Nationalsozialismus in der arabischen öffentlichen Meinung in Palästina während des Zweiten Weltkrieges, in: Gerhard Höpp, Peter Wien, René Wildangel (Hrsg.), Blind für die Geschichte? Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus, Berlin 2004, S.115-154.
Panama Panama war bis zur endgültigen Unabhängigkeit von Spanien ein Teil des Vizekönigreiches Neugranada, das 1739 aus dem Vizekönigreich Peru hervorgegangen war. Die spanische Siedlungspolitik schloss in Panama, wie auch in allen anderen Überseegebieten von Anfang an jüdische und neuchristliche Siedler aus. Diese Exklusion war durch das Vertreibungsdekret der katholischen Könige Isabella und Ferdinand vom April 1492 determiniert worden. Zur Konversion aufgefordert, flüchtete rund die Hälfte der spanischen Sepharden in das benachbarte Portugal oder über die nordafrikanischen Küstenregionen bis in das aufstrebende Osmanische Reich. Die auf der Iberischen Halbinsel verbliebenen Juden mussten unter Zwang zum Christentum übertreten. Die Gruppe der Neuchristen zählte spätestens seit der Implementierung der katholischen Inquisition 1481 zu dem Kreis der ab nun konsequent Verfolgten, die in erster Linie des Judaisierens verdächtigt wurden. Vorrangiges Ziel der Inquisition war es, die erfolgreichen neuchristlichen Gewerbetreibenden durch Konfiszierung ihres Vermögens sowie durch religiöse Diffamierung wirtschaftlich und gesellschaftlich zu ruinieren und in bestimmten Fällen auch physisch (etwa durch Verbrennung auf dem Scheiterhaufen) zu eliminieren. Aus Angst vor der per-
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manenten Verfolgungsgefahr setzten sich viele Neuchristen in die äußersten Peripherien der spanischen und portugiesischen Atlantikreiche ab. Mit der Entdeckung und Eroberung Panamas (1506-1519) konnte sich die kastilische Krone erstmals am amerikanischen Kontinent festsetzen. Die 1513 von Nuñez de Balboa erkundete Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik machte die Landbrücke von Panama zu einem interessanten Schnittpunkt zwischen den Weltmeeren, als auch zu einem Ausgangspunkt für weitere Entdeckungen in Richtung Norden und Süden des Kontinents. In der Theorie waren sich Kirche und Krone schon bald einig, weder Juden noch Mauren, Häretikern oder Konvertiten die Besiedlung der neuen Kolonien zu gestatten. Dies war jedoch in der Praxis undurchführbar, und so finden sich bereits unter Ferdinand (bis 1516), aber vor allem unter dem ersten kastilischen Habsburger Karl I. (1516-1556) und seinem Nachfolger Philipp II. (1556-1598) zahlreiche Ausnahmeregelungen, die auch Neuchristen erlaubten, auf legalem Weg in die Neue Welt auszuwandern. Unter den ersten Konquistadoren und Kolonisten befanden sich auch Neuchristen jüdischer und muslimischer Provenienz: im Logbuch der ersten Fahrt des Kolumbus (1492-1493) ist explizit die Teilnahme von vier „Juden“ an der besagten Expedition erwähnt. Auch kennen viele Werke spanischer Chronisten des 16. Jahrhunderts jede Menge neuchristlicher Protagonisten und verdächtigen diese häufig kryptojüdischer Praktiken. Inwieweit es sich hierbei um christliche Propaganda handelte, ist schwierig zu beantworten. Doch gleichgültig ob tatsächlich noch Verbindungen zum jüdischen Brauchtum gepflegt wurden oder nicht, die Inquisition besaß die absolute Definitionsmacht über die Entscheidung, wen sie zum „Marranen“ machte. Damit war der Grundstein für ein quasi „vererbtes Judentum“ gelegt. Man begann in Folge, den von der Inquisition als Angehörige dieses Judentums Definierten charakterliche und phänotypische Merkmale und damit den Status einer „Rasse“ zuzuschreiben. Dieses Prinzip einer Fremdbestimmung des „Jude Seins“ findet sich im Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts wieder. Mit der Errichtung von Inquisitionsgerichtshöfen in Lima (1570), Mexiko-Stadt (1571) und Cartagena de Indias (1610) reagierte die spanische Inquisition auf die große Zahl neuchristlicher Siedler und Händler in ihren Kolonien. Davor waren bereits immer wieder einige dominikanische Bischöfe mit inquisitorischen Vollmachten ausgestattet gewesen. Die Ausdehnung der Inquisition auf die hispano-amerikanischen Kolonien ist auf die ökonomischen Feindschaften unter den Siedlern und Händlern sowie die klerikalen Fanatismen einzelner missionarischer Orden, wie beispielsweise der Dominikaner und Kapuziner, zurückzuführen. Als erster namentlich bekannter Konquistador, der aus einer jüdischen Konvertitenfamilie stammte, erreichte der gebürtige Segovianer Pedro Arias de Avila 1514 den Isthmus. Den Berichten von Bischof Fray Bartolomeo de las Casas zufolge, der selbst aus einer Konvertitenfamilie stammte, hielten sich die ersten Neuchristen bereits im Jahr 1501 gemeinsam mit dem Konquistador Rodrigo de Bastidas am Isthmus von Panama auf. Pedro Arias de Avila prägte die erste Phase panamaischer Geschichte wesentlich. Unter seiner Regierung wurden die Städte Panamá und Natá gegründet sowie der Darién im Süden und Nicaragua im Norden erobert. Während Arias de Avila als katholischer
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Konquistador erfolgreich in den Amerikas kämpfte, gerieten in Kastilien Teile seiner näheren Verwandtschaft unter dem Verdacht des „Judaisierens“ in die Fänge der Inquisition. Mit der Entdeckung Perus und der Eroberung des Inkaimperiums durch die beiden Pizarro-Brüder wurde die Landbrücke von Panama ab 1530 zum wichtigsten Schnittpunkt zwischen Atlantik und Pazifik. Sowohl Nombre de Dios sowie die 1596 stattdessen errichtete Siedlung Portobelo an der karibischen Küste als auch Panama-Stadt an der pazifischen Küste zählten zu den bedeutendsten Warenumschlagplätzen an der Haupthandelsroute zwischen dem spanischen Monopolhafen Sevilla bzw. ab 1717 Cádiz und dem Vizekönigreich Peru (Carrera de las Indias). Aus Inquisitionsakten geht hervor, dass sich unter den Händlern des einmal im Jahr stattfindenden großen Marktes an der panamaischen Karibikküste unter anderem neuchristliche Kaufleute und Fernhändler befanden. Die Mitarbeiter der Inquisition überwachten entweder direkt die Situation auf den großen Warenumschlagsplätzen oder kontrollierten die Bevölkerung über ein Netz von Informanten. Mit der Zeit definierten die Inquisitionsbehörden regelrechte Erkennungsmerkmale und schufen damit eine Art Idealtypus des Kryptojuden. In öffentlichen Kundgebungen wandten sich die Organe der Inquisition auch an die Bewohner Panamas, um vermeintliche Judaisierer unter den Kolonisten und Händlern ausfindig zu machen und sie vor ein Inquisitionsgericht zu stellen. Dort erwartete die Angeklagten ein Glaubensurteil (Autodafé), das die Höhe und Strenge der Strafe bestimmte. Der Verleumdung waren somit keine Grenzen mehr gesetzt und sowohl ökonomische als auch soziale und private Konflikte konnten auf einer neuen Ebene ausgetragen werden, die nicht selten am Scheiterhaufen endeten. Anfänglich bezogen sich die besonderen Merkmale zumeist auf die sichtbaren Differenzen bei der Ausübung religiöser Praktiken (Sabbatruhe, Kleidungs- und Essensvorschriften) sowie das heimliche Einhalten jüdischer Feiertage in dafür eigens eingerichteten geheimen Gebetsräumen in den Hinterzimmern neuchristlicher Häuser. Die Inquisitionsbeamten riefen die Bevölkerung auf, die verdächtigen Neuchristen zu melden und schufen so ein Klima der Bespitzelung. Die Personalunion mit Portugal ab 1580 und das damit verbundene Ende der Vertragsbedingungen von Tordesillas (1494) beunruhigten die Inquisition zunehmend. Die Inquisitoren verwendeten sogar die Bezeichnung „Portugiese“ synonym für „Jude“ und fürchteten eine Infiltration der portugiesischen Marranen in Kastilisch-Amerika. Eine weitere Gefahr für die Einheit des Glaubens sahen die Inquisitoren im gesteigerten Engagement der niederländischen Generalstaaten, die seit 1590 im karibischen und südamerikanischen Raum operierten und iberische Neuchristen als Interloper im Schmuggelhandel erfolgreich einsetzten. Um allfälligen Verdächtigungen vorzubeugen wurde es Usus, sich noch vor der Abreise in die Neue Welt genealogisch durchleuchten zu lassen, also seine „limpieza de sangre“ (Reinheit des Blutes) zu beweisen, besonders wenn man portugiesischer Herkunft war. Der Fall des 1636 in Panama verhafteten Portugiesen aus Almargo, Jorge de Espinosa, zeigt jedoch, dass auch diese Absicherungsmaßnahmen nicht immer den notwendigen Schutz boten. Nachdem die Inquisitionsbehörden Espinosa von Panama nach Lima überstellt hatten, musste der Inquisitionsgerichtshof ihm zwar seine „Blutreinheit“ zugestehen, verurteilte ihn allerdings als „Hexer unter jüdischem Einfluss“ zu einer ho-
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hen Geldstrafe. Mit Beginn der Unabhängigkeitskämpfe der Portugiesen gegen die Spanier 1639 und dem darauf folgenden Krieg (1640-1648) verschlechterte sich die Situation der Portugiesen in den kastilischen Kolonien. Die Zahl der Autodafés und der prozentuale Anstieg von Todesurteilen erreichten in dieser Phase ihren Höhepunkt, was den Charakter der spanischen Inquisition als politische Kampfmaßnahme unterstreicht. Parallel dazu drohte den spanischen Glaubenshütern eine neue Gefahr durch den von Niederländern und Briten in ihre den Spaniern benachbarten amerikanisch-karibischen Kolonien transferierten Protestantismus. Die tolerante Glaubenspolitik förderte auch die Einwanderung sephardischer Kolonisten und Händler in Nordostbrasilien, Curaçao, Barbados, Jamaika oder den guyanesischen Kolonien. Durch die Gründung jüdischer Gemeinden kamen erstmals Rabbiner in die Neue Welt, und die Inquisition fürchtete aufgrund dieser „neuen Nähe“, dass nun die spanischen Neuchristen zum jüdischen Glauben ihrer Vorfahren zurückkehren könnten. Die Niederlande, England, Dänemark sowie Frankreich förderten gezielt die Einwanderung neuchristlicher Fachkräfte aus den spanischen und portugiesischen Kolonien des amerikanisch-karibischen Raumes. Sie hofften, diese Fachkräfte als interkulturelle Vermittler und Interloper im Schmuggelhandel mit den Spaniern einsetzen zu können. Gleichzeitig förderten die kolonialen Handelskompagnien der Niederländer und Briten die Kolonisierung durch jüdische Siedler aus Europa. Das Leben als Interloper blieb für Neuchristen und Juden ein gefährliches Unterfangen. Ihr Einsatz ließ sie erneut Gefahr laufen, Opfer der Inquisition zu werden. Dies lässt sich aus zahlreichen Akten der Inquisitionsgerichtshöfe von Lima und Cartagena de Indias im 17. und 18. Jahrhundert beweisen. Erst die offizielle Abschaffung der Inquisition im neuen Großkolumbien im Jahre 1820 beendete die jahrhunderte lange christliche Verantwortung für Verfolgung, Folter und Mord an tausenden unschuldigen Opfern. Im 18. Jahrhundert hatte das Vizekönigreich Peru seine wirtschaftliche Vormachtstellung unter den spanischen Verwaltungseinheiten längst an Neuspanien verloren, weswegen auch Panama seine Schlüsselposition weitgehend einbüßte. Mit der Kolonialisierung des bis dahin mexikanischen Kalifornien durch die unabhängigen USA (seit 1848) rückte die schmale mittelamerikanische Landbrücke als Passage zwischen Pazifik und Atlantik ins wirtschaftliche Interesse der neuen Großmacht, und US-Firmen begannen in Infrastrukturprojekte am Isthmus zu investieren. Bereits unter dem kastilischen König Karl I. (1516-1556) gab es Ideen, einen Kanal durch den Isthmus von Panama zu errichten, die jedoch aufgrund der baulichen Schwierigkeiten verworfen wurden. Es dauerte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, ehe die USA, Frankreich und Großbritannien daran gingen, Pazifik und Atlantik zuerst durch eine Eisenbahnlinie und ein halbes Jahrhundert danach durch einen Kanal an der schmalsten Stelle des amerikanischen Kontinents zu verbinden. Sowohl der Eisenbahnbau als auch das Kanalprojekt zogen als Großbauprojekte Einwanderer aller Erdteile an den Isthmus von Panama. Unter ihnen befanden sich nicht nur sephardische Juden aus dem karibischen Raum und den USA, sondern auch zahlreiche aschkenasische Juden aus den USA und Europa. Die panamaischen Eliten versprachen sich vor allem von den guten Kontakten der Einwanderer zu den USA und den niederländischen und englischen Kolonien ökonomische Vorteile, deren Ergebnis nicht nur gemeinsame Firmenprojekte, sondern
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auch familiäre Verbindungen waren. Als 1892 das französische Kanalprojekt endgültig zusammenbrach, lastete der bekannte französische Antisemit Édouard Drumont (18441917) den jüdischen Investoren diesen Skandal an und löste eine Welle des Antisemitismus in Frankreich aus, die in der Affäre Dreyfus ihren vorläufigen Höhepunkt finden sollte. Während des Unabhängigkeitsprozesses, der die Loslösung von Kolumbien und gleichzeitig die enge Bindung an die USA bedeutete, engagierten sich einige panamaische Juden als Befürworter dieser neuen Eigenstaatlichkeit. Sephardische Familien, wie die Brandons (Brandão), Pizas, de Castros, Maduros und Lindos, unterstützten politisch und finanziell die Sezession von Kolumbien 1903. Während sich in Europa das Klima des Antisemitismus zunehmend radikalisierte, rief das jüdische Engagement in Panama keine Formen von offenem Antisemitismus hervor. Juden, wie etwa Isaac Brandon (Gründer der nationalen Feuerwehr), Herbert De Castro (Gründer des nationalen Symphonieorchesters) oder Victor Levy Sasso (Gründer der Technischen Universität) zählen bis heute zu den angesehensten Panamaern. Auch gegen den langjährigen Bürgermeister Moises Cardozo sind keine antisemitischen Agitationen bekannt. Die Präsenz jüdischer und christlicher Politiker jüdischer Herkunft blieb in Panama nach dem Ende des Kanalprojekts 1914 erhalten. Mit Moisés Cohen Cattán taucht sogar an der Spitze der „Democracia Cristiana“ (Christdemokraten) ein panamaischer Jude auf und schließlich bekleideten Max del Valle (1967) und Eric Arturo del Valle (1985 bis 1988) das Amt des Präsidenten von Panama. Am Isthmus von Panama leben heute neben der einflussreichen, jedoch zahlenmäßig kleinen Gruppe der sephardischen Juden vor allem aschkenasische und mizrachische Juden.
Christian Cwik
Literatur Juan Miguel Blasquez, La Inquisición en América (1569-1820), Santo Domingo 1994. Nikolaus Böttcher, Aufstieg und Fall eines atlantischen Handelsimperiums. Portugiesische Kaufleute und Sklavenhändler in Cartagena de Indias von 1580 bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1995. Alberto Osorio, Judaismo e Inquisición en Panamá Colonial, Panamá 1980. Léon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus. IV. Die Marranen im Schatten der Inquisition, Worms 1981. Cecil Roth, A History of the Marranos, New York 1974.
Paraguay Wie in ganz Lateinamerika beginnt auch in Paraguay mit der Kolonialisierung die Geschichte des Antisemitismus, obwohl die jüdische Immigration im Vergleich zu den anderen La-Plata-Staaten immer sehr gering war. Die spanischen Gesetze erlaubten nur Altchristen (cristianos viejos), nicht aber Neuchristen oder konvertierten Juden (cristianos nuevos, conversos) die Einwanderung. Mit der „limpieza de sangre“ (Reinheit des
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Blutes) als Kriterium basierte die Auswahl also auf einem frühen rassistischen Konzept. Trotzdem kamen mit den Konquistadoren auch einige wenige Juden und Neuchristen in die Provinz Paraguay. Diese unterstanden von 1542-1777 dem spanischen Vizekönigtum Peru und damit dem Inquisitionstribunal von Lima. Ob unter den Opfern der Inquisition, etwa des großen Autodafé in Lima 1639, auch Juden oder Konvertierte aus der Provinz Paraguay waren, ist nicht bekannt. 1813 erklärte Paraguay erfolgreich seine Unabhängigkeit von Spanien. Die Diktaturen Francias, Carlos Antonio López’ und Francisco Solano López’ (bis 1870) waren gekennzeichnet durch Nationalismus und Isolationismus. Ziel war ökonomische und politische Autarkie. Einwanderung wurde zuerst weitgehend unterbunden, ab 1845 mit einem Dekret zum Schutz der Rechte von Ausländern ermöglicht und selektiv zugelassen. Im Nationalarchiv von Asunción sind unter den Bewohnern dieser Zeit auch einige mit jüdischen Namen registriert. Im Inneren führte die Isolationspolitik zu weiterer Mestizisierung und zur Herausbildung einer nationalen Identität, die das indigene Element betonte. Guaraní ist bis heute neben Spanisch offizielle Landessprache. Diese Politik endete 1870 mit der Niederlage Paraguays im Triple-Allianz-Krieg gegen Brasilien, Argentinien und Uruguay. Im gleichen Jahr wurde eine liberale Verfassung verabschiedet, die unter anderem die freie Religionsausübung garantierte und alle Einwanderungshindernisse beseitigte. Ab 1870 siedelten sich jüdische Immigranten vor allem aus Frankreich, der Schweiz und Italien in der Hauptstadt an. Unter ihnen die Brüder Cohen, die eine Limonadenfabrik gründeten, oder León Levy und Miguel Seligman, die mit „La Gran Casa Francesa“ eines der führenden Modehäuser der Hauptstadt gründeten. Ende des 19. Jahrhunderts kamen einzelne Aschkenasen aus Russland und der Ukraine, Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten organisierten Gruppen jüdischer Einwanderer, später kleinere Gruppen von sephardischen Juden aus Griechenland und der Türkei. Ab 1910 ist ein jüdisches Gemeindeleben feststellbar, 1915 wurde die „Unión Israelite“ gegründet, 1917 die erste Synagoge, 1820 die „Unión Hebraica“. Trotz – oder gerade wegen – der extrem kleinen Zahl jüdischer Bürger hielt 1886 der moderne politische Antisemitismus in Paraguay Einzug. Er kam aus dem Deutschen Reich in Gestalt von Bernhard Förster und seiner Frau Elisabeth, der Schwester Friedrich Nietzsches, und einer Gruppe ihnen ideologisch nahestehender Siedler. Die Gruppe gründete die bis heute bestehende Kolonie „Nueva Germania“, die das Zentrum eines erneuerten Ariertums hätte werden sollen. Förster, radikaler antisemitischer Vordenker der Berliner Bewegung, war Initiator der „Antisemitenpetition“ gewesen, bevor er – eine beiläufige Anregung Richard Wagners aufnehmend – die Gründung landwirtschaftlicher Kolonien in Südamerika propagierte. Försters Plan scheiterte. Die intellektuelle Elite und die liberalen Zeitungen kommentierten den wachsenden Antisemitismus in Europa kritisch, unter anderem anlässlich der Dreyfus-Affäre. Führende Politiker der liberalen Fraktion (z.B. Cecilio Báez) waren offen antiklerikal und verurteilten die traditionelle Judenfeindschaft der katholischen Kirche. Ab 1904 war die liberale Partei 30 Jahre lang an der Macht. Ihre schwache Haltung gegenüber dem unterlegenen Bolivien in den Friedensverhandlungen nach dem ChacoKrieg führte im Februar 1936 zum Putsch der „Febreristas“, einer weltanschaulich hete-
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rogenen Gruppe von antiliberalen und nationalistischen Militärs. Obwohl nur 18 Monate an der Macht, hatten sie ideologisch großen und lang anhaltenden Einfluss: Paraguays Diktator Franco und seine Minister waren Anhänger des europäischen Faschismus, besonders des Nationalsozialismus und des „Caudillo Hitler“. Eine direkte Übernahme der Rassentheorien war wegen der starken Mestizisierung nicht unbedingt opportun. Der rechtsextreme Landwirtschaftsminister Bernardino Caballero, der 20 Jahre in Deutschland gelebt hatte, soll von der Idee eines südamerikanischen Reiches unter Guaraní-Führung fasziniert gewesen sein. Diktator Francisco Solano López (1862-1870), unter den Liberalen noch als megalomaner Diktator verurteilt, wurde nun zum Nationalhelden hochstilisiert („paraguayischer Revisionismus“). Aber auch der Antisemitismus fand Rezeption und Anhänger. In der Presse wurde die Kritik am ehemals herrschenden Liberalismus mit antisemitischen Stereotypen europäischer Provenienz verbunden: die Liberalen seien Juden oder „Judenknechte“, sie würden daher die Interessen des Vaterlandes verraten und verkaufen, die natürlichen Ressourcen ausländischen Unternehmen ausliefern. „Vendepatria“, Vaterlandsverkäufer, ist eine bis heute gebräuchliche Verunglimpfung mit antisemitischem Unterton. 1936 zirkulierte ein gedrucktes Manifest, das die „35 Ursachen“ der Revolution beschrieb. Darin fand sich unter anderem die Begründung, dass die Juden in das Land eingedrungen wären, um dem paraguayischen Volk den letzten Tropfen Blutes auszupressen. Besonders die Tageszeitung „El Estudiante“ verbreitete antisemitische Propaganda. 1937 zeigte die Ideologie politische Auswirkungen: restriktive Einwanderungsbestimmungen wurden beschlossen, die Konsule in Europa angewiesen, an „expulsados de otro país“, also aus anderen Ländern Ausgewiesene, keine Visa zu vergeben. Das zielte in erster Linie auf Juden ab, wie aus Anweisungen an die Konsulate hervorgeht. Vorgeschobenes Argument war die Notwendigkeit „produktiver“, sprich landwirtschaftlich tätiger Einwanderer, was jüdische Immigration von vornherein ausschlösse. Insgesamt kamen daher zwischen 1933 und 1945 nur etwa 1.000 jüdische Immigranten legal nach Paraguay. Einige paraguayische Konsule in Europa (Paris, Köln, Warschau, Lissabon, Prag) verkauften allerdings Tausende von Visa und Pässe an jüdische Flüchtlinge, die dann über Paraguay nach Argentinien, Brasilien oder Uruguay migrierten. 1939 wurde ein Projekt der jüdischen Hilfsorganisation HICEM zum Aufbau landwirtschaftlicher Kolonien in Paraguay durch Kirche, Armee und Parlament verhindert. 1940 wurde eine autoritäre Verfassung verabschiedet, die sich am italienischen faschistischen Ständestaat orientierte. Unter dem Diktator Morínigo (ab 1940) blieb Paraguay formal neutral, de facto wurde auf Druck der pro-deutschen Militärs, besonders der Gruppierung „Frente de Guerra“, die Ausbreitung von nazistischen und faschistischen Organisationen toleriert. Der nun auch offizielle Antisemitismus spiegelte sich in gleichgeschalteten Zeitungen und der Parteipresse wider. Stereotype vom jüdischen Ausbeuter, Wucherer, Marxisten, Liberalen, Katholikenhasser verbanden sich mit historischen Argumenten: Jüdische Bankiers hätten den Triple-Allianz-Krieg gegen Paraguay finanziert; „La Unión Industrial Paraguaya“, größtes landwirtschaftliches Unternehmen des Landes, sei von Juden geleitet, die die Nation seit Dekaden ausgebeutet hätten; Standard Oil, finanziert durch das Judentum, sei für den Chaco-Krieg verantwortlich und so fort. Noch 1944 war im Edito-
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rial von „El Paraguayo“ zu lesen, dass die jüdische Einwanderung eine „große Gefahr“ für Paraguay darstelle. Besondere Resonanz fanden nationalsozialistische Ideen in der deutschen Gemeinschaft. In den 1930er Jahren lebten mindestens 16.000 Deutsche in Paraguay, mit den Deutschstämmigen waren es 30.000 bis 40.000 Personen. Bereits 1927 hatten sich Hitler-Sympathisanten in Paraguay zu organisieren begonnen, 1929 kam es in Villarica im Südosten Paraguays zur Gründung des ersten NSDAP-Zweiges außerhalb Deutschlands. Leiter des Paraguayischen „Organisationszentrums“ waren Otto Künze und Bruno Frikke, der 1923 in den Hitler-Putsch involviert gewesen war. Fricke wurde später als Aktivist der NSDAP-Abspaltung „Schwarze Front“ einer der ersten Kämpfer gegen die NSDAP in Paraguay. Im August 1931 gründete die Auslands-Abteilung der NSDAP eine Landesgruppe. 1933 gab es in Paraguay zwar nur 62 Parteimitglieder, aber durch die Gleichschaltung des deutschen Vereinswesens konnte die Partei das Gros der Deutschen im Land erreichen und antisemitische Propaganda verbreiten. Gegen den Antisemitismus erhoben sich bis 1940 einige wenige Stimmen in der paraguayischen Presse, die danach gleichgeschaltet war. Erste öffentliche Zeichen der Ablehnung des Antisemitismus gab es erst wieder ab 1942. Freilich, unter den Paraguayern blieb der Antisemitismus eine Ideologie der Elite. Eine Massenbewegung wurde er nicht. 1954-1989 war der deutschstämmige Alfredo Stroessner an der Macht. Stroessner war militärisch geprägt, er nutzte sowohl das Militär als auch die Colorado-Partei für seine Zwecke und errichtete eine Diktatur. Er gewährte zahlreichen Kriegsverbrechern Exil. Der SS-Arzt Josef Mengele kam 1959 nach Paraguay und erhielt im gleichen Jahr auf Empfehlung des ehemaligen rechtsextremen Obersten Hans-Ulrich Rudel die paraguayische Staatsbürgerschaft. Auch Rudel selbst hatte seinen Wohnsitz in Paraguay. Er war ein enger Freund Peróns, vermittelte zwischen den südamerikanischen Caudillos und war als Waffenhändler und Berater für Stroessner genauso wie für Chiles Diktator Pinochet tätig. Eduard Roschmann, der „Schlächter von Riga“, der für die Ermordung von 30.000 Juden in Lettland verantwortlich war, kam 1948 nach Argentinien. Nachdem Deutschland seine Auslieferung forderte, wurde er 1977 in Argentinien verhaftet, konnte allerdings binnen 24 Stunden entkommen und nach Paraguay fliehen, wo er kurz darauf starb. Unter Stroessners Regime gab es keine direkte antisemitische Politik, allerdings verstärkte die Toleranz gegenüber NS-Kriegsverbrechern die Akzeptanz des Antisemitismus. Die Tradition der positiven Beurteilung von Faschismus und Nationalsozialismus prägt die Gesellschaft bis heute. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam eine letzte Gruppe jüdischer Immigranten nach Paraguay. Heute hat die jüdische Gemeinde rund 900 Mitglieder. Außenpolitisch hat Paraguay 1947 für die UN Resolution zur Teilung Palästinas gestimmt und unterhält seitdem freundschaftliche Beziehungen zu Israel. Durch die historische Entwicklung gibt es geringe Sensibilität gegenüber Nazi-Symbolik. Beobachtungsstellen berichten regelmäßig über Graffitis mit antisemitischen Motiven und Slogans; über antisemitische Telefonanrufe an Mitglieder der jüdischen Gemeinde; 1998 über antisemitische Karikaturen im Stürmer-Stil in der Tageszeitung „Ultima Hora“; über Hakenkreuz-Schmierereien bei Radío Ñanduti, dessen Eigentümer Jude ist; über neonazistische Umtriebe im Internet oder über den Verkauf von Nazi-Memora-
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bilia. Vor allem von den USA wird seit dem AMIA-Attentat in Buenos Aires (? Argentinien) vermutet, dass im Gebiet der „Triple Frontera“ zwischen Paraguay, Argentinien und Brasilien islamistische Extremisten, Hisbollah und Hamas Gelder organisieren und Waffenhandel betreiben.
Daniela Kraus
Literatur Günther J. Bergmann, Auslandsdeutsche in Paraguay, Brasilien, Argentinien, Bad Münstereifel 1994. Judith Laikin Elkin, 150 Jahre Einsamkeit. Die Geschichte der Juden in Lateinamerika, Hamburg 1996. Daniela Kraus, Bernhard und Elisabeth Försters Nueva Germania in Paraguay. Eine antisemitische Utopie, Dissertation, Wien 1999. Alfredo M. Seiferheld, Nazismo y Fascismo en el Paraguay. Vísperas de la II Guerra Mundial. Gobiernos de Rafael Franco y Félix Paiva 1936–1939, Asunción 1985. Alfredo M. Seiferheld, Nazismo y Fascismo en el Paraguay. Los Años de la Guerra. Gobiernos de José Félix Estigarribia e Higinio Morínigo 1939-1945, Asunción 1986. John F. Williams, Daniela Kraus, Harry Knowles, Flights from Modernity: German and Australian utopian colonies in Paraguay 1886–1896, in: Paul Ashton, Bridget Griffen-Foley (Hrsg.), From the Frontier, St. Lucia 2001, S.49–62.
Peru Die Präsenz jüdischer Einwohner in Peru lässt sich bis in die ersten Jahrzehnte der spanischen Kolonisation zurückverfolgen. Seit der Herrschaft Philipp II., in der sich die spanische und die portugiesische Krone vereinigten (1580), kamen aus Portugal stammende sephardische Einwanderer nach Peru, meist im Zuge der Gründung kolonialer Handelsgesellschaften. Die portugiesischen Juden widmeten sich in Lima dem Klein- und Sklavenhandel, dem Export und Geldverleih. Die Einrichtung des Inquisitionstribunals in Lima (1570) löste vor allem zwischen 1635 und 1639 eine große Verfolgungswelle aus, die die jüdische Gemeinde in Lima zwang, sich entweder nach Celendín (Cajamarca) zu begeben oder zum Katholizismus überzutreten. Dieser Umstand beendete gewissermaßen das Vermächtnis der ersten jüdischen Generationen auf peruanischem Boden, weswegen nicht von einer Kontinuität zwischen jener Kultur und der heutigen gesprochen werden kann. Die Herausbildung der heutigen jüdischen Gemeinschaft in Peru geht auf die 1840er Jahre zurück, als infolge des Scheiterns der liberalen Revolution von 1848 in Europa eine Auswanderungswelle nach Nord- und Südamerika einsetzte. Einige wenige von ihnen kamen nach Peru, wo zu jener Zeit die Anwerbung europäischer Einwanderer gefördert wurde. Diese erste zeitgenössische Einwanderung war individueller Art und hatte ihren Ursprung in vielen Ländern, wenn auch vornehmlich in Deutschland. Vor allem kamen Industrielle, Bankiers, Händler und Angestellte. Die Mitglieder dieser im Werden
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begriffenen jüdischen Gemeinschaft gründeten Handelsfirmen, traten den verschiedenen Klubs der Hauptstadt bei und errichteten ihre eigenen Vereine. Die „Sociedad de Beneficencia Israelita“ stammt aus dem Jahre 1870. Der Krieg gegen Chile zwischen 1879 und 1883 unterbrach die Fortentwicklung der Sociedad, die eine jüdische Schule und eine Synagoge errichten wollte. In den 1870er Jahren setzte eine weitere jüdische Einwanderungswelle ein, diesmal nach Iquitos, die wichtigste Stadt des peruanischen Urwalds. Ihren Ausgangspunkt hatte sie in den brasilianischen Städten Manaus und Belém do Pará. Diese Gemeinde war marokkanischen Ursprungs. Um 1920 bestand die jüdische Gemeinde im Departement Loreto aus 200 Personen, die sich in die regionale Gesellschaft integriert hatten und ihre Traditionen und einen gewissen Gruppenzusammenhalt bewahrten. Die zweite große zeitgenössische Einwanderung setzte 1910 mit der Ankunft sephardischer Juden aus der Türkei und Deutschland ein, später folgten aschkenasische Juden aus Rumänien, Polen und Russland. Aus jeder dieser Gemeinden entstanden getrennte gesellschaftliche Zirkel. Diejenigen, die während des Ersten Weltkrieges kamen, ließen sich in den Provinzen nieder, wie in Huancayo, Arequipa, Trujillo und Chiclayo (vgl. Karte 1). Sie trugen im Wesentlichen zur wirtschaftlichen Dynamik der Städte im Landesinneren bei. Ab 1930 machten sich einige Veränderungen in der Einwanderungsfrage bemerkbar. Einerseits wurde die Politik der Anwerbung europäischer Juden aufgegeben, andererseits verschärfte sich die nationalistische Haltung: Ausländern und der Einwanderung generell wurden Einschränkungen auferlegt und eine von der Regierung ausgehende Fremdenfeindlichkeit machte sich breit, die auch die jüdische Gemeinschaft erfasste. Mitte der 1950er Jahre begannen die in den Provinzen ansässigen Juden nach Lima zu ziehen. Die Entstehung einer stabileren Gemeinde in einer Stadt, die mehr Zugangsmöglichkeiten zu einer formalen jüdischen Erziehung und höherer akademischer Ausbildung bot, bedingte die Abnahme der jüdischen Zentren in den Provinzen. In den 1960er Jahren lebte der überwiegende Teil der Juden bereits in Lima. In den nachfolgenden Jahren setzte die Auswanderung nach Israel und in die USA ein. Das Auswanderungsphänomen verschärfte sich in den 1980er Jahren nicht nur im Hinblick auf die jüdische Bevölkerung, sondern als nationale soziodemographische Tendenz, die von der Wirtschaftskrise und der damals in Peru herrschenden bewaffneten Gewalt angeregt wurde. Peru ist ein multiethnisches Land seit der Zeit vor der europäischen Kolonisation. Die Geschichte des 16. bis 19. Jahrhunderts erweiterte diese Vielfalt durch das Zusammenleben und die Vermischung der einheimischen Bevölkerung mit derjenigen spanischer Herkunft. Vom 19. Jahrhundert an, seit der Ausrufung der Republik, haben neue Einwanderungswellen jene Vielfalt nach und nach vergrößert. Tatsächlich hat sich diese Vielfalt nicht immer in einer konstruktiven Beziehung zwischen den verschiedenen ethnischen Konglomeraten widergespiegelt. Die Diskriminierung, besonders der indianischen Bevölkerung, lag als ständiger Schatten auf der nationalen Geschichte. Zu bestimmten Zeiten hat es auch eine gegen die Bevölkerung afrikanischer oder asiatischer Herkunft gerichtete Feindseligkeit und Ausgrenzung gegeben. Was die Juden in Peru betrifft, so können zwei Hauptperioden festgehalten werden, die von einer gegen sie ge-
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richteten Feindseligkeit und Diskriminierung geprägt waren: ihre Verfolgung durch die Inquisition und die Politik der Einwanderungsbeschränkungen in den 1930er Jahren. Im Falle der Inquisition gehören die schlimmsten Perioden der Verfolgung in die ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts, als die meisten jüdischen Opfer zu beklagen waren. Das bedeutendste Autodafé wurde am 23. Januar 1639 abgehalten, mit der Verurteilung zum Scheiterhaufen von Manuel Bautista Pérez, portugiesischer Händler mit Verbindungen zur damaligen Handelselite aus Lima, der das Amt als erster Rabbiner der heimlich ihrem Glauben anhängenden jüdischen Gemeinde der Stadt versah. Drei Jahrhunderte später traf der peruanische Staat Maßnahmen im Bereich der Einwanderungspolitik, die die jüdischen Einwanderer beeinträchtigten. Unter der Prämisse, dass mehr und bessere Arbeitsplätze für Peruaner geschaffen werden müssten, verfolgten die peruanischen Regierungen in den 1930er Jahren eine restriktive Einwanderungspolitik. 1932 wurde eine Vorschrift erlassen, die Ausländern, die sich in Peru niederlassen wollten, die Vorweisung eines Mindestkapitals vorschrieb. Auch wurde der Zuzug von Ausländern strenger kontrolliert. Ihnen wurden Sondersteuern auferlegt, Einwanderungsquoten für sie festgelegt und die Erteilung von Gewerbeerlaubnissen für ihre Geschäfte eingeschränkt. 1936 wurde ein Präsidialdekret erlassen, das folgende Restriktionen beinhaltete: Ausschließliche Zulassung von Einwanderungskontingenten, die zwei Tausendstel der nationalen Bevölkerung nicht überschreiten sollten; Verbot der Einwanderung von ethnischen Gruppen; Zuweisung der Arbeitsplätze eines jeden Unternehmens an Ausländer von nicht mehr als 20 Prozent; Verbot von Geschäftsübertragungen an Ausländer. 1937 wurde für die Visaerteilung eine Geldbürgschaft verlangt. Ergänzt wurde diese Maßnahmenliste durch eine Reihe von stark fremdenfeindlichen Eingaben peruanischer Industrieller, die um die weitere Einschränkung der wirtschaftlichen Aktivitäten von Ausländern ersuchten. Unter anderen Gruppen erwähnten diese Anträge ausdrücklich die jüdische Bevölkerung. Eine 1937 – von sechzig im Hutgeschäft tätigen Personen und Handelshäusern – an Präsident Oscar Benavides gerichtete Eingabe, ersuchte um die Ergreifung von Maßnahmen gegenüber einer aus ihrer Sicht „jüdischen Plage“, die sich des in Rede stehenden Marktes bemächtigt hätte und dabei die peruanischen Unternehmer schädige. 1939 wurde dem Parlament ein – letztendlich abgelehnter – Gesetzentwurf vorgelegt, der die Erfassung und Kontrolle der in Peru ansässigen Juden als Vorsichtsmaßnahme gegen das Hamstern in Kriegszeiten zum Ziel hatte. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs gewann – wenngleich vereinzelt – auch die peruanische Presse antisemitische Züge. Als die Verfolgung der europäischen Juden begann, ersuchten Gemeindemitglieder die peruanische Regierung um eine Politik, die es ermöglichen sollte, verfolgte Juden im Rahmen eines Agrarkolonisationsprojektes aufzunehmen. Die Regierung hatte diesen Vorschlag abgelehnt und ihre Haltung sollte noch erheblich negativere Züge annehmen. 1938 erhielten die Konsulate die Anweisung, Personen, die sie als Juden identifizierten, das Visum zu verweigern. Auf diese Weise wurde die jüdische Einwanderung nach Peru unterbunden. Ein ähnliches Rundschreiben kam 1942 in der Regierungszeit von Manuel Prado y Ugarteche in Umlauf. Im Jahr 1942 bat der Jüdische Weltkongress die peruanische Regierung um die Einreiseerlaubnis für 200 Waisenkinder im Alter von 4 bis 10 Jahren, die von peruanischen
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Juden aufgenommen und versorgt werden sollten. Das Ersuchen wurde abgelehnt. Auch die katholische Kirche reagierte abwehrend: Als sie in dieser Angelegenheit um Hilfe gebeten wurde, sagte einer ihrer höchsten Vertreter, dass eine Unterstützung die Taufe der Minderjährigen zur Voraussetzung haben würde. Antisemitische Äußerungen als ausgesprochene Außenseiterpositionen gibt es weiterhin. Ein Beispiel ist die „Verbraucherschutzfront gegen Börsenspekulation und Wucher“ (Frente de Defensa del Consumidor contra el Agiotismo y la Usura), bestehend aus ungefähr einhundert Personen mit Sitz in der Stadt Tacna, im Süden des Landes, wo sie mit antisemitischen Seminaren und Graffitis einem gewissen, rassisch begründeten Nationalismus das Wort redet. Ein weiteres Beispiel ist die „Etnocacerista-Bewegung“, deren Führer Antauro Humala in ihrem Presseorgan den Holocaust abstritt und die Juden für ihr Schicksal im Zweiten Weltkrieg verantwortlich machte. Antisemitische Haltungen sind auch in der gegenwärtigen peruanischen Politik zu registrieren. Als dem Unternehmer Baruch Ivcher die peruanische Staatsbürgerschaft entzogen wurde, um ihm wiederum seinen Fernsehkanal zu nehmen, wurde in der Präsident Alberto Fujimori nahestehenden Presse eine Kampagne unter Hinweis auf seine jüdische Zugehörigkeit gestartet. Dasselbe geschah mit der Ehefrau von Präsident Alejandro Toledo. Ihre Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft wurde von einem Teil der Presse auf abwertende Weise hervorgehoben. Die gegenwärtige jüdische Gemeinschaft in Peru ist immer noch klein. Obgleich keine offiziellen Angaben vorliegen, schätzen Mitglieder ihre Zahl auf zwischen 1.500 und 2.000 Angehörige, die in allen Bereichen des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leben Perus vertreten sind.
Salomón Lerner Febres Übersetzt aus dem Spanischen von Hans Huber Abendroth
Literatur Henry Mitrani (Hrsg.), Ser judío en el Perú. Múltiples presencias de la cultura judío-peruana, Lima 2005. Jacques Rodrich, Sobre los judíos peruanos, in: Henry Mitrani (2005), S.15-22. Margarita Suárez, Presencia judía en la conquista y el Virreinato, in: Henry Mitrani (2005), S.53-59. León Trathemberg, Breve historia de la inmigración judía en el Perú, in: Henry Mitrani (2005), S.39-52. León Trathemberg, Los judíos de Lima y las provincias del Perú, Lima 1989. León Trathemberg, La inmigración judía al Perú 1848-1948, Lima 1987.
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Polen Die mittelalterlichen Pogrome im Kontext der Kreuzzüge und Pestepidemien führten zu einer großen Fluchtbewegung aschkenasischer Juden nach Osten. Das Königreich Polen und später die polnisch-litauische Adelsrepublik wurden sowohl in religiös-kultureller wie quantitativer Hinsicht zu einem neuen jüdischen Zentrum in Europa. Zeitweise lebten dort 80 Prozent der europäischen Judenheit, und allmählich entstand eine höchst eigenständige osteuropäisch-jüdische Lebenswelt. Spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts fungierte das scheinbar homogene „Ostjudentum“ als Gegenbild zum westeuropäischen Modell der Assimilation und Emanzipation. Im Westen galt es den einen in überheblicher Herabsetzung als rückständig und unzivilisiert und wurde mit Armut und Schmutz in Verbindung gebracht, andere begegneten ihm wegen der Wahrung einer spezifisch jüdischen Gruppenidentität auch unter zeitweise schwersten Lebensbedingungen mit Bewunderung. Erste jüdische Spuren fanden sich in Polen bereits vor den großen Migrationswellen seit dem Ende des 11. Jahrhunderts. In einem Reisebericht des jüdischen Kaufmanns Ibrahim Ibn Jakub aus Spanien ist eine frühe Beschreibung Polens überliefert; wie er kamen auch andere jüdische Kaufleute aus westlicher oder südöstlicher Richtung dorthin. In der südpolnischen Stadt Przemyśl sind Zeugnisse einer der ältesten jüdischen Gemeinden von Anfang des 11. Jahrhunderts erhalten. Die vor den mordenden Kreuzfahrern nach Osten fliehenden Menschen waren den dortigen Herrschern hochwillkommen, da sie wertvolle Hilfe beim Landesausbau leisteten. Dies spiegelt sich im Statut von Kalisz des großpolnischen Herzogs Bolesław des Frommen (1264) wider. Darin wurden den jüdischen Siedlern freie Wirtschaftbetätigung, Gleichberechtigung bei Zivilprozessen und eigene Gemeindestrukturen garantiert. Zudem stellte der großpolnische Herzog antijüdische Ausschreitungen, Friedhofs- und Synagogenschändungen und Ritualmordbeschuldigungen unter Strafe und verpflichtete seine gentilen Untertanen zum Beistand für ihre jüdischen Nachbarn im Falle eines Angriffs. Damit wird deutlich, dass Juden bereits zu diesem Zeitpunkt auch Objekte einer mittelalterlichen Fremdenfeindlichkeit waren. Als der polnische König Kasimir III. (1333-1370), auch Kasimir der Große genannt, ein Jahrhundert später diese Rechtssetzungen auf das gesamte Reich (Groß- und KleinPolen, Masowien) ausdehnte, erfolgte eine neue Zuwanderungswelle schutzsuchender Juden aus dem Westen, nachdem diese als „Sündenböcke“ erneuten Pogromen im Zuge der Pestwelle ausgesetzt waren. Die Flüchtlinge kamen unter Kasimir in den Genuss einer besonderen Förderung: Juden unterstanden nunmehr der königlichen Gerichtsbarkeit, und es wurde ihnen die Möglichkeit des Erwerbs von Grund und Boden in Städten eingeräumt. Hintergrund dafür waren die wirtschaftlichen Interessen der polnischen Herrscher, die von jüdischen Erfahrungen in den Geld-Ware-Beziehungen profitierten und gleichzeitig ein Gegengewicht zum deutschen Bürgertum schaffen sollten. Die Stellung der Juden in Polen war also bereits zu diesem Zeitpunkt exponiert. Gleichzeitig war die Förderung der jüdischen Ansiedlung durch die polnischen Herrscher in dieser Periode einmalig in Europa, was sich jüdischerseits in einer Legende widerspiegelt, in der
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der jüdische Name für Polen als PO-LIN zur Aufforderung „hier nächtige“ wird, somit Sicherheit und Schutz suggeriert. Unter den polnischen Königen gilt Kasimir der Große als besonderer Förderer der Juden. Bis heute wird im ehemaligen jüdischen Stadtviertel Kazimierz in Krakau an eine Liebesbeziehung des Königs mit der schönen Jüdin Esther/Esterka erinnert, die auch in der mittelalterlichen Chronik des Jan Długosz überliefert wird. Dieser erklärte die judenfreundliche Politik Kasimirs mit der angeblichen Beziehung zu Esther, die als Gotteslästerung verurteilt wird. Damit sprach sich Długosz wie andere polnische Geistliche jener Zeit gegen die Zuwanderung der Andersgläubigen und für ihre Isolation, getrennte Wohnviertel und eine Kennzeichnung der Fremden aus. Auch in der Bevölkerung wurden bereits zu diesem Zeitpunkt sozioökonomische Ressentiments gegen die Zuwanderer laut, die als unliebsame Konkurrenz gesehen wurden. Auf der Grundlage neuer Privilegien „De non tolerandis Judaeis“ kam es daher im 15. Jahrhundert zu Vertreibungen der Juden aus verschiedenen polnischen Städten, wenngleich sich auch Gegenbeispiele polnisch-jüdischer Kooperationen im kommunalen Raum finden. Es waren jedoch vor allem Könige und Hochadel, die ein anhaltendes Interesse an Juden als Steuerpächter, Münzmeister oder Verwalter adeligen Grundbesitzes hatten; so konnte auch eine kleine reiche Oberschicht jüdischer Finanziers, Großkaufleute und Pächter entstehen. Auf Veranlassung der polnischen Herrschaftsträger entfaltete sich auch ein eigenständiges jüdisches Selbstverwaltungssystem: Während auf der untersten Ebene die Gemeinde (kehilla) mit einem Vorstand (kahal) für die Einhaltung der religiösen Gesetze, aber auch für die öffentliche Ordnung, Hygiene, Sozialfürsorge und Steuereinziehung verantwortlich war, agierte seit dem 16. Jahrhundert ein landesweiter „Judenreichstag“, der Vier-Länder-Sejm nach dem Vorbild des polnisch-litauischen Sejm. Er tagte erstmals 1581 in Lublin und wurde erst 1764 im Zuge der Reformprojekte des letzten polnischen König aufgelöst. Das 16. und die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts gelten in der Geschichte der polnischen Judenheit als „Goldenes Zeitalter“, und Polen wurde zum neuen religiös-kulturellen Zentrum des europäischen Judentums. Um 1500 lebten rund 25.000 Juden in PolenLitauen, Mitte des 17. Jahrhunderts waren es bereits 500.000 (5 Prozent der Gesamtbevölkerung). Auch in sozioökonomischer Hinsicht hatten Juden eine feste Position im Wirtschaftskreislauf und Sozialgefüge der Adelsrepublik. Neben Adel, Klerus, Stadtbürgertum und Bauern bildeten sie einen weiteren Stand, der als Mittler zwischen Stadt und Land, Adel und Bauern in ein Beziehungsgeflecht mit der christlichen Bevölkerung eingebunden war. Gleichwohl blieb die Stellung der Juden exponiert, und sie waren nicht vollständig in die vormoderne Gesellschaft integriert, was sie leicht angreifbar und als „die Anderen“ in Konfliktsituationen zur Zielscheibe von Aggressionen machte. Dies zeigen insbesondere die Vorgänge im Südosten der Adelsrepublik, wo nach der Union von Lublin 1569 weite Gebiete im heutigen Weißrussland und der Ukraine an Polen fielen. An der Kolonisierung durch polnische Magnaten waren Juden als Finanziers, Verwalter und Pächter beteiligt und wurden so in den Augen der ukrainischen Bauern zu Handlangern der polnischen Feudalherren. Eine erhebliche Verschärfung erfuhr diese soziale Konfliktkonstellation zudem durch ihre konfessionelle Aufladung (Katholizismus
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versus Orthodoxie), deren Opfer vor allem die Juden wurden: Während des Aufstands der Kosaken und Bauern unter Bogdan Chmelnicki kam es zu blutigen Massakern an der jüdischen Bevölkerung, in denen bis zu 100.000 Menschen ihr Leben verloren. Durch die „Kriege der blutigen Sintflut“ in der Mitte des 17. Jahrhunderts endete das Zeitalter der religiösen Toleranz, und es kam zunehmend zur Gleichsetzung von Pole und Katholik, was durch die Gegenreformation befördert wurde. Nunmehr gewann auch die religiös motivierte, vom katholischen Klerus geschürte Judenfeindschaft immer mehr Raum, wodurch die Position der jüdischen Minderheit noch unsicherer wurde – nicht zuletzt auch deshalb, weil der Adel immer mehr Schutzfunktionen abzog. Im Laufe des 18. Jahrhunderts verbreiteten sich zunehmend Ritualmordlegenden, die ihre Visualisierung in Kirchengemälden fanden. In Sandomierz wurde ein Fresko mit einer Ritualmordszene in der Kathedrale platziert, und in Łęczyca hing ein solches Bild bereits seit 1639 an der vorderen Außenwand eines Klosters; es wurde erst 1825 nach Protesten der jüdischen Gemeindevorsteher in einen Kellerraum verbannt. In Predigten und kirchlichen Schriften wurde zudem der unter der Landbevölkerung weitverbreitete Alkoholismus den jüdischen Schankwirten angelastet, wodurch das antisemitische Topos des Juden als Schädling in den Köpfen einfacher Menschen implementiert wurde. Die traumatischen Erfahrungen der Pogrome ließen in der jüdischen Bevölkerung stärker mystisch ausgerichtete religiöse Bewegungen entstehen. Der jüdische Messianismus war auch für die polnische Geistesgeschichte von größter Bedeutung, da sich der polnische Messianismus daraus speiste, was den polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz (1798-1855) veranlasste, in den Juden die älteren Brüder der Polen zu sehen. Dies steht im Kontext der Frühphase des polnischen Nationalismus, die von der Romantik und der Tradition der untergegangenen multiethnischen Adelsrepublik geprägt war. Entscheidender für das Bild der Ostjuden war freilich der Chassidismus, der zu einem integralen Bestandteil der Konstruktion des Ostjudentums wurde. Dazu gehörte auch die jiddische Sprache, die wie das Schtetl laut Nathan Birnbaum zur Formierung einer „in sich abgeschlossenen Kulturpersönlichkeit“ beitrug. Gleichwohl blieben jüdische und gentile Lebenswelten in der Vormoderne miteinander verflochten. Nach den Teilungen Polens ging die Zuständigkeit für die jüdische Minderheit an die Hegemonialmächte Russland, Österreich und Preußen über. Das 19. Jahrhundert gilt für Polen als Zeit der Unterdrückung, brachte jedoch durch Industrialisierung, Urbanisierung und die Entstehung neuer Schichten und politischer Ideologien zugleich den Eintritt in die Moderne mit sich. Auch die jüdische Bevölkerung zog es vermehrt in die größeren Städte, nachdem sie infolge der Krise der Adelswirtschaft zunehmend aus ihrer Mittlerposition verdrängt worden war. In den Städten entstand eine kleine jüdische Oberschicht (Bankiers, Unternehmer), mehrheitlich bildete die polnische Judenheit im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hingegen eine untere Mittelschicht aus Handwerkern und Händlern. Wenngleich aus westlicher Perspektive vor allem die Wahrnehmung ärmlicher Lebensverhältnisse dominiert, ist gleichwohl festzuhalten, dass die jüdische Minderheit im Vergleich zu den allgemeinen Lebensverhältnissen in Ost- und Ostmitteleuropa deutlich höhere Standards aufwies – nicht zuletzt durch ihre Hygienevorschriften und ein höheres Bildungsniveau.
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Während Juden in den drei großen polnischen Nationalaufständen 1794, 1830/1831 und 1863 durchaus noch als Mitkämpfer willkommen waren, setzte nach dem Scheitern der letzten Erhebung eine Entflechtung von Polen und Juden ein, als man sich in Polen vom Ideal der untergegangenen multiethnischen Adelsrepublik löste und statt dessen die Vorstellung einer ethnisch homogenen polnischen Nation maßgeblich wurde, in der die Juden zu Fremden und somit de-familialisiert wurden. Die Postulierung einer „jüdischen Frage“ (polnisch sprawa żydowska) war eng mit der Kompensation der kollektiven Demütigung durch die lange Fremdherrschaft verbunden. Bereits 1859 entfachte eine Warschauer Zeitung (Gazeta Warszawska) durch eine aggressive publizistische Kampagne einen „jüdischen Krieg“ und beschuldigte das jüdische Großbürgertum, nicht loyal gegenüber dem polnischen Freiheitsstreben zu sein. Es wurde ein Bedrohungsszenario konstruiert, in welchem Juden durch variable Anschuldigungen zum gefährlichen Anderen stilisiert wurden und eine judenfeindliche Haltung somit als nationale Selbstverteidigung legitimiert werden konnte. Auch kursierten immer mehr Schriften, in denen das Bild des Juden mit Schmutz und Unrat konnotiert wurden. Auf diese Weise entstand ein Mobilisierungspotenzial, das von Publizisten wie Jan Jeleński oder Teodor Jeske-Choiński durch antisemitische Propaganda geschürt wurde. Das Aufkommen des modernen Antisemitismus in Polen war eng an den neuen, häufig aggressiven Ethno-Nationalismus gekoppelt und wurde wie andernorts auch immer mehr zu einem politischen Instrument und zum festen Bestandteil von Programmen und Bewegungen, insbesondere der Partei der Nationaldemokraten unter ihrem Führer Roman Dmowski, der die antisemitischen Ressentiments unter anderem in gezielten Boykottkampagnen zu kanalisieren suchte. Die polnischen Nationaldemokraten propagierten die Zielvorstellung eines ethnisch homogenen und kohärenten Polen, die Protektion des bedrohlichen Juden war integraler Bestandteil ihrer Ideologie. In der polnischen Bevölkerung fiel die antisemitische Agitation der Nationaldemokraten auf fruchtbaren Boden, da sie sich mit den traditionellen antijüdischen Motiven der katholischen Kirche, wirtschaftlicher Konkurrenzangst und der Verunsicherung durch beschleunigte Modernisierungstendenzen mischte, die durch die antimodernistische Konstruktion eines reinen, vor Fremdeinflüssen zu schützenden polnischen Volkskörpers kompensiert wurden. Juden wurden zur Personifizierung scheinbar bedrohlicher Phänomene der Moderne wie Kapitalismus, Sozialismus, Internationalisierung oder Massenmedien. Dass diese Denkmuster in der polnischen Bevölkerung zu einer wachsenden Gewaltbereitschaft gegenüber der jüdischen Minderheit führten, zeigte sich bereits im Dezember 1881, als in Warschau das so genannte Weihnachtspogrom stattfand. Nachdem während einer Weihnachtsmesse in der zentral gelegenen Heiligkreuzkirche aufgrund einer falschen Warnung vor einem Feuer eine Panik ausbrach und mehrere Menschen zu Tode kamen, wurde die jüdische Bevölkerung beschuldigt, dies verursacht zu haben. Bei den anschließenden Ausschreitungen im jüdischen Viertel Warschaus, die drei Tage anhielten, wurden mehrere Menschen getötet, viele verletzt und jüdische Geschäfte und Wohnungen verwüstet. Auch auf dem Lande stieg die Gewaltbereitschaft der sich formierenden polnischen Bauernbewegung. Der Priester Stanisław Stojałowski trug durch seine Agitation unter der Landbevölkerung und den antisemitischen Duktus der von ihm herausgegebenen Zeitungen „Wieniec“ (Der Kranz) und „Pszczółka“ (Die Biene) wesentlich zu der bäuerli-
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chen Pogromwelle in Westgalizien 1898 bei. Durch die religiöse Grundierung seiner judenfeindlichen Aussagen fand er Zugang zu den Köpfen vieler Bauern, denen er 1896 mit der „Christlichen Volkspartei“ (Stronnictwo Chrześcijańsko-Ludowe) eine politische Plattform gab. Zwar drang das Narrativ vom Juden als Schädling immer mehr in die polnische Öffentlichkeit ein, doch mehrten sich nunmehr auch die Stimmen, die dies kritisch beleuchteten. Einige führende Vertreter des Warschauer Positivismus, wie z.B. die Schriftstellerin Eliza Orzeszkowa, übten heftige Kritik an der judenfeindlichen Stimmung und den Ausschreitungen, und auch die 1892 gegründete „Polnische Sozialistische Partei“ (PPS) nahm dezidiert gegen den Antisemitismus Stellung, auch wenn ihre eigenen Reihen nicht völlig frei von antisemitischen Denkmustern waren. Zudem sprachen sich liberale Intellektuelle und Sozialisten für eine Assimilation der jüdischen Minderheit an die polnische Mehrheitsbevölkerung aus und waren nicht bereit, eine eigenständige jüdische Ethnizität als Bereicherung einer pluralen Gesellschaft anzuerkennen. Im russischen Teilungsgebiet richteten sich auch jene Aggressionen gegen die Juden, deren eigentliches Ziel die russischen Herrschaftsträger der zaristischen Besatzung, später dann die Rote Armee und die kommunistische Sowjetunion waren. So wurden bereits die Ende des 19. Jahrhunderts aus den russischen Westgouvernements eingewanderten Litwaken als Agenten der Russifizierung wahrgenommen. Nach dem Ende der Zarenherrschaft stand dann das Stereotyp der „Judenkommune“ (żydokomuna) stellvertretend für das Bedrohungspotenzial der Roten Armee und der sich formierenden Sowjetunion. Bereits im polnisch-sowjetischen Krieg (1920-1922) wurden Juden im Kampf um die Grenzen eines neuen polnischen Staats als sowjetfreundlich und damit anti-polnisch diffamiert. Die Propaganda entlud sich unter anderem in Lemberg (vgl. Karte 6), wo es zu Pogromen an der jüdischen Stadtbevölkerung kam. In den Ausschreitungen während des polnisch-ukrainischen Kriegs 1918-1920, in denen mehrere hundert Juden ermordet wurden, offenbarte sich der Antisemitismus in der polnischen Armee. Das antisemitische Stereotyp der Judenkommune fand auch in anderen Kontexten Anwendung. So diente es als Rechtfertigung für die partielle polnische Beteiligung an der massenhaften Ermordung von Juden durch die Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs, und nach 1945 wurden Juden dann beschuldigt, die Verantwortung für die Eingliederung Polens in den sowjetischen Herrschaftsbereich zu tragen. Dieses Motiv ist bis heute in den Köpfen vieler Polen verankert. In der Zweiten Polnischen Republik machte die polnische Judenheit mit rund 3 Millionen Menschen rund 10 Prozent der Gesamtbevölkerung aus und war damit eine nationale oder ethnische Minderheit wie Ukrainer, Weißrussen und Deutsche. Juden lebten mehrheitlich in größeren Städten wie Warschau, Łódż, Lublin, Wilna oder Białystok, wo sie rund ein Drittel der Stadtbevölkerung stellten, während die Mehrheit der ethnischpolnischen Bevölkerung weiterhin von der Landwirtschaft lebte. In jüdischer Wahrnehmung galt der charismatische Staatschef Józef Piłsudski als Sicherheitsgarant, da dessen Ideal eines neuen Polen tatsächlich an der multiethnischen Adelsrepublik orientiert war und mit der Bereitschaft einherging, eigenständige Minderheiten als integralen Bestandteil der Zweiten Republik anzuerkennen. Trotz eines offenen Antisemitismus der Nationaldemokraten und eines latenten Antisemitismus in der polnischen Gesellschaft hatten
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Juden in Polen zu Lebzeiten des Marschalls nicht das Gefühl einer existenziellen Bedrohung. Zudem konnte sich dort in den 1920er und 1930er eine „Jüdischkeit“ entfalten, die sich in einem breiten Spektrum von Kultur, Politik und Lebensformen widerspiegelte. Gleichzeitig erfolgte in den 1930er Jahren die Reorganisation der antisemitischen Rechten, die sich in gewaltbereiten Kampfbünden zusammenschloss. Auch unter der akademischen polnischen Jugend machten sich zunehmend Ressentiments gegen jüdische Kommilitonen breit, und schließlich näherten sich auch die führenden Generäle als Nachfolger Piłsudskis nach 1935 immer stärker an die Nationaldemokraten an. Der Antisemitismus wurde in den letzten Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg zu einem einigenden Band für die rechten Eliten. Nicht zuletzt auch unter Einfluss des deutschen Vorbilds billigten Regierung und Kirche den von den Nationaldemokraten initiierten Wirtschaftsboykott. Mehrere Berufsverbände folgten dem Beispiel der „Arierparagraphen“, und an einigen Universitäten wurden nach der Einführung eines „numerus clausus“ für jüdische Studierende sogenannte Ghetto-Bänke einrichtet. Das Umschwenken der Regierung auf einen antisemitischen Kurs, das auch mit der Diskussion von Aussiedlungsplänen einherging, ermutigte die rechtsradikalen Untergruppen der Nationaldemokraten, 1936 in mehreren Städten gewalttätige Ausschreitungen zu organisieren, denen mehrere Dutzend Menschen zum Opfer fielen. Als 1938 16.000 polnische Juden und Jüdinnen aus Deutschland ausgewiesen wurden, weigerte sich die polnische Regierung zunächst, sie aufzunehmen. Zwar verurteilte die katholische Kirche in Polen die Gewaltexzesse gegen Juden, führende Geistliche wie Primas August Hlond behielten jedoch die judenfeindliche Haltung bei und beschuldigten die jüdische Bevölkerung, durch ihre angebliche Affinität zu Atheismus, Kommunismus und Pornographie selbst Ursache der Pogrome zu sein. Auch der aufgrund seines Opfertods in Auschwitz heilig gesprochene Franziskanerpriester Maksymilian Maria Kolbe tolerierte, dass in der von ihm gegründeten auflagenstarken Zeitschrift „Rycerz Niepokalanej“ (Ritter der Unbefleckten) und anderen Druckerzeugnissen des katholischen Verlagshauses der Franziskaner in Niepokalanów ein Bild des Judentums als „Krebsgeschwür im Volkskörper“ weite Verbreitung fand. Auch in der von Kolbe mitgeprägten „Kleinen Tageszeitung“ (Mały Dziennik) wurde mit bellizistischem Vokabular eine „jüdische Gefahr“ propagiert, die einzig durch die gegebenenfalls zu erzwingende Massenemigration der polnischen Juden überwunden werden könne. In diese Richtung gingen zeitweise auch Überlegungen der polnischen Regierung. Nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939 wurden Polen und Juden zu Leidtragenden eines brutalen Besatzungsregimes, dem rund 4,5 Prozent der ethnisch-polnischen und 98 Prozent der polnisch-jüdischen Bevölkerung zum Opfer fielen. Die Mehrheit der Polen und Polinnen blieb gegenüber dem jüdischem Martyrium gleichgültig und sah nur das eigene Leid, manche äußerten heimlich oder offen sogar eine gewisse Befriedigung über die Lösung der polnischen „Judenfrage“ durch die Nationalsozialisten. Durch die radikalen Ausgrenzungsmaßnahmen wurden Juden auch in den Augen mancher Polen entmenschlicht, was zu öffentlichen Demütigungen und gewaltsamen Ausschreitungen führte. Selbst Teile der katholischen Kirche äußerten ihre Zustimmung zur nationalsozialistischen Judenpolitik. Zudem profitierten zahlreiche Polen von der massenhaften Konfiszierung jüdischen Eigentums. Im Gebiet um Łomża, wo in der Vorkriegszeit eine
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Hochburg der Nationaldemokraten lag, nahmen Polen 1941 aktiv an den zumeist von den deutschen Besatzern initiierten grausamen Tötungen der jüdischen Bevölkerung teil, wofür der Name Jedwabne zu einem Synonym wurde. Erst Ende 1942, als bereits die Mehrheit der polnischen Juden in den Vernichtungslagern ermordet worden war, formierte sich der Hilfsrat für die Juden Żegota, dessen Mitglieder jedoch nicht alle frei von antisemitischen Denkmustern waren. Diejenigen Polen, die bereit zur Hilfe für die Verfolgten waren, taten dies unter Androhung der Todesstrafe und in der ständigen Gefahr, von polnischen Nachbarn denunziert zu werden. Sie trugen wesentlich dazu bei, dass schätzungsweise 50.000 jüdische Menschen im besetzten Polen den Holocaust überlebten. Die allgemeine Verrohung und Demoralisierung durch das Besatzungsregime und die Zerrüttung der moralisch-ethischen Maßstäbe durch die Holocaust-Zeugenschaft wirkten auch noch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nach. So fanden in den ersten Nachkriegsjahren erneut Pogrome statt, die nicht monokausal durch die Besitzansprüche der jüdischen Überlebenden und Heimkehrenden erklärt werden können. Unmittelbarer Auslöser des Pogroms von Kielce, bei dem im Sommer 1946 über 40 Überlebende des Holocaust ermordet wurden, war das Gerücht, dass Juden katholische Kinder entführten. Damit griff man auf traditionelle Ritualmordlegenden zurück, was die Langlebigkeit dieses alten antijüdischen Motivs verdeutlicht. Der Bischof von Kielce Czesław Kaczmarek und der ihm unterstellte Klerus wiederum rechtfertigten die Ausschreitungen als polnische „Selbstverteidigung“ gegen jüdische Kommunisten und sorgten sich vor allem um das Wohl der polnischen Kinder und Jugendlichen, die Zeugen der Exzesse waren. Andere Kirchenvertreter wie der Bischof der Nachbardiözese Tschenstochau Teodor Kubina äußerten allerdings Empörung über das Verhalten ihrer Landsleute und Empathie mit den Opfern. Der in der Volksrepublik Polen offiziell propagierten „Martyrologia“ des polnischen Volkes, die den Blick auf jüdisches Leiden versperrte, kam in der Nachkriegszeit eine wichtige Integrationsfunktion zu; sie wurde zur nahezu einzigen Klammer zwischen den kommunistischen Herrschaftseliten und einer nichtkommunistischen Gesellschaft, während der polnische Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart weitgehend tabuisiert blieb, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass antisemitische Stereotype auch in der Staats- und Parteiführung weiterhin wirkmächtig waren. So kam es im Zuge der Entstalinisierung 1955/1956 in Polen zu Säuberungen im Herrschaftsapparat, in dem einige Kommunisten jüdischer Herkunft prominente Positionen innehatten. In der Folgezeit wurde der Nationalismus der Vorkriegszeit unter staatssozialistischen Vorzeichen reaktiviert, was 1968 die Schleusen für die als Antizionismus getarnten antisemitischen Kampagnen öffnete. In Folge der Ausschreitungen der unmittelbaren Nachkriegsjahre, der Säuberungen der fünfziger Jahre und der „März-Ereignisse“ 1968 verließen die meisten überlebenden Juden die Volksrepublik Polen, weshalb für die Folgezeit vielfach von einem polnischen „Antisemitismus ohne Juden“ die Rede ist. Seit den 1980er Jahren kennzeichnen zwei gegenläufige Tendenzen die öffentlichen Debatten über die polnisch-jüdischen Beziehungen. Zum einen wächst die Bereitschaft, sich mit den dunklen Flecken der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Zum anderen verstellt die polnische „Martyrologia“ noch immer den Blick für das Leiden anderer.
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Dies zeigte sich vor allem in der Debatte um das Buch „Nachbarn“ von Jan Gross (2000), das den Pogrom in Jedwabne 1941 thematisiert. In der polnischen Öffentlichkeit lassen sich im Wesentlichen zwei Lager erkennen: einerseits eine mitunter auch aggressive Leugnung polnischer Schuld und ein Festhalten an der nationalen Selbsterhebung in der eigenen Opferrolle, und auf der anderen Seite die Stimmen derer, die wie Adam Michnik, Chefredakteur der wichtigsten polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“, eine Revision des polnischen Geschichtsbildes und des Umgangs mit dem jüdischen Anteil an der polnischen Vergangenheit fordern. Gleichzeitig bedienen sich rechtsnationalistische politische und kirchliche Eliten im Kampf um die Deutungshoheit in einer modernen Mediengesellschaft bis heute des populären Fundus multipler antisemitischer Motive. Dass 2006 in der Nähe des polnischen Sejm in Warschau ein Dmowski-Denkmal eingeweiht wurde, wirft ein bezeichnendes Licht auf gegenwärtige Tendenzen in der polnischen Politik. Im schwierigen Selbstfindungsprozess des postsozialistischen Polen sind antisemitische Denkmuster noch immer präsent.
Gertrud Pickhan
Literatur Antisemitism and its Opponents in Modern Poland. Edited by Robert Blobaum, Ithaca and London 2005. Antysemityzm w Polsce i na Ukrainie. Raport z badań pod redakcją Ireneusza Krzemińskiego [Antisemitismus in Polen und in der Ukraine. Forschungsbericht hrsg. von Ireneusz Krzemiński], Warszawa 2006. Czy Polacy są antysemitami? Redaktor naukowy Ireneusz Kzemiński [Sind die Polen Antisemiten? Hrsg. Ireneusz Krzemiński], Warszawa 1996. Frank Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen 1881-1922. Eine Studie zur Geschichte des Antisemitismus in Europa, Wiesbaden 1991. Jan T. Gross, Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001. Jan T. Gross, Fear. Anti-Semitism in Poland After Auschwitz. An Essay in Historical Interpretation, New York 2006. Joanna Beata Michlic, Poland’s Threatening Other. The Image of the Jew from 1880 to the Present, Lincoln and London 2006. Theodore R. Weeks, From Assimilation to Antisemitism. The “Jewish Question” in Poland, DeKalb 2006. Andrzej Żbikowski, U genezy Jedwabnego. Żydzi na Kresach północno-wschodnich II Rzeczypospolitej wrzesień 1939-lipiec 1941 [Zur Genese von Jedwabne. Juden im nordöstlichen Grenzland („Kresy“) der II. Republik September 1939-Juli 1941], Warszawa 2006. Joshua D. Zimmerman (Hrsg.), Contested Memories. Poles and Jews During the Holocaust and Its Aftermath, New Brunswick, New Jersey and London 2003.
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Portugal Jüdische und christliche Historiker führen die Gründung der Hafenstadt Setúbal auf Tubal, einen Enkel Noahs zurück. Für andere stammen die iberischen Juden entweder von den „zehn verlorenen Stämmen“ ab, die von den Assyrern 922 v.Chr. deportiert wurden, bzw. von den Juden, die nach der Zerstörung Jerusalems durch König Nebukadnezar im Jahre 587 v.Chr. die Iberische Halbinsel erreichten. Das jüdische Leben im Römischen und später im Westgotenreich verlief ohne größere Spannungen. So berichtet das Konzil von Elvira (um 300) von einem friedlichen Zusammenleben zwischen Christen und Juden. Die friedliche Koexistenz findet jedoch mit dem Konzil von Toledo (694) ein jähes Ende, als König Egica und die hispanischen Bischöfe als Vergeltung für eine angebliche Konspiration mit dem muslimischen Feind die Versklavung aller Juden, ihre Vertreibung und ihre Enteignung anordnen. Kinder im Alter von mehr als sieben Jahren werden den Eltern weggenommen und christlichen Familien anvertraut. Das Verhältnis zwischen Juden und Christen bessert sich infolge der Reconquista. König Alfonso VI. von Leon stellt 1095 in einem Privileg für die Stadt Santarém die jüdische Bevölkerung der Stadt ausdrücklich unter seinen Schutz, wobei vor allem ökonomische Gründe eine gewichtige Rolle spielen. Die Juden verfügen über eine eigene Gesetzgebung und in einigen Städten genießen sie die gleichen Bürgerrechte wie die christliche Bevölkerung. Gegen diese Privilegien intervenieren die Christen beim König, der die Juden daraufhin verpflichtet, besondere Kennzeichen zu tragen. Der entsprechende Beschluss der 4. Lateran-Synode im Jahr 1215 wird in Portugal allerdings nur zögerlich umgesetzt. Erst unter König Afonso IV. (1325-1357) müssen die Juden ein gelbes Abzeichen am Hut tragen. Ende des 13. Jahrhunderts haben sich die Juden in mehr als dreißig Gemeinden organisiert, so zum Beispiel in Trancoso, Atouguia, Leiria, Tomar, Portalegre, Elvas, Serpa, Estremoz, Santiago de Cacém, Loulé, Silves und Tavira. 1429 ordnet König João I. (1383-1433) an, dass ein sechszackiger roter Stern in Größe des Königssiegels sichtbar auf der Oberkleidung angebracht werden muss. Im Gegensatz zu den Juden in Spanien ist das jüdische Leben in Portugal jedoch weniger reglementiert, nur vereinzelt äußern sich Wut und Neid der Christen in Pogromen, die weniger religiös als wirtschaftlich motiviert sind: 1383 kommt es in Lissabon zu einem Pogrom, als sich die Armen gegen die Reichen erheben und dabei das Judenviertel überfallen; 1449 findet in Lissabon erneut ein Übergriff auf das Judenviertel statt, bei dem zahlreiche Anwohner ums Leben kommen. Im ausgehenden 14. Jahrhundert steigt die Zahl der jüdischen Bevölkerung in Portugal als Folge von Pogromen in Navarra (1320 und 1328) und in Sevilla (1391) sowie der „Schwarzen Pest“ (1348) und des Bürgerkriegs in Kastilien (1366) deutlich an. Wer nicht ermordet oder als Sklave an die Mauren verkauft wird, tritt zum Christentum über oder versucht nach Portugal zu fliehen. Infolge dieser Emigration erhöht sich die Zahl der jüdischen Gemeinden auf weit über Hundert, vor allem im Nordwesten (Trás-osMontes und Beira), in der Hauptstadt Lissabon und südlich des Tejo, mit Schwerpunkten in Évora, Santarém und Beja.
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Gegen Ende des 15. Jahrhunderts ist die Zunahme antijüdischer Hetzschriften zu verzeichnen, in denen Juden die Ermordung Christi vorgeworfen wird. Sie werden auch der Hostienschändung bezichtigt, aber im Gegensatz zu Spanien kommt es zu keinem Ritualmordvorwurf. Mit der Wirtschaftskrise und der Verelendung zahlreicher Familien wird das soziale Leben in Portugal immer angespannter. Arbeitslosigkeit führt zur Armutsemigration und die Zerstörung des sozialen Zusammenhalts bewirkte neben der politischen auch eine religiöse Radikalisierung. Nach dem Tod von König Afonso V. ändert sich die Politik der portugiesischen Krone den Juden gegenüber dramatisch. Mit der Einführung der Inquisition in Spanien (1480) erfolgt die massive Flucht spanischer Konvertiten (conversos) nach Portugal, drei Jahre später folgen die aus Andalusien vertriebenen Juden. In Portugal richtet sich die Wut des Volkes gegen die Konvertiten und Juden, denen man die Wirtschaftskrise und die Pest zur Last legt. Die spanischen Könige erhalten mit der päpstlichen Bulle „Pessimum Genus“ das Recht, alle spanischen Konvertiten der Inquisition auszuliefern und die Pflicht, ihre Flucht in die Länder des Islam mit allen Mittel zu verhindern. Der portugiesische König João II. fürchtet die Errichtung der Inquisition in seinem Land und befiehlt 1488, dass kein Konvertit mehr sein Land betreten darf. Am 31. März 1492 ordnet Isabella von Kastilien die Vertreibung aller Juden aus ihren Territorien an. Sie fordert den portugiesischen König João II. auf, ebenfalls die Juden auszuweisen. Spanische Juden versuchen Kontakt mit der portugiesischen Krone aufzunehmen, um nach Portugal ausreisen zu können. Gegen den Widerstand seiner Ratgeber ordnete João II. an, dass spanische Juden allein über Olivença, Arronches, Castello Rodrigo, Bragança und Melgaço nach Portugal einreisen dürfen. An der Grenze muss jeder Flüchtling eine Kopfprämie von acht Cruzados bezahlen und die vertriebenen Juden dürfen sich nicht länger als acht Monate im Lande aufhalten. Die Zahl der spanischen Flüchtlinge wird von einigen Forschern auf weit über 100.000 geschätzt, wahrscheinlicher jedoch ist eine Zahl unter 10.000. 1493 entriss der König 5.000 jüdische Kinder ihren Eltern und übergab sie dem Statthalter von São Tomé, Alvaro de Caminha. Nur wenige Kinder überleben die Verbannung, wie Chronisten zu berichten wissen. Wer Portugal nicht verlassen kann, untersteht dem König quasi als Leibeigener. Die Juden wohnen in den Häusern der Aristokraten, denen sie dienen müssen. Gegen ein Lösegeld von 16.000 Cruzados gibt ihnen der neue König Manuel I. Ende 1495 jedoch die Freiheit zurück. 1494 ordnet König João II. die Vertreibung aller Konvertiten an. Zahlreichen Juden gelingt es nach Neapel zu kommen. Auch erwägt der König die Ausweisung aller Juden bis 1496, um einen drohenden Konflikt mit Spanien zu vermeiden. Aber erst sein Nachfolger Manuel I. wird dieses Edikt umsetzen. Da König Manuel I. ohne die Ausweisung aller Juden aus seinem Königreich auf eine Heirat mit der spanischen Thronfolgerin hätte verzichten müssen, befiehlt er am 6. Dezember 1496 die Ausweisung binnen einer Frist von zehn Monaten. Da der König einerseits verheerende wirtschaftliche Folgen für sein Land und besonders für die maritime Expansion befürchtet, sich andererseits dem Druck Spaniens auch nicht völlig versagen kann, ordnet er noch vor dem Verstreichen der Frist am 21. April 1497 die Zwangstaufe aller Juden in seinem Reich an. Für einen Zeitraum von zwanzig Jahren dürfen die Juden daher wegen ihrer jüdischen Tradition nicht verfolgt werden, es ist ihnen jedoch streng-
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stens verboten, das Land zu verlassen. In Erbangelegenheiten werden die Neuchristen den Altchristen gleichgestellt, sie können Kirchen- und Staatsämter erlangen. Die Heirat zwischen Neuchristen wird untersagt, Mischehen sind jedoch erwünscht. Nach Hasspredigten vor allem der Dominikaner erfolgen immer wieder tätliche Angriffe auf die Minderheit, so z.B. 1504 in Lissabon und in Évora. Ein Jahr später findet in Lissabon ein Massaker statt, bei dem mehr als 2.000 Neuchristen ihr Leben verlieren. 1536 wird unter João III. das Inquisitionstribunal offiziell eingeführt. Der Nachweis der „Blutreinheit“ (pureza de sangue) erlangt im 17. und 18. Jahrhundert große Bedeutung. Die Inquisition wird zu einer „Fabrik der Juden“, in der die Beschuldigten erst zu Juden gemacht werden. Aus dieser Zeit stammen unzählige Spottgedichte auf Juden, Schmähungen im Theater und in der Literatur. Mit der Zwangstaufe der Juden in Portugal und der gescheiterten Integrationspolitik der portugiesischen Krone entlädt sich der Hass der Bevölkerung gegen die Konvertiten, die sie für „falsche Christen“ halten. Somit gibt es in Portugal die „Reinen“, die Altchristen (cristãos velhos), und die „Unreinen“, die Neuchristen (cristãos novos). „Reinheit des Blutes“ ist die Voraussetzung für den Zugang zu allen öffentlichen Ämtern in Portugal, selbst für den medizinischen Beruf und den Zugang zur Universität wird im 17. Jahrhundert der Nachweis der „Blutreinheit“ nötig. 1773 veröffentlicht Marquis von Pombal das Gesetz zur Gleichberechtigung zwischen Neuchristen und Altchristen.
Vom Antijudaismus zum Antisemitismus Beruhte der Antijudaismus des Mittelalters auf einer religiösen Grundlage, so geißelten portugiesische Autoren in Schriften und Predigten die „religiöse Untreue“ der Juden, ihr unmoralisches Verhalten und ihren Glauben, wobei das Ziel ihrer Attacken immer die Konversion blieb. Nach der Einführung der Inquisitionstribunale in Lissabon, Évora und Coimbra erscheinen polemische Schriften gegen die Neuchristen, in denen diese beschuldigt werden, das Christentum allein aus praktischen Gründen angenommen zu haben. Allmählich verwandelt sich der portugiesische Antijudaismus in einen Antisemitismus mit wirtschaftlichem, nationalistischem und rassistischem Zungenschlag. Nach der Ausrufung der Republik im Jahre 1910 entsteht aus dem Antisemitismus der Monarchisten, Konservativen und Nationalisten – im 19. Jahrhundert lebten nur Juden mit einem ausländischen Pass in Portugal – eine rassistische Ideologie, die sich „Integralismo Lusitano“ nennt, deren Theorien in leicht abgeschwächter Form in der Ideologie des „Novo Estado“ (Neuer Staat) des späteren Diktators Salazar weiterleben sollten. In der Zeitschrift „Alma Portuguesa“ (Die Portugiesische Seele) bezeichnete Luís de Almeida Braga 1913 unter dem Begriff „Integralismo Lusitano“ die Wiedergeburt und Erneuerung Portugals, in der Juden keinen Platz haben. Die erste Publikation stammt von Amadeus de Vasconcelos, der in seinem Buch „Os Meus Cadernos“ (Meine Tagebücher) die Juden als „verfluchte Rasse“ beschimpft und sie für alles verantwortlich macht, was Portugal bedrückt. Obwohl zu seiner Zeit die Zahl der Juden in Portugal sehr gering war, rief er seine Landsleute zur Wachsamkeit gegenüber den kosmopolitisch ausgerichteten Juden auf, die er als „angebliche Portugiesen“ (fingidos portugueses) verleumdete. 1914 entstand im Umkreis der radikalen Monarchisten die Bewegung „Integralismo Lusitano“, die sich gegen die Republik richtete und mit Unterstützung der katholischen
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Kirche und der Führungseliten für die Wiedereinführung der Monarchie kämpfte. Zu den Integralisten gehörten enttäuschte Monarchisten, Großgrundbesitzer, das städtische Bürgertum, Vertreter der nationalen Rechten, die sich den Monarchisten anschlossen, sowie erklärte Antisemiten und Rassisten. Unter dem Einfluss der französischen Rechten wird ein Jahr später ihr Chefideologe und Vertreter des „rassischen Nationalismus“, der Schriftsteller António Sardinha, seine Theorien veröffentlichen. Zusammen mit Hipólito Raposo, Alberto de Monsaraz, Luís de Almeida Braga und Pequito Rebelo gründet er die Zeitschrift „Nação Portuguesa“ (Die Portugiesische Nation), in der sie einer traditionellen und organischen, vor allem aber anti-parlamentarischen Monarchie das Wort reden. In dem Werk „O Valor da Raça“ (Der Wert der Rasse) fordert Sardinha die Rückkehr der christlichen Monarchie, die auf der Gleichsetzung von Rasse und Nation beruhte. Feinde Portugals sind für ihn und seine Anhänger nicht allein die Juden, sondern auch die „schweinischen Neger“ (porca infecção nigeroista) und die „Fremden“, die Portugal zu überschwemmen drohen. Für die Integralisten beruhte Portugals Größe ausschließlich auf der „Reinheit der Rasse“, Portugals Niedergang war folglich ein schändliches Werk der Fremden. In seinen späteren Werken distanzierte sich António Sardinha von seinen rassistischen Theorien, um die Juden nunmehr nicht wegen ihrer Rasse, sondern wegen ihres angeblichen Plutokratismus anzugreifen, ohne jedoch auf eine seiner Zentralthesen zu verzichten, denen zufolge die Nationalität ein „biologisches Faktum“ (facto biológico) sei. 1923 erscheint die portugiesische Ausgabe der „Protokolle der Weisen von Zion“, die von den Integralisten begierig studiert und publizistisch ausgeschlachtet werden. Zwischen 1937 und 1939 brachte der Schriftsteller João Paulo Freire eine vierbändige kommentierte Ausgabe heraus. In den 1920er Jahren führt der Essayist, Lyriker und Antisemit Mário Saa den Kampf der Integralisten gegen das nationale und internationale Judentum weiter. Aber im Unterschied zu Sardinha vertritt er nicht die Position der Monarchisten, sondern die des dezidierten Nicht-Christen. 1921, im Jahr der Gründung der „Zionistischen Föderation“ in Lissabon (Federação Sionista Portuguesa), versucht er in einer Schrift den Nachweis der „semitischen“ Herkunft zahlreicher Republikaner, Bankiers, Industriellen, Künstler und Dichter. Akribisch und besessen weist er jedem einflussreichen Portugiesen seine „jüdische Herkunft“ nach. Mit seinen 1921 und 1925 erschienenen Büchern „Portugal Cristão-Novo ou os Judeus na República“ (Neuchristliches Portugal oder die Juden der Republik) und „A Invasão dos Judeus“ (Die Invasion der Juden) veröffentlicht er rassentheoretische Klassiker, die von den portugiesischen Rechten gern gelesen und immer wieder mit Begeisterung zitiert werden. Für Saa beginnt mit der Vertreibung der Juden aus Portugal bzw. ihrer Zwangstaufe ihr verheerender Einfluss auf die Portugiesen. Mit der Zwangstaufe wurden die Juden Teil der christlichen Gesellschaft, an deren Niedergang sie seitdem beharrlich arbeiten. Juden sind für alles verantwortlich, für die Französische Revolution von 1789 und die Russische Revolution von 1917. Ist es für Mário Saa die Rasse, die es zu bekämpfen galt, so sieht Paulo de Tarso sein Land durch die vermeintlich von den Juden beherrschten Freimaurer bedroht. In seinem Buch „Crimes da Franco-Maçoneria Judaica“ („Die Verbrechen der Juden und Freimaurer“, 1928) sind Juden Mitglieder einer „verhassten Rasse“ und „von Gott gestraft“. Ihr
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einziges Ziel auf Erden sei die Macht über den Handel und die Finanzen. Sie beherrschten die Banken, die Clubs, die Universitäten, das Militär, die Schulen und die Gewerkschaften. Als Anhänger des Vulgär-Darwinismus vertritt er einen biologischen Rassismus. Er steht für das Prinzip der „rassistischen Auslese“ (selecção), er ist gegen die Zwangstaufen und für die rassische Segregation. António Sardinha, Mário Saa und Paulo de Tarso liefern in den 1920er und 1930er Jahren den Monarchisten, den Klerikalen und der Rechten das Vokabular für ihren Kampf gegen das Fremde und alles Jüdische. Ihre Thesen werden wenige Jahre später in den reaktionären Kreisen des Militärs und des faschistischen Regimes um den Diktator Salazar salonfähig. 1929 veröffentlicht Jorge Ramos seine „historisch-philosophische“ Studie über die Mythologie der Arier und das jüdische Plagiat („A mitologia ariana e o plagiato judaico“) und 1937 warnt Silva Rasteiro in einem Buch vor der jüdischen bzw. kommunistischen Weltherrschaft („Plano Judaico da Dominação do Mundo ou seja a chave Misteriosa do Comunismo“). Die antisemitischen Traktate werden von den Intellektuellen entweder gar nicht zur Kenntnis genommen oder wegen ihres ausgewiesenen Schwachsinns ignoriert. Ungewollt aber hatten die Antisemiten und Rassisten mit ihren Schriften das Interesse an der jüdischen Vergangenheit des Landes geweckt. Besonders in Nordportugal interessieren sich immer mehr Menschen für ihre jüdische Herkunft. Vertreter der jüdischen Gemeinden, darunter der Präsident der jüdischen Gemeinde von Lissabon und Freund des Diktators Salazar, warnen jedoch eindringlich davor, die Kryptojuden zum Judentum bekehren zu wollen, da diese doch „Kinder der christlichen Kirche“ seien und die Konversion Unfrieden zwischen den Religionen stiften würde. Nach dem Ersten Weltkrieg entdeckt der Offizier Artur Carlos de Barros Basto seine krypto-jüdische Herkunft. Nach vergeblichen Anläufen gelingt es ihm, 1920 Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu werden. Er begründet ein „Rettungswerk“, dessen Ziel es ist, die in den Dörfern Nordportugals lebenden Kryptojuden für das Judentum zurückzugewinnen. 1923 wird eine kleine jüdische Gemeinde in Porto gegründet, der jedoch zahlreiche deutsche und polnische Juden angehören. 1925 veröffentlicht der polnische Bergbauingenieur Samuel Schwarz sein Buch „Os cristãos Novos de Portugal no Século XX“ (Die Neuchristen Portugals im 20. Jahrhundert) über die krypto-jüdischen Gemeinden von Belmonte, Covilhão, Penamacor, Fundão, Monsanto Argozelo, Castelo Branco, Idanha-a-Nova und Bragança. Nach dem Militärputsch vom 28. Mai 1930 wird Barros Basto klar, dass sich in dem Maße wie sein Rettungsprojekt (obra do resgate) vorankommt, reaktionäre Kräfte zum Boykott gegenüber den Juden aufrufen. In den folgenden Jahren nehmen die antisemitischen Kundgebungen zu. Weil nicht wenige der Kryptojuden Angst haben, sich offen zum Judentum bzw. ihrer jüdischen Herkunft zu bekennen, verlassen zahlreiche seiner Anhänger den Norden, um im Schutz der größeren Gemeinde von Lissabon zu leben. Barros Basto wird in den 1930er Jahren schließlich Opfer einer Hetzkampagne, die in einer anonymen Anzeige kulminiert, in der er der Homosexualität bezichtigt wird. Er wird 1938 aus der Armee gestoßen. Bis heute wurde der „Apostel der Marranen“ und „portugiesische Dreyfus“ nicht rehabilitiert. 1933 tritt die neue Verfassung in Kraft, die von der Idee der Nation und der Rasse beseelt ist. Die Verfassung garantiert dem Wortlaut nach die Freiheit und die Unverletzlich-
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keit der Religion. Der klerikal-faschistische Diktator Salazar kritisiert die Nürnberger Gesetze und ist stolz über die Einheit von Glaube und Rasse in seinem Land. Die Rasse (a raça) wird von den portugiesischen Faschisten nicht im biologischen Sinne verwendet, sondern bedeutet ausschließlich Ethnie (Volk). Juden bleiben daher ein Teil des portugiesischen Volkes. Spielte der Antisemitismus im Klerus und der städtischen Bourgeoisie durchaus eine wichtige Rolle, so kam ihm in der Konzeption des „Estado Novo“ von Salazar nur eine untergeordnete Rolle zu. So warnt Jesus Pereira im „Diário de Notícias“ zwar vor der Invasion der Juden, spricht sich aber positiv über die ca. 3.000 Juden in Portugal aus, die völlig integriert seien, und nichts zu tun hätten mit ihren Rassegenossen (irmãos de raça). Adolfo Benarus, Leiter der jüdischen Gemeinde von Lissabon, veröffentlicht 1937 ein Buch über den Antisemitismus, in dem er Salazar für dessen Politik dankt. Als die Zahl der jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland zunimmt, bekommt die berüchtigte politische Polizei (Polícia de Vigilância e Defesa do Estado, PVDE) die Kontrolle über die Visavergabe. Ende 1939 werden jüdische und nicht-jüdische Antragsteller unterschiedlich behandelt.
Portugal – ein Land ohne Antisemitismus? Im Jahr 2008 leben etwa 500 Juden in Portugal, die Mehrheit in Lissabon. In der portugiesischen Presse wird nur sehr selten über jüdisches Leben berichtet. Die jüdische Gemeinde ist klein, gut integriert und vermeidet jeden Konflikt, der ihrem Ansehen schaden könnte. Sie arrangierte sich mit Salazar und verfolgte die Nelken-Revolution von 1974 mit Misstrauen. Der Bau einer Synagoge in Belmonte, die Restaurierung der Synagoge in Tomar oder des jüdischen Friedhofes in Faro führten gelegentlich zu Schmierereien oder zu abfälligen Bemerkungen in der Presse. 1976 erscheinen die „Protokolle der Weisen von Zion“ erneut, angesehene Buchhandlungen legen das Buch in ihre Auslagen und niemand protestiert. 1996 wird Mário Saas Buch „A Invasão dos Judeus“ nachgedruckt und kritiklos von den Buchhandlungen ausgestellt. Als der ehemalige portugiesische Premierminister und Staatspräsident Mário Soares 1989 öffentlich um Vergebung der den Juden angetanen Verbrechen bat, gab es Proteste mit dem Argument, dass zwischen der Enteignung und Vertreibung von Tausenden von Juden und der Ermordung des Heilands doch ein gewaltiger Unterschied bestünde. Nicht selten wird in der Presse der Holocaust banalisiert. So verteidigt am 2. August 1996 Artur Nunes da Silva in der Zeitung „Diário de Notícias“ die Thesen des französischen Revisionisten Roger Garaudy, in dem er die Verbrechen der Nazis bagatellisiert und den Holocaust zu einem Mythos degradiert. Wenig später veröffentlicht er in der Tageszeitung „Público“ die These, dass der Niedergang Portugals mit der arabischen Eroberung begonnen habe, und mit der damit einhergehenden Einwanderung von Afrikanern und Asiaten sei es zu einem Verlust der rassischen Identität gekommen. Die Thesen von Mário Saa und António Sardinha sind heute in Portugal nicht verstummt, ebenso wenig die anti-jüdischen Vorwürfe der katholischen Kirche. Antisemitische Argumente wurden und werden immer wieder von Vertretern politischer Parteien angebracht. Carlos Azeredo, Kandidat für das Bürgermeisteramt der Stadt Porto behauptet, dass die Juden den Wucher erfunden hätten; Manuel Monteiro, Präsident der Partido Popular, antwortete auf den Protest der jüdischen
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Gemeinde, dass die Juden doch Fremde in seinem Land seien. Und Alberto João Jardim, Präsident der Regionalregierung von Madeira, behauptet, dass es angesichts des internationalen Judentums eine Heuchelei sei, von den Verbrechen des Holocaust zu sprechen.
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Literatur Renate Hess, Was Portugal getan hat, hat kein anderes Land getan, in: Wolfgang Benz, Juliane Wetzel (Hrsg.), Solidarität und Hilfe für die Juden während der NS-Zeit, Bd.3, Berlin 1999, S.161-206. Jorge Martins, Portugal e os Judeus, Lissabon 2006. Livia Parnes, Présences juives dans le Portugal contemporain (1820-1938), Paris 2002 (Dissertation, 2 Bde). Irene Pimentel Flunser, Aperfeiçoar a Raça. O debate eugénico em Portugal nos anos trinta, in: História, 3(1998), S.18-27. Irene Pimentel Flunser, Não há uma questão judaica em Portugal. O Antisemitismo em Portugal no século XX, in: Revista de Estudos Judaicos, 5(2001), S.80-91. Michael Studemund-Halévy, Zwischen Rückkehr und Neuanfang: Juden in Portugal, in: Dietrich Briesemeister, Axel Schönberger (Hrsg.), Portugal, Frankfurt am Main 1997, S.299-316. Michael Studemund-Halévy, Bibliographia Luso-Judaica: 19. und 20. Jahrhundert, in: Lusorama, 59/60(2004), S.120-185.
Rumänien Auf dem Gebiet des heutigen Rumäniens waren bis zum 18. Jahrhundert nur wenige Juden anzutreffen. Meistens handelte es sich um jüdische Fernhändler, die seit dem 14. Jahrhundert in Orten entlang der großen Handelsstraßen erwähnt wurden. Durch das Fürstentum Moldau verlief ein Handelsweg, der von Polen zur Krim und nach Konstantinopel führte. Das Fürstentum Walachei befand sich wiederum an der Gabelung von zwei Handelswegen: Der eine führte in den Süden nach Konstantinopel, der andere über die Karpaten nach Ungarn. Beide Fürstentümer waren seit dem 15. Jahrhundert Vasallen der Osmanen und hatten bis ins 18. Jahrhundert rumänische Herrscher. Die in den Fürstentümern produzierten Lebensmittel dienten vor allem zur Versorgung der Bewohner von Konstantinopel, den Transfer besorgten teilweise jüdische Händler. Erst durch den militärischen Vorstoß Russlands wurde mit dem Friedensvertrag von Adrianopel 1829 die Kontrolle des Omanischen Reiches über den Handel auf dem Schwarzen Meer und an der unteren Donau beseitigt. Nun zogen Händler von der Balkanhalbinsel in die walachischen Donauhäfen und nach Bukarest. Unter ihnen waren viele sephardische Juden. Im Fürstentum Moldau haben sich seit 1648 Aschkenasen niedergelassen, die infolge des Aufstandes unter Bogdan Chmelnicki die ? Ukraine verlassen hatten. Später kamen Juden aus Polen, wo sich ihre wirtschaftliche Lage nach der Aufteilung des Gebietes unter den Nachbarstaaten verschlechtert hatte. Die Ansiedlung der Juden war im Fürsten-
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Gemeinde, dass die Juden doch Fremde in seinem Land seien. Und Alberto João Jardim, Präsident der Regionalregierung von Madeira, behauptet, dass es angesichts des internationalen Judentums eine Heuchelei sei, von den Verbrechen des Holocaust zu sprechen.
Michael Studemund-Halévy
Literatur Renate Hess, Was Portugal getan hat, hat kein anderes Land getan, in: Wolfgang Benz, Juliane Wetzel (Hrsg.), Solidarität und Hilfe für die Juden während der NS-Zeit, Bd.3, Berlin 1999, S.161-206. Jorge Martins, Portugal e os Judeus, Lissabon 2006. Livia Parnes, Présences juives dans le Portugal contemporain (1820-1938), Paris 2002 (Dissertation, 2 Bde). Irene Pimentel Flunser, Aperfeiçoar a Raça. O debate eugénico em Portugal nos anos trinta, in: História, 3(1998), S.18-27. Irene Pimentel Flunser, Não há uma questão judaica em Portugal. O Antisemitismo em Portugal no século XX, in: Revista de Estudos Judaicos, 5(2001), S.80-91. Michael Studemund-Halévy, Zwischen Rückkehr und Neuanfang: Juden in Portugal, in: Dietrich Briesemeister, Axel Schönberger (Hrsg.), Portugal, Frankfurt am Main 1997, S.299-316. Michael Studemund-Halévy, Bibliographia Luso-Judaica: 19. und 20. Jahrhundert, in: Lusorama, 59/60(2004), S.120-185.
Rumänien Auf dem Gebiet des heutigen Rumäniens waren bis zum 18. Jahrhundert nur wenige Juden anzutreffen. Meistens handelte es sich um jüdische Fernhändler, die seit dem 14. Jahrhundert in Orten entlang der großen Handelsstraßen erwähnt wurden. Durch das Fürstentum Moldau verlief ein Handelsweg, der von Polen zur Krim und nach Konstantinopel führte. Das Fürstentum Walachei befand sich wiederum an der Gabelung von zwei Handelswegen: Der eine führte in den Süden nach Konstantinopel, der andere über die Karpaten nach Ungarn. Beide Fürstentümer waren seit dem 15. Jahrhundert Vasallen der Osmanen und hatten bis ins 18. Jahrhundert rumänische Herrscher. Die in den Fürstentümern produzierten Lebensmittel dienten vor allem zur Versorgung der Bewohner von Konstantinopel, den Transfer besorgten teilweise jüdische Händler. Erst durch den militärischen Vorstoß Russlands wurde mit dem Friedensvertrag von Adrianopel 1829 die Kontrolle des Omanischen Reiches über den Handel auf dem Schwarzen Meer und an der unteren Donau beseitigt. Nun zogen Händler von der Balkanhalbinsel in die walachischen Donauhäfen und nach Bukarest. Unter ihnen waren viele sephardische Juden. Im Fürstentum Moldau haben sich seit 1648 Aschkenasen niedergelassen, die infolge des Aufstandes unter Bogdan Chmelnicki die ? Ukraine verlassen hatten. Später kamen Juden aus Polen, wo sich ihre wirtschaftliche Lage nach der Aufteilung des Gebietes unter den Nachbarstaaten verschlechtert hatte. Die Ansiedlung der Juden war im Fürsten-
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tum Moldau toleriert worden, weil sie den Warenverkehr förderten. Auch die Großgrundbesitzer steigerten ihr Einkommen, als jüdische Kaufleute die Agrarprodukte für den Weitertransport aufkauften. Juden stellten Branntwein her und betrieben Schankwirtschaften, andere lebten vom Handwerk in den neu gegründeten Marktflecken. Wie auch anderswo im ? Osmanischen Reich erhielten die jüdischen Gemeinden eine eingeschränkte Autonomie und zahlten als Gruppe bestimmte Steuern. Seit 1711 setzte der Sultan Herrscher aus griechischen Kaufmannsfamilien ein, deren Loyalität als sicherer galt, weil sie aus dem Viertel Phanar in Konstantinopel stammten. Diese Phanarioten regierten in beiden Fürstentümern, bis sie 1821 – nach einem von Griechen initiierten Aufstand gegen die Osmanen in mehreren Gebieten – abgesetzt wurden. Auch in der orthodoxen Kirche gab es einen starken griechischen Einfluss, da der Patriarch aus Konstantinopel viele Griechen als Würdenträger einsetzte. In Kirchenbüchern wurden Juden als Christusmörder und Häretiker dargestellt. Die breite Mehrheit der rumänischen Bevölkerung bildeten leibeigene Bauern, die keine Schulen besuchten und daher diese Schriften nicht kannten. Aber über Predigten und Kirchenfresken gelangten antijüdische Bilder in die Volksdichtung und in das Brauchtum. Im 19. Jahrhundert griffen Schriftsteller antisemitische Stereotype vom „Wucherer“ und „Verbündeten des Satans“ auf und gaben ihnen eine gewisse Verbreitung. Tätliche Angriffe auf Juden gab es gelegentlich in den Donaustädten, deren Hintergrund die Konkurrenz zwischen griechischen und jüdischen Händlern war. Seit dem russisch-osmanischen Krieg zwischen 1768 und 1774 hatte sich die Position der Pforte geschwächt und den großen Nachbarstaaten gelang es, Teile des moldauischen Fürstentums zu annektieren: 1775 besetzten Truppen des Habsburger Reiches den Teil, der seitdem ? Bukowina genannt wurde, und 1812 trennte Russland Bessarabien ab. Die Geschichte der Juden in diesen Gebieten verlief danach völlig anders als in den rumänischen Fürstentümern. In der Bukowina bekamen sie nach anfänglichen Beschränkungen durch das Toleranzedikt von 1783 größere Freiheiten. 1867 erhielten sie die volle rechtliche und politische Gleichberechtigung. Durch die gesicherten Aufstiegsmöglichkeiten assimilierten sie sich schnell an die deutschsprachige Kultur und spielten eine zentrale Rolle im Ausbau der rückständigen Region. Die Juden im russischen ? Bessarabien unterstanden den rechtlichen Bestimmungen des Ansiedlungsrayons. Sie konnten keine Stellen als Staatsbeamte einnehmen und ihre Selbstverwaltung wurde immer weiter eingeschränkt (? Russland). Zwischen 1829 und 1834 waren die Fürstentümer unter russischer Herrschaft und in dieser Zeit wurde erstmalig ein Grundgesetz (Réglement organique) erstellt, das die Juden als Fremde bezeichnete und ihnen Bodeneigentum in Dörfern verbot. Damals mussten sie keinen Militärdienst leisten und ihre Kinder durften staatliche Schulen besuchen. Während der 1848er Revolution bildeten sich in der Moldau und Walachei provisorische Regierungen, die sich gegen die Fremdherrschaft wandten. Sie stellten den Minderheiten Gleichberechtigung in Aussicht und in Bukarest unterstützten einige Juden die Bewegung. Die Regierungen der Revolutionäre wurden in der Moldau sofort von der russischen Armee und in der Walachei nach vier Monaten im September 1848 vom osmanischen Heer verjagt.
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Alexandru Ioan Cuza, der 1859 durch eine Doppelwahl Fürst der Walachei und der Moldau wurde, bemühte sich um die Integration der Juden. Einige assimilierte Juden begrüßten die Anordnung von Cuzas Innenminister Mihail Kogâlniceanu, dass nun alle Juden „europäische Kleider“ tragen sollten, doch besonders die Chassiden in der Moldau wollten nicht auf die traditionellen Kaftane verzichten. Einige Städter überfielen Juden, um ihre Kleidung zu beschädigen, in Galaţi (vgl. Karte 4) kam es im April 1859 sogar zu einem kleinen Pogrom. Die Verfügung wurde rückgängig gemacht. In den Vereinigten Fürstentümern, ab 1862 Rumänien genannt, lebten etwa 130.000 Juden, das entsprach 3 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die Modernisierungsbestrebungen von Cuza stießen auch sonst auf Widerstand: Die rumänischen Großgrundbesitzer wehrten sich gegen die dekretierte Landreform und die schwachen bürgerlichen Kräfte gegen Cuzas autoritären Führungsstil. Eine Koalition ihrer Vertreter stürzte Cuza im Februar 1866 und ersetzte ihn durch den jungen Prinzen Carol I. aus dem Haus Hohenzollern-Sigmaringen. Als im Juli 1866 die erste Verfassung diskutiert wurde, wandten sich Demonstranten in Bukarest gegen eine Einbürgerung der Juden und plünderten im jüdischen Viertel. Mit diesem inszenierten Druck der Straße legitimierten die Abgeordneten die Festschreibung im 7. Artikel der Verfassung, wonach nur Personen christlicher Religionszugehörigkeit rumänische Staatsbürger werden und nur Christen Bodeneigentum erwerben konnten. Dies kam den Großgrundbesitzern zugute, denn sie wollten keine Konkurrenz im Agrarbereich. Die noch schwache bürgerliche Schicht wollte die Juden als Staatenlose aus dem Geschäftsverkehr ausschalten. Jüdische Vertreter baten einflussreiche Glaubensbrüder aus dem Ausland, gegen ihre Marginalisierung als rechtlose Fremde zu protestieren. Doch der Präsident der „Alliance Israélite Universelle“, Adolph Crémieux, erreichte diesbezüglich keine Zugeständnisse. Im Gegenteil, seit 1867 verfügte Innenminister Ion Brătianu die Ausweisung Hunderter jüdischer Familien aus den Dörfern, danach wurden sie als „Fremde ohne Einkommen“ über die Grenzen getrieben. Da die staatenlosen Flüchtlinge zum Problem für die Nachbarstaaten wurden, einigten sich die Großmächte beim Berliner Kongress 1878 dahingehend, dass Rumäniens staatliche Unabhängigkeit erst nach der Änderung der diskriminierenden Verfassungsartikel anerkannt würde. Während in Bulgarien die Juden gleiche Rechte erhielten, wehrten sich rumänische Politiker gegen diese Auflage. Im Parlament und bei Kundgebungen wurden Juden als gefährliche Feinde des Staates dargestellt, weil sie das Bild Rumäniens im Ausland negativ beeinflusst hätten. Carol I. bezeichnete sie öffentlich als „Gefahr für die rumänische Wirtschaft“. Der Dichter Mihai Eminescu machte sie für das Elend der Bauern verantwortlich, wobei er mit Vorliebe die „Wucherzinsen jüdischer Pächter“ thematisierte. Mit Hinweis auf die Proteste befolgte Rumänien die Auflagen des Berliner Kongresses 1879 nur in geringem Maß: Einbürgerungen von Juden mussten im Einzelverfahren von beiden Kammern des Parlamentes beschlossen werden. Da die Presse weiterhin dagegen agitierte, wurden die meisten Anträge abgelehnt. Als Staatenlose durften Juden nicht als Anwälte, Apotheker oder Lehrer in staatlichen Institutionen tätig sein. Sie wurden vom Handel mit Tabak, Salz und Alkohol ausgeschlossen, die Staatsmonopole waren.
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Die nationalistische Welle erreichte ihren ersten Höhepunkt, als aufgrund der Pogrome 1881/82 in der ? Ukraine viele russische Juden nach Rumänien flohen. Nun behaupteten Hochschullehrer, wie der Ökonom Alexandru C. Cuza und der Historiker Nicolae Iorga, dass Juden den rumänische Mittelstand verdrängen würden. Sie forderten besondere Schutzbestimmungen für rumänische Handwerker und Kaufleute. Während der Wirtschaftskrise von 1899 verabschiedete die Regierung Gesetze zum „Schutz der Rumänen“, die Tausende von Juden zur Auswanderung zwangen. Mittellose Juden aus Rumänien wanderten oft zu Fuß durch Österreich und Deutschland, um die Seehäfen zu erreichen. Diese ungewöhnlichen Flüchtlinge (jiddisch als „fusgeyers“ bezeichnet) machten die ausländische Presse auf die Lage der Juden in Rumänien aufmerksam. Zwischen 1899 und 1912 ging die Zahl der Juden von 266.652 auf 239.967 zurück, was einem Anteil von 3,3 Prozent an der Gesamtbevölkerung entsprach. In Rumänien hatten seit den 1870er Jahren jüdische Intellektuelle Organisationen gegründet, um das Los ihrer Glaubensbrüder zu lindern. Ihre Tätigkeit wurde ständig behindert, die Behörden wiesen mehrere Sprecher als „subversive Elemente“ aus, so z.B. 1885 Moses Gaster. Er wurde 1887 Oberrabbiner in Großbritannien und trat mit Nachdruck für die Rechte der rumänischen Juden ein. In Rumänien setzte sich als einzige Partei die 1893 gegründete Sozialdemokratie für die Einbürgerung der Juden ein. Bald galt sie als Sammelbecken von „vaterlandslosen Gesellen“ und löste sich unter dem Druck von Verhaftungen 1899 auf. Erst durch die Auswirkungen der russischen Revolution von 1905 wurden in Rumänien wieder einige Sozialisten aktiv. 1907 brach ein großer Bauernaufstand aus, der nach einem tolerierten Pogrom gegen jüdische Pächter im Nordosten Rumäniens bald auch die rumänischen Großgrundbesitzer bedrohte. Nach seiner Niederschlagung wurden die Sozialisten zu Drahtziehern erklärt, unter den Ausgewiesenen waren einige Juden. Die Mehrheit der Juden Rumäniens war vor 1919 nicht politisch aktiv, da sie als Staatenlose jederzeit ausgewiesen werden konnten. Bis zum Ersten Weltkrieg hatten von den über 270.000 Juden nur etwa 2.000 die rumänische Staatsbürgerschaft erhalten. Nach Rumäniens Kriegseintritt 1916 wurden Juden trotz der Staatenlosigkeit zum Militärdienst eingezogen. Einige von ihnen wurden verfolgt, weil die Militärbehörden sie der Spionage für die Mittelmächte bezichtigten. Nach dem Sonderfrieden Rumäniens mit den Mittelmächten im Mai 1918 verlangten einige deutsche Politiker, dass im Friedensvertrag die Einbürgerung der Juden Rumäniens festgehalten werde. Rumänien war das einzige Land in Europa, in dem die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung noch völlig rechtlos war. Als nach der Machtübernahme der Bolschewisten die russische Armee nicht mehr einsatzfähig war, marschierten rumänische Einheiten in Bessarabien ein: Das Gebiet wurde im März 1918 an Rumänien angeschlossen. Dort lebten etwa eine Viertelmillion Juden, die seit der Februarrevolution volle Bürgerrechte hatten. Die Juden waren gut organisiert und forderten, nicht in die rechtlose Position der Juden Rumäniens gedrängt zu werden. Durch den Zusammenbruch der Armeen der Mittelmächte gelang es der rumänischen Armee, im November 1918 auch zwei Habsburger Gebiete einzunehmen: die vormals zur österreichischen Reichshälfte gehörende Bukowina und das ungarische Siebenbürgen. Die Zahl der Juden wuchs dadurch auf 581.754 (1930), das entsprach einem An-
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teil von 4 Prozent. Nun hatte Rumänien insgesamt 30 Prozent Nichtrumänen, die größten Gruppen stellten die Ungarn mit 7,9 Prozent und die Deutschen mit 4,1 Prozent. Die rumänischen Behörden schickten Beamte in die neu angeschlossenen Provinzen, die nicht gewöhnt waren, mit selbstbewussten Vertretern nationaler Minderheiten über autonome Strukturen zu verhandeln, da sie zuvor nur mit rechtlosen Juden konfrontiert gewesen waren. Die Minderheiten richteten in der Folgezeit ihre Beschwerden an ausländische Organisationen. Bei Beginn der Pariser Friedenskonferenz Anfang 1919 schlossen sich Vertreter jüdischer Organisationen zu einer Interessengruppe zusammen, die sich auch mit der Lage in Rumänien intensiv beschäftigte. Sie verlangten Schutzrechte für die Minderheiten in allen Nachfolgestaaten des Habsburger Reiches, die Vertreter der Großmächte griffen dieses Anliegen auf. Während die Vertreter der polnischen Regierung die Klauseln über die Rechte der Minderheiten im Friedensvertrag akzeptierten, versuchten die Vertreter Rumäniens, die Pariser Konferenz mit geringfügigen Zugeständnissen hinzuhalten. Im Dezember 1919 mussten sie durch ein Ultimatum das Schutzgesetz unterzeichnen, sonst wäre die Verdopplung des Staatsgebietes nicht anerkannt worden. Als das rumänische Parlament über die Verankerung der Schutzrechte und die Einbürgerung der Juden zu beraten begann, bildete sich wie 1878 eine Gegenbewegung. Damals bestand sie nur aus einigen aufgehetzten Städtern, welche die Gelegenheit zum Plündern nutzten, nun bekam sie eine beständige Form. 1923 entstand die „Liga der National-Christlichen Verteidigung“, ihre Anführer waren der Hochschullehrer Alexandru C. Cuza und sein Student Corneliu Zelea Codreanu. Die Antisemiten behaupteten, dass sich durch die Einbürgerung der Juden die Berufschancen der Rumänen verschlechtern würden, da jüdische Absolventen auch Zugang zu staatlichen Stellen erhalten würden. Rechte Studentenorganisationen forderten eine Zulassungsbegrenzung für Juden an den Universitäten, die ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprechen sollte. Trotz der Streikaktionen, die zeitweise zur Schließung der Universitäten führten, wurde die Gleichberechtigung der Juden in der Verfassung von 1923 verankert. Bereits 1924 erließ jedoch die Regierung ein Gesetz zur Staatsbürgerschaft, das viele Juden der neuen Provinzen zwang, Heimatscheine vorzulegen. Diejenigen, denen das nicht gelang, wurden zu Staatenlosen erklärt. Die Anzahl der solcherart Staatenlosen wird auf 80.000 bis 100.000 geschätzt. Die rechtliche Gleichstellung bedeutete nicht, dass Juden nun in der rumänischen Gesellschaft integriert wurden. Leitungspositionen in Behörden, Bürgermeisterämter, Universitätslehrstühle und die oberen Dienstgrade in der Armee blieben für sie verschlossen. Da aber zum ersten Mal einige Juden in der Verwaltung wirkten, erklärten Anhänger die „Liga der National-Christlichen Verteidigung“ den Staatsapparat für „verjudet“ und griffen Personen, die gegen ihre Umtriebe einschritten, tätlich an. 1924 erschoss Codreanu den Chef der Polizei in Iaşi, da dieser gegen seine Anhänger vorgegangen war. Im Prozess wurde Codreanu freigesprochen, wodurch die Terrortaten zunahmen. In Iaşi, wo über die Hälfte der Stadtbevölkerung Juden waren, hatten die Antisemiten besonders viele Anhänger. Überfälle von Antisemiten häuften sich nun auch in den neu angeschlossen Provinzen: In Czernowitz erschoss 1926 ein Rumäne bei einem Schulkonflikt einen jüdischen
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Oberschüler, der Mörder wurde freigesprochen und vom Innenminister gelobt. Die aufgebrachten Vertreter der Juden, Deutschen und Ukrainer aus der Bukowina protestierten gemeinsam gegen die Zwangsrumänisierung in den Schulen und die staatliche Unterstützung der Rechtsradikalen. In ? Siebenbürgen, wo 1927 rumänische Studenten Juden und Synagogen angriffen, gab es keinen gemeinsamen Protest der Minderheiten. Auch in Bessarabien entstand keine Abwehrfront der Juden, Russen und Deutschen. Viele rumänische Zeitungen stellten die jiddisch- und russischsprachigen Juden als Sympathisanten der Sowjetunion dar, der Begriff „Judeo-Bolschewisten“ wurde auch von den Behörden benutzt. Trotz ihrer Kritik an der Sowjetunion verfolgte die Polizei jüdische Sozialdemokraten. Der Druck auf die Juden in den neuen Provinzen lockerte sich, als 1928 die Bauernpartei die Regierung übernahm: Sie versuchte anfangs, Vertreter der Minderheiten in die politischen Entscheidungen einzubeziehen und machte auch Zugeständnisse. Doch wurden die Subventionen für die Schulen und Genossenschaften der Minderheiten seit 1930 wieder gekürzt, weil durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise der Staat geringere Steuereinnahmen hatte. Die Antisemiten konnten seit 1931 große Teile der verarmten Bauernschaft mobilisieren, indem sie die Umverteilung jüdischen Eigentums als Lösung aller Probleme propagierten. Unter dem Druck gewalttätiger Demonstrationen verfügte die Regierung einen Schuldenerlass, der zur Verarmung vieler jüdischer Städter führte. Mittlerweile hatten sich zwei antisemitische Organisationen herausgebildet: 1927 hatte sich aus der von Alexandru C. Cuza geführten „Liga zur national-christlichen Verteidigung“ der Flügel der jüngeren Anhänger um Codreanu abgespalten. Er nannte sich zuerst „Legion des Erzengel Michael“, ab 1930 „Eiserne Garde“. Als die Regierung der Nationalliberalen im Dezember 1933 an die Macht kam, ging sie zuerst gegen Codreanus Organisation vor. Nach dem Verbot der „Eisernen Garde“ ermordeten Gardisten im Dezember 1933 den Ministerpräsidenten. Seine Nachfolger bemühten sich um ein Image als Patrioten. Auch der Arbeitsminister erließ 1934 ein Gesetz zum Schutz der „rumänischen Arbeit“, durch das viele Juden entlassen werden mussten. 1936 wurden die Bestimmungen noch einmal verschärft. Die deutsche Minderheit hatte darunter nicht zu leiden, weil sich die Botschaft des Deutschen Reiches für ihre Belange einsetzte. Die „Jüdische Partei“ war bereits völlig einflusslos und hatte keine Bündnispartner mehr. Die regierende „Nationalliberale Partei“ setzte dem Rechtstrend kein klares Konzept entgegen und unternahm nichts gegen die Anwaltskammer und den Journalistenverband, als diese ihre jüdischen Mitglieder ausschlossen. Bei den Wahlen im Dezember 1937 schnitten die Nationalliberalen schlecht ab, eine Koalition mit der Bauernpartei kam für sie nicht in Frage. Um der „Eisernen Garde“ den Wind aus den Segeln zu nehmen, die mit 15 Prozent der Wählerstimmen die drittstärkste Kraft geworden war, berief König Carol II. eine Regierung der „National-Christlichen Partei“, die nur 9,1 Prozent der Wählerstimmen erlangt hatte. Die von Ministerpräsident Octavian Goga und Alexandru C. Cuza geführte Regierung profilierte sich besonders durch den Ausschluss von Juden aus vielen Berufssparten. Die Juden mussten ihre Staatsbürgerschaft überprüfen lassen und diejenigen, die ihre Unterlagen nicht innerhalb einer kurzen Frist vorlegten, wurden ausgebürgert. Bis 1939 wurden 395.000 Juden Staatenlose. Proteste ausländischer jüdischer Organisationen und des Völkerbundes bewirkten keine Veränderung. Nachdem Codrea-
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nu und andere Führer der Garde im November 1938 im Gefängnis ermordet worden waren, brannten jüdische Häuser. Die im Untergrund wirkenden Gardisten erschossen im September 1939 erneut einen Ministerpräsidenten. Die Unruhe wuchs, als 1940 Rumänien infolge eines Ultimatums der Sowjetunion Bessarabien und die Nord-Bukowina räumen musste und durch den Zweiten Wiener Schiedsspruch auch Nord-Siebenbürgen und den Süden der Dobrudscha verlor. Unmittelbar nach dem Rückzug der rumänischen Armee im Nordosten kam es zu antisemitischen Ausschreitungen in der Stadt Dorohoi (vgl. Karte 7), wo 50 Juden ermordet wurden. In der Hafenstadt Galaţi schossen Armeeangehörige auf eine Gruppe von Juden, die in die von der Sowjetunion besetzten Gebiete ziehen wollte, es gab etwa 500 Tote. Der Verlust der Hälfte des Staatsterritoriums wurde Carol II. angelastet, er musste zugunsten seines Sohnes Mihai I. abdanken. Die Macht übernahmen Vertreter der „Eisernen Garde“ und der Militärführung unter General Antonescu. Nun wurden die Rassengesetze, die schon die vorangegangene Regierung Gigurtu erlassen hatte, verschärft. Juden wurden von der Rumänisierungsbehörde enteignet. Im Januar 1941 putschte die „Eiserne Garde“ und entfesselte in Bukarest ein Pogrom, bei dem 120 Juden umkamen. Eine neue Dimension erreichte die Verfolgung und Vernichtung der Juden durch Rumäniens Kriegseintritt an der Seite des Deutschen Reiches im Juni 1941. Initiiert von Gardisten und unter Beteiligung rumänischer sowie deutscher Soldaten wurde in Iaşi auf Juden Jagd gemacht und das Gerücht verbreitet, sie hätten die zur Front ziehenden Truppen angegriffen. Bei diesem Pogrom und der anschließenden Deportation starben über 10.000 Juden. Mit den rumänischen Militäreinheiten rückten in die von der Sowjetunion zurückeroberten Gebiete Bessarabien und Nord-Bukowina auch Formationen der Einsatzgruppe D ein. Während die Rumänen Juden wahllos plünderten und ermordeten, suchten die Deutschen gezielt nach den Führern der Gemeinden. Bei den Deportationen kamen zwischen 45.000 bis 60.000 Juden um. Diese Morde wurden als „Säuberung des Gebietes“ (curǎţirea terenului) legitimiert. Als Antonescu im September 1941 den Befehl gab, alle Juden aus Bessarabien und der Bukowina zu deportieren, trat die jüdische Bukarester Gemeinde ohne Erfolg für ihre Glaubensbrüder ein. In der Bukowina setzten sich einige Rumänen für die Juden ein und 20.000 durften als „kriegswichtige Kräfte“ in Czernowitz zurückbleiben. Im rumänischen Besatzungsgebiet ? Transnistrien starb etwa die Hälfte der Deportierten an Hunger und Mangelkrankheiten. In der rumänischen Presse war über die Deportation berichtet worden, es hieß, diese Juden hätten 1940/41 mit den Sowjetbehörden kollaboriert und Rumänen verfolgt. Das eigentliche Ziel war ein ethnisch homogenes Rumänien. Antonescu hatte im Oktober 1941 einen Plan erarbeiten lassen, wie 3,5 Millionen Nichtrumänen umgesiedelt oder deportiert werden könnten, um versprengte Rumänen aus den Nachbarländern anzusiedeln. Der Plan konnte wegen des schnellen Vorrückens der Roten Armee nicht umgesetzt werden. Die Abkehr von weiteren Deportationsvorhaben 1942 war weniger humanitären Abwägungen geschuldet, als vielmehr dem veränderten Kriegsverlauf und dem Bestreben des Regimes, Möglichkeiten eines Separatfriedens mit den Alliierten zu prüfen. Im August 1944 wurde Marschall Antonescu gestürzt und die neue Regierung trat in den Krieg auf der Seite der
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Sowjetunion ein, um Nord-Siebenbürgen zurückzugewinnen. Bessarabien und die NordBukowina verblieben bei der Sowjetunion. Ion Antonescu wurde im Juni 1946 als Kriegsverbrecher hingerichtet, die Massenmorde an Juden fanden im Prozess nur am Rande Erwähnung. Dokumente über die Massenverbrechen konnte die jüdische Gemeinde 1946/47 im „Schwarzbuch über die Leiden der Juden in Rumänien“ veröffentlichen; es verschwand jedoch aus den Bibliotheken im Zuge von Stalins Vorgehen gegen das „Jüdische Antifaschistische Komitee“ in der Sowjetunion. Die jüdischen Gemeinden gerieten zunehmend unter Druck, 1947 flohen der Oberrabbiner und einige politische Führer. Die Kommunisten bemühten sich, alle nichtkommunistischen Organisationen von Rumänen und Minderheiten unter Kontrolle zu bekommen. In ihrer Regierung wirkten aber auch erstmalig Juden an prominenter Stelle: Ana Pauker war von 1947 bis 1952 Außenministerin. Viele Juden Rumäniens verloren durch die Verstaatlichung des Handels, der Betriebe, der Banken und Versicherungen ihr Einkommen und wollten auswandern. Da Rumänien Ausrüstungen zur Erdölförderung aus dem westlichen Ausland brauchte, wurde gegen Bezahlung die jährliche Ausreise einer vereinbarten Anzahl Juden gewährt. Durch den Vertrag mit Israel verließen bis 1951 etwa 100.000 Juden Rumänien. Parallel zu dieser Aktion wurden die Zionisten verfolgt, der Höhepunkt der Repression war zwischen 1949 und 1953. Die Angeklagten erhielten zwischen fünf bis zehn Jahren Gefängnis und wurden bald gegen hohe Geldsummen nach Israel abgeschoben. Nach einer Unterbrechung während der Suez-Krise ging 1958 die Emigration weiter. 1966 wurden 42.888, 1977 nur noch 25.686 Juden registriert, das entsprach 0,2 Prozent bzw. 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung. 1967, nach dem Sechs-Tage-Krieg, brach Rumänien als einziger Staat des Warschauer Paktes nicht die diplomatischen Beziehungen zu Israel ab. Nach 1990 schürten ehemalige enge Gefolgsleute von Ceauşescu einen Kult um Marschall Ion Antonescu. Große Straßen wurden nach ihm benannt und Standbilder aufgestellt. 1991, am 45. Jahrestag seiner Erschießung, ehrte ihn der Senat mit einer Gedenkminute und er wurde als aufrechtes Opfer der Kommunisten bezeichnet. Er ging in die Schulbücher als heldenhafter Führer des antibolschewistischen Kampfes ein. Einige Historiker publizierten Schriften, in denen sie behaupteten, die Juden hätten in der Zwischenkriegszeit den rumänischen Staat unterminiert und die rumänische Armee 1940 bei ihrem Rückzug aus Bessarabien und der Nord-Bukowina angegriffen. Angeblich seien besonders viele Juden an der Etablierung des kommunistischen Repressionsapparates beteiligt gewesen. Diese Hetze nahm erst ab, als Rumänien Kurs auf einen NATO-Beitritt nahm und der rumänischen Regierung ein entschiedenes Vorgehen gegen den Rechtsradikalismus von Seiten der USA nahe gelegt wurde. Nachdem Abgeordnete der „Partei Großrumänien“ behauptet hatten, dass es keine Judenverfolgung in Rumänien während des Zweiten Weltkrieges gab, beauftragte der Staatspräsident eine internationale Kommission mit der Untersuchung der Großverbrechen an Juden und Roma. Ende 2004 lag der Bericht vor, in dem die Zahl der Opfer auf 280.000 bis 380.000 beziffert wird. Trotz des Protestes der Rechtsradikalen wurden Straßenbenennungen nach Ion Antonescu rückgängig gemacht, und die Medien begannen über den rumänischen Holocaust gelegentlich zu berichten. Aufgrund interner Machtkämpfe verlor die „Partei Großrumänien“ zunehmend
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ihre Anhängerschaft: Ihr Führer Corneliu Vadim Tudor, der im Jahr 2000 bei der Präsidentschaftswahl 28 Prozent der Stimmen erhielt, verbuchte 2004 nur noch 13 Prozent. Rechtes Gedankengut wird auch von Politikern anderer Parteien verbreitet, nur nicht so gebündelt wie von der „Partei Großrumänien“.
Mariana Hausleitner
Literatur Hildrun Glass, Minderheit zwischen zwei Diktaturen. Zur Geschichte der Juden in Rumänien 1944-1949, München 2002. Mariana Hausleitner, Die Rumänisierung der Bukowina. Die Durchsetzung des nationalstaatlichen Anspruchs Großrumäniens 1918-1944, München 2001. Mariana Hausleitner, Brigitte Mihok, Juliane Wetzel (Hrsg.), Rumänien und der Holocaust. Zu den Massenverbrechen in Transnistrien 1941-1945, Berlin 2000. Armin Heinen, Rumänien, der Holocaust und die Logik der Gewalt, München 2007. Carol Iancu, Les Juifs en Roumanie (1919-1938), Paris 1996. Dietmar Müller, Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzepte 1878-1941, Wiesbaden 2005.
Russland bis 1917 Der Begriff Antisemitismus (antisemitizm) wurde in Russland kurz nach seiner Prägung durch Wilhelm Marr im Jahre 1879 bekannt. Der zeitgenössische russische Begriff für alle Formen von Feindseligkeit gegenüber den Juden war Judeophobie (judofobija). Russische Judeophobie kann nicht einfach mit dem „traditionellen russisch-orthodoxen religiösen Antisemitismus“ in Verbindung gebracht werden, wozu die Sekundärliteratur neigt. Die russische Judeophobie war eher eine moderne Ideologie, teilweise entwickelt aus objektiven Verhältnissen im russischen Reich, teilweise übernommen aus den Diskursen über Juden während der Aufklärungsepoche. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sie phantastische, „okkulte“ Motive. Die neuere Forschung argumentiert, dass es sich bei den mittelalterlich östlich-orthodoxen Polemiken gegen die Juden um Topoi handelt, die aus Byzanz importiert worden waren und keine eigentliche christlich-jüdische Polemik zum Ausdruck brachten. Wissenschaftler sind sich nach wie vor uneinig über die genaue Art der so genannten Ketzerbewegung der Judaisierer in Novgorod-Moskau zwischen 1480 und 1505, aber sie scheint hartnäckige russisch-orthodoxe Ängste vor dem schädlichen Einfluss von Juden und Judaismus auf Gläubige bestärkt zu haben. „Traditionelle russisch-orthodoxe Vorurteile“ sahen die Juden stereotyp als Gottesmörder und Christenhasser an, aber sie beruhten nicht auf den exotischeren Topoi des westlichen Christentums, wie dem Glauben an Ritualmord, Hostienschändung oder die schädlichen Talmud-Lehren. Den Bewohnern des russischen Kernlandes fehlte es an einer langen historischen Interaktion mit den Juden. Die Juden wurden vor 1772 durch das russische Gesetz davon
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abgehalten, das Reich zu betreten. Die Aufteilung des polnisch-litauischen Königreichs brachte Zehntausende Juden unter russische Herrschaft und erforderte die Entwicklung neuer Strategien ihnen gegenüber. Zarin Katharina II. (1763-1796), ein „Kind der Aufklärung“, tolerierte die Juden in ihrer Erscheinung als städtische Händler, die die stagnierende russische urbane Wirtschaft stärken konnten. Besonders wichtig war, dass Katharina die Existenz der autonomen jüdischen Selbstverwaltung (Kahal) anerkannte. Die gegen Ende ihrer Regierungszeit auferlegten besonderen Aufenthalts- und Steuerrestriktionen, wie die Doppelsteuer und das Ansiedlungsverbot auf inner-russischem Territorium, wurden durch pragmatische wirtschaftliche Überlegungen veranlasst. Unter ihrem Nachfolger Paul I. (1796-1801) wurde den russischen Staatsmännern bewusst, dass viele Juden nicht in den Städten lebten, sondern auf dem Land, wo sie den als unproduktiv geltenden Beschäftigungen nachgingen, wie Gastwirtschaft und Kleinhandel. Auf der Suche nach Lösungen für diese neu entdeckte „jüdische Frage“ wurden die Beamten von westlichen Vorstellungen über Juden beeinflusst. Dieser Anschauung zufolge fiel der „schädliche Einfluss“ der Juden in zwei Kategorien: „jüdischer Fanatismus“ und „jüdische Ausbeutung“. Die letztere Kategorie beruhte auf der Unterstellung, dass die Juden durch eine Kombination ihrer eigenen Lehren, denenzufolge sie ein „auserwähltes Volk“ und allen anderen Völkern überlegen seien, und der jahrhundertelangen Verfolgung korrumpiert worden seien. Diese beiden Gründe hätten den Juden eine Ghettomentalität verliehen und die Entschlossenheit, ein „Volk für sich“ zu bleiben. Diese Überlegenheitsgefühle und der Mangel jeglicher Loyalität gegenüber dem Staat oder der Mehrheitsgesellschaft hätten die Juden veranlasst, sich in Kleinhandel, Gastwirtschaft, Zinswucher und ähnlichem zu betätigen, um ein lockeres Leben auf Kosten ihrer christlichen Nachbarn zu führen. Dies wiederum prägte den Topos „jüdischer Ausbeutung”. Während der Regierungszeit von Alexander I. (1801-1825) führten diese Unterstellungen zur ersten antijüdischen Gesetzgebung, dem „Judenstatut“ von 1804. Das Statut sollte den „jüdischen Fanatismus“ und die soziale Distanzierung verringern, mittels Ermutigung zu säkularer Bildung der Juden, Verbreitung nicht-jüdischer Sprachen und Aufgabe charakteristisch jüdischer Sitten und Gebräuche. Aufrufe zur Akkulturation wurden in zwei Desiderate zusammengefasst: Das erste war eine Politik der Annäherung (sbliženie) und Zusammenführung (slijanie), die die russische Sozialpolitik gegenüber Juden bis in die 1880er Jahre prägte. Das zweite Ziel war die Verbreitung produktiver Arbeit, einerseits durch das Verbot der Schankwirtschaft, andererseits durch die Einbeziehung der Juden in das Bauerntum mit Hilfe landwirtschaftlicher Kolonisationspläne. Diese politischen Strategien prägten die russische gesetzliche Behandlung der Juden, bis die Pogrome von 1881-1882 zu Überlegungen zwangen, inwiefern Annäherung und Produktivierung überhaupt erwünscht oder möglich waren. Alexanders Nachfolger, Nikolaus I. (1825-1855), gilt in der jüdischen Folklore als russischer Haman (Widersacher der Juden im biblischen Buch Esther). Genaugenommen verfolgte er mit seiner Politik die Ziele von 1804, aber auf seine charakteristisch erzwungene Weise. Daher gab es Bemühungen, die Unzulänglichkeiten im Statut von 1804 durch die Einführung eines neuen Erlasses im Jahre 1835 auszubessern. Er behielt sowohl den Kahal als auch Vorschriften aus der Herrschaftszeit Katharinas bei, die den Juden die Teilnahme in Institutionen der kommunalen nichtjüdischen Verwaltungen garan-
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tierten. Das Statut von 1835 legte auch Aufenthaltsrestriktionen für die Juden fest und schuf den so genannten jüdischen Ansiedlungsrayon, der bis zum Sturz der Monarchie beibehalten wurde (vgl. Karte 3). Die berühmt-berüchtigte Tat von Nikolaus war die Einberufung (Konskription) der Juden zum Wehrdienst: Während bislang Juden – bei Leistung einer Sondersteuer – vom Wehrdienst ausgenommen waren, mussten sie nunmehr, wie auch alle Angehörigen der unteren städtischen Schichten, Rekruten für die Armee stellen. Die Verantwortung für die Auswahl der Rekruten wurde kollektiv dem Kahal übertragen. Die Rekrutierungsvorschriften erlaubten den Kahal-Ältesten, Knaben im Alter von 11 bis 17 Jahren auszusuchen und sie anstatt erwachsener Rekruten einzusetzen. Die Knaben wurden in die so genannten Kantonisten-Bataillone geschickt, in denen sie eine Fachausbildung erhielten, z.B. als Schreiber oder Musikanten. Sie waren auch Zielscheibe von zunächst wahllosen, später gezielter Konversions-Initiativen. Die Wahrnehmung, dass die jüdischen Gemeindevorsitzenden an der Preisgabe von jugendlichen Juden zur Konversion beteiligt waren, trug einiges zur Untergrabung ihrer Autorität bei und schaffte extreme Spannungen innerhalb der Gemeinschaft. Unzufrieden mit dem Fortschritt der jüdischen Akkulturation ernannte Nikolaus im Jahre 1840 ein neues Komitee unter der Leitung des talentierten Staatsmannes P. D. Kiselev. Das Komitee entwarf ein weitreichendes Reformprogramm, das die Abschaffung des Kahals und die Einrichtung eines staatlich unterstützten, aber kommunal finanzierten, jüdischen Schulsystems enthielt. Dieses umfasste Grund- und Mittelschulen und ging bis zur Gründung zweier rabbinischer Einrichtungen, die für die Lehrerausbildung für die jüdischen Schulen verantwortlich waren sowie für die Ausbildung „aufgeklärter Rabbiner“ (analog den deutschen Reformrabbinern), die die Gemeinden unter „progressive“ Leitung bringen sollten. Ein Plan wurde ersonnen, die jüdische Bevölkerung in „produktive“ und „unproduktive“ Kategorien zu unterteilen, wobei die Letzteren höher besteuert und stärker rekrutiert werden sollten. Die Initiativen von Nikolaus hinterließen ein ambivalentes Erbe. Die meisten jüdischen Soldaten sind in Wirklichkeit nicht zum Christentum übergetreten, ungeachtet dessen, dass der Militärdienst gehasst und gefürchtet, und wenn irgend möglich, umgangen wurde. Die Abschaffung des Kahals beließ die meisten Funktionsträger (Steuereintreiber, Gemeindevertreter) in ihren Positionen und trug zur späteren judeophoben Behauptung bei, dass sie eine schädliche Existenz im Untergrund fortführe. Statistiken legen nahe, dass nur eine geringe Anzahl der Jugendlichen in das staatlich-jüdische Schulsystem eintrat und eine überwältigende Mehrheit in den privaten religiösen Schulen, im Cheder, blieb. Allerdings verhalf das Schulsystem einem Kreis von Juden zur Akkulturation, der bald eine führende Rolle in der Gemeindeleitung und deren Einbindung in die Mehrheitsgesellschaft spielen sollte. Obwohl dies nicht in der Absicht der Regierung lag, eröffnete der Abschluss an einer rabbinischen Schule vielen Juden die Möglichkeit des Studiums an russischen Universitäten, und immer mehr nutzten diesen Weg, um Medizin oder Jura zu studieren. Das „Nikolaus-System“ einer konservativen, reglementierten Innenpolitik und eines anti-revolutionären Aktivismus in der Außenpolitik wurde durch Russlands demütigende Niederlage im Krimkrieg (1854-1856) diskreditiert. Nikolaus’ Sohn und Nachfolger,
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Karte 3: Der jüdische Ausiedlungsrayon (1835–1917) und Birobidschan (seit 1934)
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Alexander II. (1855-1881), reagierte darauf mit einem umfassenden Programm innenpolitischer Veränderungen, bekannt als die „Ära der Großen Reformen“. Die Schlüsselreform war die Abschaffung der Leibeigenschaft, die in der Folge eine Reihe von Sekundärreformen notwendig machte, darunter die Einführung der lokalen Selbstverwaltungseinheit (Semstwo) und die Justizreform nach britischem Vorbild. Die allgemeine Wehrpflicht, zusammen mit einer verkürzten Dienstzeit, wurde zugunsten einer Heeresreform eingeführt. Juden konnten von diesen allgemeinen Reformen profitieren, zum Beispiel durch die Zulassung zum Stand der vereidigten Anwälte und die Teilnahme an bestehenden lokalen Selbstverwaltungseinheiten. Das allgemeine Reformklima hatte Auswirkungen auf spezifisch jüdische Interessen, besonders auf die Restriktionen des Ansiedlungsrayons. Seit den späten 1850er Jahren wurde einigen Kategorien von Juden die freie Wohnsitzwahl außerhalb des Rayons gewährt: den wohlhabenden Kaufleuten der Ersten Gilde, den Hochschulabsolventen, den Veteranen der „Nikolaus Armee“ und 1865 den jüdischen Handwerksmeistern. Der Historiker Benjamin Nathans bezeichnete dies als „selektive Integration“, während der berühmte russisch-jüdische Historiker Simon Dubnow es als „homöopathische Emanzipation“ abtat. Die von Zensur geprägte Herrschaft von Nikolaus I. untersagte die öffentliche Diskussion über die „jüdische Frage“. Unter Alexander lud eine Glasnost-Politik (Politik der Offenheit) die gebildete Öffentlichkeit ein, über die sozialen Themen des Tages zu debattieren, ein Phänomen, das durch den sprunghaften Anstieg der russischen Presse unterstützt wurde. In der frühen Reformära gab es eine kurze Sympathiewelle für die Notlage der Juden, eine Haltung, die als „Judeophilie“ verspottet wurde. Sie kulminierte in einer Pressedebatte über die Möglichkeit einer schnellen Reformierung der Juden und in einem berühmten „literarischen Protest“ gegen den Herausgeber einer Zeitschrift, der zwei jüdische Journalisten beleidigt hatte, der „Illustratsia-Affäre“ von 1858. Der weit verbreitete Optimismus der frühen Reformära verflüchtigte sich, sobald die Schwierigkeiten der inneren Reformen offensichtlich wurden. Es gab Unzufriedenheit unter den Bauern und ihren Verteidigern über das Wesen der emanzipatorischen Ansiedlung, die den Bauern Land gab, aber verlangte, dass sie dafür bezahlten. Liberale beklagten, dass der Zar darin versagt hatte, die „Große Reform zu krönen“, beispielsweise durch Gewährung einer schriftlichen Verfassung und repräsentativer Regierungsformen. Die Einführung einer kapitalistischen Wirtschaft in die ländliche Wirtschaft rief Desorientierung und Elend hervor. Als Folge dieser Desillusionierung entstand eine regimekritische Bewegung, zunehmend entschlossen zum revolutionären Wandel. Eine zusätzliche Sorge war das russisch beherrschte Königreich Polen, wo sich im Januar-Aufstand von 1863 Unzufriedenheit in offene Rebellion ausweitete. Die jüdische Frage wurde mit all diesen Phänomenen verwoben und Judeophobie wurde zu einer wichtigen Form des öffentlichen Diskurses. Die unruhigen Verhältnisse nach der Ermordung Alexanders II. im Jahr 1881 schufen ein Milieu, in dem eine Welle antijüdischer Ausschreitungen, die Pogrome, in den südwestlichen Provinzen des Reiches ausbrachen. Wissenschaftler sind sich heute darin einig, dass die russischen Behörden nicht an der Unterstützung der Pogrome beteiligt waren und vielseitige Maßnahmen ergriffen haben, um sie zu verhindern und zu unterdrü-
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cken. Schlüsselfiguren in der Regierung, angeführt durch den Minister für innere Angelegenheiten, N. P. Ignatiev, argumentierten, dass die Pogrome eine Antwort der Bauern auf die untragbare „jüdische Ausbeutung“ gewesen seien. Sie behaupteten, dass diese die alten Patentlösungen von „Annäherung“ und „Zusammenführung“ diskreditieren würden und ein Programm zur Segregation notwendig machten. Die berüchtigtste Anwendung dieser Ansicht war die Verkündung der „Maigesetze“ von 1882, die darauf abzielten, jüdische Ansiedlung und wirtschaftliche Aktivität auf dem Land einzuschränken. Einschränkungen wie der „numerus clausus“ von 1887, der die jüdische Zulassung zur Sekundar- und Hochschulbildung begrenzte, demonstrierten, dass diese Argumente erfolgreich auch auf gebildete Juden angewendet werden konnten. Die Herrschaft Alexanders III. (1881-1894) sah ein Überdenken der früheren Strategien gegenüber den Juden vor. Die Regierungszeit von Nikolaus II. (1894-1917) war durch Krieg und politische Instabilität geprägt, die in der Revolution von 1905 gipfelten. Loyalisten identifizierten die Juden im Ganzen als Befürworter der Revolution, und konterrevolutionäre Gewalt beinhaltete oft antijüdische Gewalt unter der Parole „Schlag die Jidden und rette Russland!“. Trotz der Zusagen erhielten Juden nicht all die im Oktobermanifest von 1905 versprochenen Bürgerrechte, und die jüdische Frage blieb umstritten im russischen Parlament, der Staatsduma. Russische Judeophobie lässt sich in zwei Hauptkategorien unterteilen: objektive Vorurteile, die auf den Realitäten jüdischen Lebens in Russland und außerhalb beruhen, und nicht-objektive Vorurteile, die im besten Fall nur einen vagen Bezug zur Realität aufweisen. Mit der Zeit schien die objektive Judeophobie durch die nicht-objektive Judeophobie angesteckt zu werden. Russische Judeophobie kann in eine Reihe von ökonomischen, politischen, kulturellen und religiösen sowie rassistischen Unterkategorien eingeordnet werden. Die Abschaffung der Leibeigenschaft brachte enorme wirtschaftliche Veränderungen in Russlands Agrarwirtschaft mit sich, als kapitalistische Kräfte in den Markt eindrangen. Das führte zu einer Verschlechterung der Wirtschaftslage des gutsbesitzenden Adels und zu einer Debatte über den Status der Landbevölkerung (die angeblich an „LandHunger“ litt infolge der unzureichenden Landversorgung, des Bevölkerungswachstums und des Rückgangs traditioneller Wirtschaftsbeziehungen innerhalb der Bauerngemeinde), symbolisiert durch den Aufstieg der Kulaken. Die Änderungen leiteten eine öffentliche Debatte über bestmögliche staatliche Entwicklungsstrategien ein. Russische Intellektuelle teilten eine Hassliebe gegenüber dem Bauerntum. Einerseits sahen Slawophile die Bauern als Quelle nationaler Tugenden, während Radikale ihnen revolutionäres Potential zuschrieben. Andererseits waren sie die „finsteren Massen“, rückständig und abergläubisch, zu Anarchie und Gewalt neigend. In beiden Fällen benötigten sie Schutz und Aufsicht. Der Topos der „jüdischen Ausbeutung“ des Bauerntums wurde mühelos diesen Bedenken hinzugefügt. Der schlaue, fleißige und vernünftige Jude, so wurde befürchtet, könnte das gerade emanzipierte Bauerntum zu einer „neuen Leibeigenschaft“ verführen und dabei die Schwäche der Bauern für das Wirtshaus als Ansatzpunkt nutzen. „Die Juden vergiften das Bauerntum“ war die Parole, die dieser
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Angst Ausdruck verlieh. Der Jude würde die Ernte und das Vieh der Bauern zu Spottpreisen aufkaufen. Es gab auch Befürchtungen, dass die Juden adligen Landbesitz kaufen könnten. Die Gegenüberstellung bäuerlicher Rückständigkeit und jüdischer Arglist bildete das bedeutendste Argument, das gegen die Lockerung des Ansiedlungsrayons verwendet wurde. In diesem Zusammenhang wurde behauptet, dass die Zulassung der Juden ins russische Kernland die russische Landbevölkerung zerstören würde, so wie sie die weißrussischen und ukrainischen Bauern zerstört hätten. Einige Juden konnten sich profitable Nischen in Russlands neuer kapitalistischer Wirtschaft erschließen, besonders im Bereich der privaten Bankgeschäfte und der Bereitstellung von Handelskapital. Russische Kaufleute und Unternehmer stellten diese Erfolgsgeschichten als eine weitere Form jüdischer Ausbeutung und wirtschaftlicher Knechtschaft dar, die Russland auferlegt wurde. Diese Angst wurde durch die Reaktion auf eine jüdische Beteiligung beim Bau des russischen Eisenbahnnetzes symbolisiert. Die Litanei von „Ginsburg, Poliakow und Warschawski“, drei wohlhabende jüdische Unternehmer, wurde zur zusammenfassenden und verurteilenden Klischeeformel für die jüdische Wirtschaftsmacht. Nach den Teilungen Polens engagierte sich der russische Staat im Kampf mit dem polnischen Nationalismus, sowohl im Königreich Polen selber als auch in den „westlichen Provinzen“, den Gebieten, die integrale Teile des alten polnisch-litauischen Königreichs gewesen waren, aber eine gemischte Bevölkerung von Ukrainern, Weißrussen, Litauern, Juden und Polen hatten. Der russische Staat verfolgte vor allem nach den polnischen Aufständen von 1831 und 1863 eine Politik der „Russifizierung“. Es gab nie ein zusammenhängendes Programm unter der Rubrik der Russifizierung, außer, dass es hauptsächlich gegen die polnische Wirtschafts- und Kulturmacht gerichtet war. Weil die Juden für die Polen ein fester Bestandteil des ökonomischen Systems als Händler und Unternehmer waren, wurden sie von russischen Funktionären mit Misstrauen betrachtet und in einer Anzahl anti-polnischer Gesetze mit einbezogen, wie z.B. den Restriktionen bezüglich Eigentum, Nutzung und Pacht von Grund und Boden. Die Ernüchterung über die Großen Reformen führte in Russland der 1860er Jahre zu einer regimekritischen Bewegung, die in den 1870er Jahren in eine revolutionär-terroristische Bewegung überging und 1881 in der Ermordung Alexanders II. gipfelte. Obwohl ein paar Juden an der frühen Bewegung teilnahmen, waren dies Einzelpersonen. Trotzdem begannen russische Judeophobe, vom deutschen Antisemitismus beeinflusst, Juden mit den zerstörerischen Kräften der Revolution gleichzusetzen. Zum Jahrhundertwechsel wurde dies zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Historiker streiten über den tatsächlichen prozentualen Anteil der Juden in der Revolutionsbewegung, aber Juden begannen zweifelsohne eine prominente Rolle in allen revolutionären Parteien zu spielen, insbesondere aber in der sozialdemokratischen Bewegung, nach der Gründung des sozialdemokratischen „Bundes“ im Jahre 1897. Als die am stärksten urbanisierte nationale Minderheit im Russischen Reich und mit ihrem hohen Alphabetisierungsgrad hatten die Juden gute Voraussetzungen, um durch die aktuellen revolutionären Strömungen beeinflusst zu werden. Weit davon entfernt „jüdisch“ zu sein, waren in der Bewegung vor allem Juden involviert, die ihre Verbindungen mit der traditionellen Gemeinschaft abgebrochen hatten.
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Trotzdem diente es den Bedürfnissen der Regierung, die revolutionäre Bewegung als eine „jüdische Verschwörung“ darzustellen und die Loyalität aller Juden anzuzweifeln. Konservative Institutionen wie die Armee waren besonders judenfeindlich. Nach 1905 erwog der Generalstab Einschränkungen zur Einberufung von Juden in die Armee als Vorwand, ihnen die vollen Bürgerrechte zu verweigern. Diese militärische Judeophobie zeigte sich auch in verschiedenen Militäraktionen gegen jüdische Gemeinden. Rechtsextreme politische Parteien, wie die „Union des russischen Volkes“, machten die Judeophobie zu einem integralen Bestandteil ihres Parteiprogramms. Kulturelle Judeophobie kann als Oberbegriff für eine Vielfalt judenfeindlicher Topoi dienen. Die zunehmende Akkulturation der Juden, symbolisiert durch den Wunsch nach sekundärer und höherer Bildung, brachte die Kampagne „Der Jude kommt“ hervor, die Einschränkungen bei der Zulassung von Juden zur Bildung forderte. Die Kampagne war von Führungskräften der Bildungsdistrikte innerhalb des Ansiedlungsrayons angeführt, die sich darüber beschwerten, dass Juden auf Kosten von Nichtjuden Schulplätze einnahmen. Das Ergebnis wäre die „Judaisierung“ des Schulsystems, da die Juden all ihre negativen Eigenschaften in die Bildung einbrächten, statt sie von diesen zu bereinigen. Die Kampagne gipfelte im „numerus clausus“ von 1887, der Teil einer generellen Reaktion gegenüber Schülern aus unteren Schichten war. Dieselben Argumente gegen „judaisierende“ Einflüsse wurden in Kampagnen verwendet, um die Zulassung von Juden zum Stand der Anwälte einzuschränken, die einen gewissen Erfolg hatten. Der größte Beitrag russischer Judeophobie zum Antisemitismus war der Mythos des „jüdischen Kahal“. Der russische Staat hatte 1844 die formale jüdische Gemeinde abgeschafft, aber im Jahre 1869 veröffentlichte Jakob Brafman Behauptungen, dass der Kahal weiterhin als eine „geheime, talmudische, kommunale Republik“ existiere, die alle Juden in Knechtschaft hielt und alle Bestrebungen, sie zu reformieren, untergrub. Diese Behauptungen wurden nachträglich in das Motiv einer internationalen jüdischen Verschwörung gegen die christlichen Staaten ausgeweitet. Der Topos des „internationalen Kahal“ wurde problemlos in den westlichen antisemitischen Diskurs aufgenommen. Die maßgebliche Ausprägung dieser Verschwörungstheorie findet sich in den von der russischen Geheimpolizei erfundenen „Protokollen der Weisen von Zion“, die zum Ende des Jahrhunderts ein aufnahmebereites Publikum in Russland und im Ausland fanden. Die antijüdischen Vorurteile der Russisch-Orthodoxen Kirche waren relativ grob und direkt: die Juden waren Gottesmörder, die Christen schaden und sie vom wahren Glauben abbringen wollten. Phantasien wie Ritualmord und Talmudfeindlichkeit wurden durch die orthodoxen Kleriker erst im 19. Jahrhundert aufgegriffen. Die russische Orthodoxie wurde eher durch die Judeophobie der Mehrheitsgesellschaft angesteckt als umgekehrt. Wissenschaftler streiten über das Ausmaß, in dem Rassenvorurteile vor dem Sturz der Autokratie die russische Judeophobie beeinflusste. Der gegenwärtige Konsens besagt, dass eine Anzahl von Faktoren Russland für westliche Rassenlehren unempfänglich machte: die multiethnischen Traditionen der Gesellschaft, die Slawenfeindlichkeit der Rassentheorien und die Beständigkeit von schichtspezifischen Institutionen. Obwohl ras-
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sistische Ideen in Russland bekannt waren, sind sie am Vorabend des Ersten Weltkrieges noch auf keine breite Akzeptanz gestoßen.
John D. Klier † Übersetzt aus dem Englischen von Regina Schulz
Literatur Jonathan Frankel, Prophecy and Politics: Socialism, Nationalism, and the Russian Jews, 1862-1917, Cambridge 1981. Erich E. Haberer, Jews and Revolution in Nineteenth-Century Russia, Cambridge 1995. John D. Klier, Imperial Russia's Jewish Question, 1855-1881, Cambridge 1995. John D. Klier, Russia Gathers Her Jews: The Origins of the Jewish Question in Russia, 1772-1825, Illinois 1986. Heinz-Dietrich Löwe, The Tsars and the Jews: Reform, Reaction and Anti-Semitism in Imperial Russia, 1772-1917, London 1993. Benjamin Nathans, Beyond the Pale. The Jewish Encounter with Late Imperial Russia, Berkeley, Los Angeles 2002. Hans Rogger, Jewish Policies and Right-Wing Politics in Imperial Russia, London, New York 1986. Michael Stanislawski, Tsar Nicholas I and the Jews, Philadelphia 1983.
Russland nach 1917 ? Sowjetunion
Russland nach dem Ende der Sowjetunion Von 1989 bis zur Volkszählung 2002 ging die Zahl der russischen Juden von 570.000 auf 250.000 zurück, was einen Bevölkerungsanteil von unter 0,2 Prozent ergab. Die Zahlen beruhen auf Selbstaussagen und wurden von Vertretern der jüdischen Gemeinden angezweifelt, die von bis zu einer Million ausgehen. Der unbestreitbare Rückgang ist auch eine Folge der allgemeinen negativen demographischen Bilanz, vor allem aber der Auswanderung: 1989 bis 2002 emigrierten 185.000 Juden aus der Russischen Föderation. Der Grund dafür kann kaum in einer feindseligen Politik der Staatsspitze gesehen werden. Seit dem Ende der achtziger Jahre gibt es keine Unterdrückung jüdischer Religion oder des Kulturlebens mehr. Statt Karrierebarrieren bieten sich Chancen auf wirtschaftlichen Erfolg und politischen Einfluss. Gerade unter denen, die diese Chancen in besonderem Maß genutzt haben und als „Oligarchen“ bekannt wurden, sind viele Personen jüdischer Herkunft. Der jüdische Exodus ist Reaktion auf die allgemeine Krise, der Juden durch die gesicherte Aufnahme in Israel, aber auch Deutschland entgehen können. Hintergrund der Emigration ist aber die in der Gesellschaft und in politischen, religiösen und kulturellen Einrichtungen verbreitete Judenfeindschaft. Antisemitische Gruppierungen und Straftaten riefen schon in der Endphase der Sowjetunion großes mediales Echo
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hervor. Es war die Rede von einem „Weimarer Russland“, die Machteroberung durch radikal-nationalistische oder neostalinistische Kräfte erschien möglich. In den achtziger Jahren war aus einer ursprünglich denkmalschützerischen Initiative die Bewegung Pamjat („Gedächtnis“) unter ihrem Anführer Dmitri Wasiljew entstanden. Sie betrieb Agitation gegen die angebliche Vormachtstellung der Juden in der Sowjetunion, bediente sich gerne einer antizionistischen Rhetorik, die sie von der staatlichen Propaganda übernahm. Gegen den Kommunismus war sie insoweit, als sie ihn vom Einfluss der „Zionisten“ und „Freimaurer“ bereinigen wollte. Der Nachweis der „jüdischen Schuld“ an allen Schrecken der Sowjetgeschichte war typisch für die Glasnost-Epoche, als diese Schrecken erstmals offen thematisiert wurden. Während die nicht-russischen Nationen der Sowjetunion ethnische Schuldzuweisungen an die Russen adressieren konnten, ermöglichte den russischen „National-Patrioten“ nur die Beschuldigung der Juden, Kritik am eigenen Land auf „Fremde“ umzuleiten. 1990 entstand mit dem Austritt von Alexander Barkaschow aus Pamjat (das seit 1993 bedeutungslos ist) eine weit radikalere Gruppierung, die „Russische Nationale Einheit“ (Russkoje Nazionalnoje Jedinstwo). In Programm und Auftreten war die Anlehnung an den deutschen Nationalsozialismus unverkennbar, wobei eine Synthese mit russisch-orthodoxen Versatzstücken versucht wurde. Dass der ansonsten bewunderte Hitler eine anti-russische Politik betrieben hatte, wurde damit erklärt, dass er und Stalin von „zionistischen“ Drahtziehern aufeinander gehetzt worden seien. Die RNJ organisierte sich paramilitärisch mit bis zu 40.000 „Kämpfern“ und hatte in manchen Regionen von den Behörden Rückendeckung. Ende der neunziger Jahre begann sie sich zu spalten. Als ein Wahlantritt 1999 zur Duma aus formalen Gründen untersagt worden war, wurde Barkaschow von einer gemäßigteren Mehrheit aus der RNJ gedrängt, die sich zur Unterstützung Putins entschloss. Antisemitische Agitation war nach der Jahrtausendwende nicht mehr das Hauptziel der Extremisten, denen Kampf gegen Muslime, Kaukasier und Ausländer immer wichtiger wurde. Erkennbar ist die Verschiebung vom Antisemitismus zum Ausländerhass auch an der Bilanz der von Rechtsradikalen und Skinheads verübten Straftaten. In den neunziger Jahren wurde besonders von Anschlägen auf Synagogen und jüdische Friedhöfe berichtet, nach der Jahrtausendwende übersteigen brutale Angriffe auf Personen aus dem Kaukasus oder Mittelasien, auf Roma oder ausländische Studenten zahlenmäßig die antisemitischen Übergriffe. Eine ähnliche Tendenz ergaben Meinungsumfragen. In den neunziger Jahren wurde ermittelt, dass es 6-9 Prozent überzeugte Antisemiten in der Bevölkerung gebe, dass unter 2 Prozent „aggressive“ Antisemiten seien, noch geringer war der Anteil der Anhänger extremistischer Parteien. Jedoch bejahten 15-18 Prozent antisemitische Teilaussagen, 64 Prozent sprachen sich gegen einen jüdischen Präsidenten für Russland aus. 1998/99 wurde ermittelt, dass 44 Prozent der in Russland Befragten „stark“ und 19 Prozent „gar nicht“ antisemitisch gestimmt seien, während in den USA die Gewichtung umgekehrt bei 12 Prozent zu 53 Prozent war. 2005 stimmten über 50 Prozent der Parole „Russland den Russen“, 13 Prozent der Forderung nach einem Verbot aller jüdischen Organisationen zu. Zugleich bekannten zwar nur 6 Prozent eine positive Haltung zu Antisemiten, aber 47 Prozent gaben an, dass eine judenfeindliche Einstellung bei anderen ihnen gleichgültig sei.
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Neben dem „passiven“ Antisemitismus breiter Bevölkerungsteile und dem aggressiven Judenhass der extremistischen Gruppen gibt es – mit Wurzeln im offiziellen Literaturleben und im Dissidententum aus sowjetischer Zeit – eine intellektuelle Judenfeindschaft, die in vergröberter Form häufig zum ideologischen Fundament der Radikalen wurde. Als eines der wichtigsten Manifeste erschien 1989 die schon fast zehn Jahre zuvor verfasste Abhandlung Igor Schafarewitschs gegen die „Russophobie“, unter der das unheilvolle Wirken eines „kleinen Volkes“ verstanden wurde. Das Organ des Schriftstellerverbands veröffentlichte 1990 ein Pamphlet, welches das Verbot des Antisemitismus als „Gesetz über den Genozid am russischen Volk“ erklärte und Unterschriften von so prominenten „Dorfschriftstellern“ wie Walentin Rasputin trug. Doch die Resonanz für Anklagen gegen den „jüdischen Bolschewismus“ ließ immer mehr nach. Als sich Alexander Solshenizyn 2002 in einem zweibändigen Werk mit der Verstrickung von Juden in die kommunistische Diktatur befasste und antisemitischen Interpretationen zumindest nahe kam, war das öffentliche Interesse gering. Einflussreich wurde das Eurasiertum, das seine Wurzeln in der Emigration der Vorkriegszeit hat. Schon in der Sowjetzeit fanden die Thesen Lew Gumiljows zur Ethnogenese großen Zuspruch. Die Völker Eurasiens bilden hier eine genetische Einheit, die vom andersartigen Westen, aber auch von „chimärischen“, parasitären Einflüssen bedroht sei. Als klassisches Beispiel dafür gelten die Chasaren, ein mit dem mittelalterlichen Russland im Konflikt stehendes Turkvolk jüdischen Glaubens. Die Verurteilung der Chasaren wird von allen russischen „National-Patrioten“ geteilt, nicht aber die positive Bewertung der historischen Mongolenherrschaft und des aktuellen Bündnisses mit Muslimen durch die Neu-Eurasier. Deren Wortführer ist Alexander Dugin, der Verbindungen zur französischen „Nouvelle Droite“ hat, Stalin verehrt und in seiner „Konspiratologie“ die Weltgeschichte als Kampf der landverbundenen Eurasier mit den maritimen Atlantikern erklärt, deren Züge besonders deutlich bei Puritanern oder Juden ausgeprägt seien. Dugins konservative Revolution suchte sich ihr Vorbild im „Dritten Weg“ des deutschen Nationalsozialismus. Dies wurde dadurch relativiert, dass auch zwischen unterschiedlichen Führern des Dritten Reichs und gleichermaßen durch das Judentum eine Trennlinie zwischen Atlantikern und Eurasiern verlaufe. Hier werden sogar die „jüdischen Bolschewiki“ positiv gewertet, wobei das religiöse Judentum als Gegenkonzept zur russischen Orthodoxie gilt. An dieser orientiert sich der intellektuelle Antisemitismus überwiegend, doch gibt es auch neuheidnische Tendenzen. Sie basieren auf Lehren, wie sie schon zur Sowjetzeit der notorische „Antizionist“ Waleri Jemeljanow oder später Wiktor Beswerchi entwickelten, wobei Abstammungstheorien über die Russen als Arier mit Angriffen auf das „jüdische“ Christentum kombiniert wurden. Nicht nur bei obskuren Theoretikern oder extremistischen Gruppen hat der Antisemitismus in Russland Rückhalt. Abgesehen von den Liberalen sowie den Parteien, die Boris Jelzin und Wladimir Putin direkt stützten, waren praktisch alle in der Duma vertretenen Kräfte in antisemitische Skandale verwickelt, und es finden sich Elemente der Judenfeindschaft in ihren Programmen, in Äußerungen ihrer Vertreter oder in ihren Publikationen. Zu den extremistischen Gruppen sowie zu einzelnen antisemitischen Vordenkern gibt es dabei keine klare Trennlinie. Die bedeutendste der etablierten Kräfte mit antisemitischen Tendenzen ist die Kommunistische Partei, die an den sowjetischen
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Antizionismus anknüpft. „Zionismus“ meint dabei eine vorrangig jüdische Verschwörung zur Erlangung globaler Herrschaft, an der etwa die internationalen Finanzinstitutionen oder die russischen Bankiers beteiligt seien. Mit realem Zionismus bringen die „Antizionisten“ diese Vorstellung nur dann in Verbindung, wenn sie mit muslimischen Extremisten oder Exilpalästinensern kooperieren. Dieses Konzept wird von den rechten Gruppierungen und Vordenkern geteilt, mit denen KP-Chef Gennadi Sjuganow in den frühen neunziger Jahren Bündnisse einging (darunter Barkaschow oder Schafarewitsch). In seinen Schriften stellte Sjuganow sich in die Tradition der Slawophilen und kritisierte die Rolle der „jüdischen Diaspora“ im Kapitalismus. 1998 erklärte das Mitglied der kommunistischen Duma-Fraktion Albert Makaschow, die Shidy (beleidigend für Juden) seien schuld am Untergang Russlands und tränken das Blut der Russen. Die kommunistischnationalistische Mehrheit in der Duma verhinderte seine Verurteilung. Sjuganows halbherzige Distanzierungen schlossen umso heftigere Angriffe auf den „Zionismus“ ein. Wie sehr dies auch einfach ein Tarnbegriff sein konnte, macht das Beispiel des notorisch antisemitischen Gouverneurs des Kuban-Gebiets Nikolaj Kondratenko deutlich, der sich Ende der neunziger Jahre Anklagen mit dem Hinweis zu entziehen vermochte, dass er sich nicht gegen Juden, sondern gegen den Zionismus geäußert habe. Ähnliches findet man bei den nationalistisch-populistischen „Liberal-Demokraten“ Wladimir Shirinowskis. Dieser fiel immer wieder mit Verurteilungen des jüdischen Einflusses in Russland sowohl in der Zeit des Kommunismus als auch in der Reformperiode auf. Mit seiner eigenen jüdischen Herkunft konfrontiert, dementierte er diese bisweilen, äußerte sich aber auch positiv über Juden als angebliches Rückgrat seiner wie auch Lenins Partei. Russische Großmachtansprüche und Angriffe auf den Westen, auf Ausländer und Kaukasier spielen bei Shirinowski eine weit größere Rolle als das jüdische Thema. Dies gilt auch für die Nationalbolschewistische Partei des Schriftstellers Eduard Limonow, der seine politische Karriere bei Shirinowski begonnen hatte. An Limonows Seite stand zwischen 1993 und 1998 Dugin, der sich später zunächst den Kommunisten annäherte, dann aber Putin unterstützte und politisches Gewicht als Berater, Autor geopolitischer Lehrbücher für das Militär und Kommentator in den staatlich kontrollierten Medien erlangte. Nicht nur bei den Nationalisten spielt religiös motivierter Judenhass eine wichtige Rolle. Auch in kommunistischen Blättern wurden Anfang der neunziger Jahre Ritualmord-Vorwürfe gegen Juden verbreitet, und die Leitfigur der orthodoxen Judenfeinde, der Metropolit Ioann, nutzte die Medien der Kommunisten. Gegen ihn, der immer wieder gegen das „Volk der Gottesmörder“ agitierte, wandte sich der Patriarch Alexej II. Er äußerte sich – etwa 1991 vor amerikanischen Rabbinern – offen gegen die Judenfeindschaft und provozierte damit heftige Reaktionen bei orthodoxen Fundamentalisten. Aus deren Kreisen stammte ein Manifest („Brief der 500“), in dem 2005 das Verbot jüdischer Organisationen gefordert wurde, da eine russische Übersetzung eines religiösen Textes aus dem 16. Jahrhundert antichristliche Stellen enthalte. Die Staatsanwaltschaft leitete daraufhin eine Untersuchung gegen die Herausgeber des jüdischen Textes ein, die aber eingestellt wurde. Kein Verfahren wurde gegen die Autoren des antijüdischen Manifests eingeleitet. Als dieses von 19 Duma-Abgeordneten unterzeichnet wurde, die der nationalistischen „Rodina“ und der kommunistischen Fraktion angehörten, führte dies zu ent-
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schiedenen Reaktionen: Putin verurteilte anlässlich des 60. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz den Antisemitismus in Russland deutlich, und seine Partei verabschiedete in der Duma eine Resolution gegen das Manifest. Dieses wurde von seinen Urhebern als Reaktion auf die gestiegene Zahl von Verfahren gegen „Patrioten“ gerechtfertigt. In der Tat ging die Toleranz der Justizorgane gegenüber Rechtsradikalen nach der Jahrtausendwende zurück. Zugleich kam es 2005 im Fall der Kunstausstellung „Vorsicht Religion“ zu einem Gerichtsverfahren, das orthodox-fundamentalistische Vandalen freisprach und Künstler für die Verunglimpfung der Orthodoxie mit antisemitisch gefärbten Argumenten verurteilte. Die dennoch zunehmende Bekämpfung des Antisemitismus unter Putin gehört zu Maßnahmen gegen alles, was im Ausland zu Rufschädigungen oder im Innern zur Gefährdung der ethnischen Balance führt. Dennoch kann sich Putin des Respekts der Nationalisten sicher sein – ganz anders als sein Vorgänger Jelzin, der als Werkzeug der „jüdischen Oligarchen“ gesehen wurde. Mit Boris Beresowski und Wladimir Gusinski hat Putin zwei offen für jüdische Belange eintretende „Oligarchen“ bekämpft, und sein dritter Gegner, der ebenfalls jüdische Michail Chodorkowski, steht für Liberalismus und Öffnung für ausländisches Kapital. Es gibt aber kein Anzeichen dafür, dass es dem Kreml dabei um die Reduzierung des „jüdischen Einflusses“ ging, und er hat auch keine antisemitische Propaganda in der Auseinandersetzung mit den „Oligarchen“ betrieben. Dennoch bleiben Gemeinsamkeiten zwischen dem Weltbild des antisemitischen Milieus und der diffusen Staatsideologie: Eine antiwestliche Grundstimmung und die Idee einer grundsätzlichen Andersartigkeit des eurasisch und orthodox geprägten Russland, dessen Geschichte unkritisch positiv gesehen wird, wobei negative Erscheinungen auf ausländische Einflüsse zurückgeführt werden. Das Ende des Sowjetimperiums wird als Niederlage, Liberalisierung und Öffnung des Landes werden als Bedrohung gesehen, unerwünschte politische Vorgänge als Verrat oder Verschwörung gedeutet. Auch bei stärkeren Unterdrückungsmaßnahmen dürfte es kaum zu einer Überwindung des Antisemitismus kommen, solange die Entwicklung zu einer pluralistischen Zivilgesellschaft ausbleibt.
Matthias Vetter
Literatur Mark Dejč, Koričnevye (Die Braunen), Moskau 2003. Hildegard Kochanek, Die russisch-nationale Rechte von 1968 bis zum Ende der Sowjetunion: Eine Diskursanalyse, Stuttgart 1999. Vyacheslav Likhachev, Political anti-semitism in post-Soviet Russia: actors and ideas in 1991-2003, Stuttgart 2006. Markus Mathyl, Staatlicher Antisemitismus in Rußland – Renaissance oder Auflösung?, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 8(1999), S.60–81. Matthias Messmer, Sowjetischer und postkommunistischer Antisemitismus: Entwicklungen in Russland, der Ukraine und Litauen, Konstanz 1997. Vadim Rossman, Russian intellectual antisemitism in the post-communist era, Lincoln [u.a.] 2002.
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Michail Ryklin, Mit dem Recht des Stärkeren: russische Kultur in Zeiten der „gelenkten Demokratie“, Frankfurt am Main 2006. Stefan Wiederkehr, Die eurasische Bewegung: Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland, Köln [u.a.] 2007.
Schweden Schweden hatte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine zahlenmäßig geringe jüdische Bevölkerung (nie mehr als 0,2 Prozent). Bis dahin war es Juden ohne Übertritt zum christlichen Glauben nicht gestattet, in Schweden zu siedeln. Antijüdisches Denken war jedoch lange vorher in das Land gekommen. Antijudaismus wurde durch Schwedens Einbindung in die europäische katholische Gemeinschaft vom 11. bis zum 14. Jahrhundert eingeführt. Die Vorstellung von Juden und jüdischer Religion in mittelalterlichen schwedischen Handschriften ist einigermaßen ambivalent: Während das Christentum als mit dem Judaismus organisch verbunden verstanden wird, werden Juden hauptsächlich in Zusammenhang mit feindseligen Stereotypen dargestellt. Das in den kirchlichen Lehren verwurzelte negative Bild von Juden wurde durch die Verbreitung des Evangeliums wie auch durch päpstliche Enzykliken und Briefe, Heiligenlegenden, Bücher der Vorhersagung und Kirchenkunst in Umlauf gebracht. Während der Pestzeit im 14. Jahrhundert machten die Bürger von Visby auf der Insel Gotland die Juden für die Katastrophe verantwortlich. Im „Codex Oxenstierna“ (1385), einem Buch der Vorhersagung, werden Juden des Ritualmordes und der Hostienentweihung beschuldigt. In der Kathedrale von Uppsala wurde in den 1340er Jahren ein Kapitel angebracht, das „die Judensau” darstellte. Antijüdische Motive sind auch auf Wandmalereien in den Kirchen zu finden, die im 15. Jahrhundert von Albertus Pictor geschaffen wurden. Während des Mittelalters war Antijudaismus hauptsächlich eine Ideologie für die gebildete Elite innerhalb der Kirche, obwohl er mit der Zeit weitere Kreise der Bevölkerung beeinflusste, nicht zuletzt als Folge der Begründung des kirchlichen Gemeindesystems und des Eintreffens der Bettelorden. Antijüdische Ideen und Meinungen wurden in Schweden durch Entwicklungen in anderen Teilen Europas beeinflusst. Besondere Bedeutung hatte Martin Luther, dessen Text „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) von schwedischen Klerikern gelesen wurde. Während des 16. Jahrhunderts nahm die Verbreitung antijüdischer Argumente zu. Diese Entwicklung muss im Zusammenhang mit dem Zerfall des Kalmarbundes und der Umgestaltung des schwedischen Staates gesehen werden, die während der Regierungszeit von Gustav Vasa stattfanden. Es handelte sich um einen Prozess, der die Zentralisierung der Macht, die Gründung der evangelisch-lutheranischen Staatskirche und die Einrichtung eines Erbkönigreichs bedeutete. Antijüdische Argumentationen wurden z.B. 1523 in der staatlichen Propaganda benutzt. Um sowohl einheimische als auch europäische Meinungsträger zu überzeugen,
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Michail Ryklin, Mit dem Recht des Stärkeren: russische Kultur in Zeiten der „gelenkten Demokratie“, Frankfurt am Main 2006. Stefan Wiederkehr, Die eurasische Bewegung: Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland, Köln [u.a.] 2007.
Schweden Schweden hatte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine zahlenmäßig geringe jüdische Bevölkerung (nie mehr als 0,2 Prozent). Bis dahin war es Juden ohne Übertritt zum christlichen Glauben nicht gestattet, in Schweden zu siedeln. Antijüdisches Denken war jedoch lange vorher in das Land gekommen. Antijudaismus wurde durch Schwedens Einbindung in die europäische katholische Gemeinschaft vom 11. bis zum 14. Jahrhundert eingeführt. Die Vorstellung von Juden und jüdischer Religion in mittelalterlichen schwedischen Handschriften ist einigermaßen ambivalent: Während das Christentum als mit dem Judaismus organisch verbunden verstanden wird, werden Juden hauptsächlich in Zusammenhang mit feindseligen Stereotypen dargestellt. Das in den kirchlichen Lehren verwurzelte negative Bild von Juden wurde durch die Verbreitung des Evangeliums wie auch durch päpstliche Enzykliken und Briefe, Heiligenlegenden, Bücher der Vorhersagung und Kirchenkunst in Umlauf gebracht. Während der Pestzeit im 14. Jahrhundert machten die Bürger von Visby auf der Insel Gotland die Juden für die Katastrophe verantwortlich. Im „Codex Oxenstierna“ (1385), einem Buch der Vorhersagung, werden Juden des Ritualmordes und der Hostienentweihung beschuldigt. In der Kathedrale von Uppsala wurde in den 1340er Jahren ein Kapitel angebracht, das „die Judensau” darstellte. Antijüdische Motive sind auch auf Wandmalereien in den Kirchen zu finden, die im 15. Jahrhundert von Albertus Pictor geschaffen wurden. Während des Mittelalters war Antijudaismus hauptsächlich eine Ideologie für die gebildete Elite innerhalb der Kirche, obwohl er mit der Zeit weitere Kreise der Bevölkerung beeinflusste, nicht zuletzt als Folge der Begründung des kirchlichen Gemeindesystems und des Eintreffens der Bettelorden. Antijüdische Ideen und Meinungen wurden in Schweden durch Entwicklungen in anderen Teilen Europas beeinflusst. Besondere Bedeutung hatte Martin Luther, dessen Text „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) von schwedischen Klerikern gelesen wurde. Während des 16. Jahrhunderts nahm die Verbreitung antijüdischer Argumente zu. Diese Entwicklung muss im Zusammenhang mit dem Zerfall des Kalmarbundes und der Umgestaltung des schwedischen Staates gesehen werden, die während der Regierungszeit von Gustav Vasa stattfanden. Es handelte sich um einen Prozess, der die Zentralisierung der Macht, die Gründung der evangelisch-lutheranischen Staatskirche und die Einrichtung eines Erbkönigreichs bedeutete. Antijüdische Argumentationen wurden z.B. 1523 in der staatlichen Propaganda benutzt. Um sowohl einheimische als auch europäische Meinungsträger zu überzeugen,
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dass Vasa der rechtmäßige Herrscher war, wurde der dänische König Christian II. als Tyrann angeprangert. Um den Ruf des dänischen Königs als grausamen und illegitimen Herrscher zu verstärken, wurde seine angebliche Bösartigkeit mit der der Juden verglichen: Christian wird als Kreuziger dargestellt, der „sogar die Juden in ihrer Gottlosigkeit“ übertrifft.
Die Ära der Großmacht Im 16. und 17. Jahrhundert gab es keine gesetzliche Begrenzung der jüdischen Einwanderung. Es lag nicht im Interesse des Staates, Nicht-Lutheraner mit Kenntnissen und Fertigkeiten, die für die aufkommende schwedische Großmacht nützlich waren, auszuschließen. Nicht-Lutheraner waren toleriert, solange sie ihren Nachwuchs in der Lutheranischen Staatsreligion erzogen und versicherten, dass sie ihre eigenen Lehren nicht verbreiteten. Bis 1685 differenzierte der Staat formal nicht zwischen fremden Religionen, aber in der Praxis bevorzugte er Calvinisten und Presbyterianer. Niederländer, Schotten, Deutsche waren als Händler, Soldaten und Experten willkommen; Juden und Katholiken waren unerwünscht, obwohl der schwedische Hof einzelne Juden während der Regierungszeit von Königin Christina beschäftigte. Die Abneigung gegen die jüdische Einwanderung basierte auf antijüdischen Einstellungen, war aber auch eine Folge des Ringens der jungen Großmacht um nationalen Zusammenhalt mittels religiöser Einheit und unter Gesichtspunkten dynastischer Legitimität. Das Prinzip der religiösen Einheit war 1593 beim Treffen in Uppsala übernommen worden und verlieh der Lutheranischen Orthodoxie schrittweise eine Vormachtstellung. Die Bedeutung der religiösen Einheit wurde in den Verfassungen von 1634, 1719, 1720 und 1772 hervorgehoben. Der Staat als Verteidiger und Verfechter des Luthertums in den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts sah es als seine Aufgabe an, seine Bürger vor falschem Glauben zu bewahren, besonders vom Katholizismus, aber auch vom Judaismus. Vorschläge, sephardischen Juden die Ansiedlung in Schweden zu gestatten, wurden wiederholt abgelehnt, ungeachtet der Tatsache, dass ihre Fertigkeiten in der ökonomisch schwachen Großmacht dringend benötigt wurden. Ökonomische Rationalität musste sich der engstirnigen religiösen Orthodoxie beugen. Diese antijüdischen Ansichten wurden gegen Ende des 17. Jahrhunderts verstärkt. Eine königliche Anordnung, dass die in Schweden lebenden Juden innerhalb von zwei Wochen das Land zu verlassen hätten, wurde 1685 ausgegeben und in den folgenden Jahren mehrfach wieder eingeführt. Das Kirchengesetz von 1686 legte fest, dass Juden und andere Anhänger fremder Religionen, die in Schweden siedelten, getauft werden mussten. Die Erlasse gegen die Juden wurden vorübergehend durch Karl XII. eingestellt, zum einen weil die schwedische Armee während ihrer militärischen Feldzüge auf dem europäischen Kontinent auf Juden als Lieferanten, Ausrüster, Dolmetscher und Geldwechsler angewiesen war, zum anderen weil Juden eine wichtige Rolle als Darlehensgeber spielten. Die meisten Kreditgeber des Königs, die ihm nach Schweden folgten, waren Muslime, aber die zweitgrößte Gruppe waren Juden. Weil der schwedische Staat seine Schulden nicht bezahlen konnte, blieben die Juden ungefähr zwanzig Jahre lang im Land. Während dieser Zeit wurde ihnen das Recht zur Ausübung ihrer Religion verliehen. Al-
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lerdings wurden bis auf die jüdischen Kreditgeber des Königs keine anderen Juden auf schwedischem Boden toleriert. Das Ideal der religiösen Einheit blieb während des 18. Jahrhunderts stabil. Die Ständeherrschaft, die 1718 nach dem Tode Karls des XII. folgte, bedeutete eine feindseligere Einstellung den Juden gegenüber. Der Erlass von 1685, der es Juden verbot, in Schweden zu leben, wurde bestätigt, und von 1718 an erließ die Ständeversammlung eine Reihe von Verordnungen gegen Juden. Der Klerus, die freien Bürger, die Handwerker und die Bauern waren alle gegen die Juden. Repräsentanten kolonialer Interessen und des Fernhandels hingegen befürworteten zwar die sephardische Einwanderung, aber ihre Vorschläge teilten das Schicksal früherer Bemühungen.
Aufgeklärter Despotismus und erste jüdische Ansiedlung Die Initiative zur Erlaubnis jüdischer Ansiedlung kam von König Gustav III., der 1772 durch einen Staatsstreich die Ständeherrschaft abschaffte und eine absolute Monarchie einführte. Aufklärungsideale wie die Religionsfreiheit mögen seine Entscheidung beeinflusst haben. Weit wichtiger waren jedoch die Steuerinteressen und wirtschaftlichen Ambitionen des Staates: Die jüdische Einwanderung wurde als Waffe gegen das starre ökonomische System des Gildenwesens gesehen. Durch den königlichen Erlass vom 2. Mai 1775 kamen die ersten Juden nach Schweden. Etwa zur gleichen Zeit wurde Marstrand (vgl. Karte 4), außerhalb von Göteborg, zum freien Hafen (porto franco) erklärt, in dem Nicht-Lutheraner wirtschaftliche und religiöse Freiheit genossen und wo eine jüdische Gemeinde gegründet wurde. Diese Initiativen stießen auf heftigen Widerstand der Öffentlichkeit. Bereits vor Ankunft der Juden startete die Presse eine antijüdische Kampagne, in der Juden als unehrliche Konkurrenten sowie als schädlich und gefährlich für die Gesellschaft im Allgemeinen dargestellt wurden. Die Vertreter der Zünfte und Gilden ließen ebenfalls ihrer Unzufriedenheit freien Lauf. 1779 stimmten jedoch in der Ständeversammlung die Vertreter der freien Bürger, des Adels und der Bauern zugunsten der Ansiedlungserlaubnis von Juden und Katholiken in Schweden. Der Klerus votierte gegen die Gesetzesvorlage, weil sie die Religionsfreiheit auch für Katholiken bedeutete. Die Rechte der Juden sollten allerdings durch Handelsbestimmungen nach preußischem Modell geregelt werden. Dieses altmodische Gesetzeswerk wurde 1782 veröffentlicht. Die Juden wurden zu einer Kolonie mit besonderen, aber begrenzten Rechten: Sie konnten nur ihre Glaubensgenossen heiraten, konnten nicht als Zeugen vor Gericht aussagen, konnten kein von einer Gilde kontrolliertes Handwerk ausüben und durften nur in vier Städten wohnen und Grundbesitz erwerben. Dafür durften sie Fabriken aufbauen und besitzen, an Schifffahrts- und Handelsgesellschaften teilhaben und sich besonders mit dem An- und Verkauf von Wechseln, Aktien und Staatsanleihen beschäftigen. Die Verordnungen, die das Leben der schwedischen Juden ein halbes Jahrhundert lang bestimmen sollten, stellten einen Kompromiss zwischen der Staatsbürokratie und den Ängsten der Bevölkerung dar.
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Nationale Homogenisierung und jüdische Emanzipation Das 19. Jahrhundert brachte für die kleine jüdische Gemeinde dramatische Änderungen. Schweden wandelte sich allmählich von einer traditionellen Agrargesellschaft in eine moderne, kapitalistische Gesellschaft. Die Modernisierung wurde vom Nationalstaat durchgeführt. Die fortschreitende Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und der damit einhergehende Prozess nationaler Homogenisierung waren nur bedingt ein Segen für die Juden. Einerseits brachten liberale bürgerliche Ideale von Gleichberechtigung sowie liberale ökonomische Ideale eine schrittweise Emanzipation der schwedischen Juden mit sich. Andererseits führte der Prozess dazu, dass „Schwedischsein“ eine Voraussetzung der Erlangung der Staatsbürgerschaft wurde. Diese Verwechslung von Demos und Ethnos führte zu hitzigen Debatten darüber, inwieweit Juden schwedische Staatsbürger werden konnten oder sollten. Diese Debatten kehrten in der Ständeversammlung bis 1840 immer wieder. 1815 war die Debatte durch die wirtschaftliche Krise, die den Napoleonischen Kriegen folgte, angeheizt und führte zu einem Anstieg antisemitischer Hetzschriften. Die Wirtschaftskrise und eine Anzahl von Bankrotten wurden den Juden angelastet und Forderungen nach ihrer Ausweisung erhielten Nahrung. „Jüdischsein“ und „Schwedischsein“ wurden als miteinander unvereinbare Einheiten dargestellt. Die etwa 800 Juden wurden nie vertrieben, allerdings erforderte die jüdische Einwanderung fortan königliche Erlaubnis. Die so genannten Judenbestimmungen wurden von der Staatsbürokratie zunehmend als veraltet angesehen und 1838 von König Karl XIV. Johann abgeschafft. Das Emanzipationsedikt wurde von Vertretern der traditionellen wirtschaftlichen Kräfte mit Bitterkeit und Verachtung aufgenommen, aber auch von Liberalen, die beklagten, dass den Juden zu weitreichende Freiheiten zugestanden worden waren. Mit einer Ausnahme starteten die führenden Zeitungen eine Kampagne gegen die Regierungspolitik. In Stockholm zerstörten aufgebrachte Massen das Eigentum der für das Emanzipationsedikt Verantwortlichen und warfen Fenster in jüdischen Häusern ein. Als eine Konsequenz der Proteste verwarf der König den Paragraphen, der für den meisten Aufruhr gesorgt hatte, nämlich das freie und uneingeschränkte Niederlassungsrecht für Juden. Als die Liberalisierung der schwedischen Wirtschaft voranschritt, wurden die unteren sozialen Schichten in den Städten zunehmend feindseliger gegenüber den Juden, nicht zuletzt, weil sie die Verlierer des Prozesses der ökonomischen Veränderungen waren, von denen Juden profitierten. Die Animosität gegenüber der ökonomischen Liberalisierung (1846 wurde das Gildensystem abgeschafft) und gegenüber den Juden mündete in neuen Krawallen in Stockholm im Jahre 1848 und erneut 1852. Die weitverbreitete Hetzblattpresse (Vormärz-Presse) trug deutlich zur Aufwiegelung der Ausschreitungen bei. Bis in die 1860er Jahre fuhr sie damit fort, antisemitische Kampagnen zu führen und einzelne Juden zu diffamieren. Der Liberalisierungsprozess schritt trotzdem voran. 1860 wurden die Grenzen geöffnet, 1863 wurde das Verbot von gemischten Ehen aufgehoben, 1864 die Handelsfreiheit durchgesetzt, und 1870 vollendete das neue Parlament die Emanzipation der schwedischen Juden.
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Modernisierung, Demokratisierung und Antisemitismus Die Emanzipation wurde anfangs mit Enthusiasmus aufgenommen. Sie beendete die gesetzliche Diskriminierung der schwedischen Juden. Allerdings ging die administrative Diskriminierung der in Schweden lebenden fremden Juden weiter. Dies ist aus der Art und Weise ersichtlich, wie mit Anträgen zur Verleihung der Staatsbürgerschaft umgegangen wurde. Zwischen 1870 und 1920 erhielten weniger als 50 Prozent der Juden osteuropäischer Herkunft, die seit 1860 nach Schweden eingereist waren, ihre Anträge genehmigt. Bei allen anderen ethnischen Gruppen lag die Genehmigungsquote bei 90 Prozent. Juden osteuropäischer Herkunft wurden auch von den Händlervereinigungen in ihren Kampagnen gegen das Wandergewerbe angegriffen. Der Vorsitzende einer der Händlervereinigungen, Pehr Emanuel Lithander, benutzte seinen Sitz im Parlament für hasserfüllte antisemitische Kampagnen gegen fremde Wanderhändler und 1887 gelang es ihm, das Wandergewerbe für Nichtschweden zu verbieten. 1911 rief eine weitere Händlervereinigung König Gustav V dazu auf, ein Einwanderungsgesetz zu erlassen und alle in Schweden lebenden polnischen Juden zurück nach Polen zu schicken. Antisemitische Vorstellungen beeinflussten weiterhin die Einwanderungspolitik. In den 1920er Jahren wies das schwedische Außenministerium seine Botschaften im bolschewistischen Russland und in Deutschland an, keine Visa an Juden zu vergeben und führte die Abfrage der religiösen Zugehörigkeit für Visa-Anträge als Vorschrift ein. Als das Parlament 1927 das erste schwedische Einwanderungsgesetz verabschiedete, wurden antisemitische Ansichten geäußert. Im gleichen Jahr verbot das Parlament – infolge einer Kampagne von Tierschutzaktivisten, in der die Ritualmordsymbolik verwendet wurde – die koschere Schlachtung. Antisemitische Ansichten wurden vom gesamten politischen Spektrum geäußert, aber vorrangig von Konservativen und Landwirten. Versuche zur Gründung antisemitischer Verbände scheiterten 1889, 1894 und 1907. 1924 gründete Barthold Lundén, Redakteur der antisemitischen Zeitschrift „Vidi“, die „Antisemitische Vereinigung Schwedens“ mit etwa 1.500 Mitgliedern. Weit wichtiger war jedoch der offensichtliche Alltagsantisemitismus. Intellektuelle und Schriftsteller wurden durch die Lehren Richard Wagners, Wilhelm Marrs, Julius Langbehns, Houston Stewart Chamberlains und anderer Antisemiten beeinflusst. Dichter wie Ola Hansson und Erik Axel Karlfeldt, Wissenschaftler wie der sozialistische Botaniker Bengt Lidforss, Schriftsteller wie August Strindberg und Politiker wie der sozialdemokratische Minister Arthur Engberg und viele andere äußerten antisemitische Meinungen, während sie sich zeitgleich dem organisierten Antisemitismus widersetzten. Antisemitische Stereotype wurden häufig in der weitverbreiteten Satirepresse, in Literatur, Theater und Spielfilmen verwendet. In den 1930er Jahren wurden antijüdische Vorstellungen, die noch immer recht weit verbreitet waren, durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland gestärkt. Während Anti-Nazismus unter Liberalen und Sozialisten stark vertreten war, schätzten viele Konservative das nationalsozialistische Regime und rechtfertigten Teile seiner antijüdischen Politik. Die schwedischen nationalsozialistischen Parteien blieben klein und hatten wenig Einfluss. Beim Ausbruch des Krieges erklärte die Koalitionsregierung Schweden für neutral. Das Hauptziel bestand darin, Schweden aus dem Krieg zu
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halten. Daraus ergab sich die Neutralität zugunsten Deutschlands bis 1942, und danach zugunsten der Alliierten. Die Politik gegenüber Juden, die Zuflucht vor der nationalsozialistischen Verfolgung suchten, wurde von Befürchtungen für den schwedischen Arbeitsmarkt sowie durch antijüdische und rassistische Einstellungen beeinflusst. Viele warnten vor einer „Invasion“ der Juden und stellten jüdische Flüchtlinge als eine große Gefahr für die schwedische Kultur und Gesellschaft dar. Das restriktive Einwanderungsgesetz von 1927 wurde 1937 durch ein neues Gesetz ersetzt, das den Einwanderungsbehörden Interpretationsspielräume gewährte. Dies führte zur Diskriminierung jüdischer Flüchtlinge, nicht zuletzt weil ihnen der Status als politische Flüchtlinge verweigert wurde. Als Konsequenz wurden zwischen 1933 und 1939 nur etwa 3.000 Juden nach Schweden eingelassen. Erst im Herbst 1941 wurden einige Restriktionen gelockert. Die Politik änderte sich 1942, als zunehmend klar wurde, dass die Alliierten den Krieg gewinnen würden. 1942 hatten norwegische Juden es geschafft, vor der Deportation nach Schweden zu fliehen. 1943 erklärte die schwedische Regierung, dass alle dänischen Juden willkommen seien und fast allen von ihnen gelang es, nach Schweden zu fliehen. 1944 und 1945 führte Schweden gemeinsam mit internationalen Organisationen Rettungsaktionen durch, Raoul Wallenberg in Budapest und Graf Folke Bernadotte in Deutschland.
Nachkriegszeit und Gegenwart Während der ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg ging der Antisemitismus zurück. Als eine Auswirkung des Holocaust waren direkte Ausdrücke von Verachtung und Abneigung gegenüber Juden tabuisiert. Antijüdische Vorurteile verschwanden jedoch nicht und sollten sich, von Zeit zu Zeit, wieder manifestieren. In der Nachkriegszeit gab es wenige Diskussionen und kritische Untersuchungen der schwedischen Politik und Einstellung gegenüber den Juden während der 1930er Jahre und des Holocaust. Stattdessen wurde ein nationales Selbstbild konstruiert, das zu einem großen Teil problematische Aspekte der jüngeren Vergangenheit ausklammerte. In der öffentlichen Debatte wurden Antisemitismus und Rassismus häufig als dem rechten Rand zugeordnete marginale Phänomene dargestellt. Dieses Narrativ trug zur Tendenz im öffentlichen Diskurs bei, Manifestationen von Antisemitismus in der schwedischen Gesellschaft zu leugnen oder zu trivialisieren. Während der späten 1960er und 1970er Jahre propagierten Teile der radikalen Linken einen militanten Antizionismus, der antijüdische Argumente und Vorstellungen beinhaltete. Eine dramatische Wende vollzog sich 1982, als der Libanonkrieg eine Welle von Antisemitismus in den Massenmedien und der öffentlichen Debatte auslöste. In den 1980er und 1990er Jahren haben kleine rechtsradikale Gruppierungen ihre Propaganda und Aktionen intensiviert, die sich gegen Juden und andere Minderheiten richteten. 1987 hatte der Radiosender „Radio Islam“ unter Ahmed Rami begonnen, antisemitische und Holocaust leugnende Propaganda zu senden. 1989/90 wurde Rami wegen „Aufhetzung gegen eine ethnische Gruppe“ zu einer Gefängnishaft verurteilt. „Radio Islam“ etablierte sich in der Folgezeit im Internet.
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Nach dem Beginn der zweiten palästinensischen Intifada im Jahre 2000 wurden antisemitische Motive – besonders jene der jüdischen Macht und Verschwörung – in den Medien und der politischen Debatte zunehmend sichtbarer. Die öffentliche Diskussion über den Nahen Osten, die amerikanische Außenpolitik und den Holocaust bilden heute den Hauptkontext für antijüdische Vorurteile und Feindseligkeit. Abgesehen von rechtsextremen Gruppen wird Antisemitismus hauptsächlich von Teilen der radikalen Linken und von radikalen Islamisten artikuliert.
Lars M. Andersson und Henrik Bachner Übersetzt aus dem Englischen von Regina Schulz
Literatur Lars M. Andersson, En jude är en jude är en jude… Representationer av ,juden’ i svensk skämtpress 1900–1930 [Ein Jude ist ein Jude ist ein Jude... Darstellungen „des Juden“ in schwedischen Satirezeitschriften 1900–1930], Lund 2000. Henrik Bachner, Återkomsten. Antisemitism i Sverige efter 1945 [Die Rückkehr. Antisemitismus in Schweden nach 1945], Stockholm 1999. Mattias Tydén, Svensk antisemitism 1880–1930 [Schwedischer Antisemitismus 1880– 1930], Uppsala Multietnic Papers, No. 8, Uppsala 1986. Hugo Valentin, Judarnas historia i Sverige [Die Geschichte der Juden in Schweden], Stockholm 1924.
Schweiz In der politischen Kultur der Schweiz sind die Prinzipien der Freiheit, der Demokratie und des Rechts anerkannte Werte. Diese schützten die Juden aber nicht vor Diskriminierung, sondern wirkten zum Teil sogar im gegenläufigen Sinn. Freiheit war eh und je kollektive und nicht individuelle Freiheit, und Kollektivprinzipien trugen im Namen des „höheren Wertes“ das Potenzial der Ausgrenzung von Minderheiten in sich. Demokratie beruhte in ihrer modernen Ausprägung auf Egalitarismus und diskriminierte paradoxerweise diejenigen, die nicht gleich sein wollten oder als ungleich taxiert wurden. Und das Recht mit seiner zentralen Funktion, Unterscheidungen festzuschreiben, konnte auch in der Schweiz problemlos Unrecht sein, und zwar in sehr ordentlicher und darum besonders fragwürdiger Weise. Bemerkenswert ist, dass die der „Egalité“ verpflichtete Helvetische Republik von 1798 die Juden aus der „natürlichen Freiheit des Menschen“ ausklammerte und, da dies der Begründung bedurfte, mit Hinweisen auf „Andersartigkeit“ rechtfertigte. Hinzu kam die Vorstellung, dass Juden nicht zur autochthonen Bevölkerung gehörten, dass sie Eingewanderte sein mussten, jedenfalls Fremde, und dies obwohl es wahrscheinlich bereits vor dem sagenhaften Rütlischwur Juden auf „schweizerischem“ Boden gegeben haben dürfte. Ein aufschlussreicher Indikator für die auch Mitte des 19. Jahrhunderts noch stark verbreitete Judenfeindschaft ist die Tatsache, dass die Gründungsväter des Bundesstaates von 1848 es nicht wagten, das Verfassungsprojekt mit der Einführung der Niederlas-
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sungsfreiheit auch für Juden abstimmungspolitisch zu belasten. Diese kam erst 1866 zustande, als sich die Schweiz der ausländischen Norm anpassen musste, und erst 1874 bezüglich Kultusfreiheit, als die „Fortschrittspartei“ über die Provokation der konservativen Kräfte eine Mehrheit für die revidierte Bundesverfassung herbeiführte. Die damals erreichte Gleichstellung war keine allgemein und für immer akzeptierte Errungenschaft, sie wurde später immer wieder in Frage gestellt. Die Einführung der Volksinitiative auf Bundesebene 1891 ist mit dem Odium behaftet, dass die erste und zudem erfolgreiche Anwendung dieses direktdemokratischen Instrumentariums 1893 zur Einführung des Schächtverbots führte. Schon 1889 hatte ein Schächtgegner gedroht, man werde sich „an den gesunden Sinn des Volkes wenden“. Der Erfolg der antiliberalen Vorlage erklärt sich damit, dass neben dem minderheitenfeindlichen Grundbestand, den es immer gibt, eine größere Zahl von Stimmbürgern auf den verstärkten Gesellschaftswandel (auf Industrialisierung und allgemeine Modernisierung, auf Binnenwanderung und Einwanderung insbesondere aus Osteuropa) mit einem national-konservativen Abstimmungsverhalten reagierte. In jenen Jahren waren die judenfeindlichen Artikulationen alles andere als diskret und uneingestanden, sie waren giftig, grob, aggressiv und offen rassistisch. In der um 1890 hitzig geführten Diskussion um den staatlichen Rückkauf der privaten Eisenbahnen operierten Befürworter wie Gegner mit dem negativen Bild „des Juden“, obwohl keine jüdischen Geschäftsleute in die Affäre verwickelt waren. Die traditionelle oder gewöhnliche Judenfeindschaft erhielt 1917/18 infolge des Kriegs- und Revolutionserlebnisses erhöhte Virulenz. Aus dem Ausland in die Schweiz eingereiste Kriegsgewinnler und Bolschewiken – die einen kapitalistisch, die anderen antikapitalistisch, beide aber auf ihre Weise als „Ordnungsfeinde“ denunziert – wurden als typische Ausprägungen jüdischer Existenzen gesehen, auch wenn zahlreiche Krisenprofiteure und Revolutionäre keine Juden waren. In Zürich wurde 1919/20 angesichts der Zuwanderung „unerwünschter jüdischer Elemente“ die Einbürgerungsbremse betätigt und für Ostjuden die Wartefrist von 10 auf 15 Jahre erhöht. Die Fernhaltung von Juden sah in der Art und Anzahl der in der Schweiz lebenden Juden die Hauptursache für Judenfeindschaft und wollte darum dem größeren und allgemeinen Antisemitismus zuvorkommen, indem sie mit einem kleineren, präventiven oder prophylaktischen Antisemitismus – auch in Zeiten der Verfolgung – möglichst viele Juden von der Schweiz fernzuhalten suchte. Dieser Antisemitismus war eher kulturalistisch als biologistisch, denn er schloss nicht aus, dass eine kleine Zahl von Juden, wenn sie dem nötigen Anpassungsdruck ausgesetzt seien, zu rechten Schweizern werden könnten. Je weniger Juden es gab, so nahm man an, desto größer würde der nötige Assimilationsdruck. Darum wurde bereits in einem kleinen Zuwachs und insbesondere in einer Zuwanderung von Ostjuden, die als grundsätzlich nicht assimilierbar eingestuft wurden, eine große Gefahr der eigenen Gesellschaft gesehen und das schlimme Wort von der „Verjudung“ geprägt. Bereits 1885 hatte ein konservativer Agitator in rund 7.400 Juden, die einen Bevölkerungsanteil von 0,25 Prozent ausmachten, eine Gefahr für das Land erblickt. Als Heinrich Rothmund und andere glaubten, die Schweiz vor der „Verjudung“ schützen zu müssen, betrug der Anteil der jüdischen Bevölkerung etwa 0,4 Prozent. Von der Judenfeindlichkeit der frühen 1920er Jahre führt ein direkter Strang zur Judenfeindlichkeit der 1930er und 1940er Jahre. Die im Ausland vorexerzierte Judenfeind-
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lichkeit hat sich auf die Schweiz stimulierend ausgewirkt, die Stimuli konnten aber beim autochthonen oder endogenen Antisemitismus anknüpfen. 1934–1937 erlebte die Schweiz eine Phase des nicht nur bekennenden, sondern agitatorischen und mindestens verbal gewalttätigen Antisemitismus, den man gemäß der Selbstbezeichnung der „Frontisten“ nun auch als Radau-Antisemitismus bezeichnet. Damit wolle man die Massen aufrütteln und auf die „Judenfrage“ aufmerksam machen. Dazu gehörten Flugblätter mit dem Aufruf „Kauft nicht bei Juden“ (insbesondere gegen Warenhäuser bereits 1932), Störungen von Kabarett- und Theaterveranstaltungen (insbesondere Kabarett „Pfeffermühle“ 1934), Aufmärsche (z.B. anlässlich des Zürcher Zionistenkongresses von 1937). Die sich antimodernistisch gebärdenden Frontisten beriefen sich in ihren antisemitischen Bekenntnissen typischerweise gerne auf die alteidgenössische Judenfeindschaft, zitierten beispielsweise aus einem Tagsatzungsprotokoll von 1696 und forderten die Zeitgenossen auf, Antisemiten zu sein, „wie es unsere Vorfahren waren“. Sie lieferten triumphierend gleich die Diagnose, man könne feststellen, „dass der jahrhundertelange Antisemitismus der alten Eidgenossen auch heute nicht erloschen ist“. Auch von der Armeespitze kamen zeitweise Signale, welche den Antisemitismus eher förderten als bremsten. Eine besonders krasse Fehlleistung in dieser Richtung war eine Äußerung der Generaladjutantur vom Dezember 1940, die „aus Gründen der Objektivität“ verkündete, „der Jude sei nicht assimilierbar“ und „es sei ihm in den zweitausend Jahren seiner Zerstreuung nicht gelungen, sich in eine Gemeinschaft zu integrieren“. Einen Schutzwall gegen den Antisemitismus bildete dagegen die große Presse, was man von der kleinen Landpresse im Allgemeinen nicht sagen kann. Entscheidend war, dass sich der bekennende und grobe Antisemitismus nicht auf die große Mehrheit ausdehnen konnte und dass die Ordnungshüter gegen die Hasspropaganda einschritten. Der 1935 vor dem Berner Amtsgericht geführte Prozess um die „Protokolle der Weisen von Zion“ bildete einen Testfall von landesweiter Bedeutung. Aus der erstinstanzlichen Verurteilung sprach der Wille, die „unschweizerische Hetze“ in diesem Lande nicht zu dulden. Selbst der Oberrichter, der 1937 die Verurteilung aus formellen Gründen wieder aufheben musste, sprach öffentlich sein Bedauern darüber aus, dass es in der Schweiz kein Gesetz gebe, das die jüdischen Mitbürger vor kollektiver Verunglimpfung schütze. Weniger resistent waren damals manche, vielleicht sogar der größere Teil der Verwaltungsstellen. Spätestens ab 1938 finden sich die mit großer Selbstverständlichkeit (ohne Anführungszeichen) verwendete Unterscheidung von „arisch“ und „nicht-arisch“ in den Amtsakten und die hausgemachten J-Stempel auf kantonalen wie eidgenössischen Formularen. Den meisten Zivilstandsbeamten war es kein Problem, die nun tatsächlich im Ausland vorexerzierte Diskriminierung zu übernehmen und das den schweizerischen Normen (dem „ordre public”) zuwiderlaufende Verbot von „gemischtrassigen“ Ehen mitzutragen. Die bei Kriegsende freigelegte Sicht auf das ganze Ausmaß der Judenverfolgungen bewirkte in der Schweiz kaum eine zusätzliche Sensibilisierung gegenüber dem Antisemitismus und dem, was daraus werden kann. „Auschwitz“, dafür waren die Deutschen verantwortlich, von denen man sich auch aus nationalen Gründen distanzierte. Die antisemitischen Regungen könnten vor 1945 sogar zurückhaltender als nachher gewesen
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sein, weil die Eidgenossen während der NS-Zeit mit ihrem Antisemitismus nicht in die Nähe der nationalsozialistischen Ideologie geraten wollten und diese Gefahr nach 1945 als hinfällig erachtet wurde. Um 1948 gab die Gründung des Staates Israel dem Antisemitismus in mehrfacher Hinsicht Auftrieb: Zum einen wurde der Kampf gegen die britische Mandatsmacht und die mitunter auch terroristische Dimension dieses Kampfes zum Anlass genommen, um stereotype Vorstellungen von Treulosigkeit und Unaufrichtigkeit einzusetzen. Zweitens gab die Staatsgründung Gelegenheit, das Stereotyp des internationalen Juden bzw. national unzuverlässigen Juden um eine Variante zu erweitern: nämlich um den Juden mit der doppelten Loyalität, eine Problematik, der im vorletzten Jahrhundert auch der ultramontane Katholizismus und im 20. Jahrhundert auch die schnell der Moskauhörigkeit bezichtigten Kommunisten ausgesetzt waren. Selbst die „Neue Zürcher Zeitung“ nahm in diesem Zusammenhang 1946 eine so unzutreffende wie unzulässige Unterscheidung oder Gegenüberstellung von Schweizern und Juden vor, als ob es keine jüdischen Schweizer oder schweizerischen Juden gäbe: „Wir Schweizer könnten nur mit Besorgnis einer Entwicklung zusehen, die uns die jüdischen Mitbürger innerlich entfremden würde, indem sie sich mehr mit den Zionisten Amerikas oder des Ostens und Palästinas als mit ihren eigentlichen Landsleuten verbunden fühlten.“ Ein halbes Jahrhundert später finden sich in der Phase der reaktivierten Judenfeindlichkeit zahlreiche Belege für den unbewussten und entsprechend verräterischen Ausschluss von Juden aus der Gemeinschaft: im Januar 1997 im Rahmen der Debatte um die Entschädigungsforderungen auf dem Titelblatt eines Wochenmagazins die Formulierung „Wir und die Juden“. Eine im März 2000 veröffentlichte Umfrage besagt, dass neben dem Drittel der Meinungslosen immerhin ein Drittel der Befragten schweizerischen Juden nachsagt, sie seien gegenüber Israel loyaler als gegenüber der Schweiz, während nur ein Drittel diese Verdächtigung zurückweist. Auch nach 1945 hatte der christliche Antijudaismus, der die Entstehung des rassistischen Antisemitismus begünstigt hatte, noch Mühe zu erkennen, dass Judenfeindschaft ein gesellschaftliches Produkt ist. Der „Obwaldner Volksfreund“, hier stellvertretend für eine verbreitete Haltung angeführt, rekapitulierte noch 1952 in sozusagen klassischer Form die Auffassung, dass das jüdische Volk wegen des Mordes am „Weltheiland“, den der „Jüdische Pöbel“ verlangt habe, schuldig geworden und die göttliche Strafe seine ewige Heimatlosigkeit sei. Das Interessante an dieser Stellungnahme ist, dass sie sich explizit vom nationalsozialistischen „Rassen-Antisemitismus“ distanzierte. Über Schuld und Verantwortung der Juden habe Gott und hätten nicht die Menschen zu richten. Darum nach einem Hinweis auf die Ermordung von weit über sechs Millionen Juden die Bemerkung: „Es geht daher nicht an, in derart brutaler Weise gegen dieses Volk vorzugehen.“ Der Anteil des christlichen Antijudaismus am rassistischen Antisemitismus wurde nicht erkannt, ganz im Gegenteil: Mit dem Hinweis auf eine ausdrückliche Verurteilung des Antisemitismus durch Papst Pius XI. vom 25. März 1928 wurde jede Verstrickung verneint. Die Rückbildung des Religiös-Kirchlichen, wie sie wohl seit den 1970er Jahren bemerkt werden kann, muss nicht zu einem Abbau von Antisemitismus, sondern könnte eher zu einer Verschiebung hin zu säkulareren Ressentiments führen. Der religiöse Anti-
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judaismus hat sich zudem zum Teil in die Gruppierungen der so genannten Neuen Religiosität verschoben. Leute, deren Religionsbedürfnisse von den Landeskirchen nicht mehr befriedigt werden, wandern in Religionsgemeinschaften ab und/oder hängen esoterischen Weltdeutungen nach, die ebenfalls den Antisemitismus kultivieren. Beispiel: die Universale Kirche, deren Chef von Walzenhausen vom Ausserrhodener Kantonsgericht wegen antisemitischer Lehre zu vier Monaten Gefängnis verurteilt wurde (1997 durch Bundesgericht bestätigt). 1994 wurde die schon 1937 beklagte Rechtslücke mit der Unterzeichnung der UNKonvention von 1965 und der Einführung des Antirassismus-Artikels des StGB Art. 261 bis geschlossen. Die in einer Volksabstimmung mit einer 54,9 Prozent-Mehrheit angenommene Reform betraf den Rassismus jeglicher Art, aber der Wille, über ein Instrument gegen den Antisemitismus zu Verfügung, hatte daran einen großen Anteil. Mit dem Gedenken von 1995 des 50 Jahre zuvor zu Ende gegangenen Kriegs hätte die Einsicht in die verheerenden Konsequenzen des antisemitischen Wahns weiter wachsen können. Es trat indessen eher das Gegenteil ein. In jüngster Zeit haben drei Ablehnungswellen jeweils noch vor Beendigung des Abschwungs der vorangegangenen Konjunktur dem Antisemitismus je neuen Auftrieb gegeben: Erstens wegen der Entschädigungskampagne für die jüdischen Opfer der NSZeit, zweitens wegen des Versuchs, das Schächtverbot zu lockern und drittens wegen der israelischen Besatzungspolitik in den palästinensischen Gebieten. Die Vergangenheitsdebatte bildete in mehrfacher Hinsicht eine „ideale“ Ausgangslage für ungehemmte Freisetzung von Judenfeindschaft. Sie war die Folge äußeren Drucks, und dies gestattete die Pflege des stereotypen Gegensatzes von „nationaler Gemeinschaft“ und „internationalem Judentum“. Sodann ermögliche die materielle Seite der Debatte die Bestätigung des bösen Klischees, dass es „den Juden nur ums Geld geht“ (Nationalrat und späterer Bundesrat Christoph Blocher 1997). Zudem konnte man einmal mehr Opfer-Täter-Umkehr betreiben: Wer sich gegen Enteignung wehrte, wurde zum Erpresser gestempelt. Die Verantwortung für das Ausleben von Ressentiments wurde ausgelagert und der Zielgruppe der Abneigung zugeschrieben. So reagierten rechtsbürgerliche Kreise auf den Antisemitismusbericht der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus vom November 1998 mit der Bemerkung, wer „auf einem ,Erpresserzügli’ fahre“, habe selbst für Antisemitismus gesorgt. In einer anderen Äußerung kam noch der Vorwurf hinzu, dass man den Antisemitismus als willkommenes, weil ausbeutbares Phänomen sogar bewusst nähre: „Das Vorgehen der Juden weckt in mir den Verdacht, dass neben der Abzockerei bewusst Antisemitismus gepflanzt werden soll“ (anonyme Zuschrift). Das bis 1893 als Art.25bis in die Verfassung aufgenommene Schächtverbot wurde 1973 ins Tierschutzgesetz übergeführt; mit dessen Revision von 1999/2000 sollte das Schächtverbot aufgehoben werden. Die Opposition, die wiederum einiges an Antisemitismus zu Tage förderte, war aber derart massiv, dass dieses Vorhaben im März 2002 aufgegeben wurde. Die mit dem Versuch geweckte Gegnerschaft drohte, nun wiederum per Initiative auch ein Schächtverbot für Geflügel anzustreben und sogar den Import von Koscherfleisch zu verbieten.
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Die 2001/02 eingetretene Zuspitzung im Konflikt zwischen Israeli und Palästinensern und insbesondere die von der israelischen Regierung betriebene Abwehr- und Repressionspolitik blieb nicht ohne Auswirkung auf das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in der Schweiz. Die Haltung gegenüber Israel, das war bereits für die Gründungsphase von 1948 festzustellen, war in hohem Maße bestimmend auch für die Einstellung gegenüber „den“ Juden. Der zweite Nahostkrieg von 1956 war, leicht phasenverschoben, von antisemitischen Nebenwirkungen begleitet. Der dritte Nahostkrieg von 1967 (SechsTage-Krieg) wurde dagegen nur unter dem in der Schweiz eine vollständige Identifikation ermöglichenden David-Goliath-Topos betrachtet. Mit dem vierten Nahostkrieg von 1973 (Jom-Kippur-Krieg) trat unter der Etikette des Anti-Zionismus eine gewisse Problematisierung des Verhältnisses zu „den“ Juden ein. Mit der zweiten Intifada, den Selbstmordattentaten und den ergriffenen Gegenmaßnahmen kamen zur weiter bestehenden Problematik der unerwünschten Fremdidentifikation zwei neue Phänomene hinzu: Im Diasporajudentum wächst das Bedürfnis, sich öffentlich mit Israel als dem bedrängten oder gar existentiell gefährdeten Mutterland solidarisch zu erklären. Wenn die Identifikation mit Israel eine Gutheißung der Regierungsmaßnahmen und der Vorgehensweise der Armee einschließt, wird es allerdings schwierig, die nach wie vor richtige Auffassung zu vertreten, dass man die Einstellung gegenüber Juden nicht von der Einstellung zu Israel abhängig machen soll. Das zweite Phänomen besteht darin, dass Kritik an Israel, zumal sie tatsächlich (und zu Recht) anspruchsvoller ist als gegenüber anderen Staaten irgendwo auf der Welt, leicht als antisemitisch denunziert wird. Kritik an Israel kann ein Ventil für antijüdische Gefühle sein. Die Beurteilung muss sich aber mit dem Gesagten befassen und kann nicht vermutete Motive einbeziehen. Jenseits dieser konjunkturellen Schwankungen könnte man von einem – wenigstens in den letzten Jahren feststellbaren – Trend ausgehen, dass Antisemitismus in zunehmendem Maß thematisiert wird und diese Enttabuisierung sowohl mit einer einschränkenden als auch einer ausbreitenden Wirkung verbunden ist. Dazu gehört die wachsende Bereitschaft von Mitgliedern der jüdischen Minderheit, sich gegen Diffamierung und Diskriminierung zu wehren. Von wohlmeinender Warte wird dann zuweilen erklärt, man solle nicht „überempfindlich“ sein und mit Beanstandungen das nicht recht eigentlich erzeugen, was alle nicht haben wollten. Die Enttabuisierung wirkt sich enthemmend auf den „diskreten“ Antisemitismus aus, sie macht die säkulare Stigmatisierungstendenz aber auch in positiver Weise zu einem öffentlichen Diskussionspunkt und gibt dem in den letzten Jahren ebenfalls stärker gewordenen Anti-Antisemitismus Gelegenheit, sich für die diffamierte Minderheit und damit für die friedliche Koexistenz unterschiedlicher sozialer Gruppen in der gleichen Gesellschaft einzusetzen. 1994, als es um den Beitritt zur Antirassismus-Konvention der UNO ging, steckte die schweizerische Demokratie wiederum in der bereits für 1866 festgestellten Anpassungsproblematik: International befand man sich in einer abseitigen Position. Einen Sonderzug fährt die Schweiz immer wieder auch in statistischer Hinsicht: Da sie nicht Mitglied der EU ist, taucht sie in Eurostat nicht auf und führt separate und zum Teil nach eigenen Methoden Umfragen durch. Im März 2007 ist von einem unabhängigen Forschungsinstitut in Kooperation mit der Jüdischen Medien AG eine innovative Erhebung durchgeführt worden, welche neben den „weiß nicht“-Antworten (10 Prozent) vier Kategorien unter-
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schied: zunächst die beiden klassischen Kategorien der pro-jüdisch Eingestellten (37 Prozent), die antisemitisch Eingestellten (10 Prozent) sowie die beiden neuen Kategorien der punktuell antijüdisch Eingestellten (28 Prozent) und der wegen der Israelpolitik emotional Verstimmten (15 Prozent). Festgehalten sei lediglich, dass 85 Prozent der Befragten die Meinung vertreten, Personen mit jüdischen Eltern, die in der Schweiz geboren und aufgewachsen sind, seien auch „wirklich“ Schweizer, während 8 Prozent der Befragten den Schweizer Juden jegliche Identifikation mit der Schweiz absprechen. In dieser Hinsicht könnte die schweizerische Einstellung insofern einen graduellen Unterschied aufweisen, als hier die „eigenen Juden“ möglicherweise etwas stärker akzeptiert sind als in den Nachbargesellschaften.
Georg Kreis
Literatur Wolfgang Benz, Antisemitismus in der Schweiz, in: Judaica, 56(2000), 1, S.4-18. Jüdische Lebenswelt Schweiz. 100 Jahre Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG), Zürich 2004. Georg Kreis, Die Rückkehr des J–Stempels. Zur Geschichte einer schwierigen Vergangenheitsbewältigung, Zürich 2000. Georg Kreis, Israelkritik und Antisemitismus – Versuch einer Reflexion jenseits von Religion und Nationalität, in: Antisemitismus, Antizionismus, Israelkritik. Jahrbuch Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte. XXXIII(2005), S.17-32. Aram Mattioli (Hrsg.), Antisemitismus in der Schweiz 1848–1960, Zürich 1998. Jacques Picard, Die Schweiz und die Juden 1933–1945. Schweizerischer Antisemitismus, jüdische Abwehr und internationale Migrations- und Flüchtlingspolitik, Zürich 1994. Christina Späti, Die schweizerische Linke und Israel. Israelbegeisterung, Antizionismus und Antisemitismus zwischen 1967 und 1991, Essen 2006.
Serbien bis 1917 Der mittelalterliche serbische Staat umfasste im 13. und 14. Jahrhundert auch Makedonien und benachbarte byzantinische Gebiete. Urkunden serbischer Herrscher und Dokumente des Archivs zu Dubrovnik erwähnen Juden in den Handels- und Bergbauzentren Makedoniens. Sie waren als Kaufleute oder Ärzte aus Byzanz, Ungarn und den adriatischen Städten nach Serbien eingewandert. Seit Anfang des 13. Jahrhunderts gab es jüdische Gemeinschaften nördlich der Save und der Donau (in der heutigen Wojwodina). Die Anwesenheit der Aschkenasen in Serbien deckt sich chronologisch mit dem Vordringen der Türken auf den Balkan sowie den verstärkten Pogromen in Europa. Nach 1492 kamen Sepharden auf den Balkan, die ihre Gemeinden im Inneren des Landes, in Bitola (Monastir), Skopje, Belgrad und Niš gründeten (vgl. Karte 2). Die Toleranzpolitik der osmanischen Herrschaft ermöglichte die demographische, wirtschaftliche und kulturelle Stärkung der jüdischen Gemeinschaften in den Städten. Die jüdische Bevölkerung lebte
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zwar in abgesonderten Stadtvierteln, hatte aber alltägliche wie auch wirtschaftliche Beziehungen mit der serbischen Mehrheitsbevölkerung. Mit der österreichischen Besetzung Serbiens 1718-1739 erhöhte sich der Druck der katholischen Kirche gegenüber der jüdischen wie auch serbisch-orthodoxen Bevölkerung, u.a. durch die Einführung der „Toleranzsteuer“. Ein Wirtschaftsaufschwung gelang den jüdischen Gemeinschaften durch Weizenhandel, Bierherstellung und -verkauf, was zu Beschwerden deutscher und serbischer Händler führte, die sie bei der Wiener Kameralverwaltung einreichten und die ein vorübergehendes Handelsverbot der Juden nach sich zogen. Die Wiederherstellung der türkischen Herrschaft und eine längere Friedensphase ermöglichten den Aufschwung des Handels, und neue jüdische Ansiedler zogen aus dem Balkaninneren in die Grenzstädte Serbiens, vor allem nach Belgrad und in die benachbarte Stadt Semlin (Zemun) am österreichischen Ufer der Donau. Der letzte österreichisch-türkische Krieg 1788-1791 und die kurzzeitige österreichische Besetzung Belgrads führten wieder zur Umsiedelung der jüdischen Bevölkerung. Im 19. Jahrhundert änderte sich die Lage der kleinen jüdischen Gemeinschaften häufig und zwar abhängig vom Willen des jeweiligen Herrschers sowie vom Einfluss der Veränderungen in der serbischen Gesellschaft. Dabei spielte die Stärkung der serbischen Handelsschicht und ihre Einwirkung auf politische Parteien und die Staatsführung eine besondere Rolle. Während des Ersten Serbischen Aufstandes (1804-1813) eroberten 1806 die Aufständischen Belgrad, weshalb die meisten Juden schon zu Beginn des Krieges nach Zemun flohen. Nach der Eroberung der Stadt kam es trotz der strengsten Anordnung des Aufstandsführers Djordje Petrovic-Karadjordje zur Plünderung und Zerstörung türkischer und jüdischer Besitztümer. In diesem Vorgehen des Volksaufstandsheeres spiegelte sich eine allgemeine „anti-urbane“ Position wider, die sich auf die gesamte Stadtbevölkerung in Serbien als Komplizen der türkischen Macht bezog, unabhängig von Nationalität oder Religion. Ein neuer Aufstand im Jahr 1815 brachte Serbien Autonomie und die Stabilisierung der Lage. Während der ersten Machtperiode des Fürsten Miloš Obrenović (1815-1839) wurde die Wirtschaft erneuert und die Ansiedlung aus den benachbarten Gebieten gefördert. Fürst Miloš erlaubte die Ansiedlung und wirtschaftliche Betätigung der Juden in Serbien, die Zahl der jüdischen Bevölkerung erhöhte sich bis 1838 auf 2.000 Personen (1.500 in Belgrad). 1819 wurde die Belgrader Synagoge (deren Stifter Fürst Miloš war) restauriert, eine Schule eröffnet und in der öffentlichen Druckerei konnten auch jüdische Bücher gedruckt werden. Vor dem Gesetz waren Juden den Serben gleichgestellt. Die neue serbische Handelsschicht – Stütze der „Verfassungspartei“ bzw. der sogenannten Verfassungsverteidiger und politischer Hauptfeind der Autokratie des Fürsten Miloš – bestand darauf, dass den Juden das Handelsrecht wegen „illoyaler Konkurrenz“ eingeschränkt würde. Nach der Vertreibung des Fürsten Miloš (1839) führte ihr Druck auf dessen Sohn, Fürst Mihailo (1839-1842), zu den ersten restriktiven Maßnahmen gegen jüdische Kaufleute. Aus dem gleichen Kreis kam 1841 auch die erste Ritualmordanklage, die aber auf Kritik sowohl seitens der Staatsgewalt als auch der Serbisch-Orthodoxen Kirche stieß. Anhänger der „Verfassungspartei“ erhoben 1842 Aleksandar Karadjordjevic auf den Thron, der bis 1858 herrschte. Während seiner Herrschaft kam es zum
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Aufbau des Staatsapparates, des Rechtssystems und zur Formulierung des Nationalprogramms, gleichzeitig aber auch zur Verschlechterung der Lage der Juden. Im Jahre 1845 forderten Belgrader Händler und Gewerbetreibende von der staatlichen Gewalt, die Ansiedlung von Juden einzuschränken. Ein Erlass aus dem Jahr 1846 verbot den Juden, sich im Inneren des Landes aufzuhalten bzw. Immobilien zu besitzen. Sie mussten ihr gesamtes Vermögen verkaufen und nach Belgrad umziehen oder aus Serbien auswandern. 1859 hatte Fürst Miloš nach seiner Rückkehr an die Macht alle Einschränkungen abgeschafft und allen Bürgern durch einen Sondererlass Gleichberechtigung gewährt. Das ermöglichte die Rückkehr von Juden in die Städte, aus denen sie vertrieben worden waren. Zu Beginn der zweiten Herrscherzeit des Fürsten Mihailo (1860-1868) wurde der Druck zur Wiedereinführung der alten Verbote immer stärker. Ein Teil der Presse, die das Interesse der serbischen Handelsschicht in den 1860er Jahren vertrat, veröffentlichte Artikel antisemitischen Inhalts. Der Befehl des Staatsrates, 60 jüdische Familien aus dem Inneren des Landes zu vertreiben, rief 1861 Proteste der „Alliance Israélite Universelle“, der britischen Regierung und der europäischen Diplomaten in Belgrad hervor. Der Fürst hob den Befehl auf, andere Einschränkungen wurden hingegen beibehalten. 1865 wurden in der Stadt Šabac zwei jüdische Händler ermordert und eine Jüdin unter Zwang zum Christentum bekehrt. Dies rief erneut ausländische Proteste sowie starken Druck auf die serbische Staatsgewalt hervor. 1867 versprach Fürst Miloš in Paris den Vertretern der „Alliance“, die Gleichberechtigung der Juden zu gewährleisten. Dieses Versprechen blieb unerfüllt, da Fürst Mihailo 1868 einem Attentat zum Opfer fiel. Die neue Verfassung aus dem Jahre 1869 ermöglichte die Rekrutierung von Juden für die serbische Armee. Ihre Beteiligung an den Befreiungskriegen 1876–1878 neutralisierte kurzzeitig das Vorurteil gegen sie als „Fremdelemente“, die kein Verständnis für nationale Ziele hätten. Avram Ozerović, Vertreter der Belgrader Sephardengemeinde, wurde 1877 zum Abgeordneten gewählt. In den 1880er Jahren widersetzte er sich im Parlament mehrmals antisemitischen Ausfällen, besonders seitens der Abgeordneten der Radikalen Partei, aber auch etlicher Liberaler. Die Beschlüsse des Berliner Kongresses 1878 über die Bedingungen der Anerkennung der serbischen Unabhängigkeit sollten unter anderem auch die Gleichberechtigung der jüdischen Minderheit gewährleisten. Die Erfüllung dieser Bedingung verzögerte sich jedoch um weitere zehn Jahre. Erst die Verabschiedung der neuen Verfassung 1888 markierte die formale Abschaffung restlicher Einschränkungen und sie hielt fest, dass die Gewissensfreiheit uneingeschränkt sei, alle anerkannten Glaubensbekentnisse frei seien und unter dem Schutz des Gesetzes stünden. Antisemitische Tendenzen wurden nicht völlig beseitigt, aber immer mehr an den Rand des öffentlichen Lebens zurückgedrängt und zwar zeitgleich mit der Emanzipation und der gesellschaftlichen Integration der jüdischen Bevölkerung. Bis 1910 stieg die Zahl der Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft in Serbien auf etwa 6.000 Personen. Im amtlichen Gebrauch wurde der Begriff „Serben mit mosaischem Glauben“ benutzt, der besonders in der sephardischen Gemeinschaft als Kompromisslösung für die Verbindung der jüdischen Identität und dem serbischen Patriotismus angenommen wurde. Die Ver-
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wendung der serbischen Sprache in der alltäglichen Kommunikation statt des Ladino verbreitete sich auch immer mehr. In der frühen populistischen Phase der damals einflussreichen Radikalen Partei machte sich eine Erscheinung bemerkbar, die als „Antisemitismus der Radikalen“ bezeichnet wurde. Der Parteivorsitzende Nikola Pašić erklärte 1881, dass diesem weder rassistische Auffassungen noch religiöse Leitgedanken zugrunde liegen würden, sondern dass die Ablehnung der Juden ausschließlich durch den wirtschaftlichen „Schutz der einheimischen Bevölkerung“ motiviert sei. Unmittelbar nach dem Berliner Kongress war der Antisemitismus einiger Anhänger des rechten Flügels der Liberalen Partei den europäischen Vorbildern inhaltlich ähnlicher. Mit der Machtübernahme führten die Radikalen, unter der Leitung von Pašić, selbst eine Wendung durch und begannen philosemitische Stellungnahmen zu vertreten. An der Parteispitze befanden sich seit den 1890er Jahren einige prominente jüdische Mitglieder. Der Rechtsanwalt Šemaja Demajo war nach dem Ersten Weltkrieg radikaler Abgeordneter im Parlament des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen. In der Region Wojwodina empfanden die Juden in den Jahren 1848/49 mehr Zuneigung für die ungarischen Revolutionskräfte, die der serbischen Nationalbewegung in Ungarn feindlich gesinnt waren. Insgesamt wurde die jüdische Bevölkerung als Gegner der serbischen Nationalbewegung betrachtet. Das waren – neben der zunehmenden Übernahme ungarischer Identität seitens der Juden und eines starken Drucks der ungarischen Staatsgewalt auf südslawische Völker – wichtige Stützpunkte der antisemitischen Stellungnahmen einiger serbischer politischer Führer in Ungarn. Jaša Tomić, Politiker und Publizist, Gründer der Radikalen Partei in der Wojwodina, hat das am deutlichsten in seinem Buch „Jevrejsko pitanje“ („Die jüdische Frage“) 1884 ausgedrückt. In zwei 1879 und 1890 veröffentlichten Büchern legte Vasa Pelagić, utopischer Sozialist und Emigrant aus Bosnien, auf ähnliche Art und Weise seine antisemitischen Einstellungen dar. Nach der Machtergreifung des Königs Petar Karadjordjevic 1903 und der allmählichen Stabilisierung des demokratischen Parlamentarismus in Serbien wurden positive Tendenzen hinsichtlich der Verhältnisse zwischen der jüdischen und der Mehrheitsgesellschaft fortgesetzt. Diese Tatsache wird durch die stark gesunkene Zahl antisemitischer Ausfälle und durch rechtzeitige Reaktionen der Staatsgewalt bestätigt. Den Grundstein zur neuen Sephardensynagoge in Belgrad legte König Petar im Jahre 1907, im darauffolgenden Jahr war er mit Regierungsmitgliedern bei der Einweihung anwesend. Nach den Balkankriegen 1912-1913 vergrößerte sich die jüdische Gemeinschaft durch den Einschluss von Sephardengemeinden in Makedonien und Kosovo. Die Juden Serbiens nahmen am Ersten Weltkrieg als Soldaten und Offiziere teil und bestätigten damit ihre Loyalität und ihren Patriotismus. Der Gründer des Zionismus in Serbien, Oberstleutnant David Albala, wurde im September 1917 als Sondergesandter der serbischen Regierung in die USA delegiert, um für den Kampf Serbiens zu plädieren und um finanzielle Hilfe zu werben. Auf seinen Vorschlag hin unterstützte die serbische Regierung schon am 27. Dezember 1917 öffentlich die „Balfour-Deklaration“.
Milan Ristović
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Literatur Nebojša Jovanović, Pregled istorije beogradskih Jevreja do sticanja građanske ravnopravnosti [Übersicht zur Geschichte der Belgrader Juden bis zur Erwerbung ihrer bürgerlichen Gleichberechtigung], in: Zbornik JIM, br. 6, Beograd 1992, S.115-167. Ženi Lebl, Do „konačnog rešenja“. Jevreji u Beogradu 1521-1942 [Bis zur „Endlösung“. Juden in Belgrad 1521-1942], Beograd 2001. Milica Mihajlović, Jevreji na jugoslovenskom tlu [Juden auf jugoslawischem Boden], Podgorica 2000. Harriet Pass Freidenreich, The Jews of Yugoslavia. A Quest for Community, Philadelphia 1979. Ignjat Šlang, Jevreji u Beogradu [Juden in Belgrad], Beograd 1928. Pavle Šosberger, Novosadski Jevreji [Die Juden von Novi Sad], Novi Sad 1988. Krinka Vidaković-Petrov, Kultura španskih Jevreja na jugoslovenskom tlu XVI-XX vek [Die Kultur der spanischen Juden vom 16. bis 20. Jahrhundert], Sarajevo 1986.
Siebenbürgen Die Bezeichnung „Siebenbürgen“ markiert geographisch den inner-karpathischen Raum, im historischen Sinn umfasst die Region neben dem Kerngebiet Ardeal (Erdély) auch die Gebiete Banat, Crişana (Körös, Kreisch) und Maramureş (Marmaros), die sich als Teil des mittelalterlichen Königreichs Ungarn entwickelten. Nach 1541 geriet ein großer Teil der Region unter osmanischen Einfluss, ab 1711 unter österreichische Herrschaft. Seit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges war Siebenbürgen wieder mit Ungarn vereint; 1920 legte der Vertrag von Trianon die Angliederung an Rumänien fest. Zwischen 1940 und 1944 kam Nord-Siebenbürgen unter ungarische, anschließend wieder unter rumänische Verwaltung; seitdem ist Siebenbürgen integraler Teil Rumäniens. Im 14./15. Jahrhundert wurden jüdische Fernhändler in Brassó (Braşov, Kronstadt), Szeben (Sibiu, Hermannstadt) und Caransebeş entlang der großen Handelsstraße SüdSiebenbürgens erwähnt. Das Judenprivileg des siebenbürgischen Fürsten Gabriel Bethlen (1623) begünstigte aus rein ökonomischen Erwägungen die Niederlassung sephardischer Juden, insbesondere in Alba-Iulia, wo ihnen Wirtschaftsvorteile und freie Religionsausübung gewährt wurden. In dieser Zeit spielen jüdische Kaufleute eine bedeutende Rolle in den Handelsbeziehungen des Fürstentums mit Polen und dem Osmanischen Reich. Auf lokaler Ebene spitzt sich indes der ökonomische Konkurrenzkampf unter den Handwerkern und Kaufleuten zu. Antijüdische Anfeindungen von Seiten der Siebenbürger Sachsen, Armenier und Griechen tauchen episodisch auf und finden ihren Niederschlag in Eingaben an die Kommunal- und Stadträte, die auf das Hinausdrängen jüdischer Konkurrenten abzielen. Diesbezügliche Erlasse wechseln sich ab, periodisch werden einzelne Tätigkeiten und der Handel mit bestimmten Waren verboten, dann wieder zugelassen. Die jüdische Bevölkerung wird in das Fiskalsystem einbezogen, allerdings
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muss sie neben regulären auch außergewöhnliche Steuern entrichten. Mitte des 18. Jahrhunderts leben in der Region um die 2.000 Juden. Nachdem 1711 Siebenbürgen unter habsburgische Herrschaft gerät, ist die offizielle Haltung wie auch die Politik gegenüber Juden ambivalent und schwankt zwischen Toleranz und Restriktion. Im Banat gewährt die kaiserliche Militärverwaltung jüdischen Unternehmern das Monopol zur Herstellung alkoholischer Getränke, sie erlaubt Juden das Pachten von Getreidemühlen, ermutigt sie zur Eröffnung von Fabriken, vergibt Konzessionen für den Kupferhandel und erleichtert den Außenhandel mit dem Osmanischen Reich, Polen und Venedig. In einzelnen Komitaten sind wiederum Tendenzen zu verzeichnen, die von Einschränkung der wirtschaftlichen Tätigkeit bis hin zur Vertreibung reichen. Einen Höhepunkt erreichen die diskriminierenden Fiskal- und Residenzmaßnahmen unter Kaiserin Maria Teresia: Neben den bereits zu entrichtenden Haus-, Kopf- und Soldatensteuern führt sie 1749 die so genannte Duldungssteuer ein, die erst 1846 außer Kraft gesetzt wird. 1776 gibt sie die „Judenordnung“ heraus, in der Vorschriften ausdrücklich für die Banater und Temesvarer Juden festgehalten sind. Die Kernpunkte beziehen sich auf die Kontrolle und Abwehr des Zuzugs von Juden, die steuerliche Ausbeutung der bereits Anwesenden und die Reglementierung ihres Gemeindelebens. Die reformorientierte Politik Kaiser Josephs II. (1780-1790) leitet in Siebenbürgen eine partielle Entspannung der Situation ein. Zwar wird für Siebenbürgen kein Toleranzedikt (wie für ? Ungarn) ausgearbeitet, aber kaiserliche Erlasse heben wirtschaftliche Restriktionen auf, beseitigen einige Steuerlasten, gewähren Niederlassungsrecht in den Städten (ausgenommen die Bergbaustädte), erlauben die Gründung eigener Schulen und eröffnen auch die Möglichkeit zum Besuch öffentlicher Schulen. Infolge dieser Konzessionen, die auch in den darauffolgenden Jahrzehnten Bestand haben, setzt eine größere Zuwanderung aschkenasischer Juden ein: 1788 leben in der Region knapp 8.000 Juden, 1840 sind es bereits 32.000. In einigen Ortschaften sind Widerstände von Seiten lokaler Autoritäten zu verzeichnen, die die Umsetzung der josephinischen Bestimmungen zeitweise konterkarieren. Die Klärung der rechtlichen Stellung der Juden in Siebenbürgen wird ab 1790 periodisch debattiert, zur Gewährung der vollen politischen und bürgerlichen Gleichstellung kommt es erst 1867. Gesetzesvorschläge werden 1792, 1807 und 1835 dem Landtag unterbreitet, diesbezügliche Debatten und Entscheidungen werden wegen außen- und innenpolitischer Krisen und Konflikte verschoben, vertagt und abgelehnt. Einen wesentlichen Impuls zum Emanzipationsdiskurs lieferte Jozsef Eötvös, dessen Werk „A zsidók emancipációja“ (Die Emanzipation der Juden) 1840 publiziert wird. Antijüdische Vorurteile entladen sich im Herbst 1862, als infolge der ausbrechenden Hungersnöte (1862/ 63) den angeblichen jüdischen Spekulanten die Schuld für diese Katastrophe angelastet wird: In Marosvásárhely (Târgu Mureş) wird die Synagoge verwüstet, Häuser werden angezündet und Geschäfte geplündert (vgl. Karte 4). Die 1867 proklamierte rechtliche und politische Gleichstellung sowie die günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen finden ihren Niederschlag in der größten jüdischen Zuwanderung, die die Region je verzeichnete: Bis 1880 steigt die Zahl auf 130.000 Personen an, 1910 sind es 224.000. Ab Ende des 19. Jahrhunderts setzt die Bin-
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nenmigration der jüdischen Bevölkerung aus ruralen in urbane Zentren ein. Um 1910 ist in folgenden Städten eine starke Konzentration der jüdischen Bevölkerung feststellbar: In Arad, Kolozsvár (Cluj, Klausenburg), Temesvár (Timişoara, Temeswar) stellen Juden 10 bis 11 Prozent der Stadtbevölkerung, in Nagyvárad (Oradea) 24 Prozent, in Satu Mare 21 Prozent. Zeitgleich beschleunigt sich der Integrationsprozess der jüdischen Minderheit und Juden gelangen in alle Bereiche der Gesellschaft. Ähnlich wie die deutsche städtische Bevölkerung beschreitet auch die jüdische den Weg der kulturellen und sprachlichen Assimilation. Anders als die deutsche Bevölkerung entfaltet ein Großteil der städtisch-jüdischen Bevölkerung indes eine besondere ungarische Identität mit einem konfessionellen Partikularismus, die sich in der Eigenbezeichnung jüdische Ungarn bzw. Ungarn israelitischen Glaubens niederschlägt. Während es in den 1870er und 1880er Jahren im Kerngebiet ? Ungarn kurzzeitig zu antijüdischen Agitationen, Ritualmordvorwürfen und Ausschreitungen kommt, sind Siebenbürgen und das Banat von solchen Entwicklungen kaum betroffen. Das Aufkeimen des modernen politischen Antisemitismus ist ein Phänomen der 1920er Jahre. Durch den Trianon-Vertrag wird Siebenbürgen 1920 völkerrechtlich ? Rumänien zugesprochen. Die sich schwierig gestaltende politische und wirtschaftliche Eingliederung der Provinz in die neu geschaffenen Strukturen Großrumäniens sowie die damit einhergehenden sozio-ethnischen Spannungen führen zum Erstarken des Antisemitismus. Forderungen rechtsextremer Organisationen und Parteien reichen von der Einführung eines „numerus clausus“ an den Universitäten, der Entfernung der Juden aus öffentlichen Ämtern, der Aufhebung ihrer bürgerlichen Rechte, dem Entzug der Staatsbürgerschaft bis hin zur Enteignung. Ab Mitte der 1930er Jahre und vor allem in den Jahren 1940 bis 1942 verabschiedet die rumänische Regierung eine Reihe antisemitischer Gesetze, die im Wesentlichen diese Forderungen umsetzen. Zwischen 1922 und 1927 finden in Cluj, Oradea und Timişoara (vgl. Karte 6) antisemitische Ausschreitungen statt, die hauptsächlich von rechtsextremen Studentenorganisationen angezettelt werden. Die Dramaturgie folgt in allen Orten dem gleichen Muster: Um der Forderung der Zulassungsbegrenzung für Juden an den Universitäten Nachdruck zu verleihen, besetzen rumänische Studenten einige Fakultäten und verhindern den Zutritt jüdischer Studenten. Anschließend breitet sich die Gewalt gegen die örtliche jüdische Bevölkerung aus und eskaliert in der Verwüstung von Geschäften, Synagogen und Zeitungsredaktionen. In einigen Fällen, wie 1923 in Timişoara und Oradea, sah sich die Regierung veranlasst, die Universitäten für einige Monate zu schließen. Mit der Gründung der rumänischen Legionärsbewegung („Legion des Erzengel Gabriel“, 1930 in „Eiserne Garde“ umbenannt) nimmt die Gewalt eine neue Dimension ein: In der Region Maramureş werden 1930-1933 zahlreiche Übergriffe mit Todesopfern registriert, in vielen Ortschaften verwüsten die Legionäre Geschäfte und Synagogen, in Borşa zünden sie 140 Häuser an. Die Frage der Staatsbürgerschaft siebenbürgischer Juden schien zunächst durch Artikel 133 der rumänischen Verfassung von 1923 geregelt zu sein, die rumänische Regierung erließ jedoch 1924 ein Staatsbürgerschaftsgesetz, das die siebenbürgischen Juden zwang, Heimatscheine vorzuweisen. Etwa 3.000 Familien konnten keine Nachweise erbringen und wurden zu Staatenlosen erklärt, womit sie jegliche Rechte verloren und von
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der Ausweisung bedroht waren. Im Jahr 1938 beschloss die rumänische Regierung ein Gesetz zur Revision der Staatsbürgerschaft, das dazu führte, dass von den 176.151 siebenbürgischen Juden fast 61.000 staatenlos wurden. Nach dem Zweiten Wiener Schiedsspruch (30. August 1940) wird Siebenbürgen in zwei Teilregionen gespalten. Nord-Siebenbürgen gerät unter ungarische Verwaltung, wodurch sämtliche seit 1938 in ? Ungarn herausgegebenen antijüdischen Gesetze und Verordnungen nun auch für die nord-siebenbürgischen Juden gelten. Aus dieser Region werden – nach Enteignung, Ausplünderung und Ghettoisierung – zwischen Mai und Juni 1944 131.633 Juden nach Auschwitz deportiert. Süd-Siebenbürgen, das Banat und die Landkreise Arad und Bihor, wo insgesamt 40.000 Juden leben, verbleiben 1940 bei ? Rumänien. Einerseits provozieren und agitieren die Legionäre mit ihren Aufmärschen gegen die jüdische Minderheit, so z.B. im Landkreis Arad in den kleineren Ortschaften Lipova, Radna und Ghioroc. Andererseits erreicht der staatliche Antisemitismus einen Höhepunkt: Vom September 1940 bis Januar 1941 initiierte Ion Antonescu zahlreiche antijüdische Gesetze, die Enteignung, Ausschluss aus öffentlichen Ämtern, Berufsverbote und Zwangsrekrutierung zum Arbeitsdienst zur Folge hatten (? Rumänien). 1942 hat die rumänische Regierung von der bereits geplanten Deportation südsiebenbürgischer Juden Abstand genommen. Die Abkehr von diesen Plänen war weniger humanitären Abwägungen geschuldet, als vielmehr dem veränderten Kriegsablauf und dem Bestreben des Regimes, Möglichkeiten eines Separatfriedens mit den Alliierten zu prüfen. Im Jahr 1947 lebten in Siebenbürgen schätzungsweise 91.000 Juden (davon 45.000 in Nord-Siebenbürgen, 16.000 in Süd-Siebenbürgen, 16.000 im Banat und 14.000 in der Region Crişana), von denen zwischen 1948 und 1977 mehr als die Hälfte ausgewandert ist. 2008 lebten Schätzungen zufolge nur noch knapp 2.000 Juden in Siebenbürgen.
Brigitte Mihok
Literatur Moshe Carmilly-Weinberger, Istoria evreilor din Transilvania (1623-1944), Bucureşti 1994. Hildrun Glass, Zerbrochene Nachbarschaft. Das deutsch-jüdische Verhältnis in Rumänien 1918-1938, München 1996. Ladislau Gyémánt, Evreii din Transilvania. Destin historic, Cluj 2004. Victor Neumann, Istoria evreilor din Banat, Bucureşti 1999.
Slowakei Das Gebiet der heutigen Slowakischen Republik bildete vom 10. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs die nördlichen und nordwestlichen Komitate des Königreichs Ungarn, von 1918 bis 1939 und erneut von 1945 bis 1993 war das Land Teil der Tschechoslowakischen Republik. In den Jahren 1939 bis 1945 bestand die Slowakische Republik als Satellitenstaat des Deutschen Reiches.
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Im Südwesten der Slowakei gab es bereits im frühen Mittelalter jüdische Gemeinden. Seit Anfang des 18. Jahrhunderts ließen sich Juden aus Böhmen, Mähren und Österreich vor allem in den südwestlichen Komitaten Bratislava (Pozsony), Nitra (Nyitra) und Trenčín (Trencsén) nieder. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wanderten Juden aus Galizien in die ostslowakischen Regionen ein. Die traditionelle Judenfeindschaft war einerseits religiös (die meisten Slowaken waren katholisch), andererseits sozio-ökonomisch motiviert. Feudale Landbesitzer verpachteten an Juden, die von der Agrarwirtschaft und vom Handwerk ausgeschlossen waren, die Alkoholproduktion und die Schankwirtschaft. Infolgedessen wurden die Juden für den Alkoholismus und die Verelendung der slowakischen Bauern verantwortlich gemacht. Während die Emanzipation bei Teilen der liberalen Judenheit die Übernahme der magyarischen Sprache und Kultur beschleunigte, blieben die Juden im Gebiet der heutigen Slowakischen Republik überwiegend orthodox und mehrsprachig. Bei den Repräsentanten des slowakischen Nationalismus, der Anfang des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf den Magyarisierungsdruck der ungarischen Eliten entstand, rief die sprachliche und kulturelle Assimilation des jüdischen Bürgertums negative Gefühle hervor. Insgesamt wurde die jüdische Bevölkerung als Gegner der slowakischen Nationalbewegung betrachtet. Als im Vorfeld der Revolution von 1848/49 im ungarischen Landtag über die Emanzipation der Juden diskutiert wurde, nahmen führende slowakische Nationalisten wie Ľudevít Štúr in dieser Frage eine ambivalente Haltung ein. 1871 forderte der Politiker Viliam Paulíny-Tóth die Juden auf, sich der „slowakischen Sache“ anzunehmen. Als eine entsprechende Reaktion ausblieb und nur ein Bruchteil der Juden sich zum Slowakischen als Muttersprache bekannte, schlug die slowakische Nationalbewegung schärfere Töne an. Zehn Jahre nach Paulíny-Tóths Angebot zur Assimilation veröffentlichte der Dichter und Ideologe Svetozár Hurban-Vajanský seinen programmatischen Aufsatz „Die Judenfrage in der Slowakei“, in dem er die Juden zum „nationalen Feind“ erklärte und den modernen slowakischen Antisemitismus begründete. Seit Anfang der 1880er Jahre kam es in den mehrheitlich von Slowaken bewohnten Komitaten zu Ausschreitungen, in deren Verlauf Juden verletzt und Geschäfte geplündert wurden. Der sich zu dieser Zeit formierende ungarische politische Antisemitismus fand seine Anhänger ebenfalls unter der slowakisch sprechenden Bevölkerung in den Komitaten Nitra und Bratislava. Hier konnten antisemitische Politiker bei den Landtagswahlen von 1884 und 1887 fünf beziehungsweise drei Mandate erringen. In den 1890er Jahren begann sich die Struktur der slowakischen Gesellschaft und Politik allmählich zu differenzieren. Die liberalen Regierungen strebten die Einführung der Zivilehe und -matrikel sowie die Anerkennung der jüdischen Konfession an. Nach langwierigen, von der katholischen Publizistik in der Regel antisemitisch geführten Auseinandersetzungen wurden die liberalen Gesetze 1894/1895 angenommen. Als Reaktion konstituierte sich der politische Katholizismus, und der Antisemitismus wurde zum ideologischen Bestandteil der Slowakischen Volkspartei, die sich 1905 von der gesamtungarischen Katholischen Volkspartei („Katolikus Néppárt“) abspaltete. Die „Judenfrage“ gehörte ebenfalls zur Agenda einer neuen säkularen Plattform der slowakischen Politik, die sich an tschechischen ideologischen Mustern orientierte. Neben den traditionellen Motiven der Judenfeindschaft waren seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend nationalisti-
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sche Vorwürfe zu verzeichnen, denen zufolge „die Juden“ sich in den Dienst der planmäßigen Magyarisierung der slowakischen Gesellschaft gestellt hätten. 1918 wurde die Slowakei Bestandteil der neuen Tschechoslowakischen Republik (? Tschechien). Während 1921 nur 22 Prozent der jüdischen Bevölkerung in der Slowakei sich zur tschechoslowakischen Nationalität bekannten, waren es 1930 bereits 42,2 Prozent. Fast die Hälfte der 135.000 slowakischen Juden optierte 1930 für die von den tschechoslowakischen Organen anerkannte jüdische Nationalität, nur 9 Prozent entschieden sich für die magyarische. Bereits in den ersten Nachkriegsjahren kam es auch in der Slowakei zu pogromartigen antijüdischen Ausschreitungen. In den 1920er Jahren wurde die katholisch-nationalistische Slowakische Volkspartei, Slovenská ľudová strana, später nach ihrem Gründer Andrej Hlinka in „Hlinkova slovenská ľudová strana“ (HSĽS) umbenannt, zur stärksten politischen Kraft in der Slowakei. Ihre Repräsentanten und die ihr nahe stehenden Publizisten bedienten sich der antisemitischen Propaganda. Sie warfen der jüdischen Bevölkerung vor, dass ihre Loyalität gegenüber dem tschechoslowakischen Staat nur vorgetäuscht sei und sie in Wirklichkeit für die magyarische Irredenta arbeiten würden. Hinzu kamen die älteren Vorurteile, denen zufolge die jüdische Bevölkerung eine „systematische Ausbeutung“ und „Alkoholisierung“ der slowakischen Gesellschaft betreiben würde. In der Zwischenkriegszeit orientierte sich der slowakische Antisemitismus zunehmend an zeitgenössischen ideologischen Mustern. So wurde das Stereotyp des „jüdischen Bolschewismus“ im Parteiprogramm der HSĽS von 1936 festgeschrieben. Einer der führenden Politiker der HSĽS, Karol Sidor, verlangte 1937 im Außenpolitischen Ausschuss des Prager Parlaments die Aussiedlung der slowakischen Juden in die sowjetische autonome Republik Birobidschan (? Sowjetunion). Nach dem „Münchener Abkommen“ vom 30. September 1938, das zum Verlust von großen Teilen der tschechoslowakischen Grenzgebiete zugunsten NS-Deutschlands geführt hatte, entstand die Zweite Tschechoslowakische Republik und die Slowakei erhielt einen autonomen Status. Der HSĽS-Vorsitzende Jozef Tiso wurde zum slowakischen Ministerpräsidenten und zum Innenminister ernannt. Der Rechtsruck der slowakischen Politik verstärkte den Antisemitismus, der sich bereits Anfang November in einer umfangreichen antijüdischen Aktion niederschlug. Nach dem so genannten Wiener Schiedsspruch vom 2. November 1938, der weite Teile der Südslowakei Ungarn zusprach, befahl Tiso, mittellose und „fremdstaatliche“ Juden in die abzutretenden Gebiete zu „verschieben“. Als die Aktion nach ein paar Tagen ins Stocken geriet, befanden sich an der neuen Grenze mehrere Tausend obdachlose Menschen, die fünf bis sechs Wochen in provisorischen Lagern verbringen mussten, bis ihnen schließlich auf Betreiben jüdischer Organisationen die Rückkehr gestattet wurde. Am 14. März 1939 proklamierte das slowakische Parlament die Unabhängigkeit des Landes und erklärte seine enge Anbindung an das Dritte Reich. In der territorial verkleinerten Slowakei verblieben etwa 89.000 Juden. Das gleichgeschaltete Parlament des autoritären HSĽS-Regimes legte im April 1939 gesetzlich fest, wer als „Jude“ zu gelten habe. Im Sommer 1940 begann die „Arisierung“ des jüdischen Eigentums. Im August 1940 kam es zu slowakisch-deutschen Verhandlungen in Salzburg, die zur Stärkung des prodeutschen HSĽS-Flügels führten. Unter den deutschen Beratern, die das Auswärtige Amt neben dem Gesandten Hanns Ludin in die Slowakei schickte, be-
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fand sich auch der für die „Judenfrage“ zuständige Dieter Wisliceny. Dieser beriet die slowakischen Behörden, die sich mit der „Lösung“ des vermeintlichen „jüdischen Problems“ zu befassen hatten. Im September 1940 stattete das slowakische Parlament die Regierung mit entsprechenden Vollmachten aus. Die jüdischen Bürger wurden schrittweise in ihren bürgerlichen, ökonomischen und sozialen Rechten eingeschränkt. Gleichzeitig wurden sie enteignet und schließlich ihrer Grundrechte beraubt. Ab September 1941 mussten sie einen Davidstern tragen. Die betreffenden Anordnungen wurden in der Regierungsverordnung Nr. 198 vom September 1941 zusammengefasst, dem berüchtigten Juden-Kodex (Židovský kódex). Das aus diesem Prozess zwangsweise sich ergebende soziale Problem – die Existenz verarmter und entrechteter jüdischer Bürger – wollten die Verantwortlichen durch Errichtung von Ghettos und Arbeitslagern handhaben. Dies wurde nur teilweise realisiert. Die slowakischen Politiker nahmen im Oktober 1941 das Angebot bzw. Drängen der deutschen Seite an, die slowakischen Juden nach Polen zu verschicken. Der slowakische Außenminister Vojtech Tuka verpflichtete sich, dem nationalsozialistischen Deutschland für jeden Deportierten eine Gebühr von 500 Reichsmark zu zahlen. Zwischen März und Oktober 1942 wurden aus der Slowakei 57.627 Juden deportiert, die zum größten Teil in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern ermordet wurden. Die etwa 23.000 verbliebenen jüdischen Bürger wurden von den Deportationen vorübergehend verschont. Ungefähr 4.000, die getauft oder wirtschaftlich unentbehrlich waren, erhielten einen „Ausnahmestatus“, weitere 4.000 wurden zur Zwangsarbeit verpflichtet. Nach der Niederschlagung des slowakischen Aufstandes und der darauf folgenden deutschen Okkupation der Slowakei im Herbst 1944 wurden die Deportationen wieder aufgenommen. Etwa 1.000 Juden kamen in der Slowakei um, weitere 13.500 wurden in die Vernichtungslager deportiert. Nur etwa 10.000 slowakische Juden überlebten den Zweiten Weltkrieg, die meisten von ihnen waren in den Wäldern untergetaucht, manche hatten Zuflucht bei der nichtjüdischen Bevölkerung gefunden. Die wenigen Überlebenden des Holocausts fanden nach ihrer Rückkehr chaotische Verhältnisse vor. Ein Großteil der slowakischen Bevölkerung und nicht zuletzt die vielen slowakischen „Arisierungs“-Gewinner, die befürchteten, auf das ehemals jüdische Eigentum wieder verzichten zu müssen, betrachteten sie mit Misstrauen und Argwohn. Im September 1945 kam es in der westslowakischen Stadt Topoľčany zu einem Pogrom, an dem sich auch Mitglieder der Tschechoslowakischen Armee beteiligten. Mehrere Dutzend Juden wurden dabei verletzt. Die slowakischen Behörden und Politiker zeigten wenig Interesse an einer juristischen Ahndung der Verbrechen. Viele tschechoslowakische Juden, und zwar nicht nur solche, die sich 1930 zur deutschen beziehungsweise ungarischen Nationalität bekannten, wurden aufgrund der so genannten Beneš-Dekrete zusammen mit der deutschen und ungarischen Bevölkerung vertrieben. Wie tiefe Wurzeln die Judenfeindschaft in vielen Schichten der slowakischen Bevölkerung geschlagen hatte, zeigte die Pogromwelle, die im August 1946 mehrere slowakische Städte ergriff. Jüdische Bürger wurden aus ihren Wohnungen vertrieben, beraubt, misshandelt und dabei nicht selten schwer verletzt. Im Februar 1948 übernahm die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei die politische Führung. Bis 1949/50 förderte sie die Auswanderung der jüdischen Einwohner
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nach Palästina bzw. in den neu gegründeten Staat Israel. Anfang der 1950er Jahre lebten in der Slowakei noch etwa 3.000 jüdische Bürger. In diesen Jahren verschlechterten sich die Beziehungen der sozialistischen Länder zu Israel. Der stalinistische Feldzug gegen den „jüdischen Kosmopolitismus“ und Zionismus in der Tschechoslowakei gipfelte im Dezember 1952 in dem Schauprozess gegen Rudolf Slánský, in dem elf Kommunisten jüdischer Herkunft des Landesverrats beschuldigt und zum Tod bzw. zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden. Den Prozess begleitete eine breit angelegte antisemitische Kampagne. In der Folgezeit kam es auch in der Slowakei zu „antizionistischen“ Aktionen. Der Kampf gegen den Zionismus prägte noch die Politik der so genannten Normalisierung in den 1970er Jahren, die durch das gewaltsame Ende des „Prager Frühlings“ eingeleitet worden war. Die „Samtene Revolution“ im November 1989 und die Auflösung der Tschechoslowakischen Föderativen Republik am 1. Januar 1993 regten in der slowakischen Gesellschaft Debatten über die Vergangenheit an, deren Angelpunkt die Auseinandersetzungen um die „erste“ Slowakische Republik und insbesondere die Rolle ihres Präsidenten Jozef Tiso bildeten. In diesem Zusammenhang begann man in der slowakischen Öffentlichkeit die Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung zwischen 1938 bis 1945 zu diskutieren. Dabei hoben Repräsentanten der „Slowakischen Nationalpartei“ (Slovenská národná strana, SNS), die sich zwischen 1993 und 1998 an der Regierung beteiligte (und seit 2006 erneut beteiligt) sowie die ihr nahe stehenden Publizisten Tisos vermeintlich „guten Willen“ hervor. Sie verweisen auf die „Schutzbriefe“ (výnimky), die 1942 ungefähr 1.000 slowakische Juden und ihre Familien vor den Deportationen retteten, und auf Tisos angeblich „mangelnde Kenntnisse“ des nationalsozialistischen Völkermords an den Juden Europas. Unkritische Diskussionen über die Vergangenheit, wie sie beispielsweise das umstrittene und politisch protegierte Lehrbuch „Dejiny Slovenska a Slovákov“ (Die Geschichte der Slowakei und der Slowaken, 1995²) des Historikers Milan S. Ďurica widerspiegeln, beleben ältere judenfeindliche Vorurteile und Stereotype, die bei Teilen der slowakischen Bevölkerung durch einen zeitgenössischen „Revisionismus“, durch Antizionismus und Antiamerikanismus ergänzt bzw. überlagert werden. Der Antisemitismus in der Slowakei ist somit keineswegs nur eine Herausforderung für die historische Forschung.
Miloslav Szabó
Literatur Jörg K. Hoensch (Hrsg.), Judenemanzipation – Antisemitismus – Verfolgung in Deutschland, Österreich-Ungarn, den Böhmischen Ländern und in der Slowakei, Essen 1999. Ivan Kamenec, Po stopách tragédie [Auf den Spuren der Tragödie], Bratislava 1991. Ladislav Lipscher, Die Juden im Slowakischen Staat 1939-1945, München 1980. The Jews of Czechoslovakia, Vol. 1-2, Philadelphia 1968, 1971. Tatjana Tönsmeyer, Das Dritte Reich und die Slowaken. Politischer Alltag zwischen Kooperation und Eigensinn, Paderborn 2003. Dezider Tóth (Hrsg.), The Tragedy of Slovak Jews. Proceedings of the International Symposium. Banská Bystrica 25th to 27th March 1992, Banská Bystrica 1992.
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Slowenien Juden waren auf dem Gebiet des heutigen Slowenien bereits vor dem 12. Jahrhundert präsent. In Ljubljana existierten eine Synagoge und ein jüdisches Viertel. Die frühesten schriftlichen Berichte stammen aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Eine weitere wichtige Gemeinde existierte bis Mitte des 15. Jahrhunderts in Maribor (vgl. Karte 2). Infolge des kaiserlichen Vertreibungsdekrets von 1515 wurden Juden aus dem slowenischen Kerngebiet vertrieben. Ein Teil der jüdischen Gemeinde siedelte sich in den Grenzregionen der slowenischen Provinzen und in Italien, Istrien und Dalmatien an. Während des 18. Jahrhunderts entstand in der Region Prekmurje eine weitere wichtige Gemeinde. Erst die 1867 neu gebildete Doppelmonarchie garantierte allen Nationalitäten und Religionen des Reiches per Gesetz formale Gleichheit. Im frühen 20. Jahrhundert lebten in der Region um Ljubljana etwa 100 Juden, auf dem Gebiet des heutigen Slowenien 1.500. Mit dem Waffenstillstandsabkommen vom 18. April 1941 zwischen Deutschland und Jugoslawien wurde Slowenien in drei Teile geteilt: Die slowenischen Gebiete der Untersteiermark, Krain und Teile von Kärnten wurden besetzt und dem Dritten Reich angegliedert, die Regionen Notranjska, Dolenjska und die Stadt Ljubljana („Provinz Ljubljana“) wurden Italien und die Region Prekmurje Ungarn zugeschlagen. Im November 1941 organisierte die italienische Besatzungsmacht die ersten Transporte von Juden aus Ljubljana. 29 Juden wurden am 8. November 1941 in das Konzentrationslager in Ferramonti di Tarsia deportiert und 16 am 25. November 1941 nach Alessandria. Nach der Kapitulation Italiens am 8. September 1943 kamen die zuvor von den Italienern verwalteten Gebiete unter deutsche Herrschaft. Viele zuvor nach Italien deportierte Juden hatten überlebt und jene, denen es gelang, den folgenden Deportationen zu entkommen, traten der jugoslawischen nationalen Befreiungsbewegung bei. Alle nach September 1943 in Ljubljana lebenden Juden wurden von den Deutschen deportiert. In der Nacht vom 12. September 1944 verhaftete die slowenische Polizei die 13 jüdischen Familien (34 Menschen) und übergab sie der Gestapo. Sie wurden zwischen 14. September 1944 und 28. Februar 1945 in die Konzentrationslager Dachau, Mauthausen, Ravensbrück und Auschwitz deportiert. Auch aus den zu Ungarn gehörenden Territorien begannen nach der deutschen Besetzung Ungarns 1944 umfangreiche Deportationen. In den frühen Morgenstunden des 26. April 1944 trieb die ungarische Gendarmerie etwa 1.000 Juden aus Prekmurje in die Synagogen von Murska Sobota und Lendava und deportierte sie nach Čakovec in Kroatien, wo sie der Gestapo übergeben wurden. Von dort wurden sie in das Internierungslager in Nagykanisza (Ungarn) und dann in zwei Transporten nach Auschwitz-Birkenau deportiert. 90 Prozent der Juden aus Prekmurje wurden bis Ende Mai 1944 getötet. Insgesamt kehrten weniger als 100 Juden, die aus dem Territorium des heutigen Slowenien deportiert worden waren, aus den Konzentrationslagern zurück. Jüdisches Eigentum war in den Jahren 1941-1944 von den damaligen Besatzungsmächten konfisziert und geplündert worden. Die Beschlagnahmungen wurden nach dem Krieg zwar für ungültig erklärt, aber meist wurden die überlebenden Eigentümer fast unmittelbar nach der Rückerstattung erneut enteignet.
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Das „Dekret über den Übergang feindlichen Vermögens in Staatseigentum, über die Staatsverwaltung des Vermögens abwesender Personen und Beschlagnahme des von den Besatzungsmächten gewaltsam entfremdeten Vermögens“ der AVNOJ [Antifašističko Vijeće Narodnog Oslobodjenja Jugoslavije] von 1944 wirkte sich auf den Umgang mit jüdischem Eigentum stark aus. Obwohl das Dekret vor allem auf deutschen Besitz zielte, unterschied es nicht zwischen jüdischem Eigentum, das von den Deutschen konfisziert worden war, und deutschem Eigentum. Lokale Behörden erklärten die Juden zu Angehörigen der deutschen Minderheit und als solche fielen sie unter diese Gesetzgebung. Viele Juden wurden außerdem des Landesverrats, der Kriegsspekulation, der Mitgliedschaft im pro-nationalsozialistischen Kulturbund und der Kollaboration mit den Deutschen bezichtigt, alles Gründe für die Beschlagnahme ihres Eigentums. Außerdem wurde jüdisches Eigentum ohne Erben verstaatlicht. Da das Erben von Grundeigentum durch Ausländer in der Volksrepublik Jugoslawien gesetzlich nicht möglich war, fielen solche Erbschaften automatisch an den Staat. Juden, die nach Israel auswandern wollten, mussten eine Erklärung unterschreiben, in der sie auf ihre Staatsbürgerschaft, ihr Eigentum und jegliche zukünftige Ansprüche auf Entschädigung verzichteten. Die Mehrheit der slowenischen Überlebenden – 68 Personen – wanderte zwischen 1948 und 1952 nach Israel aus. Das jüdische Gemeindeeigentum von Lendava, auch die Synagoge, wurde 1949 verstaatlicht. Eine äußerst unzureichende Entschädigung in Form von Staatsanleihen, zahlbar in 25 Annuitäten, wurde angeboten. Die lokalen Behörden rissen 1954 die für ihre architektonische Schönheit bekannte Synagoge von Murska Sobota ab, nachdem die Vereinigung der jugoslawischen jüdischen Gemeinden sie wegen der Finanznot der lokalen jüdischen Gemeinde (zu diesem Zeitpunkt hatte sie nur fünf erwachsene Mitglieder) hatte verkaufen müssen. Während der kommunistischen Herrschaft waren Juden systematisch aus öffentlicher Erinnerung und Gedenken ausgeschlossen, sowohl als Teil der slowenischen Vorkriegsbevölkerung als auch als Kämpfer in der nationalen Befreiungsbewegung. Der Zusammenbruch des kommunistischen Regimes und die Etablierung des unabhängigen slowenischen Staates brachten ein Wiedererstarken jüdischen Gemeindelebens in Slowenien mit sich. Viele junge Leute beteiligten sich, und die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinde wuchs stetig an, bis sie 2006 etwa 140 Personen (die meisten in Ljubljana) erreichte. Heute leben schätzungsweise 400 Juden in Slowenien. Die Gemeinde ist als religiöse Gemeinschaft registriert und hat einen Oberrabbiner, der seit 2003 von Triest aus arbeitet. Der Regimewechsel löste bei den slowenischen Juden Hoffnungen auf Entschädigung für das verlorene Eigentum aus. In Slowenien und in Israel lebende Holocaustüberlebende stellten auf Grundlage des „Denationalisierungsgesetzes“ [Zakon o denacionalizaciji] von 1991 einen Entschädigungsantrag. Die jüdische Gemeinde von Slowenien bemühte sich in den Jahren nach 2000 ergebnislos um Verhandlungen mit der slowenischen Regierung zur Entschädigung jüdischen Eigentums. Die individuellen Entschädigungsanträge der israelischen Holocaustüberlebenden wurden ausnahmslos auf Grundlage des von den Juden erklärten Verzichts auf die jugoslawische Staatsbürgerschaft und auf unbewegliches Eigentum in Jugoslawien abgelehnt. Das „Denationalisierungsgesetz“ mit
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seinen Ausnahmeregeln war auf viele Entschädigungsforderungen für das Eigentum slowenischer Juden nicht anwendbar. 2005 beauftragte die jüdische Gemeinde von Slowenien die „World Jewish Restitution Organization“ (WJRO) mit der Vertretung ihrer Interessen. Selbst dann behinderte die Regierung trotz öffentlicher Bekundungen, dass sie zur Restitution bereit sei, die Verhandlungen. Die Einstellung der Regierungen seit 1991 zur Entschädigungsfrage spiegelt die im Land weitverbreitete Ansicht wider, dass Slowenien zunächst das gegen die eigenen Leute begangene Unrecht thematisieren sollte. Slowenische Juden gelten generell nicht als zu dieser Kategorie gehörig. Die anhaltende Leugnung jüdischer Präsenz in der slowenischen Geschichte und ihre Abwesenheit in der öffentlichen Erinnerung, die dem Regierungsstil in Restitutionsfragen zugrunde liegen, sind derzeit die Hauptkonstanten des Antisemitismus in Slowenien. Obwohl der Holocaust in den neuesten Geschichtsbüchern für den öffentlichen Pflichtschulunterricht erwähnt wird, finden sich in keinem einzigen Bezüge zu slowenischen Juden. Die Presse ist in ihrer Berichterstattung über den Nahostkonflikt traditionell betont antijüdisch; in der Öffentlichkeit, auch der medialen, wird jegliche political correctness vergessen, wenn es um antisemitische Stereotype geht. Der Antisemitismus in Slowenien ist angesichts der geringen jüdischen Präsenz eine Variante des „Antisemitismus ohne Juden“.
Hannah Starman und Irena Šumi Übersetzt aus dem Englischen von Claudia Curio
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Sowjetunion Aufgrund der zaristischen Diskriminierungen, die bis zur Februarrevolution 1917 bestanden hatten, lebten die sowjetischen Juden zunächst mehrheitlich im Westen der Sowjetunion. 1926 stellten 2,68 Millionen Juden 1,8 Prozent der Bevölkerung. Der Anteil in ? Weißrussland lag bei 8,2 Prozent, in der ? Ukraine bei 5,5 Prozent. Daneben gab es noch kleinere jüdische Minderheitsgruppen in Mittelasien, auf der Krim und im Kaukasus. 1959 wurden 2,268 Millionen Juden gezählt (1,1 Prozent der Bevölkerung), die vor allem in den zentralen Großstädten lebten. Bei Auflösung der Sowjetunion 1991 war
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– nach der Emigration von ca. 800 000 Juden seit 1967 – der jüdische Bevölkerungsanteil auf unter 0,5 Prozent gesunken. Vor 1917 waren die Juden Russlands mehrheitlich Anhänger zionistischer Parteien oder des Bund („Allgemeiner jüdischer Arbeiterbund von Litauen, Polen und Russland“). Diese 1897 gegründete jüdisch-nationale Partei war innerhalb der russischen Sozialdemokratie organisiert, wurde dort aber von den Bolschewiki bekämpft. 1913 verfasste Stalin im Auftrag Lenins eine Abhandlung zur nationalen Frage, in der er den Juden die Eigenschaft einer Nation absprach, ihre Assimilation forderte und gegen die bundistische Forderung nach Autonomie polemisierte. Die Praxis nach der Oktoberrevolution widersprach dieser Theorie, die Juden galten als Nationalität, es wurden jüdische Parteisektionen gegründet, deren Funktionäre (vielfach aus dem aufgelösten Bund) rücksichtslos gegen die jüdische Religion vorgingen. Als Minderheit hatten die Juden aber das Recht auf Jiddisch als Bildungs-, Verwaltungs- und Gerichtssprache. Während die national-jüdischen Institutionen von Partei und Staat den Zweck hatten, deren Politik unter den Jiddisch-Sprechenden durchzusetzen, gab es in der Führung der Bolschewiki viele Juden russisch assimilierter Herkunft (am bekanntesten Lew Trotzki, Grigori Sinowjew und Lew Kamenew), was dem mit der Oktoberrevolution aufkommenden Schlagwort vom „jüdischen Bolschewismus“ Nahrung gab. Dieses Schlagwort fand im Bürgerkrieg bis 1921 weite Verbreitung und begleitete die antijüdischen Pogrome, die zu über 50.000, anderen Schätzungen zufolge 200.000 Todesopfern führten. Plünderungen durch marodierende Truppenteile und Banden, die schon im Zusammenbruch der russischen Front vor der Revolution begonnen hatten, gingen in eine agrarrevolutionäre Erhebung über und eskalierten im Verlauf der Auseinandersetzungen zu kaltblütig geplanten antibolschewistischen Vergeltungsakten an Juden. Die Truppen der ? Ukraine, die im Unabhängigkeitskrieg gegen die bolschewistischen Truppen lag, waren verantwortlich etwa für die Hälfte, die antibolschewistischen russischen „Weißen“ für etwa ein Fünftel der Pogrome. In den Appellen gegen die Pogrome, die der Ukrainer Simon Petljura, der Anarchistenführer Nestor Machno und die Bolschewiki erließen, wurde den Tätern mit der Todesstrafe gedroht. Die deutliche Verurteilung der Pogrome durch Lenin war erforderlich geworden, da rote Truppen sich an antijüdischen Gewaltakten beteiligt hatten (an weniger als einem Zehntel der Pogrome, vor allem an Plünderungen). Hinter den Kulissen gab es im Bürgerkrieg auch Anordnungen von Lenin und Trotzki, die Zahl jüdischer Funktionäre zu begrenzen, um antijüdischen Stimmungen keinen Anlass zu geben. Dessen ungeachtet mussten die Bolschewiki der Mehrheit der Juden als verlässlichster Schutz vor antijüdischer Gewalt erscheinen. In die Partei und die sowjetischen Behörden (bis in Institutionen des staatlichen Terrors) strömten weit mehr Juden, als es ihrem Anteil an der Bevölkerung entsprach. Die neuen Machthaber benötigten eine gebildete, urbane und mobile Schicht und rekrutierten diese in erheblichem Umfang aus Juden des ehemaligen Ansiedlungsrayons, die in Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg ihre Lebensgrundlage verloren hatten. Für sie wurden die ersten beiden Jahrzehnte der Sowjetdiktatur zu einer Erfolgsgeschichte, auch wenn vor allem in den 1920er Jahren sehr viele Juden in Armut lebten oder wegen ihrer Tätigkeit im Privathandel ihrer politischen Rechte beraubt waren.
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„Jüdische Vorherrschaft“ (jewrejskoje sasilje) wurde zum häufigsten Slogan der volkstümlichen Judenfeindschaft innerhalb der Sowjetunion, wobei auch tradierte Klischees (Gebrauch von Christenblut für jüdische Rituale) anzutreffen waren. Schon die Kritik am Anteil von Juden an Machtorganen basierte auf tiefersitzenden Vorurteilen, denn gegen andere dort überrepräsentierte Minderheiten richtete sich weit weniger Ablehnung. Dem Thema wandte sich die sowjetische Presse erst 1926 zu, als sich Berichte über antijüdische Einstellungen oder Handlungen von Arbeitern oder Studenten häuften. Zunächst wurden diese als Reaktion auf wirtschaftliche Schwierigkeiten oder Konkurrenz mit jüdischen Mitbewerbern um Studienplätze erklärt. Zugleich hieß es, dass mit der stärkeren Vertretung der Weißrussen und Ukrainer in den Bildungseinrichtungen die Judenfeindschaft verschwinden werde. Tatsächlich kam es zu einer Verringerung des jüdischen Studentenanteils, nicht durch Quoten, sondern über die Förderung der Angehörigen der Titularnationen. Typisch war in den Schriften gegen den Antisemitismus der Verweis auf die sich „normalisierende“ Berufsstruktur der Juden, die nun keine Händler mehr seien, sondern zunehmend Arbeiter und Bauern. Um letzteres zu beweisen, wurde auf die Agrarkolonien für arbeitslose Juden verwiesen, die auch mit Spendengeldern aus den USA finanziert wurden. Dass dies aber auch Bauernhöfe auf der Krim einschloss, gab der Klage über die Privilegierung der Juden Nahrung. Nicht zuletzt deshalb wurden Pläne für ein autonomes jüdisches Gebiet auf der attraktiven Krim verworfen, stattdessen wurde ab 1928 als Gebiet für eine jüdische Besiedelung auf freiwilliger Basis Birobidschan an der chinesischen Grenze ausgewählt (vgl. Karte 3). 1928 wurde die Propaganda gegen den Antisemitismus durch Beschlüsse der Agitpropabteilung des ZK forciert und Judenfeindschaft nur noch als gezieltes Mittel der Konterrevolution gedeutet: Klassenfeinde hetzten unaufgeklärte Arbeiter auf „jüdische Werktätige” – nicht etwa auf Juden an sich. Um diese Deutung zu propagieren, wurden Schauprozesse organisiert, Broschüren gedruckt, Anweisungen für Schule und Komsomol herausgegeben. Angesichts der Wellen, die das Thema schlug, kamen von der Parteispitze wenige Äußerungen dazu. Stalin verurteilte in einem kurzen Beitrag auf dem 15. Parteitag 1927 den Antisemitismus kategorisch. Nach 1931 ebbte die Publizistik dazu ab, nur sporadisch kam es in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre zu offiziellen Verurteilungen der Judenfeindschaft, wobei diese dann auch als Teil der antifaschistischen Volksfrontpolitik ab 1935 außenpolitisch motiviert waren. Ein Zitat Stalins, der in einem Interview 1931 den Rassenantisemitismus als „Kannibalismus“ qualifiziert hatte, wurde in der Sowjetpresse erst 1936 im Zuge von Anklagen gegen Deutschland publiziert. 1935 bis 1939 wurde der NS-Antisemitismus angegriffen, vor allem in literarischen Texten und Spielfilmen. Viele Beobachter meinten in den stalinistischen Säuberungen der dreißiger Jahre ein antijüdisches Moment zu erkennen. Dies hatte Vorläufer in der Zeit der Auseinandersetzung Stalins mit der innerparteilichen Opposition und mit Trotzki in den zwanziger Jahren. Jener warf Stalin vor, zur „Waffe des Antisemitismus“ gegriffen zu haben. Dafür, dass antisemitische Ausfälle gegen die Opposition von oben angeordnet waren, hatte jedoch weder Trotzki stichhaltige Belege, noch wurden später solche gefunden. Zwischen den Zeilen war in Stalins Konzept vom „Sozialismus in einem Land“ eine Abkehr vom landläufig als „jüdisch“ interpretierten Internationalismus herauszulesen. Ähnlich ließen
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sich die Schauprozesse der dreißiger Jahre deuten. Der hohe Anteil von Juden auf der Anklagebank fiel ins Auge, wobei die Beschuldigten nicht als „Juden“, sondern – in assoziativer Nähe zum antisemitischen Vokabular – stets (unabhängig von ihrer Herkunft) als „Judas“ und „Verkäufer des Vaterlandes“ bezeichnet wurden. Der ab 1934 propagierte Sowjetpatriotismus hatte zunächst keine ethnische Akzentuierung, doch verschob sich der Schwerpunkt vor allem durch die Neubewertung der Geschichte des Landes in Richtung einer russisch-nationalen Staatsideologie. Die jüdische Nationalität wurde dabei nicht stärker als andere den Russen – als den „Ersten unter Gleichen” – untergeordnet. Im Zuge der Russifizierung des Bildungswesens wurden viele jüdische Institutionen geschlossen und das jiddischsprachige Kulturleben eingeschränkt. Die ehemaligen Bundisten aus der Redaktion der 1937 geschlossenen jiddischen Tageszeitung „Emes“ oder in der Administration des 1934 offiziell gegründeten Jüdischen Autonomen Gebiets Birobidschan waren prädestiniert, als „Konterrevolutionäre“ angeklagt zu werden. Diese Verfolgungen waren nicht antisemitisch motiviert, eine ähnliche Kadervernichtung geschah mit Angehörigen anderer Minderheitsnationalitäten auch. Dies betrifft mit Einschränkungen den Terrorapparat selbst: Im NKWD-Führungskader sank der Anteil der Juden zwischen 1934 und 1939 von 38 Prozent auf unter vier Prozent, wobei zumindest auf unterer Ebene die Reduktion des jüdischen Anteils Absicht und nicht nur Nebeneffekt war. Als im Mai 1939 Maxim Litwinow (er war jüdischer Herkunft) als Kommissar für Auswärtige Angelegenheiten durch Wjatscheslaw Molotow ersetzt wurde, erhielt dieser von Stalin den Auftrag, den Anteil der Juden im Außenministerium zu reduzieren. Von den brutalen Deportationen ethnischer Minderheiten (vor allem aus grenznahen Siedlungsgebieten) am Ende der 1930er Jahre waren Juden nicht betroffen. Mit dem Einmarsch in Ostpolen sowie der Annexion der baltischen Staaten und eines Teils von Rumänien gerieten bis 1940 1,8 Millionen Juden in den sowjetischen Herrschaftsbereich. Viele von ihnen wurden (wie auch Polen oder Litauer) als Angehörige der Handelsberufe oder der Intelligenz nach Osten deportiert. Ähnliches geschah mit den jüdischen Flüchtlingen aus dem deutsch besetzten Teil Polens, gegen die ein pauschaler Spionageverdacht bestand. Obwohl sie in den Führungskadern der annektierten Gebiete keineswegs stark vertreten waren, schien die Mehrheit der Juden – als zuvor unterdrückte Minderheit – Nutznießer der Sowjetisierung zu sein. Nach dem deutschen Überfall kam es in den Gebieten, die seit 1939 von der Sowjetunion annektiert worden waren, zu Pogromen durch lokale Täter, teilweise vor dem Eintreffen der Deutschen. In der Haftbarmachung der Juden für die Verbrechen des NKWD wiederholte sich hier ein Muster aus den Pogromen des Bürgerkriegs. Hingegen zeigte sich geringe Bereitschaft zur Teilnahme an Judenmorden seitens der Bevölkerung der deutsch besetzten Gebiete, die schon vor 1939 sowjetisch waren. Daran änderte auch die Propaganda der Wehrmacht gegen den „jüdischen Bolschewismus“ wenig. Es gab 1941 keine gezielte Evakuierung von Juden durch die Sowjetbehörden, doch konnten sich in der chaotischen Flucht ins sowjetische Hinterland Hunderttausende vor dem deutschen Zugriff retten und überlebten – genauso wie diejenigen, die 1939/40 von der Sowjetunion aus den annektierten Gebieten deportiert worden waren. Ca. 2,9 Millio-
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nen Juden auf dem Gebiet der Sowjetunion gerieten unter deutsche (zu einem geringen Teil auch rumänische) Herrschaft und wurden zum großen Teil ermordet. Die sowjetische Propaganda ignorierte den Holocaust weitgehend, es sollte der Eindruck vermieden werden, der Krieg werde zur Rettung der Juden geführt. 1942 fertigte die Agitprop-Abteilung des ZK Listen von jüdischen Mitarbeitern in Kulturinstitutionen an, kritisierte das mangelnde Verständnis der Juden für die russische Kultur und forderte eine „Erneuerung der Kader“ durch Russen. Dies wurde mit Entlassungen aus dem Propagandaapparat und Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen stellenweise in die Tat umgesetzt, offizielle Quoten für Juden und andere Nichtrussen gab es dabei jedoch nicht. In Verzeichnissen über die Vergabe militärischer Auszeichnungen an Angehörige unterschiedlicher Nationen verschwanden Juden trotz ihres hohen Anteils unter den „übrigen Nationalitäten“. Andererseits wurde 1942 ein Jüdisches Antifaschistisches Komitee (Jewrejski Antifaschistski Komitet, JAK) gegründet, dessen Mitglieder prominente jüdische Vertreter des sowjetischen Kulturlebens waren. Die ursprünglich als Vorsitzende vorgesehenen polnischen Bund-Führer Henryk Erlich und Wiktor Alter wurden als potentielle Spione beseitigt. Das Komitee sollte unter den Juden weltweit um Sympathie und Geld für die Sowjetunion werben, dazu wurde u.a. der Schauspieler Solomon Michoels in die USA geschickt. Das JAK bereitete ein Schwarzbuch über den deutschen Judenmord vor, das auf Berichten von Überlebenden basierte. Darunter gab es Zeugnisse für Kollaboration und Verbrechen von Ukrainern und Litauern. Das JAK hatte auch eine Zunahme antisemitischer Vorfälle gegen jüdische Flüchtlinge im sowjetischen Hinterland registriert und vergeblich Maßnahmen dagegen gefordert. All dies wurde 1945 tabuisiert und die Publikation des Schwarzbuchs wegen seines angeblich jüdisch-nationalistischen Inhalts blokkiert. Der Vorwurf des „bürgerlichen Nationalismus“, wie er gegen das Komitee schon 1944 erhoben wurde, richtete sich in der Zeit des Spätstalinismus nach dem Zweiten Weltkrieg auch gegen andere Nicht-Russen, 1947 z.B. gegen Parteikader in der Ukraine, denen – ohne Kampagne im Stil der zwanziger Jahre – Antisemitismus vorgeworfen wurde. Gegen Juden wog der Nationalismus-Vorwurf besonders schwer, da das JAK über Kontakte in die USA verfügte, die auch nach 1945 nicht völlig eingestellt wurden. Im Oktober 1947 wurde der Druck des Schwarzbuchs endgültig verboten. Die JAK-Spitze zog zusätzlichen Verdacht auf sich, als sie 1944 eine jüdische Republik auf der Krim forderte. In der Logik der Staatssicherheitsorgane verbarg sich hier der Plan der USA, einen Brückenkopf auf sowjetischem Territorium zu errichten. Stalin ließ Anfang 1948 Michoels in einem fingierten Unfall umbringen, ihn aber mit einem Staatsbegräbnis beisetzen. Außenpolitisch engagierte sich die Sowjetunion zu dieser Zeit für die Gründung und Selbstbehauptung Israels. Erst im September 1948 erfolgte der Kurswechsel, als sich Israel nicht in das gegen Großbritannien gerichtete sowjetische NahostKonzept fügte und sich gezeigt hatte, dass es unter den sowjetischen Juden große Begeisterung für den jüdischen Staat gab. Im November 1948 wurde das JAK als angebliches Spionagezentrum aufgelöst, es folgten Verhaftungen unter seinen Mitgliedern. Im Zentrum von Stalins Verschwörungsfurcht standen zunehmend Juden – genährt auch von der Vorstellung, es gebe „zionistische“ Agenten in seiner persönlichen Umge-
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bung. Der Schritt zum offen antisemitischen Vokabular erfolgte Anfang 1949, als im Zuge der seit 1946 geführten allgemeinen antiwestlichen „Antikosmopolitismus“-Kampagne nun in der Prawda gegen jüdische Theaterkritiker polemisiert wurde, die unter russischen Pseudonymen geschrieben hatten. Sie wurden als „wurzellose Kosmopoliten“ gebrandmarkt, welche die russische Seele nicht verstünden. In den Medien wurde die Kampagne im April 1949 weitgehend abgebrochen, Stalin kritisierte intern ihren antisemitischen Tonfall. Nicht gestoppt wurden die Entlassungen von Juden aus Kultur-, Wissenschafts- und Verwaltungsinstitutionen; fast alle jiddischen Kultureinrichtungen wurden aufgelöst. Die Nationalität der Entlassenen und der mehreren tausend Verhafteten war dabei nicht der offizielle Grund für die Maßnahmen, sondern „Kosmopolitismus“ (dies bei den Säuberungen in Hochschulen und Medien), vor allem aber „jüdischer Nationalismus“. Die Ermittlungen gegen die Führung des JAK zogen sich hin, Verhöre und Folter der Beschuldigten erfolgten unter heftigen antisemitischen Beschimpfungen. Während in der Tschechoslowakei unter Anleitung sowjetischer Berater ein Schauprozess gegen jüdische „Verschwörer“ vorbereitet wurde, verknüpften Ende 1950 die Sicherheitsorgane auch in der Sowjetunion die Fäden der bisherigen Ermittlungen zu einem groß angelegten Fall. Ein Verwandter des ermordeten Michoels war ein prominenter Arzt, und so wurde unter Verwendung einer Denunziation (nach einer tatsächlichen Fehldiagnose) eine Verschwörung von jüdischen Kremlärzten und der inhaftierten JAKFührung konstruiert. In diese Richtung wurde unter direkter Einwirkung Stalins auch ermittelt, um den Apparat von angeblichen Verrätern zu säubern – einschließlich des mit den antijüdischen Maßnahmen betrauten Sicherheitsministers Wiktor Abakumow. Zugleich wurde die alte Garde der Parteiführung kompromittiert: Etliche Personen um Stalin hatten jüdische Ehepartner, damit bot der JAK-Fall Anlass zur Überprüfung des innersten Kreises der potenziellen Konkurrenten Stalins. So wurde Molotows jüdische Frau, deren Bruder in den USA lebte, verhaftet. Letztlich stand jeder Jude im Verdacht, mit den USA zu sympathisieren und deshalb für den Westen irgendwann als Agent tätig zu werden. Die Aburteilung und Hinrichtung der JAK-Spitze – darunter alle wichtigen jiddischen Schriftsteller des Landes – erfolgte im August 1952 ohne publizistische Kampagne. Nach dem offen antisemitischen Prozess gegen den KP-Generalsekretär Rudolf Slánský im November 1952 in Prag wurde im Januar 1953 die Verschwörung der „Mörderärzte“ – fast alle mit jüdischen Namen und angeblich im Auftrag der amerikanischen jüdischen Hilfsorganisation Joint agierend – in den sowjetischen Zeitungen enthüllt. Gerüchten in der Bevölkerung zufolge sollten die Ärzte öffentlich hingerichtet und alle Juden als Schutz vor der aufgebrachten Masse nach Birobidschan deportiert werden. Für solche Pläne gibt es jedoch keine dokumentarischen Beweise. Kurz vor Stalins Tod im März 1953 verstummte die Pressekampagne gegen das „Ärztekomplott“, sofort danach wurden die Verhöre abgebrochen, und es kam zu keinen konkreten Aktionen mehr. Die Beschuldigten und viele Opfer der Verfolgungen zuvor wurden rehabilitiert. Die antijüdische Politik unter Stalin gleicht weitgehend den Repressionen, denen auch andere Bevölkerungsgruppen ausgesetzt waren. Das Antisemitische des Spätstalinismus lag weniger in der Vernichtungskampagne als in ihrer propagandistischen Begleitung, die Juden als illoyal und konspirativ darstellte, wie dies mit keiner anderen Ethnie ge-
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schehen war (die heftigere antideutsche Propaganda war auf den Kriegskontext beschränkt gewesen). Die Lockerung des totalitären Drucks auf die Gesellschaft nach Stalins Tod unter Beibehalten der Stigmatisierung der Juden verschärfte den Antisemitismus im Sinne einer wenig verhüllten, wenn auch niemals völlig legalisierten staatlichen Ideologie. Dies gilt vor allem für die Zeit nach der Absetzung der verbliebenen Vertrauten Stalins 1957 durch Nikita Chruschtschow, der mehrfach antijüdische Vorurteile erkennen ließ. Deutlich wurde diese Tendenz bei den Verfahren gegen „Spekulanten“, die Ende der fünfziger Jahre geführt wurden. Sie richteten sich in auffälliger Weise gegen jüdische Täter, es gab immer wieder Hinweise auf Synagogen als Schauplatz krimineller Handlungen, häufig waren angeblich israelische Staatsbürger involviert. Antisemitismus von „unten“ wurde erkennbar bei Anschlägen auf Synagogen 1959 und 1961, doch war er – von solch drastischen Fällen abgesehen – ein Tabuthema, genauso wie der Holocaust. Beide Tabus brach 1961 der Lyriker Jewgeni Jewtuschenko in einem Gedicht über den deutschen Judenmord in Babij Jar. Dieses klagte sowohl den Fortbestand des Antisemitismus (dies nicht explizit in der Sowjetunion) als auch das Fehlen eines Mahnmals am Ort des Verbrechens an. Der öffentlich vorgetragene Text erschütterte das sowjetische Kulturleben und brachte dem Dichter herbe Kritik ein. Danach war der Holocaust ein seltenes Thema in der Belletristik. Größere kulturelle Freiräume vor allem in der ersten Hälfte der sechziger Jahre ließen auch zu, dass in Staatsverlagen literarische Werke antisemitischen Inhalts erschienen, in denen Juden als Verräter, Spekulanten oder auch Trotzkisten gezeichnet wurden. Zugleich verschärfte sich die Propaganda gegen die jüdische Religion, die 1964 in dem ukrainischen Buch von Trofim Kitschko „Ungeschminkter Judaismus“ ihren Höhepunkt fand, wobei das „reaktionäre Wesen“ des Judentums – unter Berufung auf Karl Marx – attackiert wurde. Typisch für diese Kampagne waren Karikaturen voller antisemitischer Klischees. Diese Bildsprache kennzeichnete auch die antizionistische Propaganda vor allem ab 1967. Zionismus wurde in Büchern von Spezialisten für dieses Thema wie Juri Iwanow, Jewgeni Jewsejew oder Wladimir Begun als Weltherrschaftsstreben dargestellt, teils als Werkzeug, teils als Triebkraft des US-Imperialismus. Stellenweise wurde der vorrevolutionäre russische Antisemitismus als berechtigte Auflehnung gegen jüdische Ausbeuter gedeutet. Die Kampagne zeigte, wie sehr antisemitische Ressentiments in den Staatsapparat vorgedrungen waren, sie war aber auch instrumental als Stärkung des antiimperialistischen Profils gegen die USA gedacht. Dessen Verbündetem Israel wurde die Nachahmung der Politik Hitlers vorgeworfen, mit dem schon die Zionisten während des Krieges kooperiert hätten. Dies hatte Vorläufer in der antireligiösen Propaganda seit den zwanziger Jahren, als Rabbinern, Zionisten und jüdischen Bourgeois Zusammenarbeit mit Pogromtätern oder Faschisten vorgeworfen wurde. In der Breshnew-Ära machte das gleichzeitige Verschweigen des Holocaust diesen Aspekt der Kampagne besonders infam. Diese war aber auch ein Versuch, die sowjetischen Juden gegen den Zionismus und den Westen einzunehmen, denn durch die steigende Zahl von Ausreiseanträgen drohte der Sowjetunion eine wichtige Fachkräfteressource verloren zu gehen.
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Immer noch spielten Juden in der wissenschaftlich-technischen Intelligenz und im Kulturbereich des Landes eine herausragende Rolle. Ihre Überrepräsentation in der Parteimitgliedschaft war jedoch weitgehend zurückgegangen, kaum mehr vertreten waren sie in den höchsten Machtorganen. In Schlüsseleinrichtungen der Staatssicherheit, der Armee und der Ökonomie gab es informelle Zugangsbeschränkungen. Der Eintrag der Nationalität im Pass wurde zunehmend zu einem Stigma, das Karrieren unmöglich machen konnte. Seit 1938 basierte dieser für alle Sowjetbürger obligatorische Eintrag nicht auf der Selbstzuordnung des Passinhabers, sondern auf dessen dokumentierter Herkunft und errichtete ein unüberwindbares Hindernis für die zugleich geforderte Assimilation. Innerhalb des Propagandaapparats gab es teilweise Kritik an den Auswüchsen und kontraproduktiven Effekten des staatlichen Antizionismus. 1983 wurde ein antizionistisches Komitee gegründet, dem jüdische Mitglieder angehörten und das bis 1987 die Propaganda gegen Israel forcierte. Bis zum Beginn der Perestrojka wurden ausreisewillige Juden („Refuseniks“) mit Repressalien belegt. Dagegen war eine jüdische Dissidentenbewegung entstanden, die sich am Kampf um die Menschenrechte beteiligte. Es gab jedoch auch einen nationalistischen Zweig unter den Dissidenten, in dessen SamisdatSchriften die Juden als die eigentlich Schuldigen an der Katastrophe der sowjetischen Diktatur angegriffen wurden. Antisemitismus war in der Glasnost-Ära eines der letzten Tabuthemen, erst 1990 wurde in der „Prawda“ konzediert, die antizionistische Propaganda habe Thesen von „faschistischer Herkunft“ verbreitet. Die aggressive antizionistische Ideologie wurde in der Endphase der Sowjetunion von rechtsradikalen Gruppen (am bekanntesten „Pamjat“) übernommen und mit den Parolen des sowjetischen Alltagsantisemitismus von der „jüdischen Vorherrschaft“ und den Thesen nationalistischer Dissidenten zu einer Ideologie verschmolzen, die Grundlage der postsowjetischen Judenfeindschaft wurde. Mit zunehmender Entfernung vom Kommunismus verblasst dabei das negative Klischee vom „jüdischen Bolschewismus“, und die antijüdischen Bestrebungen der sowjetischen Diktatur werden in der antisemitischen Wahrnehmung zum positiven Beispiel einer gegen „Fremde“ und den Westen gerichteten Politik.
Matthias Vetter
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Spanien Das Westgotenreich beherrschte vom fünften Jahrhundert bis zur arabischen Invasion (711) den größten Teil der Iberischen Halbinsel. Seine Politik gegenüber den Juden stellte ein Vorkapitel in der Geschichte der mittelalterlichen Verfolgungen dar. Anfänglich behielten die Juden ihre Rechtsstellung. Nach dem Übertritt König Rekkareds zum Katholizismus im Jahre 589 (die westgotische Minderheit war arianisch gewesen) verstärkten Könige und kirchliche Konzilien ihre diskriminierenden Maßnahmen, bis König Sisebut die Zwangskonversion der Juden anordnete (616). Ein vermeintlich massiver Kryptojudaismus führte zur Anwendung der Maßnahmen gegen die „conversos“ (Konvertiten), bis König Egica und das XVII. Konzil von Toledo im Jahr 695 die Juden und Konvertierten zu Sklaven machten und die Auflösung ihrer Familien anordneten. Wegen der schwachen königlichen Kontrolle über die lokalen Autoritäten und des ständigen Streits unter den Adelsparteien blieben diese Maßnahmen größtenteils unwirksam. Als die Araber mit der Eroberung des Reiches begannen, empfingen die Juden diese fast als Befreier. Die Notwendigkeit, die dem maurischen Spanien zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert entrissenen Gebiete wieder zu bevölkern, führte die christlichen Könige der Halbinsel dazu, den jüdischen Gemeinden den Status von Schutzbefohlenen zu gewähren. Dieser sicherte ihnen umfangreiche Rechte, einschließlich des Rechts einer weitgehenden Selbstverwaltung. Religiöse Toleranz wurde auch gegenüber den muslimischen Mudejaren (Bezeichnung der Muslime unter der christlichen Herrschaft) geübt. Das Zusammenleben von Christen, Mudejaren und Juden setzte die Aufgabe des Bekehrungseifers von Seiten der christlichen Mehrheit voraus, womit der Glaube fortan mit der genealogischen Abstammung in Verbindung gebracht wurde. Die verschiedenen Pogromwellen, die die Judenviertel in vielen Königreichen während des 13. Jahrhunderts verwüsteten, gipfelten in jener, die 1391 in Sevilla ihren Ausgang nahm und sich über nahezu die gesamte Halbinsel erstreckte. In ihrer Folge starben nicht nur viele tausend Juden, sondern viele weitere wechselten die Religion, um dem Tod zu entkommen. Die zunehmend diskriminierenden Bestimmungen, begleitet von einschüchternden Evangelisierungskampagnen, zwangen noch mehr Juden zur Taufe. Derart entstand in den spanischen Königreichen eine bedeutende Minderheit von „conversos“ (Konvertiten) oder so genannten Neuchristen. Angetrieben wurde die Verfolgung der Juden durch die jahrhundertealte christliche Theologie gegen das „gottesmörderische Volk“, jedoch auch durch die Ablehnung der Juden, die trotz ihres niederen sozialen Status Reichtum und Macht unter königlichem
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Schutz erlangt hatten. Leicht arteten die Aufstände gegen den Monarchen in Verfolgung seiner Schützlinge aus. Bei den antijüdischen Predigten des 14. und 15. Jahrhunderts tat sich der niedere Klerus hervor (etwa Ferrán Martínez, Erzdiakon von Écija, Anstifter des großen Pogroms von 1391), aber auch mehrere zum Christentum übergetretene Rabbiner. Neben „Gottesmord“ richteten sich wesentliche Anschuldigungen gegen ihre „Verbindung mit dem Teufel“, die „Ausbeutung der Christen“ durch Wucher, die Entweihung von Hostien und Kruzifixen und gegen den rituellen Opfermord an christlichen Kindern; ein Vorwurf, der wiederholt in Sepúlveda und La Guardia erhoben wurde. Der auf die Juden ausgeübte Druck zur Taufe ließ ab 1416 nach. In den folgenden Jahrzehnten konnten die Judenviertel einen Teil ihres alten Wohlstands wiedererlangen. Frei von rechtlichen Behinderungen trieb die zahlenmäßig starke Gruppe der Neuchristen ihren gesellschaftlichen Aufstieg im Handel voran, in den Gemeindeorganen, am königlichen Hof und selbst in der Kirche. Nicht wenige erlangten Adelsränge. Die bürgerlichen Schichten empfanden indes diesen Aufstieg der „advenedizos“ (Emporkömmlinge) als bedrohliche Konkurrenz und neuer Hass kam auf, der abermals in Gewaltzyklen mündete. Den Neuchristen warf man vor, insgeheim dem jüdischen Glauben anzuhängen, d.h. unaufrichtig konvertiert zu sein. Zweifelsohne hielten viele ihren alten Glauben im Verborgenen aufrecht, während andere sich schon vor ihrer Taufe skeptisch zeigten, und andere wiederum versuchten beide Glaubensbekenntnisse miteinander zu vermischen. Wie jedoch Benzion Netanyahu folgert, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Mehrheit die aufrichtige Assimilation gesucht hat, erst recht ab der zweiten und dritten Generation der Getauften. Die sogenannten Altchristen suchten nunmehr die ethnische bzw. die Kastenschranke ihrer Gruppe abermals aufzurichten, die mit der Taufe der ehemaligen Juden gefallen war. Die toledanische Revolte von 1449 begann als Protest gegen die königlichen Steuern und artete in eine gewaltsame Verfolgung der Neuchristen aus. Die siegreichen Rebellen setzten das „Urteil-Statut“ (Sentencia-Estatuto) in der Stadt durch, das allen Neuchristen den Zugang zu lokalen Ämtern versperrte. Um den Ausschluss aller „ehemaligen, gegenwärtigen und zukünftigen Konvertierten“ zu rechtfertigen, berief sich das Statut auf ihre Zugehörigkeit zum „perversen Geschlecht der Juden“, dessen Sittenverfall nicht mit dem Taufwasser rückgängig gemacht werden könne. Ferner erläuterte das Dokument, dass sich die Konvertierten nicht taufen ließen um der Verfolgung zu entgehen, sondern mit der Absicht, die Altchristen zu ruinieren und zugrunde zu richten. Auf diese Weise entstand die Theorie der jüdischen Verschwörung. Viele Neuchristen, aber auch nicht wenige Altchristen wandten sich an Rom und erreichten, dass Papst Nikolaus V. die neue biologische Glaubensdoktrin verurteilte, die mit dem Dogma von der reinigenden Kraft der Taufe in Widerspruch stand. In Werken des Mönches Alonso de Espina wurden die Ideen der toledanischen Rebellen jedoch leidenschaftlich verteidigt, während die gegen die Neuchristen gerichtete Gewalt weiterhin wuchs. Im Jahre 1496 anerkannte Papst Alexander VI. ein „Statut zur Reinheit des Blutes“ für den Orden der Hieronymiten, ein Umstand der den Ausschluss- und Diskriminierungsprozess der Neuchristen verlängerte bis zu dessen endgültigem Triumph 1556, als das Statut des Domkapitels des Erzbischofssitzes Toledo verabschiedet wurde. Die Katholischen Könige, die die Bürgerkriege in ihren Reichen beendet hatten, unterstütz-
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ten noch vor diesen Ereignissen die antijüdische Sache und riefen 1480 das Inquisitionstribunal ins Leben. Dieser Institution fielen Tausende Konvertierte zum Opfer, denen vorgeworfen wurde, dem jüdischen Glauben anzuhängen. Auf Betreiben der Inquisition ordneten sie 1492 die Vertreibung der Juden an. Ähnliche Maßnahmen sollten sich Jahre später gegenüber der mudejarischen Minderheit wiederholen. Auch nach der Vertreibung der Juden lebte der Hass gegen die Neuchristen in den darauffolgenden Jahrhunderten fort. Nach wie vor war ihnen der Zugang zu den meisten Zünften, Universitäten, lokalen Ämtern, religiösen Orden und kirchlichen Institutionen versperrt. In den baskischen Territorien von Vizcaya und Guipúzcoa bestand für die Personen „unreinen Blutes“ sogar Niederlassungsverbot. In diesen Jahrhunderten nahm die antijüdische Literatur zu. Der Haupturheber des Statuts der Kathedrale von Toledo, Kardinal Silicius, warf den Neuchristen Anstiftung zur Ketzerei und Rebellion vor, so etwa zum Aufstand der Comuneros (Aufstand einiger kastilischer Städte) oder zur lutherischen Ketzerei in Deutschland und anderen Territorien Kaiser Karls V. Um seiner Position Nachdruck zu verschaffen, verfertigte er die erste Fälschung einer vermeintlichen jüdischen Weltverschwörung, die bis Ende des 19. Jahrhunderts unter den europäischen Antisemiten verbreitet wurde. Es handelt sich um einen angeblichen „Brief der Rabbiner von Konstantinopel an die Rabbiner Spaniens“ aus dem Jahr 1492, in dem jene ihren spanischen Glaubensgenossen dazu rieten, sich taufen zu lassen, um der Vertreibung zu entgehen und so die Christen ausbeuten und ruinieren zu können, sie mit Hilfe der Medizin zu vergiften und ihre Religion von den Kanzeln aus zu entweihen. Verteidigt wurden diese Thesen im 17. Jahrhundert von Francisco de Quevedo. In „La isla de los monopantos“ aus „La fortuna con seso y la hora de todos“ („Die Insel der Monopantos” aus „Die Fortuna mit Hirn oder die Stunde aller”) ersann Quevedo 1635 ein Treffen der Rabbiner Europas mit dem Günstling des Königs, Graf und Herzog von Olivares (Quevedos politischer Gegner), in der allesamt einen Plan schmiedeten, um den Katholizismus auf dem Kontinent zu beseitigen. Dieser Text bildet möglicherweise eine der Grundlagen für die „Rede des Rabbiners“ in Hermann Goedsches Roman „Biarritz“ von 1868, die zu einer Schlüsselpassage der „Protokollen der Weisen von Zion“ wurde. Die jahrhundertelange Verfolgung von Juden und Konvertierten hinterließ tiefe Spuren in der spanischen Volkskultur, die sich bis Mitte des 20. Jahrhunderts hielten und von denen einzelne Fragmente noch Zeugnis geben. Sprichwörter, Redensarten, Legenden, Osterriten und andere Bestandteile volkstümlicher Überlieferung vermittelten ein Bild des Juden als Wucherer, Heuchler, Verräter, Krimineller und als Verkörperung des „Anti-Christ“. Noch heute bezeichnet das Wort „judío“ in den spanischen Sprachen eine halsabschneiderische und unbarmherzige Person, während „judiada“ auf irgendeine „unmenschliche“, „arglistige oder unfaire Tat“ anspielt. Die stürmische liberale Revolution in Spanien, die 1810 mit den Cortes in Cádiz begann und 1830 endete, brachte die zwei Säulen des traditionellen Spaniens zum Einsturz: die Inquisition und die Statuten zur „Reinheit des Blutes“. Dessen ungeachtet ließ die volle Glaubensfreiheit bis zur „glorreichen Revolution“ von 1868 auf sich warten, wobei sie mit der bourbonischen Restauration von 1875 auf eine bloße Duldung herunter gestuft wurde. Im 19. Jahrhundert schrieben die liberalen Nationalisten die spanische Geschichte um. Dabei sahen sie die jüdischen und die zum Christentum übergetretenen
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Opfer des inquisitorischen Spaniens als volle, zu Unrecht verfolgte und vertriebene Angehörige der spanischen Nation an. Der antiliberale Katholizismus allerdings nahm bei seiner Verteidigung des alten katholischen Spaniens die überlieferten antijüdischen Topoi wieder auf. Mitte des 19. Jahrhunderts setzte die langsame Rückkehr der Juden ins Land ein. Weitere kamen während des Ersten Weltkriegs, andere im Zuge der deutschen Emigration von 1933, weitere nach der marokkanischen Unabhängigkeit 1956 und mit der argentinischen Emigration von 1976. In den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erreichte die kontinentale antisemitische Literatur auch Spanien, die unter den Gruppen der antiliberalen katholischen Rechten ein besonderes Echo fand. Zur traditionellen, im Zeichen des Antijudaismus geschriebenen spanischen Geschichte gesellte sich jetzt noch der Vorwurf der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung. Der Ausbruch des spanischen Antisemitismus begann mit der Ausrufung der demokratischen Republik von 1931. Zu diesem Zeitpunkt bricht der liberale spanische Konservativismus zusammen. Aus diesem Grund breitete sich das, was zuvor Gedankengut des integralistischen Katholizismus war, innerhalb einer zunehmend autoritären Rechten aus. In dieser ideologischen Atmosphäre erlebten die „Protokolle der Weisen von Zion“ zwischen 1932 und 1936 ein Dutzend Auflagen. Katholiken, Monarchisten, Karlisten und in weit geringerem Maße die faschistische Falange verbreiteten das Bild einer dunklen jüdisch-freimaurerischen Macht, die sich mit dem Beginn der Republik auch Spaniens bemächtigt habe und das Land in eine kommunistische Tyrannei führen würde. Das nationalsozialistische Deutschland finanzierte von 1933 an die antisemitische Propaganda bestimmter Intellektueller und Presseorgane, wie die der Madrider Zeitung „Informaciones“. Der Militäraufstand, der 1936 zum Spanischen Bürgerkrieg führte, wurde als Präventivschlag gegen eine unmittelbar bevorstehende, von der jüdisch-freimaurerischen Macht organisierte kommunistische Revolution gerechtfertigt. Der Kampf gegen den vermeintlich mit Freimaurerei und Kommunismus verbundenen Judaismus wurde zum zentralen Element der Propaganda der antirepublikanischen Seite, innerhalb derer sich nun die Falange hervortat, von Diktator Franco ab 1937 enorm gestärkt und zur Einheitspartei umgewandelt. Diese Propaganda hatte vor allem eine ideologische Funktion: In der jüdischen Verschwörung wurden die heterogenen Fraktionen der Gegenseite amalgamiert (Republikaner, Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten, katalanische und baskische Nationalisten), sämtlich geleitet von einer verborgenen Macht zur Errichtung des Kommunismus. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs und der Niederlage der Achsenmächte wurde die antijüdische Propaganda, von der deutschen zusätzlich angetrieben, intensiv gepflegt. Die antisemitische Propaganda erfüllte die ideologische und legitimatorische Funktion der Verfolgung der realen Feinde, die auf der republikanischen Seite kämpften. Die jüdische Minderheit jedoch wurde davon nicht sehr beeinträchtigt. Zu Beginn der Auseinandersetzung hatten die Juden von Ceuta, Melilla und des marokkanischen Protektorats Belästigungen, teilweise Prügel, sowie Festnahmen zu erleiden und mussten beträchtliche „Spenden“ für die Sache der Aufständischen leisten. Einige Juden wurden
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hingerichtet oder ermordet, wieder andere wurden ins Gefängnis geworfen, fast alle von ihnen waren militante Republikaner oder Linke. Die Synagogen in diesen Territorien blieben geöffnet. Nicht so auf der Halbinsel, wo diejenigen von Sevilla, Madrid und Barcelona geschlossen wurden. Hier wurden die wenigen hundert oder tausend verbliebenen Juden einer besonderen Überwachung unterstellt. Zu ihrer Kontrolle wurde ein Judenarchiv angelegt. Ohne unter offener Verfolgung zu leiden, entkamen viele Juden der feindseligen Atmosphäre über die Taufe. Ab Juni 1940 musste sich die Franco-Regierung mit dem Problem derjenigen Juden in Europa auseinandersetzen, die vor der nationalsozialistischen Verfolgung flüchten wollten. Viele durften das Land durchqueren, um – normalerweise über Portugal – zu anderen Zielländern zu gelangen. Die an die Konsulate ausgegebenen Anweisungen versuchten indes die Erteilung von Durchreisevisa zu erschweren. Viele flohen nun heimlich über die Pyrenäen. Für gewöhnlich wurden sie in Gefängnisse eingesperrt oder ins Konzentrationslager von Miranda de Ebro gebracht, bis sich die Regierungen der Alliierten oder die Hilfsorganisationen ihrer annahmen und sie evakuierten. In hunderten oder tausenden von Fällen wurden die Flüchtlinge nach Frankreich zurückgeschickt. Im Januar 1943 forderte Deutschland die Regierung in Madrid auf, 4.500 Juden, die im Besitz eines spanischen Passes waren, nach Spanien zu evakuieren, sollte sie dies nicht tun, würden sie, bis zum Ende des Krieges, nach Osten deportiert. Franco und seine Regierung erhielten zuverlässige Information darüber, dass der Tod ihre eigentliche Bestimmung sei. Dennoch entschied der Diktator, dass versucht werde, die Deportation nach Polen zu verhindern, die spanischen Juden jedoch in Anbetracht ihrer Gefährlichkeit unter keinen Umständen in Spanien bleiben dürften. Nur wenn eine Gruppe Heimkehrer zu anderen Bestimmungsorten aufbrach, durfte die nächste aufgenommen werden. Schließlich erreichte man, dass die Amerikaner mehrere dieser spanischen Juden in einem Lager in Casablanca aufnahmen. Rund 1.000 retteten sich nach unzähligen Verzögerungen. Ab 1945 löschte die offizielle franquistische Propaganda den Antisemitismus aus ihrem Repertoire, ohne dass dieser deshalb verschwunden wäre. Andererseits lehrten die Geschichts- und Religionsschulbücher weiterhin die traditionellen mittelalterlichen Geschichten über halsabschneiderische Juden, rituelle Schändungen und Kindermord, während die Politik der Katholischen Könige gegenüber diesen „inneren Feinden“ weiterhin gerechtfertigt wurde. Ab 1945 unterlagen die Bilder des Holocaust der Zensur, und wenn von NS-Verbrechen die Rede war, geschah dies immer – wie etwa in Zusammenhang mit den Nürnberger Prozessen –, um sie mit der vermeintlich exzessiven Rache der Nachkriegszeit zu vergleichen. Das Erstarken der Opposition gegen das Regime im Innern und die Veränderungen in der Kirche mit dem II. Vatikanischen Konzil (Juden wurden nicht mehr als Gottesmörder angesehen) lösten ab den 1960er Jahren wieder eine Reaktion bei der extremen Rechten aus (Falangisten, katholischen Integralisten und sogar bei Neonazis), die wiederum in der jüdischen Weltverschwörung eine Erklärung für die neuen Bedrohungen fand, die über dem Regime schwebten. Mit dem Übergang zur Demokratie ab 1976 verbreitete sich die apokalyptische Propaganda dieser rechtsextremen Minderheit nur noch mehr. Die Konsolidierung der demo-
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kratischen Ordnung nach dem Scheitern des Militärputsches von 1981 und der Wahlsieg der Sozialisten (1982) schwächten die extreme spanische Rechte und ihre antisemitische Propaganda. Trotzdem ist diese weit davon entfernt verschwunden zu sein, wie es die abermaligen Auflagen der „Protokolle der Weisen von Zion“ bezeugen. Der arabisch-israelische Konflikt hat ab 1967 unterschiedlichen Einfluss auf das in Spanien gepflegte Bild der Juden gehabt. Einerseits benutzt der rechtsextreme Antisemitismus den Konflikt, um den Staat Israel zu verteufeln. Doch seit jenem Datum ist auch eine starke linke antizionistische Bewegung entstanden, die sich deutlich der arabischen Seite angeschlossen hat. Anfänglich warf diese Bewegung Israel vor, sich dem amerikanischen Imperialismus unterzuordnen. Seit den 1980er Jahren jedoch hat die Mehrheit derer, die dieser Strömung anhängen, ihre Haltung gemäßigt und plädiert für die Koexistenz zweier Staaten, einem israelischen und einem palästinensischen; sie folgt dabei den Resolutionen der Vereinten Nationen. Andererseits lässt die periodische Verschärfung des Konflikts in breiten Schichten der spanischen Gesellschaft das stereotype negative Bild des Juden wieder aufleben, ausgehend von der Verallgemeinerung, die darin besteht, „den Juden“ auf undifferenzierte Weise die Besatzungs- und Kolonisationspolitik der israelischen Regierungen zuzuschieben.
Gonzalo Álvarez Chillida Übersetzt aus dem Spanischen von Hans Huber Abendroth
Literatur Gonzalo Álvarez Chillida, El antisemitismo en España. La imagen del judío (1812-2002), Madrid 2002. Yitzhak Baer, A History of the Jews in Christian Spain, vol. 1-2, Philadelphia 1961. Julio Caro Baroja, Los judíos en la España moderna y contemporánea, vol. 1-3, Madrid 1986. José María Monsalvo Antón, Teoría y evolución de un conflicto social. El antisemitismo en la Corona de Castilla en la Baja Edad Media, Madrid 1985. Benzion Netanyahu, The Origins of the Inquisition in Fifteenth Century Spain, New York 1995. Bernd Rother, Spanien und der Holocaust, Tübingen 2001. Pere Joan i Tous, Heike Nottebaum (Hrsg.), El olivo y la espada. Estudios sobre el antisemitismo en España (siglos XVI-XX), Tübingen 2003.
Südafrika Vor den 1930er Jahren beschränkte sich der Antisemitismus in Südafrika auf die Zuschreibung negativer kultureller und literarischer Stereotype: Jüdische Verschlagenheit, finanzielle Machenschaften (versinnbildlicht durch Hoggenheimer, eine geschmacklose Karikatur), „Drückebergerei“ vor dem Kriegsdienst, „bolschewistische“ Subversion und „Nicht-Assimilierbarkeit“. Hintergrund dieser Zuschreibungen war der Zustrom von ca. 40.000 osteuropäischen Juden, die zwischen 1884 und 1914 vorwiegend aus Litauen
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eingereist sind. Forderungen nach einer Einschränkung dieses Zuzugs gipfelten im Zuwanderungsgesetz von 1930 (Quota Act). Dieses Gesetz, das vom gesamten „weißen“ politischen Spektrum gebilligt wurde (schwarze Stimmen waren allgemein mit der Unterdrückung durch die Weißen und weniger mit „innerweißen“ Angelegenheiten befasst), war dem Einwanderungsgesetz der USA nachempfunden und schloss die Einwanderung aus Osteuropa praktisch aus. Es leitete denjenigen Prozess ein, den der Historiker Todd Endelman für den europäischen Kontext als die Transformation des „privaten“ in den „öffentlichen“ oder „programmatischen“ Antisemitismus bezeichnet: Die Verlagerung des „Ausdrucks von Verachtung und Diskriminierung außerhalb des öffentlichen Lebens“ zu einem „Ausbruch von Antisemitismus im politischen Leben“. Anfangs war diese Transformation in der Gründung der „South African Gentile National Socialist Movement“ im Oktober 1933 offensichtlich. Die Bewegung, in der Folgezeit als „Greyshirts“ (Grauhemden) bekannt, wurde von Louis T. Weichardt angeführt. In ihrer Hochphase hatten die „Greyshirts“ 2.000 Mitglieder und ihr Erfolg regte die Entstehung ähnlicher ultra-rechter Organisationen im ganzen Land an. Obwohl diese Organisationen nationalsozialistische Symbole übernahmen und von einem deutsch-völkischen Diskurs beeinflusst waren, hatte ihre verbreitete Botschaft jedoch einen südafrikanischen Bezug: Die Juden hätten den Burenkrieg angezettelt, sie hätten die schwarze gegen die weiße Bevölkerung aufgewiegelt, sie kontrollierten die Presse, dominierten die Wirtschaft und beuteten die Afrikaaner (Afrikaans sprechende Weiße) aus. Diese Anschuldigungen fanden auch über die Kreise der radikalen Rechten hinaus Widerhall. Für die „armen Weißen“, die mit den Folgen von Dürreperiode und Wirtschaftskrise zu kämpfen hatten, stellten die Juden den idealen Sündenbock dar. Anti-jüdische Vorstellungen fanden schnell Eingang in die nationalistischen Hauptströmungen der Afrikaaner und wurden von einer Gruppe Intellektueller gefördert, von denen einige in Deutschland studiert hatten, wo sie eine Vorliebe für die Idee des Ständestaats, ein idealistisches Weltbild und Verständnis für den völkischen Nationalismus entwickelt hatten. Die Feindseligkeit wurde durch den Zustrom jüdischer Flüchtlinge verstärkt, die kurz vor Hitlers Machterhalt aus Deutschland flohen, einem Land, das vom Einwanderungsgesetz (Quota Act) nicht betroffen war. Die Zunahme der anti-jüdischen Stimmung, die sich insbesondere in Forderungen nach Maßnahmen und Drohungen gegen die bestehende jüdische Gemeinde offenbarten, veranlassten die regierende „United Party“, strengere Einwanderungsbestimmungen einzuführen, insbesondere das Bildungsniveau und den ökonomischen Status der Einwanderer betreffend. Diese sollten zum 1. November 1936 in Kraft treten und riefen einen zwischenzeitlichen Anstieg der deutsch-jüdischen Einwanderung hervor. Gegen Ende Oktober gab es in gut besuchten Versammlungen, die von einer Gruppe Professoren der Stellenbosch-Universität organisiert wurden, Proteste gegen die Ankunft der „Stuttgart“ mit 537 jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland an Bord. In einer augenscheinlichen Reaktion auf den zunehmenden Antisemitismus und in Verbindung mit einem nicht veröffentlichten Gesetzentwurf zur Beschränkung der jüdischen Zuwanderung, der vom Vorsitzenden der oppositionellen „National Party“, Dr. D. F. Malan, eingebracht wurde, verabschiedete die regierende „United Party“ das Fremdengesetz von 1937 (Aliens Act), das eine deutsch-jüdische Masseneinwanderung ver-
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hinderte. Ohne dass Juden als solche genannt wurden, sollte ein Auswahlkomitee die Einreise nur jenen Einwanderern gestatten, die einen guten Charakter und Assimilationsbereitschaft an die europäische Bevölkerung aufwiesen. Während 3.615 deutsche Juden zwischen 1933 und 1936 nach Südafrika eingereist sind, waren es zwischen 1937 und 1940 weniger als 1.900. Das neue Gesetz konnte die Nationalisten nicht befrieden, denn für sie war jede jüdische Einwanderung unannehmbar. Die „jüdische Frage“ wurde nun zu einem Grundpfeiler ihres politischen Programms. Malan, der sich durch die ultra-rechten „Greyshirts“ unter Druck gesetzt sah, gab zunehmend den Juden die Schuld an den politischen Misserfolgen der Afrikaaner. Das Sprachrohr seiner Partei, „Die Transvaaler“ von Dr. Hendrik Verwoerd herausgegeben, stellte die Speerspitze der anti-jüdischen Agitation dar und wetterte in Leitartikeln gegen die angebliche jüdische Vorherrschaft im Geschäftsleben, gegen die „Unassimilierbarkeit“ der Juden, gegen die jüdische Distanzierung von den Afrikaanern, gegen die angeblich fragwürdige jüdische Geschäftsmoral und die vermeintlich mit jüdischem Geld beeinflusste englischsprachige Presse. Die „jüdische Frage“ hatte eindeutig aufgehört, ausschließlich ein Thema von Randgruppen zu sein. Sie war nun fest in die weiße Mainstreampolitik eingebettet. Der Antisemitismus bekam einen neuen Auftrieb nach der sehr knappen Entscheidung des Südafrikanischen Parlamentes für die Unterstützung der Kriegserklärung des Commonwealth an Deutschland 1939. Eine starke Anti-Kriegsbewegung wurde von der paramilitärischen Bewegung „Ossewabrandwag“ (Ochsenwagenwache) und der „New Order“ organisiert, in der faschistische Anklänge und somit antisemitische Rhetorik stark waren. Eine Reihe bedeutender Veröffentlichungen der „Nationalen Partei“, die Anfang der 1940er Jahre erschienen sind, verdeutlichten den prägenden Einfluss von Mussolini und Hitler auf den ausgrenzenden Charakter des Afrikaaner-Nationalismus, in dem Juden unerwünscht waren. Der Kampf gegen Hitler höhlte jedoch die sympathisierende Rezeption nationalsozialistischen Gedankenguts aus. Bereits 1942 lehnten führende Mitglieder der „Nationalen Partei“ einhellig den Nationalsozialismus als einen Fremdimport nach Südafrika ab. Trotzdem konstatierte eine Untersuchung zum Antisemitismus aus dem Jahr 1944 weitverbreitete Feindseligkeit gegenüber Juden. Nach 1945 ging der Antisemitismus stark zurück, obwohl der Premierminister Jan Smuts eine jüdische Masseneinwanderung ablehnte. Die „Greyshirts“ und die „New Order“ lösten sich auf und 1951 hob die föderalistisch strukturierte „Nationale Partei Transvaal“ die Mitgliedschaftssperre für Juden auf. Die zunehmende Versöhnung zwischen Juden und Afrikaanern wurde vom fortschreitenden ökonomischen Wachstum und der darauf folgenden raschen gesellschaftlichen Aufwärtsmobilität der Weißen begünstigt. Eine neue Afrikaaner-Bourgeoisie, die zunehmend besser ausgebildet, selbstsicherer und optimistischer als ihre Vorfahren war, begann die ökonomischen Früchte der rassistischen Ausbeutung und politischen Macht zu genießen. Sie entwickelte rasch eine Wertschätzung des Unternehmertums und des materiellen Erfolges. Ihrem Minderwertigkeitsgefühl wurde mit zunehmender Erfahrung mit Macht und gesellschaftlichem Aufstieg die Grundlage entzogen. Konkurrenzbefürchtung und Angst vor den Juden nahmen ab. Am bedeutsamsten war jedoch das Abflauen des ausgrenzenden Afrikaaner-Nationalismus. Für das Apartheid-Projekt, das die „Nationale Partei“ als putative Lösung der
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Rassenprobleme Südafrikas ansah, wurden Englischsprachige, einschließlich der Juden, dringend benötigt. Die Hautfarbe war das wesentliche Unterscheidungsmerkmal und jegliche frühere Überzeugung, wonach Juden nicht „weiß“ seien, verschwand bald. Die „Nationale Partei“ wollte das antisemitische Geschrei der 1930er und 1940er Jahre hinter sich lassen. Im Apartheid-System sollten die Juden, als Weiße, einen rechtmäßigen und willkommenen Platz einnehmen. Aber die neue Regierung lehnte Israels Unterstützung des Afrikanischen Blocks in den Vereinten Nationen in den frühen 1960er Jahren ab. Dies warf die Frage nach der doppelten Loyalität der Juden auf, die jedoch nur von kurzer Dauer war, da Südafrika und Israel in den 1970er Jahren enge Beziehungen aufbauten. Während diese Beziehungen eine wohlwollende Haltung der weißen Bevölkerung gegenüber den Juden förderten, waren antisemitische Ausbrüche, einschließlich der Holocaustleugnung, unter den weißen Rechtsextremen keine Seltenheit. Die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung fühlte sich von der Achse Pretoria-Jerusalem verraten und hegte Sympathien für die Sache der Palästinenser. Aber sie unterschied deutlich zwischen Antizionismus und Antisemitismus. Nichtsdestotrotz war sie nicht immun gegen anti-jüdische Haltungen. Dies zeigte sich bereits in den frühen 1970er Jahren in einer von Melville Edelstein unter einer Gruppe von Abiturienten in Soweto durchgeführten Erhebung: Schwarze empfanden eine größere „soziale Distanz“ zu Juden als allgemein zu Englischsprachigen, jedoch eine geringere als zu Afrikaanern. Edelstein wurde berichtet, dass ein Afrikaner, der ungern Geld ausgibt, als „geizig wie ein Jude“ beschrieben wird. Er glaubte, dass ein solches Vorurteil aus dem Unterricht des Neuen Testaments in der Schule und der Kirche herrührt. Ein weiterer Grund könnte hinzugefügt werden: Das historisch gewachsene Ressentiment der Schwarzen gegenüber jüdischen Händlern in der Stadt und auf dem Land. Welche die Gründe auch waren, es war offensichtlich, dass bestimmte feindselige Einstellungen Juden gegenüber bestanden.
Das neue Südafrika Seit der „Normalisierung“ der südafrikanischen Politik, die den ersten demokratischen Wahlen des Landes 1994 folgte, blieben antisemitische Zwischenfälle eher vereinzelt und größtenteils auf rechtsextreme und islamistische Gruppen beschränkt, wovon letztere nur einen Teil der muslimischen Gemeinschaft bilden, die als solche 800.000 oder 1,7 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Augenfällig ist, dass ein bedeutsamer Anteil dieser Gemeinschaft verschwörungstheoretische Ideen hegt. Diese Ideen treten in den Leserbriefen der Tageszeitungen zutage und werden in Radiotalkshows ausgedrückt. Viele der antizionistischen Aussagen aus diesem Bereich zeigen klassische antijüdische Motive. Oft verwandelt sich antizionistische Rhetorik und Propaganda in unverhohlenen Antisemitismus mit der Hervorhebung vermuteter jüdischer Macht, Gerissenheit und Doppelzüngigkeit. Auch die Holocaustleugnung hat sich in die Wut der Muslime eingeschlichen. Im Jahr 1996 musste sich ein muslimischer Radiosender, „Radio 786“, offiziell für die Ausstrahlung eines Interviews mit Dr. Ahmed Huber entschuldigen, in dem dieser von der „Holocaust-Lüge“ sprach. Zwei Jahre später wurde vom selben Radiosender ein Interview mit Dr. Yaqub Zaki geführt, der den Großteil seiner Redezeit darauf verwendete, über „jüdische Verschwörungen“ zu reden. Nach einem acht Jahre andauernden Rechtstreit, den
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der „Jewish Board of Deputies“ gegen den Radiosender geführt hat, hatte die Unabhängige Rundfunkbehörde im Juni 2006 den Sender für schuldig befunden, gegen seine Rundfunkstatuten verstoßen zu haben. Öffentlicher muslimischer Antizionismus tauchte in Südafrika zum ersten Mal während des Libanonkrieges 1982 auf. Das Massaker von Sabra und Shatila rief große Empörung unter den Studenten (auch den nicht-muslimischen) der Universität Witwatersrand in Johannesburg und der Universität von Kapstadt hervor. Diese Gefühle entstanden aus einer neuen Jugendpolitik in Verbindung mit einer größeren Vertrautheit mit antizionistischen Polemiken. Texte von Sayyid Qutb, Ali Shariati und Ayatollah Khomeini wurden zunehmend von der jüngeren muslimischen Generation gelesen. Ihre neu entwickelte Militanz wurde bereits in Folge der UN Resolution von 1975 offensichtlich, die Zionismus mit Rassismus gleichsetzte und als Sieg der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und als Niederlage für die Vereinigten Staaten und Israel gewertet wurde. Weiteren Antrieb gab die Iranische Revolution. Seit Ende der 1980er Jahre begannen Muslime aus den „farbigen“ Vierteln an Massendemonstrationen teilzunehmen, die sich in stärkerem Maße mit der weltweiten muslimischen Gemeinschaft (umma) identifizierten. Diese Demonstrationen waren auch Ausdruck eines starken Antizionismus, der fortwährend Parallelen zwischen dem früheren Apartheidstaat und der israelischen Unterdrückung der Palästinenser herstellte. Auf einer internationalen muslimischen Konferenz unter dem Titel „Creating a New Civilization of Islam“, die 1996 in Pretoria stattfand, bezeichneten Referenten die Juden als eine einflussreiche ökonomische Macht und die Zionisten als verantwortlich für alle Übel der Gesellschaft. Es finden regelmäßig Demonstrationen vor der israelischen Botschaft statt, die in Fahnenverbrennungen gipfeln. Manche Demonstrationen fanden zur Unterstützung der Hamas statt. Dabei spielt „Qibla“, eine radikal-muslimische Gruppe, häufig eine wichtige Rolle. Die Spannungen zwischen Muslimen und Juden wurden durch den Stillstand des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses angeheizt. Als der Bürgermeister von Kapstadt, Reverend William Bantom, zur Teilnahme an einer internationalen Bürgermeisterkonferenz 1998 in Israel eingeladen wurde, bedrängten ihn muslimische Organisationen – unterstützt durch den Provinzausschuss des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) – nicht teilzunehmen. Israelische Jubiläumsfeiern in Kapstadt wurden in jenem Monat von muslimischen Protestierenden gestört, die von „Qibla“ angeführt, Parolen wie „Ein Zionist, eine Kugel“ und „Es lebe Hizbullah und Hamas“ skandierten. In einem Briefwechsel mit der „Cape Times“ verurteilte Scheich Achmat Sedick, Generalsekretär des „Muslim Judicial Council“ (MJC), die Teilnahme Südafrikas an den Feierlichkeiten. Südafrikas Weigerung, Scheich Ahmed Yassin, dem geistlichen Oberhaupt der Hamas, ein Visum auszustellen, gab Anlass zu weiteren Protesten. In einem Telefoninterview aus Kuwait, das über Kapstadts muslimischen Radiosender ausgestrahlt wurde, brandmarkte Yassin alle Zionisten als Terroristen. „Qibla“ protestierte gegen die Regierungsentscheidung vor dem Parlamentsgebäude, und Scheich Ebrahim Gabriels von der MJC erklärte, dass Muslime „den Staat Israel nicht anerkennen, der unrechtmäßig auf palästinensischem Boden gegründet wurde“.
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Zweifellos sind Südafrikas Muslime in einer globalisierten Welt durch elektronische Medien und Internet informiert, vor allem über internationale Trends und Ereignisse und sie sind besonders mit dem Nahen Osten verbunden. Dies war sehr greifbar bei der Konferenz der Vereinten Nationen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Durban 2001. Dieser Hassexzess zeigte, wie tiefgehend die Wut auf Israel ist und wie gut organisiert seine Gegner sind. Die Beziehungen zwischen Muslimen und Juden in Südafrika haben sich seitdem nicht mehr erholt. So lange der Nahostkonflikt ungelöst bleibt, gibt es wenig Anlass zur Hoffnung. Trotz dieser Entwicklungen sollte die muslimische Gemeinschaft nicht als ein monolithischer Block behandelt werden. Verschiedenste intellektuelle Diskurse sind im Gange. Manche sind innovativ und fortschrittlich orientiert, mit Schwerpunkt auf dem islamischen Humanismus, Universalismus und interreligiöser Zusammenarbeit. Andere sind wiederum konservativ, gegenüber religiöser Vielfalt und Ökumene kritisch eingestellt. Beispielsweise beeinflussen Khomeinismus und manche radikalere Schulen islamischer Lehren sehr stark die „Qibla“ und die „Islamic Unity Convention“. Beiden Strängen gemein ist jedoch eine feindselige Zionismuskritik. In manchen Fällen unterscheidet sich diese Feindschaft vom Antisemitismus; in anderen werden Zionismus und Judaismus in eine Kombination zusammengefasst, die Vorstellungen von internationalen jüdischen Finanzen, Manipulation und Imperialismus beinhalten. Diese Entwicklungen sind sicher nicht überraschend für Südafrikas 80.000 Juden, die sich an einen weitverbreiteten Antizionismus gewöhnt haben. Während im „alten“ Südafrika – zumindest bis in die frühen 1980er Jahre hinein – das Palästina-Problem kaum Bedeutung hatte und Israel über allen Vorwürfen stand, ist die heutige Medienberichterstattung in Südafrika ausnahmslos feindlich. Inhalt der Debatten ist auch ein verbreiteter Antiamerikanismus, der besonders im Vorfeld des Irakkriegs von 2001 offensichtlich wurde, der von vielen Beobachtern als ein Krieg im Interesse Israels gewertet wurde. Die mehrheitliche schwarze Bevölkerung (einschließlich der Inder und solcher „gemischter Abstammung“, die in der südafrikanischen Umgangssprache als „Coloureds“ bezeichnet werden) war besonders feindselig. Diese Einstellungen werden gespeist durch eine Solidarität mit der Dritten Welt, in der imperialistische Tendenzen verurteilt werden und der Unterdrückte unterstützt wird. Gewissermaßen betrachten die meisten Südafrikaner die Palästinenser als vergleichbar mit den Schwarzen im alten Apartheidsystem Südafrikas. In den letzten Jahren haben Kolumnisten und Intellektuelle den Nahostkonflikt stets aus einem südafrikanischen Blickwinkel betrachtet: Israel wird als kolonialistischer Siedlerstaat gesehen, der den Palästinensern auf der West Bank einen „Bantustan“ anbietet. Die „Apartheid-Mauer“ erzeugt offensichtliche Vergleichsmuster. Es wird zunehmend argumentiert, dass, wenn Schwarze und Weiße ihre Schwierigkeiten in Südafrika beilegen konnten, dasselbe auch Israelis und Palästinensern möglich sei. Trotz all dieser Schwierigkeiten, die den Zionismus und Israel umgeben, betrachten die meisten Juden die Feindseligkeit gegenüber Israel nicht als eine Form von Antisemitismus. Genauer genommen betrachten sie den Antisemitismus nicht als ein Hauptproblem in Südafrika. In einer Umfrage, die 2005 vom Isaac und Jessie Kaplan Zentrum für Jüdische Studien und Forschung an der Universität von Kapstadt durchgeführt wurde, deuteten Juden darauf
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hin, dass Antisemitismus ein größeres Problem außerhalb Südafrikas darstelle als innerhalb. Diese Sichtweise hat durchaus ihre Berechtigung: Im demokratischen Südafrika ist der klassische „Judenhass“ relativ wenig verbreitet. Nur wenige Zwischenfälle werden gemeldet und kulturelle und religiöse Vielfalt wird hochgeschätzt. Regierungsbeamte äußern sich in öffentlichen Stellungnahmen positiv über die jüdische Gemeinde. Es könnte scheinen, dass der Oppositionsführer Tony Leon (ein Jude) Recht hatte, als er vor einigen Jahren anmerkte, dass die Situation der Juden sich unter der neuen Regierung gegenüber der alten verbessert habe. Es gibt, wie er argumentierte, kein spezifisch „jüdisches Problem“. Sicherlich haben Juden, im Vergleich zu den 1930er Jahren, wenig Grund zur Besorgnis. Aber die Verbindung von Antizionismus mit traditionell antijüdischen Topoi gibt Anlass zur Besorgnis.
Milton Shain Übersetzt aus dem Englischen von Regina Schulz
Literatur Patrick J. Furlong, Between Crown and Swastika. The Impact of the Radical Right on the Afrikaner Nationalist Movement in the Fascist Era, Middletown, Johannesburg 1991. Milton Shain, The Roots of Antisemitism in South Africa. Charlottesville, London, Johannesburg 1994. Milton Shain, „If it was so good why was it so bad?”: The Memories and Realities of Antisemitism in South Africa, Past and Present, in: Milton Shain and Richard Mendelsohn (Hrsg.), Memories Realities and Dreams: Aspects of the South African Jewish Experience, Johannesburg 2002.
Surinam ? Guyanas
Syrien und Libanon Die Geschichte der Juden in Syrien und Libanon spiegelt die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in beiden Ländern. In ihren heutigen Grenzen gehen beide Staaten auf Grenzziehungen zurück, die in der Folge des Ersten Weltkrieges von Frankreich und Großbritannien durchgesetzt wurden. Die ideologischen Strömungen und konfessionellen Arrangements, die sich unter französischer Mandatsverwaltung abzuzeichnen begannen, prägten auch in der Folgezeit die Freiheiten und Einschränkungen der jüdischen Gemeinden beider Länder und die Wahrnehmungen der Juden durch die nicht-jüdische Umwelt. Die jüdischen Gemeinden in der Region des heutigen Libanon und Syrien gewannen im Anschluss an die osmanische Eroberung 1516 und der folgenden sephardischen Zuwanderung an Bedeutung. Trotz der Benachteiligungen, die mit dem Status der Juden als „dhimmi“ verbunden waren, gelangten einzelne Juden in der osmanischen Verwaltung in höhere Positionen. Als Berater übernahmen sie wichtige Mittlerfunktionen zu
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den europäischen Mächten. Diese Beziehungen begünstigten auch den Aufstieg zahlreicher Juden als Kaufleute, die vom aufkommenden Handel mit Europa profitierten. Die Funktion als Mittler, die es zumindest Einzelnen ermöglichte, die Benachteilungen als „dhimmis“ zu kompensieren und aus der allgemeinen Armut der jüdischen Gemeinden aufzusteigen, bildete den Ausgangspunkt für Konkurrenzen mit den christlichen Minderheiten. Die ägyptische Besetzung der Region (1831-1840) und die osmanischen Tanzimat-Reformen, die sowohl für Juden als auch für Christen deutliche Verbesserungen in religiösen, politischen und sozialen Belangen mit sich brachten, verstärkte diese Rivalität. Die „Ritualmordaffäre“ in Damaskus 1840 fiel mit diesen Konkurrenzen zusammen. Der wachsende Einfluss der europäischen Kolonialmächte, der sich in einer Vielzahl missionarischer Aktivitäten ausdrückte, beförderte die Verbreitung christlich-antijüdischer Polemiken, die bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Ritualmordvorwürfe gemündet waren. Die Damaskus-Affäre markierte eine deutliche Eskalation. Nach dem Verschwinden eines Kapuzinermönches und seines Dieners im Februar 1840 wurde ein Mitglied der jüdischen Gemeinde beschuldigt, den Mönch für rituelle Zwecke getötet zu haben. Ermutigt und unterstützt durch den französischen Konsul Ratti-Menton begann eine antijüdische Kampagne, die von den griechisch-orthodoxen und katholischen Christen getragen wurde. Erst die Intervention mehrerer europäischer Konsuln gegenüber dem ägyptischen Herrscher verhinderte eine weitere Eskalation der Ereignisse und die Freilassung der bereits verhafteten und gefolterten Juden. Trotz einer Verfügung des Sultans, mit der die Ritualmordvorwürfe zurückgewiesen und den Juden der Schutz der osmanischen Herrscher zugesichert wurde, kam es in den folgenden Jahrzehnten in verschiedenen Städten erneut zu ähnlichen Vorwürfen gegen die örtliche jüdische Bevölkerung. Ritualmordvorwürfe trafen die Gemeinden in Dayr al-Qamar (1847), Damaskus (1848), Aleppo (1850) und Beirut (1862). Von christlicher Seite boten diese Vorwürfe die Möglichkeit, die wachsende Ablehnung der muslimischen Bevölkerung, die sich an der Protektion der Christen durch die europäischen Kolonialmächte festmachte, gegen die Juden zu wenden. Die zunehmende Feindseligkeit der christlichen Bevölkerung gegenüber den jüdischen Gemeinden spiegelte sich auch in Veröffentlichungen antisemitischer Schriften, die von christlichen Autoren aus europäischen Sprachen ins Arabische übertragen wurden. Bereits aus dem Jahr 1869 wird die Übersetzung eines Pamphletes aus dem Französischen berichtet, in dem Ritualmord-Vorwürfe gegenüber Juden erhoben werden. Der spürbare Einfluss des europäischen Antisemitismus wurde auch während der DreyfusAffäre in Frankreich deutlich. Erneut beschränkten sich die antijüdischen Polemiken weitestgehend auf christliche Kreise. Im Falle des seit 1904 in Paris lebenden Maroniten Neguib Azourys beinhaltete dies sichtbare Annäherungen an zeitgenössische antisemitische Strömungen in Europa. In Azourys Buch „Le Réveil de la Nation Arabe dans l’Asie Turque“ (1905) kam der Warnung vor einem „péril juif universel“ eine wichtige Rolle zu. Im Unterschied dazu trat der prominente Herausgeber der islamischen Zeitschrift „alManar“, Rashid Rida, auf dem Höhepunkt des Konfliktes in Frankreich 1898 mit einer scharfen Kritik der antisemitischen Hetze an die Öffentlichkeit. Trotz seiner eigenen ambivalenten Haltung gegenüber den Juden, die von den Brüchen der islamischen Tradition
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gegenüber dem Judentum geprägt war, bildete die Dreyfus-Affäre für Rida einen Anlass, um auf die Toleranz der Muslime und des Osmanischen Reiches gegenüber den religiösen Minderheiten hinzuweisen. Die jüdische Bevölkerung profitierte vom fortwährenden Schutz der osmanischen Regierung. Dieser Schutz wurde 1911 durch die Anerkennung der Juden als konfessionelle Gruppe bekräftigt. Der Niedergang des Osmanischen Reiches und die entstehende arabische Nationalbewegung standen insofern für eine wachsende Bedrohung. Die prominente Rolle christlicher Intellektueller als Vordenker des arabischen Nationalismus machte den potentiell überkonfessionellen Charakter der arabisch-nationalen Identität deutlich. Als Gemeinschaftsideologie wendete sich der arabische Nationalismus dabei ausdrücklich gegen ethnisch und religiös begründete Minderheitenrechte, die die Einheit der arabischen Nation in Frage zu stellen schienen. Angesichts der Erfolge der zionistischen Bewegung in Palästina gerieten auch die jüdischen Gemeinden im Libanon und Syrien in den Verdacht, jüdisch-nationalistische Bestrebungen zu verfolgen, die der Verwirklichung der arabischen Einheit entgegenstünden. Trotz des begrenzten Einflusses, den die zionistische Bewegung unter den libanesischen und syrischen Juden gewinnen konnte, hinterließ der sich verschärfende arabisch-zionistische Konflikt sichtbare Spuren in den Wahrnehmungen der Juden durch die muslimische Umgebung. Bereits 1925 kam es in Damaskus anlässlich des Palästina-Besuches von Lord Balfour zu Ausschreitungen im jüdischen Viertel. Zahlreiche Damaszener Juden flüchteten daraufhin aus der Stadt und ließen sich in Beirut nieder.
Konfessionalismus und Nationalismus in der französischen Mandatszeit Die Einrichtung des französischen Mandates über den Libanon und Syrien 1920/22 bedeutete einen wichtigen Einschnitt in die interkonfessionellen Beziehungen. Während die arabischen Nationalisten die Einrichtung des Mandates als Verrat an der arabischen Revolte betrachteten, mit der die arabische Seite während des Ersten Weltkriegs den alliierten Kampf gegen das Osmanische Reich unterstützt hatte, sahen die maronitischen Christen in dem Mandatssystem einen wichtigen Schritt in Richtung eines maronitischgeprägten libanesischen Staates. Diese Haltung war unter den Christen des Libanons keineswegs unumstritten. Anders als die maronitische Bevölkerung mit ihren historisch gewachsenen Bindungen an Frankreich lehnte ein Großteil der griechisch-orthodoxen Bevölkerung die Schaffung eines libanesischen Staates ab und orientierte sich an arabischund syrisch-nationalistischen Strömungen. Für die jüdische Bevölkerung bedeuteten die Gründung der libanesischen Republik und die Verabschiedung einer Verfassung 1926 eine rechtliche Gleichstellung mit den anderen konfessionellen Gruppen. Ähnliche Regelungen wurden von der Mandatsverwaltung auch in Syrien durchgesetzt, wobei die zahlenmäßige Dominanz der Muslime kaum Zweifel an dem muslimisch-arabischen Charakter eines zukünftigen Gemeinwesens aufkommen ließ. Trotz der formellen Sicherheiten blieb die jüdische Bevölkerung nicht unbeeinträchtigt von den Spannungen, welche sich in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg zwischen Befürwortern einer libanesischen, syrischen oder panarabischen Lösung entwickelten. Die durchsichtigen Versuche Frankreichs, die Beziehungen zwischen den jewei-
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ligen konfessionellen Gruppen im Interesse des französischen Einflusses zu manipulieren, rückten die Frage des Konfessionalismus ins Zentrum der ideologischen und politischen Auseinandersetzungen. Wenngleich auch unter Maroniten christlich-antijüdische Ressentiments fortbestanden, zeigten sich wesentliche Teile der religiösen und politischen Führung der Maroniten aufgeschlossen gegenüber der jüdischen Gemeinde und der zionistischen Bewegung. Anders als in Syrien, wo sich die jüdische Bevölkerung vom arabisch-nationalistischen Konsens weiter Teile der muslimischen und christlichen Bevölkerung ausgeschlossen sah, fanden die Juden im Libanon hier Anknüpfungspunkte für politische Kontakte. Bereits in den frühen 1920er Jahren zeigten sich führende maronitische Persönlichkeiten offen für den Verkauf von Grundstücken und den Aufbau gemeinsamer Wirtschaftsprojekte. Neben finanziellen Interessen ging es dabei vor allem auch um die Hoffnung, der Erfolg des zionistischen Projektes und die Errichtung eines jüdischen Staates könne die Position eines christlich-dominierten Libanons stärken. Ein unabhängiger jüdischer Staat in Palästina erschien hier als natürlicher Bündnispartner gegenüber der muslimisch-arabischen Mehrheit in den Nachbarstaaten. Angesichts der Eskalation der Ereignisse in Palästina Ende der 1920er Jahre und der sich verschärfenden antizionistischen Agitation insbesondere in der muslimischen Bevölkerung waren solche Kontakte zu Vertretern der zionistischen Bewegung wiederholt Anlass für Kritik seitens der arabisch-nationalistischen Presse. Mit dem Beginn der antisemitischen Verfolgungen in Deutschland und der steigenden Zahl jüdischer Flüchtlinge kam es bereits 1933 zu Protesten gegen deren Ansiedlung im Libanon und Syrien. Umso dankbarer zeigten sich die örtlichen jüdischen Gemeinden über die Sympathiebekundungen des maronitischen Patriarchen Antoine Arida, der im Juni 1933 in einem Hirtenbrief auf das Leid der deutschen Juden hingewiesen und den Nationalsozialismus als antireligiöse Bewegung verurteilt hatte. Die Reaktionen der muslimischen Mehrheit, aber auch von inner-maronitischen Widersachern, waren geprägt von Empörung über eine Geste, die als Schulterschluss mit der zionistischen Bewegung gebrandmarkt wurde. Trotz vereinzelter Kritik an der antisemitischen Politik in Deutschland fanden sich vor allem in der arabisch-nationalistischen Presse immer wieder Kommentare, in denen Schadenfreude und zum Teil offenes Verständnis für die antijüdischen Verfolgungen zum Ausdruck kam. Die antizionistischen Proteste, die während der palästinensischen Revolte (19361939) an Intensität gewannen, rückten zunehmend ins Zentrum der politischen Aktivitäten der arabisch-nationalistischen Organisationen. Dabei richteten sich diese Proteste vielfach auch gegen die einheimische jüdische Bevölkerung, die sowohl im Libanon als auch in Syrien wiederholt zum Ziel von Übergriffen und Anschlägen wurde. Unterstützung erhielt die jüdische Bevölkerung vor allem von der paramilitärischen Jugendorganisation der Kataib, die im Herbst 1936 von maronitischer Seite im Libanon als Gegengewicht zu den muslimischen und arabisch-nationalistischen Organisationen gegründet worden war. Trotz der Orientierung an faschistischen und nationalsozialistischen Jugendorganisationen bemühte sich die Kataib bei verschiedener Gelegenheit, Übergriffe auf jüdische Ziele durch arabisch-nationalistische Demonstranten zu verhindern. Die Übernahme der Verwaltung der Mandate durch das Vichy-Regime nach der französischen Niederlage im Sommer 1940 und die Ankunft einer italienisch-deutschen
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Waffenstillstandskommission in Beirut bedeutete eine direkte Bedrohung für die jüdische Bevölkerung der Region. Im Gegensatz zu den von Vichy kontrollierten Regionen Nordafrikas entging die jüdische Bevölkerung im Mandatsgebiet den schlimmsten Folgen der auch hier gültigen antijüdischen Gesetze, die vom Vichy-Regime im Oktober 1940 beschlossen worden waren. Angesichts der Instabilität der Verhältnisse und der raschen alliierten Besetzung Syriens und des Libanons im Juli 1941 kam das Vichy-Regime hier zu einem schnellen Ende. Der Nationalsozialismus hinterließ dennoch auch hier seine Spuren. Sowohl in ideologischer als auch in organisatorischer Hinsicht hatten einzelne Organisationen Kontakte zu Vertretern des nationalsozialistischen Deutschlands aufgenommen und setzten auch nach der Niederlage des Vichy-Regimes weiter auf ein Bündnis mit den Achsenmächten. Selbst nach der deutschen Kapitulation bestanden diese Kontakte weiter. Sowohl im Libanon als auch in Syrien fanden nach Mai 1945 mehrere, teilweise hochrangige Nationalsozialisten Zuflucht, die wegen ihrer Beteiligung am Judenmord international gesucht worden.
Nach der Unabhängigkeit: Antisemitismus in Syrien und Libanon Das Misstrauen gegenüber der jüdischen Bevölkerung in Syrien wirkte auch nach der formalen Unabhängigkeit Syriens 1946 fort. Als unmittelbare Reaktion auf den Beschluss des UN-Teilungsplans kam es 1947 in Aleppo zu einem Pogrom gegen die örtliche jüdische Bevölkerung. Auch während des arabisch-israelischen Krieges 1948/49, an dem die syrische Armee beteiligt war, gab es wiederholt Übergriffe und Ausschreitungen. Bei der Explosion einer Bombe in einer Damaszener Synagoge kamen mehrere Menschen ums Leben. Massive rechtliche Einschränkungen, die neben dem Verbot einer Ausreise auch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit in Syrien selbst umfassten, bewogen immer mehr Juden zur Flucht. Trotz kurzzeitiger Verbesserungen der Lage, die in den Folgejahren mit dem wiederholten Wechsel der Regime einhergingen, litt die jüdische Bevölkerung unter schärfsten Diskriminierungen. Von den 30.000 Juden, die noch Anfang der 1940er Jahre in Syrien gelebt hatten, waren Anfang der 1960er Jahre 5.500 geblieben. Der Aufstieg der Baath-Partei 1963 bedingte eine weitere Verschlechterung. Permanente Kontrollen durch den Geheimdienst, Genehmigungszwang für Fahrten, die mehr als fünf km vom Wohnort wegführten und die Markierung der Personalausweise mit dem Hinweis auf den jüdischen Glauben zählten zu den Maßnahmen, die in der Frühphase des Baath-Regimes erlassen wurden. Erst vor dem Hintergrund der Bemühungen unter Präsident Hafiz al-Asad, die Außendarstellung des baathistischen Regimes zu verbessern, kam es Mitte der 1970er Jahre zu einzelnen Erleichterungen für die verbliebenen syrischen Juden. Während die engmaschige Kontrolle des Alltags durch die Geheimdienste aufrechterhalten blieb, wurden zuvor durchgesetzte Verbote hinsichtlich der Berufswahl, der Genehmigung von Telefonanschlüssen und des Erwerbs von Führerscheinen aufgehoben. Paradoxerweise bot das autoritäre Baath-Regime und die strikte Kontrolle der Gesellschaft aus jüdischer Sicht einen Schutz vor Übergriffen der Bevölkerung. Angesichts der Erfolge der islamistischen Muslimbruderschaft, die 1982 in einer militärischen Kampagne des Regimes mit massiver Gewalt bekämpft wurde, erscheint Asad bis heute in der Erinnerung vieler syrischer Juden als Garant einer relativ stabilen Ordnung. Dennoch
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nutzten die syrischen Juden bis auf wenige Ausnahmen die sich ab 1992 bietende Gelegenheit zur Ausreise. Auf Druck der USA und im Gegenzug für Finanzhilfe erklärte sich Asad überraschend bereit, eine Auswanderung der Juden zuzulassen. Bereits nach fünf Monaten hatte sich die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinde halbiert, Ende 2005 lebten noch etwa 50 Juden in Syrien. Die Politik des baathistischen Regimes gegenüber den Juden lässt sich in verschiedener Hinsicht mit strategischen Überlegungen im Konflikt mit Israel, aber auch den USA und Europa in Verbindung bringen. So spiegelte sich in der Entscheidung, eine Ausreise der Juden zuzulassen, das Interesse an einer besseren Verhandlungsposition in den internationalen Verschiebungen der 1990er Jahre. Aus ideologischer Sicht deckten sich die staatlich sanktionierten Diskriminierungen und Repressionen mit den Grundlagen des Baathismus. Das Interesse der baathistischen Vordenker für nationalsozialistische Schriften und die deterministischen Vorstellungen der arabischen Nation weisen die antijüdische Politik des Baath-Regimes als Ausdruck ideologischer Überzeugungen aus. Bis heute erscheinen in den staatlich kontrollierten syrischen Medien regelmäßig antisemitische Kommentare und Karikaturen. Auch in den Lehrplänen und Schulbüchern finden sich weiterhin offen antisemitische Passagen, in denen die Juden als Verschwörer und Aggressoren sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart beschrieben werden. Dieses Denken wird von führenden Vertretern des Regimes öffentlich gestützt. Während der langjährige Verteidigungsminister Mustafa Tlass ein Buch veröffentlichte, in dem die Ritualmordvorwürfe von 1840 bekräftigt werden, trat der amtierende syrische Präsident Bashar al-Asad wiederholt mit Holocaust leugnenden Aussagen an die Öffentlichkeit. Die Entwicklung im Libanon unterscheidet sich davon deutlich. Während es auch im Libanon in der Übergangsphase zur vollständigen Unabhängigkeit wiederholt zu Spannungen kam, die sich im November 1945 in Tripolis in Ausschreitungen gegen Juden entluden, wurde Beirut zu einem Zufluchtsort für tausende jüdische Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak. Anders als in Syrien verhinderte der Konfessionalismus des libanesischen Staates, der durch den 1943 geschlossenen Nationalpakt bekräftigt wurde, eine Unterwerfung der einzelnen religiösen Gemeinschaften unter eine vorherrschende identitäre Ideologie. Obwohl die Abgrenzung gegenüber der zionistischen Bewegung und Israel auch innerhalb der maronitischen Bevölkerung immer deutlicher wurde, profitierte die jüdische Gemeinde bis zum Ausbruch des ersten Bürgerkrieges 1958 von der relativen Stabilität des Landes und den etablierten Beziehungen zwischen den Konfessionen. Dagegen bewogen die zunehmenden Spannungen im Gefolge des Juni-Krieges 1967 und vor allem des beginnenden Bürgerkrieges 1975 immer mehr libanesische Juden zur Emigration. Während sich die maronitische Organisation der Kataib auch während des zweiten Bürgerkrieges zum Schutze von jüdischen Zielen bereit zeigte, führte die israelische Invasion und Besetzung 1982 zu einer deutlichen Verschärfung der antijüdischen Stimmung. Dem eskalierenden Bürgerkrieg mit seinen wechselnden Fronten sah sich die jüdische Bevölkerung weitgehend wehrlos ausgeliefert. Mit der Gründung der schiitischen Organisation der Hizbullah („Partei Gottes“) entstand im Libanon 1982 eine islamistische Partei, die sich ideologisch wie organisatorisch an der Islamischen Revolution im Iran orientierte. Ähnlich wie die politische Führung
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des Irans verbindet auch die Hizbullah ihr Ziel einer islamischen Ordnung mit einem bewaffneten Kampf gegen die „Feinde Gottes“. Die symbolische Bedeutung des Kampfes gegen Israel und der Befreiung Jerusalems zeigt sich dabei in der Übernahme des Jerusalem-Tages, der seit 1980 jährlich vom iranischen Regime begangen wird. Der aktuelle Kampf um die Befreiung Jerusalems erscheint hier als Entscheidungskampf für die Zukunft der islamischen Mission. Entsprechend dieser Wahrnehmungen des Konfliktes spiegeln sich in den anti-israelischen Agitationen der Hizbullah regelmäßig antisemitische Überzeugungen. Leugnungen des Holocaust, Verschwörungstheorien und Ritualmordvorwürfe gehören zu den Inhalten der Veröffentlichungen der Hizbullah. Insbesondere der Fernsehsender al-Manar, der von der Hizbullah unterhalten wird, sendete in der Vergangenheit wiederholt explizit antisemitische Programme. Dennoch beschränken sich antisemitische Positionen im libanesischen Kontext nicht auf das politische Spektrum der Hizbullah. So zeigen sich in der ausdrücklich säkularen Syrisch Sozialnationalistischen Partei deutliche Parallelen zur antisemitischen Orientierung der islamistischen Hizbullah. Die Identifikation der Juden als Negation der angestrebten Gesellschaftsordnung spielte bereits in den frühen Schriften aus dem Umfeld der 1932 gegründeten Partei eine wichtige Rolle. Bis in die aktuellen Auseinandersetzungen hinein tritt die auch in Syrien aktive Partei mit Stellungnahmen an die Öffentlichkeit, in denen vor den Bedrohungen der Nation durch jüdischen Einfluss gewarnt wird. Vor dem Hintergrund des pluralistischen Charakters der libanesischen Gesellschaft bleiben solche Sichtweisen nicht unwidersprochen. Während antisemitische Schriften wie die „Protokolle der Weisen von Zion“ oder Übersetzungen von „Mein Kampf“ von verschiedenen Verlagshäusern publiziert werden, bietet die relative Freiheit der Medien auch Kritikern dieser Ideologien die Möglichkeit, an die Öffentlichkeit zu treten. In der jüngeren Vergangenheit haben sich verschiedene libanesische Autoren in nationalen und überregionalen Medien gegen die Leugnung des Holocaust und antisemitische Agitation ausgesprochen.
Götz Nordbruch
Literatur Julie D. Bouchain, Juden in Syrien. Aufstieg und Niedergang der Familie Farhi von 1740 bis 1995, Hamburg 1996. Laura Zittrain Eisenberg, My enemy’s enemy. Lebanon in the early Zionist imagination, 1900-1948, Detroit 1994. Jonathan Frankel, The Damascus Affair. „Ritual murder“, politics, and the Jews in 1840, Cambridge 1997. Götz Nordbruch, Nazism in Syria and Lebanon. The ambivalence of the German option, 1933-45, London 2008. Kirsten E. Schulze, The Jews of Lebanon. Between Coexistence and Conflict, Brighton 2001. Esther Webmann, Anti-Semitic Motifs in the Ideology of Hizballah and Hamas, Tel Aviv 1994.
Transnistrien 1941-1944
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Meyrav Wurmser, The Schools of Ba'athism: A Study of Syrian Textbooks, Washington 2000. Walter P. Zenner, A global community. The Jews from Aleppo, Syria, Detroit 2000.
Transnistrien 1941-1944 Aufgrund der Beteiligung am Überfall auf die Sowjetunion erhielt Rumänien Ende August 1941 einen Landstrich der südlichen Ukraine zwischen den Flüssen Dnjestr und Bug, der Transnistrien („jenseits des Dnjestr“) genannt wurde. Diese geographische Region zählte im 19. Jahrhundert zum so genannten Ansiedlungsrayon des Russischen Reiches, in dem sich jüdische Handwerker und Händler zunehmend niederließen und wo ein reges Zentrum jüdischen Lebens entstanden war. Zahlreiche Marktflecken und Städtchen hatten eine überwiegend jüdische Bevölkerung, wie z.B. Schargorod (96 Prozent), Berschad (60 Prozent), Moghilev-Podolsk (55 Prozent). Ende der 1920er Jahre lebten in der Region etwa 300.000 Juden. Die deutsch-rumänische Vereinbarung von Tighina (30. August 1941) stellte die als Transnistrien bezeichnete Region unter rumänische Verwaltung; offiziell hieß es „zur Sicherung, Verwaltung und Wirtschaftsauswertung“. Das Gebiet behielt bis zum Vormarsch der Roten Armee im März 1944 seinen „provisorischen Besatzungsstatus“. Noch bevor die offizielle „Besatzungsübergabe“ erfolgte, hatte das Einsatzkommando 10b der deutschen Einsatzgruppe D während der Eroberung des Gebietes in vielen Ortschaften Zehntausende Juden ermordet. Kaum hatte sich im September 1941 die rumänische Verwaltung etabliert, ließ der Gouverneur, Gheorghe Alexianu, in etwa 100 Orten provisorische Ghettos und Arbeitslager errichten, u.a. in Moghilev-Podolsk, Schargorod, Kopaigorod, Obadovka, Berschad (vgl. Karte 7). In diese Lager deportierten die rumänischen Behörden von Oktober 1941 bis August 1942 fast 150.000 Juden aus ? Bessarabien und der ? Bukowina, von denen nur etwa ein Drittel das Jahr 1943 überlebte. 1942 wurden über 5.000 Deportierte als Arbeitskräfte an die deutschen Behörden jenseits des Bugs ausgeliefert. Sie arbeiteten beim Straßenbau und wurden alle erschossen. 1942 folgte die Deportation rumänischer Roma, Ukrainer und Angehöriger religiöser Gemeinschaften. Die Lage aller Deportierten war gekennzeichnet von Entbehrungen, Seuchen, Misshandlungen, Zwangsarbeit und willkürlichen Exekutionen, die bis 1943 zum Alltag gehörten. Die Deportationsaktionen hatte der Generalstab der rumänischen Armee organisiert, für die Durchführung und Überwachung der Deportationen war die rumänische Gendarmerie zuständig. Zu weiteren Verbrechen kam es im Oktober 1941 in Odessa: Nachdem durch ein Bombenattentat auf das Militärhauptquartier mehrere rumänische Offiziere umgekommen waren, trieben rumänische Einheiten auf Befehl von Ion Antonescu mehr als 20.000 Juden zusammen und erschossen sie am Stadtrand. Diese Vergeltungsaktion konnte erst durch das Eingreifen des Bürgermeisters von Odessa gestoppt werden. Doch bereits zwei Monate später befahl Ion Antonescu die Deportation der noch in Odessa verbliebenen Juden. Die rumänische Gendarmerie trieb mehrere Zehntausend Juden in
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Meyrav Wurmser, The Schools of Ba'athism: A Study of Syrian Textbooks, Washington 2000. Walter P. Zenner, A global community. The Jews from Aleppo, Syria, Detroit 2000.
Transnistrien 1941-1944 Aufgrund der Beteiligung am Überfall auf die Sowjetunion erhielt Rumänien Ende August 1941 einen Landstrich der südlichen Ukraine zwischen den Flüssen Dnjestr und Bug, der Transnistrien („jenseits des Dnjestr“) genannt wurde. Diese geographische Region zählte im 19. Jahrhundert zum so genannten Ansiedlungsrayon des Russischen Reiches, in dem sich jüdische Handwerker und Händler zunehmend niederließen und wo ein reges Zentrum jüdischen Lebens entstanden war. Zahlreiche Marktflecken und Städtchen hatten eine überwiegend jüdische Bevölkerung, wie z.B. Schargorod (96 Prozent), Berschad (60 Prozent), Moghilev-Podolsk (55 Prozent). Ende der 1920er Jahre lebten in der Region etwa 300.000 Juden. Die deutsch-rumänische Vereinbarung von Tighina (30. August 1941) stellte die als Transnistrien bezeichnete Region unter rumänische Verwaltung; offiziell hieß es „zur Sicherung, Verwaltung und Wirtschaftsauswertung“. Das Gebiet behielt bis zum Vormarsch der Roten Armee im März 1944 seinen „provisorischen Besatzungsstatus“. Noch bevor die offizielle „Besatzungsübergabe“ erfolgte, hatte das Einsatzkommando 10b der deutschen Einsatzgruppe D während der Eroberung des Gebietes in vielen Ortschaften Zehntausende Juden ermordet. Kaum hatte sich im September 1941 die rumänische Verwaltung etabliert, ließ der Gouverneur, Gheorghe Alexianu, in etwa 100 Orten provisorische Ghettos und Arbeitslager errichten, u.a. in Moghilev-Podolsk, Schargorod, Kopaigorod, Obadovka, Berschad (vgl. Karte 7). In diese Lager deportierten die rumänischen Behörden von Oktober 1941 bis August 1942 fast 150.000 Juden aus ? Bessarabien und der ? Bukowina, von denen nur etwa ein Drittel das Jahr 1943 überlebte. 1942 wurden über 5.000 Deportierte als Arbeitskräfte an die deutschen Behörden jenseits des Bugs ausgeliefert. Sie arbeiteten beim Straßenbau und wurden alle erschossen. 1942 folgte die Deportation rumänischer Roma, Ukrainer und Angehöriger religiöser Gemeinschaften. Die Lage aller Deportierten war gekennzeichnet von Entbehrungen, Seuchen, Misshandlungen, Zwangsarbeit und willkürlichen Exekutionen, die bis 1943 zum Alltag gehörten. Die Deportationsaktionen hatte der Generalstab der rumänischen Armee organisiert, für die Durchführung und Überwachung der Deportationen war die rumänische Gendarmerie zuständig. Zu weiteren Verbrechen kam es im Oktober 1941 in Odessa: Nachdem durch ein Bombenattentat auf das Militärhauptquartier mehrere rumänische Offiziere umgekommen waren, trieben rumänische Einheiten auf Befehl von Ion Antonescu mehr als 20.000 Juden zusammen und erschossen sie am Stadtrand. Diese Vergeltungsaktion konnte erst durch das Eingreifen des Bürgermeisters von Odessa gestoppt werden. Doch bereits zwei Monate später befahl Ion Antonescu die Deportation der noch in Odessa verbliebenen Juden. Die rumänische Gendarmerie trieb mehrere Zehntausend Juden in
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Tschechien
den Süden Transnistriens in den Bezirk Golta; der Großteil dieser Menschen wurde von rumänischen Gendarmen erschossen. Ab Herbst 1943 verhandelten rumänische Politiker über Auswanderungsmöglichkeiten der überlebenden Juden aus Transnistrien nach Palästina, gegen hohe Geldsummen. Lediglich 10.000 durften letztendlich aber die Region verlassen, die Mehrheit musste weiterhin dort verweilen. Erst nachdem die Rote Armee im März 1944 das Gebiet erobert hatte, konnten die Überlebenden die Ghettos und Konzentrationslager verlassen. Die Gesamtzahl der jüdischen Opfer des Holocausts in Rumänien wird sehr unterschiedlich beziffert, Schätzungen bewegen sich zwischen 250.000 und 400.000, worin auch die Massenmorde an den Juden aus Odessa enthalten sind. Von den 25.000 deportierten rumänischen Roma haben zwischen 6.000 und 11.000 überlebt. An zahlreichen willkürlichen Ermordungen und den Massenexekutionen waren sowohl rumänische und deutsche Militäreinheiten, wie auch volksdeutsche und ukrainische Milizen beteiligt. In SüdTransnistrien, in der Nähe der deutschen Siedlungen, waren Selbstschutzeinheiten der ehemaligen Kolonisten für die Ermordung von etwa 28.000 Juden verantwortlich. Zwischen 1941 und 1943 wurden etwa 175.000 transnistrische Juden ermordet. 1944 teilte die sowjetische Verwaltung die Region Transnistrien zwischen der Ukrainischen SSR (? Ukraine) und der Moldawischen SSR (? Moldova) auf. Anfang der 1990er Jahre tauchte die Bezeichnung Transnistrien wieder auf, als in der unabhängig gewordenen Republik Moldova nach blutigen Auseinandersetzungen im Sommer 1992 die abtrünnige „Pridnestrovskaja Moldavskaja Respublika“ (PMR, Transnistrische Moldawische Republik) ausgerufen wurde. Allerdings bildet dieses „Staatsgebiet“ nur einen dünnen Landstrich der früheren geographischen Region Transnistrien, der weitaus größere Teil gehört zur Ukraine.
Brigitte Mihok
Literatur Jean Ancel, Transnistria, vol.1-3, Bucureşti 1999. Andrej Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941-1943, Hamburg 2003. Mariana Hausleitner, Brigitte Mihok, Juliane Wetzel (Hrsg.), Rumänien und der Holocaust. Zu den Massenverbrechen in Transnistrien 1941-1945, Berlin 2000. Ekkehard Völkl, Transnistrien und Odessa (1941-1944), Regensburg 1996.
Tschechien Das böhmische Königtum, das im frühen Mittelalter entstanden war, wurde 1526 der habsburgischen Monarchie, 1867 Österreich-Ungarn zugeordnet. 1918 wurden die Böhmischen Länder Teil der Tschechoslowakei; infolge des „Münchener Abkommens“ von 1938 musste die Tschechoslowakei die Grenzgebiete an das Deutsche Reich abtreten; der Rest der Böhmischen Länder stand zwischen März 1939 und Mai 1945 als „Protektorat Böhmen und Mähren“ unter deutscher Besatzung. 1993 zerfiel die nach dem Zwei-
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ten Weltkrieg wieder errichtete Tschechoslowakei in die Tschechische und Slowakische Republiken (? Slowakei). Die spezifische Stellung der Juden am Rande der Gesellschaft im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ähnelte derjenigen in anderen europäischen Staaten und wurde vor allem in den „Statuta Judaeorum“ des Přemysl Otakar II. (Primislaus Ottokar) aus dem 13. Jahrhundert kodifiziert. Das Zusammenleben mit den Nicht-Juden war oft durch Konflikte gekennzeichnet, andererseits aber auch durch wirtschaftliche Beziehungen und kulturellen Austausch. Es kam zu zahlreichen antijüdischen Gewaltausbrüchen: Hierzu zählt der Pogrom in Prag Ostern 1389; 1505/06 führte eine Ritualmordbeschuldigung in Budweis (České Budějovice) zur Hinrichtung von 24 Juden und Ausweisung der ganzen jüdischen Gemeinde. 1454 wurden Juden in Mähren aus den königlichen Städten ausgewiesen, wichtige jüdische Gemeinden bildeten sich deswegen in den kleineren Städten. Ab 1726 versuchte der absolutistische Staat durch die so genannten Familiantengesetze die Zahl der jüdischen Familien zu regulieren, was in der Historiographie oft als „behördlicher Antisemitismus“ bezeichnet wird. Nach dem österreichisch-preußischen Krieg ordnete 1744 Kaiserin Maria Theresia wegen des Verdachts der Zusammenarbeit mit dem Feind die Ausweisung der Juden aus Prag an, nach vier Jahren wurde die Entscheidung zurückgenommen. Der Prozess der rechtlichen Gleichstellung der Juden begann mit den Toleranzpatenten Josefs II. (1781) und galt mit der liberalen Verfassung für Cisleithanien im Dezember 1867 als beendet. Die Emanzipationszeit war von den Auseinandersetzungen zwischen liberalen Befürwortern und konservativen Opponenten gekennzeichnet; in den Böhmischen Ländern waren diese Diskussionen jedoch stark vom nationalen Konflikt zwischen Tschechen und Deutschen geprägt. Viele Juden verstanden sich aufgrund der josephinischen Politik der Zentralisierung und der Errichtung deutschsprachiger jüdischer Schulen sowie aus Sympathie zu deutschen Liberalen in Österreich als Deutsche, was vor allem ab den 1860er Jahren von tschechischen Politikern und Journalisten kritisiert wurde. Ab den 1880er Jahren entwickelte sich die moderne antisemitische Bewegung infolge der Stärkung antiliberaler Ideologien. Ehemalige Demokraten und Liberalen kritisierten den Zustand der Gesellschaft, wollten die nationale Wirtschaft antiliberal reformieren und vertraten dabei die Interessen der niedrigeren Schichten. Die Antisemiten propagierten eine ethnisch definierte Konzeption der Nation und verlangten den strikten Ausschluss der Juden aus der nationalen Gesellschaft. Tschechisch-nationalistische Antisemiten waren politisch oft am radikalen Flügel der Jungtschechischen Partei angesiedelt (wie z.B. der Journalist Jan Klecanda) oder standen am Rande des politischen Lebens (z. B. der Radikalantisemit Jaromír Hušek). In der deutschen Parteienlandschaft der Böhmischen Länder machte sich u.a. die Bewegung Georg von Schönerers stark bemerkbar. In der konservativ-katholisch geprägten Bewegung stand der Übergang zu den modernen antisemitischen Ideologien in der Kontinuität der Diskussionen über die „Judenfrage“ im Zeitalter der Emanzipation. Der katholische Antisemitismus war eng mit der Politisierung des katholischen gesellschaftlichen Milieus verbunden. Tschechische und deutsche katholische Aktivisten reagierten vor allem auf die Bedrohung der Stellung der
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Kirche bzw. auf die revolutionären oder sozialistischen Tendenzen. Antisemitismus und der Glaube an die jüdische Verschwörung gehörten zum Alltag der katholisch-politischen Propaganda, u.a. in den sich ab den 1890er Jahren bildenden christlich-sozialen Parteien. Zu den katholischen Antisemiten zählten z.B. der christlich-soziale Journalist und Priester Rudolf Vrba sowie der Theoretiker der christlichen Soziologie Rudolf Neuschl. In den 1880er Jahren und der ersten Hälfte der 1890er forderten die Antisemiten eine innere wirtschaftliche und soziale Reform und waren nicht unbedingt von dem deutschtschechischen nationalen Konflikt motiviert, wie in der Historiographie oft behauptet wird. Nur unter bestimmten Bedingungen, wie z.B. im Kontext der mährisch-tschechischen Kampagnen in den national gemischten Städten, wurde Antisemitismus auch als Instrument des nationalen Konfliktes verwendet. Erst ab Ende der 1890er Jahre, mit der antisozialistischen Wende der antisemitischen Bewegung und der Schärfung des nationalen Konflikts, standen nationale Streitigkeiten und Antisemitismus meistens im Einklang. Für den tschechischen Antisemitismus wurden die Reichsratswahlen 1897 zu einem entscheidenden Moment, in dem der Antisemitismus von der Peripherie ins Zentrum des öffentlichen Diskurses rückte. Wegen der Erfolgsaussicht der sozialdemokratischen Politiker entfesselten die meisten Parteien eine antisozialistische und antisemitische Kampagne, in der die Sozialdemokraten als eine antitschechische Partei im Sold der jüdischen Verschwörung dargestellt wurden. Nach den Wahlen entstanden neue antisemitische Parteien und Organisationen: die national-soziale Partei und die Staatsrechtspartei, zwei stark nationalistische, antisemitische, radikale und antidynastische Parteien. Während die Staatsrechtspartei aus der studentischen fortschrittlichen Bewegung entstand und die Gültigkeit des tschechischen Staatsrechts vertrat, entwickelte sich die national-soziale Partei aus der Bewegung der kleinbürgerlichen Handwerker und Gewerbeleute und teilweise der Arbeiter. Als Ergebnis des national-wirtschaftlichen Antisemitismus entstand nach den Wahlen 1897 auch die „Národní obrana“ (Nationale Verteidigung), die – von den antideutschen nationalen Schutzvereinen inspiriert – gegen die „inneren Feinde“ der tschechischen Nation kämpfen wollte. Die tschechische politische Landschaft war in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts in zwei Lager gespalten: einerseits die bürgerlichen katholischen Parteien sowie die national-soziale Partei, andererseits die Sozialdemokratie sowie kleinere Parteien der Realisten und Fortschrittlichen. In beiden Fällen diente der Antisemitismus bzw. Opposition hierzu als ein Zeichen der Zugehörigkeit (als „kultureller Code“). Als Ausdruck dieser Spaltung und der Rolle des politischen Antisemitismus ist die Hilsner-Affäre zu werten, eine Ritualmordanschuldigung, die Ostern 1899 nach einem ungeklärten Mord an einem christlichen Mädchen in der Nähe der Stadt Polná (vgl. Karte 5) erhoben wurde. Das Verbrechen wurde dem Juden Leopold Hilsner angelastet, der verhaftet und 1899 zum Tode verurteilt wurde. Gegen die Ritualmordbeschuldigung stellte sich der Professor der Prager Tschechischen Universität Tomáš G. Masaryk und die Affäre mündete in einen publizistischen Schlagabtausch. Die Bemühungen um eine Revision des Polnaer Prozesses waren nicht erfolgreich und Hilsner wurde nach der Berufung 1900 erneut verurteilt.
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In der 1918 proklamierten Tschechoslowakischen Republik wertete die neue tschechische politische Elite den Antisemitismus als eine Erscheinung, die den „guten Ruf“ der neuen Republik stören könnte. Außenminister Edvard Beneš verhinderte z.B. die Aufnahme einer Klausel für den Schutz der jüdischen Minderheit im tschechoslowakischen Friedensvertrag, da er die Tschechoslowakei nicht als einen unter Verdacht des Antisemitismus stehenden Staat gebrandmarkt sehen wollte. Im Vergleich mit den anderen mitteleuropäischen Ländern blieb die tschechische Politik in den 1920er und der ersten Hälfte der 1930er Jahren von Antisemitismus relativ frei. Die Gründe dafür sind bis heute nicht genügend erforscht, eine Erklärung müsste mehrere Aspekte einbeziehen. Neben dem Einfluss Masaryks, der aus der Hilsner-Affäre als Opponent des Antisemitismus bekannt wurde, und dem Gefühl, den Krieg gewonnen zu haben, spielten auch die Spezifika der tschechischen politischen Szene eine Rolle, die durch den großen Anteil der Minderheiten zur Zusammenarbeit gezwungen war, was auch die Möglichkeiten der Instrumentalisierung des Antisemitismus in den innerpolitischen Konflikten einschränkte. Antisemitismus wurde darüber hinaus als ein Angriff auf Masaryk interpretiert und – da seine Persönlichkeit mit der Tschechoslowakischen Republik identifiziert wurde – damit auch auf den Staat. Deswegen machte sich Antisemitismus vor allem bei den politischen bzw. gesellschaftlichen Bewegungen stark, die aus nationalen oder politischen Gründen in Opposition zu Masaryks Tschechoslowakei standen (tschechische Faschisten, sudetendeutsche Nationalsozialisten bzw. die Sudetendeutsche Partei, Teile der katholischen und nationalistischen Parteien). Der Antisemitismus wurde im deutschen radikal-nationalistischen Milieu besonders stark: 1922 versuchten z. B. deutsche Studenten der Karlsuniversität in Prag mit Protesten, Demonstrationen und Boykott die Ernennung des jüdischen Rektors Samuel Steinherz zu verhindern. Aber auch der tschechische Antisemitismus spielte in der Ersten Republik eine bestimmte Rolle. In der tschechischen Presse wurden Juden oft der Sympathie mit Österreich-Ungarn und des Missbrauchs der schwierigen wirtschaftlichen Lage beschuldigt, in der rechtsorientierten Presse wurden sie wiederum als Verbündete des Bolschewismus dargestellt, wozu auch die Veröffentlichung der „Protokolle der Weisen von Zion“ diente. Während der zahlreichen, durch die wirtschaftliche Note verursachten Unruhen 1918-1919 wurden oft auch jüdische Geschäftsleute angegriffen. Im Dezember 1918 fand in Holešov (vgl. Karte 5) in Mähren ein von Soldaten entfesselter Pogrom statt, bei dem zwei jüdische Bürger getötet wurden. November 1920 und November 1934 erfolgten in Prag antideutsche und antijüdische Ausschreitungen, die zuerst als nationalistische Demonstration entfacht waren, danach in Gewalt gegen Juden und vor allem jüdische Geschäfte umschlugen. Die letzten Jahre der Existenz der Tschechoslowakischen Republik (1936-1938) waren durch wachsenden Antisemitismus gekennzeichnet. Während aber der tschechische Faschismus marginal blieb, war er unter der deutschen Bevölkerung sehr verbreitet: die faschistische und antisemitische Sudetendeutsche Partei wurde zur dominanten deutschen politischen Partei in der Tschechoslowakei. Nach dem „Münchener Abkommen“ von 1938 sind aus den an das Deutsche Reich abgetretenen tschechoslowakischen Grenzgebieten binnen weniger Wochen fast alle Juden ins Landesinnere geflohen. Während der Pogrome im November 1938 brannten auch im „Sudetengau“ Synagogen und
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die noch verbliebenen Juden wurden angegriffen, verhaftet bzw. vertrieben. Von den ursprünglich etwa 30.000 Juden wurden bei der deutschen Volkszählung im Mai 1939 nur noch wenige Tausend erfasst. Die tschechoslowakische Zweite Republik, die durch den Verlust des Staatsgebietes Anfang Oktober 1938 entstand und bis März 1939 existierte, entwickelte sich zu einem autoritären Nationalstaat, in dem die politisch rechts angesiedelten Parteien dominierten. Der Staat war vom Aufschwung des Nationalismus und Antisemitismus geprägt, wobei in den Medien Juden oft mit der liberalen Ersten Republik bzw. dem Sozialismus in Verbindung gebracht wurden. Starke Propaganda richtete sich gegen „fremde Juden“, zu denen auch die ehemaligen tschechoslowakischen Staatsbürger zählten, die aus dem Grenzgebiet geflohen waren. Während der Zweiten Republik begann auch der Prozess der Ausgrenzung der Juden aus der Gesellschaft: Die Advokaten- und Ärztekammern schlossen die jüdischen Mitglieder aus. In dieser Zeit bemühten sich erstmalig auch tschechische Juden aus dem Landesinneren um die Emigration. Am 14./15. März 1939 wurde der Rest der Böhmischen Länder von der Wehrmacht besetzt und das „Protektorat Böhmen und Mähren“ errichtet. Wenngleich die Verfolgung der Juden im „Protektorat“ nach demselben Muster wie in anderen besetzten Ländern verlief, stand sie im Kontext der deutschen Besatzungspolitik auch mit den Plänen der Germanisierung der Böhmischen Länder in Verbindung. Die „Arisierung“ des jüdischen Eigentums wurde dementsprechend auch für die Stärkung der deutschen Position in der Wirtschaft genutzt. Zuerst versuchte die tschechische Verwaltung des „Protektorats“ eine eigene antijüdische Politik durchzusetzen, bald gewann aber das Reichsprotektoramt in der „Judenfrage“ die Oberhand. Antisemitismus spielte eine wichtige Rolle in der vom Reichsprotektoramt kontrollierten Propaganda, wobei u.a. die von Edvard Beneš geleitete tschechoslowakische Exilregierung in London und die Sowjetunion mit der jüdischen Weltverschwörung assoziiert wurden. Intensive antisemitische Propaganda begleitete die erste Welle der Deportationen im Herbst 1941. Von den im „Protektorat“ offiziell gezählten 118.000 Juden sind etwa 30.000 legal oder illegal geflüchtet. Die meisten Juden aus dem „Protektorat“ wurden in das Ghetto Theresienstadt verschleppt, die Mehrheit von ihnen später von dort aus in die nationalsozialistischen Vernichtungslager deportiert. Weitere tschechische Juden wurden direkt nach Łódź und in andere Konzentrationslager verschleppt (vgl. Karte 7). Von den ungefähr 80.000 aus den Böhmischen Ländern deportierten Juden überlebten etwa 11.000. Nach der Befreiung und der Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung wurden die Böhmischen Länder zu einem national fast homogenen Gebiet. Weil die Behörden sich in der Auswahl vor allem an der Volkszählung von 1930 orientierten, wurde in der Anfangsphase auch eine unbekannte Zahl jüdischer Überlebender, die sich 1930 zur deutschen Nationalität bekannt hatten, vertrieben. Andere Überlebende wurden einem starken Assimilationsdruck ausgesetzt sowie mit Schwierigkeiten in der Restitution des „arisierten“ Eigentums konfrontiert, die auch durch die Nationalisierung der größeren Unternehmen kompliziert wurde. Viele Juden sind in den ersten Jahren nach Kriegsende vor allem nach Palästina ausgewandert.
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Das ab Februar 1948 etablierte kommunistische Regime der Tschechoslowakei beschränkte die jüdische Auswanderung und unterband sie 1950 definitiv. Zur selben Zeit wurde die Tätigkeit ausländischer jüdischer Organisationen verboten. Die Beziehung zu Israel schlug in offene Feindschaft um und der Zionismus wurde als „Verbündeter des Weltimperialismus“ dargestellt. Die antisemitische Kampagne erreichte ihren Höhepunkt 1952, während des antisemitischen Prozesses gegen Rudolf Slánský, der vor seiner Verhaftung (1951) die Funktion des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei bekleidet hatte. Von den 14 Angeklagten waren elf jüdischer Herkunft, was in der Anklageschrift betont und hervorgehoben wurde. Der Slánský-Prozess war nur die Spitze eines Eisberges: Während der Säuberungen der frühen 1950er Jahren sind viele Juden verhaftet und verurteilt, die jüdischen Gemeinden einer stärkeren Kontrolle unterstellt worden. Das Verhältnis des Staates gegenüber Juden und die Intensität des Antisemitismus korrelierten mit den Änderungen des Charakters des kommunistischen Regimes. Während der entspannten 1960er Jahre entfaltete sich das Leben der jüdischen Gemeinden freier und es durfte mehr über jüdische Geschichte und Shoah gesprochen werden, nach der Besetzung durch die Armeen des Warschauer Paktes 1968 setzte die antizionistische Kampagne wieder ein. Kurz vor dem Sturz des Regimes im Jahr 1989 kritisierte die Dissidentenorganisation „Charta 77“ die weitgehende Vernachlässigung der jüdischen Kultur sowie die Verdrängung des Holocaust aus dem öffentlichen Bewusstsein. Nach dem Sturz des kommunistischen Regimes spielte der Antisemitismus im Mainstream-Diskurs in den Medien und im politischen Bereich keine besondere Rolle. Eine Positionierung gegenüber den Juden und dem Antisemitismus wurde meistens nicht als wichtig für das Verständnis der eigenen Geschichte verstanden. Antisemitismus fungierte deswegen vor allem am Rande des gesellschaftlichen Diskurses, bei diversen Gruppen, die nicht mit der Transformation der tschechischen Gesellschaft nach 1989 zufrieden waren. Das galt vor allem für die rechtsradikale Szene, aber auch für einige konservative katholische Kreise bzw. Emigrantengruppen. Auch wenn in dieser Zeitspanne mehrere Angriffe auf Juden bzw. jüdische Organisationen verzeichnet wurden, wendete sich der tschechische Rassismus viel stärker gegen andere Minderheiten, vor allem gegen Roma. Große Aufmerksamkeit erregte 2003 das Buch von Petr Bakalář „Tabu in den Sozialwissenschaften“, in dem die angeblich wissenschaftlich bekräftigten Unterschiede zwischen den Rassen betont werden. Bakalář, der die Eugenik als legitimes Mittel der Sozialpolitik – vor allem gegenüber Roma – durchzusetzen versucht, glaubt an eine jüdische Verschwörung in den Sozialwissenschaften, die die Wahrheit über die Rassenunterschiede unterdrücken würde. Ab 2005 wurden die Holocaust-Leugner aktiver: Am 28. Oktober 2005, am Jahrestag der Gründung der Tschechoslowakischen Republik, organisierten sie z.B. eine Demonstration für den in Deutschland verhafteten Ernst Zündel. Von mehreren Internetseiten kann man die Texte der bekannten Holocaust-Leugner auf Tschechisch herunterladen. Im Herbst 2005 verteilten sie eine Broschüre unter dem Namen „Auschwitz. Fakten versus Fiktion“ an Geschichtslehrer vieler Gymnasien.
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Literatur Michal Frankl, „Sonderweg“ of Czech Antisemitism? Nationalism, National Conflict and Antisemitism in Czech Society in the Late 19th Century, in: Bohemia, 46(2005), 1, S.120134. Karel Kaplan, Zpráva o zavraždění generálního tajemníka [Bericht über die Ermordung des Generalsekretärs], Praha 1992. Jiří Kovtun, Tajuplná vražda. Případ Leopolda Hilsnera [Geheimnisvoller Mord. Der Fall Leopold Hilsner], Praha 1994. Tomáš Pěkný, Historie Židů v Čechách a na Moravě [Geschichte der Juden in Böhmen und Mähren], Praha 1993. Jana Svobodová, Zdroje a projevy antisemitismu v českých zemích 1948-1992 [Quellen und Äußerungen des Antisemitismus in den Böhmischen Ländern, 1948-1992], Praha 1994.
Türkei Die Frage, wer zu der noch relativ jungen türkischen Nation gehören soll, ist eng verbunden mit individuellen Ansichten und Verhaltensweisen oder staatliche Maßnahmen, die als antijüdisch oder antisemitisch zu charakterisieren sind. Von der Republikgründung bis heute standen die nichtmuslimischen Minderheiten des Landes – neben den Juden vor allem Griechen und Armenier – immer wieder unter dem Generalverdacht, der Nation gegenüber illoyal zu sein. Dies schlug sich einerseits in einer negativen bis feindlichen öffentlichen Meinung und Presse nieder, die sich auch türkische Juden zur Zielscheibe nahm. Zum anderen und gravierender waren diskriminierende Maßnahmen seitens des türkischen Staates, die sich gegen die Minderheiten richteten und von denen türkische Juden als Gruppe oder Individuen betroffen waren. Trotz des unter starkem öffentlichem Druck ausgesprochenen Verzichts seitens der jüdischen Gemeinde auf die 1923 im Vertrag von Lausanne festgeschriebenen Minderheitenrechte, löste die Republik ihr im Gegenzug gegebenes Versprechen nach einem neutralen, von der Religion absehenden Staatsbürgerverständnis nur eingeschränkt ein. Juden als Angehörige einer religiösen Minderheit kamen nicht in den Genuss ihrer vollen Bürgerrechte: Ihre Freizügigkeit beschränkte sich auf die westlichen Landesteile der Türkei, ihr Zugang zu bestimmten Institutionen wie beispielsweise der Armee war nicht nur faktisch, sondern auch gesetzlich unmöglich und jüdische Gemeindeorganisationen konnten nur eingeschränkt arbeiten. Besonders betroffen waren Juden türkischer Staatsbürgerschaft von der Politik der Türkifizierung der Wirtschaft, d.h. dem Bestreben, die überragende Stellung von Ausländern und Angehörigen der Minderheiten im gesamten Wirtschaftsleben, ein Erbe des Osmanischen Reiches, zu brechen. In den 1920er Jahren wurden auf staatlichen Druck Tausende von jüdischen Angestellten aus dem Banken-, Schifffahrts-, Versicherungs- und Handelssektor entlassen, um ihre Stellen mit muslimischen Türken zu besetzen. Jüdische Anwälte wurden zeitweilig aus der Anwaltskammer ausgeschlossen.
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Gleichzeitig verfolgte die Republik seit ihrer Gründung eine Politik der Türkifizierung der Kultur. In Bezug auf die türkischen Juden richtete sich dies besonders gegen die ladino- und französischsprachige Kultur in den großen Zentren wie Istanbul oder Izmir. Während der verschiedenen Kampagnen, alle Sprachen außer dem Türkischen aus der Öffentlichkeit zu verbannen („Mitbürger, sprich türkisch!“), kam es vereinzelt zu Angriffen. Von einigen türkischen Kommunen wurden Geldstrafen für das Sprechen einer fremden Sprache in der Öffentlichkeit erlassen. Jüdische Kultureinrichtungen und Vereine sahen sich gezwungen, als einzige Sprache das Türkische zuzulassen. Auch jüdische Schulen mussten auf öffentlichen Druck Türkisch als alleinige Unterrichtssprache einführen oder schließen, der Hebräischunterricht war für einige Zeit gänzlich untersagt. Der sprachliche Assimilationsdruck ging so weit, dass einige Synagogen damit experimentierten, Teile des Gottesdienstes auf Türkisch zu führen. Insgesamt und von extremen Maßnahmen abgesehen wurde diese Assimilationspolitik auch von weiten Teilen der jüdischen Gemeinde unterstützt. Die Anpassung an die Mehrheitskultur galt als Preis, der zu zahlen sei, um in der säkularen Republik als vollwertiger Bürger anerkannt zu werden. Ein bekannter Verfechter dieser Linie war der nationalistische Intellektuelle und Publizist Tekin Alp (Moise Kohen, 1883-1961), der seinen Mitbürgern empfahl, Türkisch zu sprechen und, wie er selbst, ihre Namen zu türkifizieren. Parallel zu diesen staatlichen Maßnahmen, denen alle Minderheiten unterworfen waren, existierte schon während der frühen Republik eine antisemitische Presse, die später z.T. vom nationalsozialistischen Deutschland finanziell unterstützt wurde. Auch in konventionellen Zeitungen waren rassistische Stereotypen, Annahmen über die vermeintliche Dominanz von Juden im Wirtschaftsleben sowie der allgemeine Zweifel an der Loyalität der türkischen Juden gegenüber der Nation weitverbreitet. Ihren gewaltsamsten Ausbruch fand diese latent antijüdische Stimmung in den Ausschreitungen gegen die Juden von Thrakien, dem verbleibenden europäischen Teil der Türkei. Im Juni 1934 kam es in mehreren Dörfern und Kleinstädten nach anonymen Drohungen zu Plünderungen von jüdischen Geschäften und der Misshandlung ihrer Inhaber. Fast alle thrakischen Juden verließen die Region und suchten Zuflucht in Istanbul, von wo viele weiter nach Palästina auswanderten. Die Beteiligung der Armee und des Staates, der erst nach mehreren Tagen gegen diese antisemitischen Krawalle vorging, ist nicht annähernd geklärt. Diese Elemente, d.h. eine aktiv minderheitenfeindliche Politik und eine von latentem Antisemitismus geprägte Öffentlichkeit, hinterließen Spuren in der innen- und außenpolitischen Haltung der Türkei während des Zweiten Weltkriegs. Auf das Näherrücken des Kriegsgeschehens durch die deutsche Besatzung Jugoslawiens und Griechenlands 1941 reagierte die Türkei mit weiteren Einschränkungen. Die als potentiell illoyal geltenden wehrfähigen Männer der Minderheitenbevölkerung wurden zum Arbeitsdienst ins anatolische Hinterland geschickt. 1942 erreichte die Politik der Türkifizierung der Wirtschaft mit der Einführung der so genannten Vermögenssteuer (Varlik Vergisi) ihren Höhe- und Abschlusspunkt. Die Steuer, die der Finanzierung gestiegener Militärausgaben angesichts des Krieges durch die Abschöpfung von Spekulationsgewinnen dienen sollte, wurde in ihrer Implementierung das Instrument massiver Diskriminierung der Minderheiten. Aufgrund einer unzureichenden Faktenbasis von den Behörden willkürlich festgesetzt, trieb die Steuer vor allem jüdische Importeure, aber auch kleinere Kaufleute und Hand-
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werker in den Konkurs. Säumige Schuldner wurden unter inhumanen Bedingungen in einem Arbeitslager in Ostanatolien interniert. Erst ein Jahr später unter dem Eindruck der Annäherung der Türkei an die Alliierten wurde die Steuer aufgehoben, und die Internierten wurden freigelassen. In Bezug auf die antisemitische Politik Deutschlands verfolgte die Türkei einen abwartenden Kurs. Während ca. 60 deutsch-jüdischen Wissenschaftlern bereits in den 1930er Jahren Zuflucht und Anstellung an türkischen Universitäten gewährt wurde, verhinderte eine strikte Gesetzgebung ab 1941 wie in den meisten anderen europäischen Ländern eine umfangreichere Aufnahme von Flüchtlingen. Nur solchen, die über gültige Einreisepapiere nach Palästina verfügten, wurde der Transit durch die Türkei erlaubt. Eine tragische Folge dieser bürokratischen Politik zeigte sich im Fall der Havarie der „Struma“, mit überwiegend rumänischen Juden an Bord. Nachdem die türkischen Behörden die Landung des überfüllten und seeuntüchtigen Dampfers in Istanbul über Wochen verweigert hatten, sank er auf dem Rückweg nach Rumänien unter ungeklärten Umständen im Schwarzen Meer. Unter den etwa 800 Passagieren gab es nur einen einzigen Überlebenden. Trotz dieser restriktiven Politik und obwohl jüdische Hilfsorganisationen zunächst nur eingeschränkt arbeiten konnten, wurde die Türkei zu einem wichtigen Transitland für jüdische Flüchtlinge aus Europa. Zum Teil mit Duldung der Behörden konnten Tausende von Flüchtlingen einreisen und auf Schleichwegen und mit Schiffen weiter nach Palästina gelangen. Doch erst gegen Ende des Krieges, als die Türkei an der Seite der Alliierten in den Krieg eintrat, erhielt die Rettung der europäischen Juden gemäß der Politik der USA einen höheren Stellenwert in der türkischen Politik. Wie die Flüchtlinge so erfuhren auch die in Europa lebenden Juden osmanischer oder türkischer Herkunft eine ambivalente Behandlung seitens des türkischen Staats. Etwa die Hälfte von ihnen, ca. 10.000 Personen, lebte in Frankreich, wohin sie seit dem Ende des Ersten Weltkrieges in mehreren Wellen ausgewandert waren. Soweit sie noch im Besitz ihrer türkischen Staatsbürgerschaft waren, standen sie auch nach der deutschen Besetzung Frankreichs unter dem Schutz der türkischen Konsulate. Einzelne türkische Diplomaten setzten sich aktiv für ihre Rechte und ihre Repatriierung angesichts der steigenden Repressalien und Verschleppungen seitens der deutschen Besatzungsmacht und des Vichy-Regimes ein. Schwerer hatten es diejenigen Juden osmanischen oder türkischen Ursprungs, die von der Türkischen Republik ausgebürgert worden waren, da sie seit mehreren Jahren nicht in der Türkei ansässig gewesen waren. Sie wurden zunächst als „irreguläre Staatsbürger“ eingestuft, deren Repatriierung im Prinzip unerwünscht war. Erst unter dem Eindruck der sich verschärfenden antijüdischen Maßnahmen ab Sommer 1942 wurden einige von ihnen durch den persönlichen Einsatz türkischer Diplomaten unter türkischen Schutz gestellt. Im Kontrast zu diesen Rettungsversuchen wurden aber auch 1943 und 1944 noch fast 2.000 in Europa ansässige Juden von der Türkei denaturalisiert und damit der Vernichtung preisgegeben. Nach dem Weltkrieg kam es zu einer drastischen Veränderung der Situation der türkischen Juden. Zum einen verließ in den Jahren nach der Gründung Israels gut die Hälfte der 85.000 unmittelbar vor dem Krieg in der Türkei ansässigen Juden das Land. In der Anfangsphase war diese Emigration illegal, sodass Auswanderer ihren Besitz zurücklas-
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sen mussten und nur über Drittländer nach Israel einreisen konnten. Nach der Anerkennung Israels durch die Türkei im Jahre 1949 wurde die Auswanderung jedoch legalisiert. Zum anderen wurden innerhalb der Türkei nach der Einführung des Mehrparteiensystems nach und nach auch die gravierendsten diskriminierenden Maßnahmen gegen Minderheiten aufgehoben. Schulen und Stiftungen konnten wieder weitgehend normal arbeiten und auch Religionsunterricht durfte wieder erteilt werden. Auch die lange verschobene Wahl eines neuen Oberrabbiners wurde möglich. Von den gewaltsamen Ausschreitungen gegen die griechische Minderheit in der Türkei in den 1950er Jahren waren die türkischen Juden nur indirekt, psychologisch, betroffen. Diese Entkoppelung von staatlicher Minderheitenpolitik und antijüdischen Maßnahmen konnte jedoch nicht verhindern, dass sich in der Türkei ein antisemitischer und antizionistischer Diskurs besonders in nationalistischen und islamistischen Kreisen etablierte. Dieser bedient sich der gängigen Bilder und Klischees von der jüdischen Weltverschwörung, die z.T. auf Ereignisse in der osmanisch-türkischen Geschichte angewandt werden. So werden die Beteiligung einzelner Akteure jüdischer oder vermeintlich jüdischer Abstammung an der Jungtürkischen Revolution (1908), dem Sturz des Sultans Abdülhamid (1909) oder an den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg als Indizien für ein antitürkisches bzw. antiislamisches Komplott gewertet. Einen besonderen Platz in diesem antisemitischen Geschichtsbild nehmen die „Dönme“, die im 17. Jahrhundert zum Islam konvertierten Anhänger Sabbatai Zwis (s. ? Osmanisches Reich) ein. Die Rolle von Dönme-Familien in der Presse und im Wirtschaftsleben der Republik geben bis heute Anlass zu wilden antisemitischen Spekulationen, die als Rechtfertigung für Attentate auf Unternehmer und Journalisten, die dieser Gruppe zugerechnet werden, dienen. Bis heute beruft sich der antisemitische Diskurs auf nationalistischer wie auch auf islamistischer Seite oft auf westliche Quellen wie beispielsweise die „Protokolle der Weisen von Zion“ und „Mein Kampf“. Beide Werke sind mehrfach ins Türkische übersetzt worden und haben seit 1945 zusammen über hundert Neuauflagen erfahren. In der türkischen Presse wurden sie in einigen Fällen als ernstzunehmende Quellen für jüdische Geschichte behandelt. In den letzten zwanzig Jahren hat vor allem der Antisemitismus von islamistischer Seite, der aus dem antizionistischen Selbstverständnis dieser Bewegung gespeist wird, Auftrieb erhalten. Die Verknüpfung zwischen türkischen Juden und Israel hat ihren Einzug bis in die Rhetorik der islamisch orientierten Parteien, die nach 1980 einen enormen Aufstieg erlebten, gefunden. Extremistische islamistische Gruppen werden für das bisher schwerste Attentat auf zwei Istanbuler Synagogen im Jahre 2003 verantwortlich gemacht, bei dem es 60 Tote und bis zu 300 Verletzte gab. Frühere Anschläge auf eine Synagoge der Stadt 1986 und 1992 sollen hingegen von ausländischen Gruppen verübt worden sein.
Malte Fuhrmann und Florian Riedler
Literatur Rifat N. Bali, Cumhuriyet Yıllarında Türkiye Yahudileri [Die türkischen Juden in den Jahren der Republik], 2 Bde., Istanbul 1993 und 2003. Rifat N. Bali, Les Relations entre Turcs et Juifs dans la Turquie Moderne, Istanbul 2001.
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Corinna Görgü Guttstadt, Depriving non-Muslims of citizenship, in: Hans-Lukas Kieser (Hrsg.), Turkey beyond Nationalism, London 2006, S.50-56. Minna Rozen (Hrsg.), The Last Ottoman Century and Beyond: The Jews in Turkey and the Balkans 1808-1945, 2 Bde., Tel Aviv 2005. Stanford J. Shaw, The Jews of the Ottoman Empire and the Turkish Republic, New York 1991. Stanford J. Shaw, Turkey and the Holocaust, London 1993.
Tunesien Das Leben der tunesischen Juden im 20. Jahrhundert stand im Zeichen der französischen Protektoratsverwaltung und der entstehenden antikolonialen Bewegung. Wichtige Einschnitte markierten die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkrieges und der arabisch-israelische Krieg von 1948. Der wachsende Einfluss der arabischen Nationalbewegung war Anlass für eine verstärkte jüdische Auswanderung nach der Erlangung der Unabhängigkeit von Frankreich. Die Geschichte des Judentums in Tunesien reicht bis in die Zeit des Römischen Reiches zurück. In der Frühphase der islamischen Herrschaft, die Mitte des 7. Jahrhunderts mit den arabischen Eroberungen einsetzte, blieb das jüdische Leben geprägt von wechselnden Phasen von Sicherheit und Repression. Nicht allein der formale Status als „dhimmi“, als Schutzbefohlene des islamischen Herrschers, sondern auch die überlieferten Beziehungen zur nicht-jüdischen Bevölkerung und zum jeweiligen Machthaber bestimmten den Alltag der jüdischen Gemeinden. So unterließen es die fatimidischen Herrscher im 10. Jahrhundert, die Kopfsteuer, zu deren Zahlung die Juden nach traditionellem islamischen Verständnis verpflichtet waren, einzufordern. Dagegen sahen sich die Juden unter den Almohaden, die Mitte des 12. Jahrhunderts an die Herrschaft gelangten, zur Übernahme des islamischen Glaubens gezwungen. Auch als Konvertiten blieben sie den Herrschern weiterhin suspekt. Dies drückte sich unter anderem in besonderen Kleidungsvorschriften aus, mit denen eine Unterscheidung der Konvertiten ermöglicht werden sollte. Die Situation der jüdischen Bevölkerung verbesserte sich in der Zeit der Hafsiden-Dynastie im 13. Jahrhundert. In dieser Zeit entstand das jüdische Viertel (hara) der Stadt Tunis, die den Juden zuvor verschlossen war. Ende des 16. Jahrhunderts geriet Tunesien in den Einflussbereich des ? Osmanischen Reiches. Wie in anderen Teilen des Reiches brachte die osmanische Herrschaft der jüdischen Bevölkerung Tunesiens ein gewisses Maß an Stabilität und Sicherheit. Trotz der Benachteiligungen, die mit dem Status als „dhimmi“ verbunden waren, gelangten zahlreiche Juden in höhere öffentliche Ämter. Als Berater und Mittler gerade in den Außenbeziehungen erfüllten sie wichtige Funktionen. Insbesondere unter Ahmed Bey (18371855), unter dessen vom ? Osmanischen Reich weitgehend autonomer Herrschaft verschiedene Reformen angestoßen wurden, gewannen zahlreiche jüdische Persönlichkeiten an Einfluss.
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Dennoch blieb der Status der Juden unsicher, wie eine Affäre im Jahr 1857 deutlich machte. Die Hinrichtung eines Juden unter dem Vorwurf der Blasphemie löste nicht nur in der jüdischen Bevölkerung Entsetzen aus, sondern stieß auch in europäischen Staaten auf Proteste. Französischer Druck führte schließlich zur Verabschiedung einer Erklärung (1858), in der die rechtliche Gleichstellung von Muslimen und Juden bei gleichzeitiger Beibehaltung der „dhimma“ bekräftigt wurde. In der Wahrnehmung der muslimischen Bevölkerung bestätigte die europäische Einflussnahme die Vorbehalte gegenüber den einheimischen Juden, die sich 1864 in einer Revolte gegen die Politik des Bey ausdrückten. Auch in den Folgejahren gab es einzelne Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung, die mit der besonderen Beziehung der Juden zu den europäischen Kolonialmächten begründet wurden. Mit der Einrichtung des französischen Protektorats 1881 verbanden sich in weiten Teilen der jüdischen Bevölkerung große Hoffnungen. Als Schutzmacht, aber auch als kultureller Bezugspunkt stand der französische Einfluss für die Modernisierung der tunesischen Gesellschaft und die Verbesserung der sozialen und politischen Verhältnisse der jüdischen Bevölkerung. Dennoch blieben wesentliche Verbesserungen des rechtlichen Status zunächst aus. Anders als in ? Algerien kam es in Tunesien nicht zu einer generellen Anerkennung der Juden als französische Staatsangehörige. Die hohen Hürden, die für eine Einbürgerung gesetzt wurden, begrenzten die Naturalisierungen auf eine kleine kulturelle und soziale Elite. Die enttäuschten Hoffnungen der jüdischen Gemeinden spiegelten sich in der anfänglichen Indifferenz beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges. In den Jahren 1917/18 kam es in mehreren Städten zu antijüdischen Ausschreitungen, in denen der Vorwurf des fehlenden Patriotismus eine wichtige Rolle spielte. Erst in der Nachkriegszeit ermöglichte das Morinaud-Gesetz von 1923 einem größeren Teil der jüdischen Bevölkerung die Übernahme der französischen Staatsangehörigkeit.
Vichy und die deutsche Besatzung Die „Nationale Revolution“ des Vichy-Regimes in Frankreich bedeutete das Ende einer längeren Phase relativer Stabilität, von der die jüdische Bevölkerung in den 1920er und 1930er Jahren profitiert hatte. Die antijüdischen Gesetze, die bereits wenige Monate nach dem deutsch-französischen Waffenstillstandsabkommen im Juni 1940 in Frankreich beschlossen wurden, fanden in leicht veränderter Fassung auch in Tunesien Anwendung. Trotz italienischer Ansprüche auf Teile der französisch-kontrollierten Gebiete Nordafrikas blieben die Protektorate Tunesien und Marokko ebenso wie die französische Kontrolle über Algerien bestehen. Das französische „Juden-Statut“ vom 3. Oktober 1940 wurde per Dekret auf Tunesien übertragen. Im Unterschied zur französischen Regelung bezog sich der Begriff des Juden dabei nicht nur auf die Abstammung, sondern auch auf die jüdische Religion als Zugehörigkeitsmerkmal. Gleichzeitig regelte das Dekret den Ausschluss der Juden von Tätigkeiten in der öffentlichen Verwaltung, im Journalismus und Bildungsbereich. Ausnahmen galten für einige Angehörige der französischen Armee, aber auch für Arbeitsbereiche, in denen es um die Vertretung oder Versorgung der jüdischen Bevölkerung ging. Mit einem weiteren Dekret vom 9. Oktober 1941 wurden diese Regelungen weiter verschärft. Anders als in ? Marokko wurden die anti-
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jüdischen Gesetze von dem französischen Generalrepräsentanten in Tunesien, Admiral Jean-Pierre Esteva, nicht forciert. Vor dem Hintergrund seiner christlichen Überzeugungen stand er den antijüdischen Diskriminierungen kritisch gegenüber und unterließ es, auf die Durchsetzung der Bestimmungen zu drängen. Auch die beiden tunesischen Herrscher Ahmad Pasha Bey und sein Nachfolger Moncef Bey machten mit symbolischen Gesten gegenüber der jüdischen Bevölkerung – darunter die Auszeichnung von verdienten tunesischen Juden – ihre ablehnende Haltung gegenüber Vichy deutlich. Dennoch gab es auch in den ersten Monaten der Vichy-Herrschaft in Tunesien mehrfach antijüdische Ausschreitungen. In mehreren Orten wurden Juden bereits im August 1940 Ziel gewalttätiger Angriffe. Im Mai 1941 starben acht Juden während antijüdischer Unruhen in Gabès. Einen Einschnitt bildete die deutsche Besatzung im November 1942. Als Reaktion auf die britisch-amerikanische Landung in Marokko und Algerien errichtete die Wehrmacht einen Brückenkopf, der die Position der Achsenmächte in Nordafrika gegen die alliierte Offensive stärken sollte. Trotz der Angriffe gelang es den Achsenmächten, die Kontrolle über etwa ein Drittel des tunesischen Territoriums zu erlangen. Zur deutschen Besatzungsverwaltung gehörte ein SS-Einsatzkommando, das bereits im Juli 1942 für den Vormarsch auf Ägypten gebildet worden war. Nach der deutschen Niederlage bei El Alamein kam das Kommando unter Führung des SS-Obersturmbannführers Walther Rauff nun in Tunesien zum Einsatz. Bereits wenige Tage nach der Ankunft des Kommandos am 24. November 1942 wurde die antijüdische Zielrichtung ihres Wirkens deutlich. Örtliche Vertreter der Wehrmacht, des Auswärtigen Amtes und der Sicherheitspolizei beschlossen am 6. Dezember 1942 die Rekrutierung von Juden für die Zwangsarbeit im Dienst der Wehrmacht. Noch am selben Tag informierte Rauff den jüdischen Gemeinderatsvorsitzenden Moïse Borgel und den Oberrabbiner von Tunis, Haim Bellaïche, über die Absetzung des Gemeinderates und die Einsetzung eines Judenrates, der unter anderem für die Rekrutierung von jüdischen Zwangsarbeitern verantwortlich war. Innerhalb von 24 Stunden, so lautete der Befehl, habe der Rat eine Liste mit 2.000 Juden zur Zwangsarbeit vorzulegen. Angesichts des Scheiterns des Rates, eine entsprechende Anzahl von Arbeitern zusammenzustellen, ließ Rauff schließlich über 1.500 Juden, die in der Großen Synagoge und in einer Schule der „Alliance Israélite Universelle“ Zuflucht gesucht hatten, verhaften. Die jüngeren Häftlinge wurden in einem Fußmarsch in ein Arbeitslager 65 km südlich von Tunis getrieben. In den folgenden Monaten wiederholten sich diese Zwangsrekrutierungen. Insgesamt 5.000 Juden waren in den nächsten Monaten in den etwa 40 Arbeitslagern tätig, die zur Frontverstärkung und zur Beseitigung von Bombenschäden auf den deutschen Flugfeldern eingesetzt wurden. Von den über 2.500 Juden, die unter deutscher Besatzung getötet wurden, kam die Mehrzahl bei Luftangriffen ums Leben, denen die Zwangsarbeiter weitgehend schutzlos ausgeliefert waren. Die Ausplünderung der jüdischen Gemeinden war ein weiteres Ziel der deutschen Verwaltung. Als Ersatz für die Schäden, die bei den alliierten Angriffen entstanden, verlangten die Deutschen die Zahlung von Entschädigungen. Bis April 1943 beliefen sich die Forderungen auf mehrere Millionen Francs. Übergriffe und gewalttätige Razzien erschwerten das Leben der jüdischen Bevölkerung weiter. An diesen Übergriffen beteiligten sich auch französische Organisationen wie der „Service d’Ordre Légionnaire“ oder
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das „Comité d’Unité d’Action Révolutionnaire“. Auf Weisung Rauffs vom 17. März 1943 wurde schließlich die Kennzeichnung der tunesischen und französischen Juden durch das Tragen des Judensterns beschlossen. Angesichts der relativ kurzen Dauer der deutschen Präsenz in Tunesien ist bis heute ungeklärt, inwiefern auch für die tunesischen Juden konkrete Vernichtungspläne bestanden. Die Einsatzrichtlinien, mit denen das zuletzt 100-köpfige SS-Kommando unter Rauffs Führung ausgestattet war, ähnelten jenen der SS-Einsatzgruppen, die in Osteuropa zum Einsatz kamen. Dennoch fanden sich nach der Besetzung Tunesiens durch die Alliierten keine Hinweise auf Einrichtungen, die für Vernichtungsaktionen vorgesehen waren. Die antijüdischen Repressionen, die von der deutschen Verwaltung beschlossen wurden, stießen wiederholt auf Ablehnung. Während sich der französische Generalrepräsentant darum bemühte, den jüdischen Gemeinden die Zahlung der erpressten Gelder zu erleichtern, intervenierte Moncef Bey, um die Durchsetzung einzelner antijüdischer Maßnahmen zu verzögern. Vor allem auf italienischer Seite stießen die antijüdischen Regelungen auf Kritik. Angesichts der großen Zahl der italienischen Juden in Tunesien fanden die Diskriminierungen in der italienischen Verwaltung kaum Zustimmung. Die Reaktionen der muslimischen Bevölkerung werden in zeitgenössischen Quellen oft als „gleichgültig“ beschrieben. Die antisemitische Propaganda, die in deutschen Radiosendungen und Pamphleten verbreitet wurde, fand danach nur wenig Widerhall. Dennoch kam es zu Beleidigungen und Übergriffen, aber auch zur Kollaboration mit den Deutschen, z.B. bei der Bewachung von Arbeitslagern. Erst in der jüngeren Vergangenheit richtete sich das Interesse der historischen Forschung auch auf jene Araber, die sich den antijüdischen Repressionen aktiv widersetzten. Der Tunesier Khalid Abd al-Wahhab, der im Frühjahr 1943 mehrere Juden über einen längeren Zeitraum versteckte, ist hier ein Beispiel.
Nachkriegszeit und Unabhängigkeit Mit der sechsmonatigen deutschen Besatzung endeten im Mai 1943 auch die staatlichen antijüdischen Diskriminierungen und Verfolgungen. Die neu gewonnene Sicherheit der jüdischen Bevölkerung, die durch die wohlwollende Haltung der neuen französischen Verwaltung bekräftigt wurde, zeigte sich auch in der Belebung kultureller Aktivitäten und einer aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Die Zahl der Juden stieg im Jahr 1945 auf 105.000, von denen 65.000 in Tunis lebten. Die Gründung Israels und der israelisch-arabische Krieg 1948 hinterließen auch in Tunesien deutliche Spuren. Bereits seit 1947 hatte eine Auswanderung in das britische Mandatsgebiet eingesetzt, die sich in den Folgejahren noch intensivierte. Allein in den ersten zwei Jahren nach der Gründung Israels emigrierten etwa 8.000 tunesische Juden. Nach einem kurzen Rückgang kam es mit dem sich verschärfenden Unabhängigkeitskampf zu einem erneuten Anstieg der Auswandererzahlen. Knapp 18.000 Juden verließen das Land allein zwischen 1954 und 1957 nach Israel. Wie in anderen arabischen Ländern schürten die Aktivitäten der tunesischen Nationalisten die Spannungen zwischen einheimischen Muslimen und Juden. Für viele Juden kam die Parteinahme für die nationalistischen Bestrebungen, die auf eine Arabisierung
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der Gesellschaft abzielten, nicht in Frage. Dennoch wurden Juden in einzelnen Ortschaften zur Teilnahme an nationalistischen Demonstrationen genötigt. Im Juni 1952 eskalierten die Spannungen zu offener Gewalt. Die Weigerung jüdischer Händler in Tunis, sich an einem von Nationalisten initiierten Streik zu beteiligten, war Anlass für Ausschreitungen, die sich gegen jüdische Personen und Institutionen richteten. In der Übergangszeit zur Unabhängigkeit (1954-1956) bemühte sich die tunesische Führung um die Beruhigung der jüdischen Bevölkerung. Die Wahl Habib Bourguibas zum Premierminister im April 1956 und später zum Staatspräsidenten bekräftigte die moderate Haltung gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Die Nominierung eines jüdischen Ministers und Bourguibas öffentliche Besuche jüdischer Einrichtungen vermittelten das Gefühl relativer Sicherheit. Insbesondere Bourguibas anfängliche Distanz zum Nasserismus und dessen repressiver Politik gegenüber den Juden bestärkte die jüdische Bevölkerung. Erst die Annäherung Tunesiens an die Politik der Arabischen Liga und die staatlich initiierten Reformen der jüdischen Gemeinden schürten schließlich auch in Tunesien die Angst vor einem Richtungswandel. Die Auflösung der jüdischen Gemeinderäte und die Zerstörung des alten jüdischen Viertels in Tunis schienen diese Befürchtungen zu bestätigen. Im Zusammenhang mit dem Konflikt mit Frankreich um eine französische Militärbasis in Bizerte 1961 kam es erneut zu Kampagnen gegen die jüdische Bevölkerung, die mit der fortwährenden Präsenz Frankreichs identifiziert wurde. Auch während des Juni-Krieges 1967 wurden solche Spannungen sichtbar. In Tunis attackierten Demonstranten die Große Synagoge der Stadt sowie zahlreiche jüdische Geschäfte. Wie in der Vergangenheit stießen die Ausschreitungen auch in der muslimischen Öffentlichkeit auf Kritik. Ähnlich wie Bourguiba zeigten sich viele Intellektuelle entsetzt über die Übergriffe. Dennoch hinterließen die Ereignisse ihre Spuren und förderten die Bereitschaft zur Emigration. Ende der 1960er Jahre war die jüdische Bevölkerung auf etwa 20.000 Personen zurückgegangen. In den 1980er Jahren gab vor allem die Präsenz der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) in Tunis und die Entstehung einer islamistischen Bewegung Anlass zur Sorge. So argumentiert die islamistische Nahda-Partei bis heute antisemitisch. Angesichts der massiven Repressionen gegen die islamistische Opposition, die bereits in den 1980er Jahren unter Bourguiba einsetzten und nach dessen Sturz 1987 unter dem neuen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali fortgesetzt wurden, blieb der Einfluss des Islamismus in der tunesischen Gesellschaft allerdings begrenzt. Ähnlich wie ? Marokko bemüht sich auch Tunesien heute um eine positive Darstellung des einheimischen Judentums. Die diplomatischen Beziehungen zu Israel, die von Januar 1996 bis zur Suspendierung im Oktober 2000 Bestand hatten, und die touristische Vermarktung des tunesischen Judentums bestärkt das Gefühl einer relativen Sicherheit. Die tunesische Regierung selbst unterstützt Veranstaltungen zum interreligiösen Dialog und fördert Pilgerfahrten jüdischer Reisegruppen zur traditionsreichen al-Ghriba-Synagoge auf der Insel Djerba. Dennoch ging die Zahl der tunesischen Juden weiter zurück. Die etwa 1.500 verbliebenen Juden leben heute vor allem in Tunis und auf Djerba. Der terroristische Anschlag auf die al-Ghriba-Synagoge, bei dem am 11. April 2002 21 Menschen getötet wurden, machte die Verletzbarkeit der jüdischen Gemeinden erneut deutlich. Trotz des internationalen Hintergrundes der Täter, die einer al-Qaida-nahen Organi-
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sation zugerechnet werden, zielte der Anschlag offensichtlich auch auf den relativ sicheren Status der jüdischen Bevölkerung und die wohlwollende Politik des tunesischen Regimes gegenüber den einheimischen Juden. In der Zeit nach dem Anschlag erfolgten wiederholt Schmierereien und Sachbeschädigungen an jüdischen Einrichtungen, die zeitlich mit Ereignissen der Intifada in Israel/Palästina in Zusammenhang standen. In der Öffentlichkeit stießen diese Vorfälle auf Kritik. Intellektuelle wie Lafif Lakhdar und Abdelwahab Meddeb haben sich in der jüngeren Vergangenheit wiederholt gegen antijüdische Polemiken ausgesprochen.
Götz Nordbruch
Literatur Michel Abitbol, The Jews of North Africa during the Second World War, Detroit 1989. Archives Juives. Revue d’histoire des Juifs de France. Dossier „Les Juifs de Tunisie“, 32(1999), 1. Michael M. Laskier, North African Jewry in the twentieth century, New York 1994. Robert Satloff, Among the righteous. Lost stories of the Holocaust’s long reach into Arab lands, New York 2006. Norman Stillman, The Jews of Arab Lands. A history and source book, Philadelphia 1979.
Ukraine Juden erreichten das heutige Gebiet der Ukraine erstmals als Händler der griechischen römisch-kontrollierten Siedlungen an der Schwarzmeerküste. Das Bosporanische Reich der Cimmerer mit der Hauptstadt Panticapaeum (an der Stelle des heutigen Kerč) bestand seit dem 5. vorchristlichen Jahrhundert und zog jüdische Kaufleute und Handwerker an. Von hier aus knüpften Juden Handelskontakte zu den mit den Byzantinern anfangs verbündeten turkstämmigen Chasaren, die im 7.-8. Jahrhundert die Krim beherrschten. Als es dann zu Auseinandersetzungen zwischen Chasaren und Byzanz kam, wo nun die Juden im Zeichen des Christentums verfolgt wurden, schlossen sich die Juden enger mit den Chasaren zusammen. Im 9. Jahrhundert trat dann der Adel der Chasaren zum Judaismus über, der eine Zeitlang zur dominierenden Religion wurde. Um 960 wurde das Kaganat der Chasaren von den Herrschern der Kiewer Rus, die von Nationalukrainern als erster ukrainischer Staat in Anspruch genommen wird, mit byzantinischer Hilfe zerschlagen. Die These, dass die jüdischen Chasaren sich daraufhin zerstreuten und zu einem wesentlichen Faktor des Entstehens des aschkenasischen Judentums wurden, ist mehr als fragwürdig. Die slawischen Nachfolgestaaten der Chasaren haben aber aus religiösen Gründen Juden in ihren Rechten eingeschränkt und nicht als Dauerbewohner zugelassen, wohl aber als durchziehende Fernhändler. Nur als solche gab es in den folgenden Jahrhunderten Juden in den Ländern der Rus (mit dem Zentrum Kiew) und den von Tataren-Mongolen beherrschten Steppengebieten der Schwarzmeergegend. Anders war es in der Krone Polen, zu der die westlichsten Gebiete der heutigen Ukraine – die Fürstentümer Halyč und Wolhynien – im 13./14. Jahrhundert als Woje-
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sation zugerechnet werden, zielte der Anschlag offensichtlich auch auf den relativ sicheren Status der jüdischen Bevölkerung und die wohlwollende Politik des tunesischen Regimes gegenüber den einheimischen Juden. In der Zeit nach dem Anschlag erfolgten wiederholt Schmierereien und Sachbeschädigungen an jüdischen Einrichtungen, die zeitlich mit Ereignissen der Intifada in Israel/Palästina in Zusammenhang standen. In der Öffentlichkeit stießen diese Vorfälle auf Kritik. Intellektuelle wie Lafif Lakhdar und Abdelwahab Meddeb haben sich in der jüngeren Vergangenheit wiederholt gegen antijüdische Polemiken ausgesprochen.
Götz Nordbruch
Literatur Michel Abitbol, The Jews of North Africa during the Second World War, Detroit 1989. Archives Juives. Revue d’histoire des Juifs de France. Dossier „Les Juifs de Tunisie“, 32(1999), 1. Michael M. Laskier, North African Jewry in the twentieth century, New York 1994. Robert Satloff, Among the righteous. Lost stories of the Holocaust’s long reach into Arab lands, New York 2006. Norman Stillman, The Jews of Arab Lands. A history and source book, Philadelphia 1979.
Ukraine Juden erreichten das heutige Gebiet der Ukraine erstmals als Händler der griechischen römisch-kontrollierten Siedlungen an der Schwarzmeerküste. Das Bosporanische Reich der Cimmerer mit der Hauptstadt Panticapaeum (an der Stelle des heutigen Kerč) bestand seit dem 5. vorchristlichen Jahrhundert und zog jüdische Kaufleute und Handwerker an. Von hier aus knüpften Juden Handelskontakte zu den mit den Byzantinern anfangs verbündeten turkstämmigen Chasaren, die im 7.-8. Jahrhundert die Krim beherrschten. Als es dann zu Auseinandersetzungen zwischen Chasaren und Byzanz kam, wo nun die Juden im Zeichen des Christentums verfolgt wurden, schlossen sich die Juden enger mit den Chasaren zusammen. Im 9. Jahrhundert trat dann der Adel der Chasaren zum Judaismus über, der eine Zeitlang zur dominierenden Religion wurde. Um 960 wurde das Kaganat der Chasaren von den Herrschern der Kiewer Rus, die von Nationalukrainern als erster ukrainischer Staat in Anspruch genommen wird, mit byzantinischer Hilfe zerschlagen. Die These, dass die jüdischen Chasaren sich daraufhin zerstreuten und zu einem wesentlichen Faktor des Entstehens des aschkenasischen Judentums wurden, ist mehr als fragwürdig. Die slawischen Nachfolgestaaten der Chasaren haben aber aus religiösen Gründen Juden in ihren Rechten eingeschränkt und nicht als Dauerbewohner zugelassen, wohl aber als durchziehende Fernhändler. Nur als solche gab es in den folgenden Jahrhunderten Juden in den Ländern der Rus (mit dem Zentrum Kiew) und den von Tataren-Mongolen beherrschten Steppengebieten der Schwarzmeergegend. Anders war es in der Krone Polen, zu der die westlichsten Gebiete der heutigen Ukraine – die Fürstentümer Halyč und Wolhynien – im 13./14. Jahrhundert als Woje-
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wodschaft Rus kamen. Der polnische Adel hatte die Juden als profitable städtische Bevölkerung entdeckt, und die Judenverfolgungen in Mitteleuropa dienten als Push-Effekt. Juden erhielten ab 1264 (Statut von Kalisz) eine rechtlich abgesicherte Position und übten vor allem ihre städtische Vermittlerfunktion aus. Sie gerieten zwar zunehmend in Konflikte mit der immer weniger toleranten Kirche, aber Pogrome blieben Episoden. Die meisten anderen Gebiete der Ukraine wurden vom Großfürstentum ? Litauen erobert. In die südlichen ukrainischen Gebiete kamen die Juden in größerer Zahl erst nach 1569, als im Zusammenhang mit der Union von Lublin, in der Polen und Litauen eine Realunion eingingen, die Ukraine vollständig der Krone Polen unterstellt wurde. Da ein großer Teil des Landes unter den polnischen Großadligen (Magnaten) aufgeteilt wurde, die oft lieber in Alt-Polen blieben, wurden von jenen Juden als Verwalter der riesigen Güter und natürlich auch wieder als Händler und Handwerker eingesetzt. Da gleichzeitig auch in den neu erworbenen Gebieten der Frondienst eingeführt wurde, der mit dem Verbot des Ortswechsels für die Bauern einherging, waren es oft Juden, die die neuen, durchaus ungewohnten Rechte der Grundherren gegenüber den so etwas aus litauischer Zeit nicht gewohnten Bauern durchzusetzen hatten. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts lebten in der Ukraine etwa 150.000 Juden, die Frondienste für ihre polnischen Herren einforderten, Erträge abschöpften, Mühlen und Gastwirtschaften gepachtet hatten. Aus der Perspektive der Bauern waren sie es, die die Früchte ihrer Arbeit ernteten. Der hier tatsächlich zu beobachtende Klassenkonflikt wurde partiell als ukrainisch-jüdischer Gegensatz wahrgenommen. Der große Aufstand der Kosaken unter Bohdan Chmelnyckyj, der 1648 ausbrach und sich vor allem gegen den polnischen Adel richtete, lenkte daher die ukrainischen Bauern und Kosaken auch gegen die Juden, die als dessen (manchmal einzige greifbaren) Repräsentanten die Leidtragenden wurden. Dabei führte Chmelnyckyj selber gegen Juden nichts im Schilde, aber die Bauernmassen unter den Kosakenführern Maxym Kryvonis und Danylo Nečaj verwüsteten in der Wojewodschaft Kiew und auf ihrem Zug nach Westen die jüdischen Gemeinden. Flüchtlinge vor den Massakern begründeten die jüdische Siedlung in der KarpathoUkraine, der heutigen Transkarpathischen Provinz der Ukraine, die bis 1918 und 19391944 ein Teil ? Ungarns, 1919-1939 der ? Tschechoslowakei war. In den auf den Chmelnyckyj-Aufstand folgenden Jahrzehnten beruhigte sich die Lage wieder etwas, aber die unterdrückten ukrainischen Bauern organisierten sich nun periodisch in Räuberbanden, die – als Hajdamaken bezeichnet – polnische Adelshöfe und kleinere Städte überfielen und dabei aus demselben Grund wie vorher die Kosaken gegen Juden vorgingen. Sowohl Kosaken als auch Hajdamaken wurden von der ukrainischen Nationalbewegung als ukrainische Freiheitskämpfer in Anspruch genommen, wodurch sich die Auffassung von einer scheinbaren Rechtmäßigkeit eines Vorgehens gegen Juden im ukrainischen Diskurs ausbreitete.
Nach den Teilungen Polens An der Funktion der Juden änderten die Pogrome und Überfälle zunächst nichts, und auch ihre Zahl nahm weiter zu. Allerdings versuchte ? Russland, das im 18. Jahrhun-
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dert immer größere Teile der Ukraine annektierte, Juden aus diesen Gebieten zu entfernen. Als Russland und Österreich 1772 und 1793 die ukrainischen Gebiete in den Teilungen Polens übernahmen, griff Russland zu einschränkenden Maßnahmen. Seit 1791/ 1793 wurde der Ansiedlungsrayon mit wechselnden Territorien festgesetzt, außerhalb derer Juden nur in Ausnahmefällen auf Dauer leben durften. Bis auf die Umgebung Charkivs (Charkow) gehörte schließlich aber die ganze russländische Ukraine zum Territorium, wo Juden leben durften (vgl. Karte 3). Einerseits hatte man sie zwar auf den Gebieten des ehemaligen Polen halten wollen, andererseits erschienen sie aber auch wieder nützlich, um die von den Osmanen neu erworbenen Gebiete wie Bessarabien und die Krim zu entwickeln. Odessa, die aufblühende Hafenstadt, verdankte den Juden einen Großteil ihres Aufschwungs. Die Wohnsitznahme in einigen anderen Städten wie dem Zentrum von Kiew (ab 1827), Nikolaev (Mykolaïv), Sewastopol und im Kurbad Jalta wurde ihnen dagegen verweigert. Russland beschränkte aber nicht nur das Siedlungsgebiet der ukrainischen Juden. Der mittelalterliche Kahal (jüdische Selbstverwaltungsgemeinde) wurde 1844 im Zuge der Modernisierungsmaßnahmen abgeschafft und durch die staatliche Verwaltung abgelöst. Den jüdischen Gemeinden verblieben allein die religiösen Funktionen und Kompetenzen. Auch die anderen Modernisierungsmaßnahmen des russischen Staates kamen vielen orthodoxen Juden anti-jüdisch vor, dabei war ihr Hauptziel die Modernisierung der jüdischen städtischen Bevölkerung. Dazu gehörten besondere Steuern auf traditionelle Kleidung und andere restriktive Maßnahmen. Das berüchtigtste Element der ukrainisch-jüdischen Geschichte waren die Pogrome. Die ersten Ausschreitungen gegen Juden ereigneten sich 1821 in Odessa. Dabei handelte es sich um griechisch-jüdische Reibereien, zu denen das Gerücht geführt hatte, Juden hätten beim Tod des griechischen Patriarchen mitgewirkt und seien im griechischen Unabhängigkeitskampf Parteigänger der Osmanen. 1859 und 1871 kam es wieder zu antijüdischen Unruhen in Odessa, vor allem vor dem Hintergrund der ökonomischen Rivalität zwischen Griechen und Juden. Mit diesem wirtschaftlichen Motiv war man aber schon ganz nah an den folgenden Ausbrüchen des Jahres 1881, die in Europa große Aufmerksamkeit erregten und den Begriff Pogrom für antijüdische Gewalt verbreiteten. Von Elisavetgrad (heute: Kirovohrad), wo sie im April 1881 begannen, breiteten sich die Pogrome über die ganze Ukraine aus (vgl. Karte 3). In Kiew und den umliegenden Orten wütete der Mob drei Tage lang gegen die Juden. Im Winter war eine Zeitlang Ruhe, aber im Frühjahr 1882 ging es in Podolien (Balta) weiter, bis das Militär endgültig für Ruhe sorgte. Der zaristische Staat war zwar durchaus antijüdisch, aber Unruhen, die sich der Kontrolle entwinden könnten, wollte er auch nicht. Abseits der großen Welle kam es 1883 zu einem Pogrom in Katerynoslav (heute: Dnipropetrovsk) und 1884 in Juzovka (heute: Doneck). Im Anschluss daran verhärtete sich jedoch das Verhältnis gegenüber den Juden im gesamten Zarenreich. Die Pogrome führten zu einer großen Auswanderungsbewegung, die sowohl protozionistisch in das osmanische Palästina ging, als auch nach Nordamerika.
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Die ukrainische Nationalbewegung Während sich die russische antizaristische Opposition erst später auch antijüdischer Motive bediente, waren sie in der ukrainischen Opposition stärker präsent. Die Tradition des Chmelnyckyj-Aufstands und die Frage der ökonomischen Rolle der Juden spielten dabei eine entscheidende Rolle. Der Dichter Taras Schewtschenko, der in der Ostukraine zum wichtigsten, bis heute verehrten Begründer der Nationalbewegung wurde, hatte in dem Poem „Hajdamaky“ die Juden als Agenten Polens dargestellt, gegen die der Terror der zu Nationalhelden stilisierten Räuber berechtigt sei. Der sozialistische Nationalist Michail Drahomanow hatte scharfe Kritik an der angeblich parasitären Rolle der Juden in der ukrainischen Gesellschaft geübt. Die antijüdische Haltung, die mit nationalrevolutionären Vorstellungen einherging, war auch die Basis für die neuerliche Pogromwelle, die ab 1903 in Kischinew (Chişinău) wieder losging. Während der revolutionären Zeit zwischen 1905 und 1907 beschuldigten die Zarentreuen die Juden, aber auch andere soziale Gruppen wie etwa Studenten, Träger der revolutionären Umtriebe zu sein. Im Zuge dieser Anschuldigungen wurden auch die berüchtigten „Protokolle der Weisen von Zion“ in Umlauf gebracht. Vor allem in Odessa und Kiew kam es zu antijüdischen Ausschreitungen mit zahlreichen Opfern. Die sichtbarste Ausprägung dieses neuen Judenhasses war die „Union des Russischen Volkes“ (Sojuz Russkogo Naroda), die auch in der Ukraine aktiv war, welche für russische Nationalisten ja als „Kleinrussland“ (Malorossija) Teil Russlands war. Man folgte nominell dem Zaren und der Orthodoxen Kirche, hatte aber eine den zeitgenössischen Christlich-Sozialen in Deutschland vergleichbare Einstellung, wonach das einfache Volk vom Adel – und natürlich von den Juden – ausgebeutet und um den Ertrag seiner Arbeit gebracht würde. Damit war diese Organisation einerseits den Machthabern als nominell zarentreu willkommen, andererseits sprach aber auch gerade sie die von unten kommenden revolutionären Tendenzen der politisch benachteiligten Bauern und Kleinbürger an. 1913 fand in Kiew der Prozess gegen Menachem Mendel Beilis statt, der eines Ritualmordes beschuldigt wurde. Ähnliche Vorwürfe waren anderswo im Russischen Reich häufig erhoben worden, in der Ukraine war dies das erste große Verfahren dieser Art – gleichzeitig auch das letzte in Europa. Im Ersten Weltkrieg blieben die Beschränkungen der Juden zunächst bestehen. Dadurch aber, dass der Russländische Staat die als „unsicher“ geltenden Juden aus den Frontregionen ins Innere des Reiches vertrieb, wurde die Rigidität des Ansiedlungsrayons aufgeweicht. Die Februarrevolution 1917 (nicht etwa erst die Oktoberrevolution) brachte die Aufhebung aller antijüdischen Gesetze und damit auch des Ansiedlungsrayons. In der Ukraine begann im Jahr 1917 der schrittweise Aufbau einer eigenen Staatlichkeit, die jedoch zunächst in einem föderativen Zusammenhang mit Russland verbleiben sollte. Die Regierungen der Ukrainischen Volksrepublik (Ukraïnśka Narodnja Respublika – UNR) führten nominell erstmals zu einer jüdischen Partizipation am Staate. Jiddisch wurde zu einer der offiziellen Sprachen und es gab Sekretäre (Minister) für nationale Minderheiten, darunter auch für Juden. Mit Arnold Margolin, einem der Verteidiger von Beilis, hatte die UNR zeitweise einen jüdischen stellvertretenden Außenminister.
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Dies war aber wenig mehr als schöner Schein. Auf dem Papier herrschte in der Ukraine in der Bürgerkriegszeit Toleranz, in der Realität wurde das Land 1918/1920 von Pogromen durchzogen. Es gab kaum reguläre Armeen: Die Kämpfer der ukrainischen Nationalisten waren irreguläre Truppen unter wenig disziplinierten Atamanen, die mit dem Blick auf Beute und „innere Führung“ die Juden als „Feinde“ der Ukrainer zum Plündern und Morden freigaben. Die in der Ukraine operierenden russisch-loyalistischen („weißen“) Truppen unter den Generälen Denikin und Wrangel veranstalteten ebenso Pogrome wie die oft als anarchistisch bezeichneten Bauernarmeen des Nestor Machno in der Gegend von Huljaj-Polje. Und selbst auf Seiten der Bolschewiki stehende Truppen waren Pogromtäter, gab es doch die Vorwürfe, die Juden würden sich der Aufteilung des Grundbesitzerlandes an die Bauern widersetzen. Die Regierung der UNR unter Symon Petljura, aber auch General Denikin, wandten sich förmlich gegen die Pogromtaten ihrer Truppen. Bei Denikin kann man davon ausgehen, dass dies ein Lippenbekenntnis war, um die Unterstützung des Westens nicht zu verlieren. Petljura meinte die verschiedenen Aufrufe und Verfahren wohl relativ ernst, war aber insofern machtlos, als er auf die Pogromisten angewiesen war, wenn er seinen Kampf weiterführen wollte. Die Atamane wiederum kümmerten sich wenig um das, was die politische Führung von sich gab. In dem vom Ersten Weltkrieg und dem langen anschließenden Bürgerkrieg brutalisierten Land wechselten die Atamane, aber auch die anderen Truppen häufig die Fronten und schlossen sich im Allgemeinen der Richtung an, von der sie sich für ihre Klientel die meisten materiellen Erträge versprachen.
Die sowjetische Ukraine 1918, 1919 und schließlich 1920 eroberten sowjetische Truppen gegen die Nationalukrainer die Ukraine. Häufig galten sie ihren Gegnern als „russisch“ oder „jüdisch“ – oder beides. Damit wurde der Kampf der Nationalisten gegen einen „jüdischen Bolschewismus“ schon früh thematisiert. Die sowjetische Ukraine praktizierte gegenüber ihrer jüdischen Bevölkerung eine ambivalente Politik. Einerseits wurden jüdische Parteien wie alle anderen außer der kommunistischen verboten und der atheistische Religionskampf richtete sich von Mitte der 1920er Jahre an auch gegen die jüdische Religionsgemeinschaft. Die Verfolgungsmaßnahmen gegen orthodoxe und chassidische Praktiken führten zu einer Fluchtbewegung aus der sowjetischen Ukraine. Andererseits gab es jedoch eine Neubestimmung des Judentums als eines säkularen nationalen Phänomens. In dem Maße, in dem das Hebräische zunächst zurückgedrängt und schließlich faktisch verboten wurde, erfuhr die Volkssprache Jiddisch als „Nationalitätensprache“ eine Förderung und eine neue Kodifizierung. Die Jüdischen Sektionen der Kommunistischen Partei (Jewsekzii) bekämpften den „Aberglauben“ und suchten vor allem die Jugend zu säkularisieren, für die Sowjetmacht und als Stoßtrupp gegen das traditionale und religiöse Judentum zu mobilisieren. Ab 1924, als sich die Sowjetmacht um die Förderung von Nationalitätensprachen und -kulturen im Zeichen der „Einwurzelung“ (Korenisazija) bemühte, entstanden jüdische landwirtschaftliche Kolonien in der Ukraine, mehrere Dörfer wurden zu jüdischen Dörfern (Selsovety) und es entstanden jüdische Rayons (Kalinindorf im Gebiet Cherson, Stalindorf im Gebiet Krywyj Rih und Novozlatopol im Gebiet Zaporižžja).
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Diese Politik hielt jedoch nicht lange an. Bereits in den 1920er Jahren regte sich Widerstand gegen die Förderung der jüdischen Landansiedlung, sodass diese Projekte aufgegeben und keine neuen mehr konzipiert wurden. An ihre Stelle trat das Projekt Birobidschan, der Ansiedlung von Juden im Fernen Osten der ? Sowjetunion. In den 1930er Jahren reduzierte man insgesamt schrittweise die Förderung der nichtrussischen Nationalitäten und an ihre Stelle trat eine gewaltsame Russifizierung, die mit den Repressionen gegen alle verbunden war, die im Verdacht standen, allzu enge Beziehungen mit dem Ausland zu pflegen. Da während der Hungersnöte amerikanische – auch kommunistische – jüdische Hilfsorganisationen sich für die Agrarsiedlungen in der Ukraine eingesetzt hatten (Agro-Joint), gerieten die jüdischen Kolonien wie viele andere NichtRussen unter einen Generalverdacht. Allerdings gab es noch keine ausdrücklich antijüdischen Aktivitäten. Eine Sonderrolle spielten die Juden im post-österreichischen Ostgalizien. Im November 1918 rissen die Ukrainer in Lemberg (Lwów, L’viv) die Macht an sich und proklamierten eine Westukrainische Volksrepublik (Sachidn’o-Ukraïnśka Narodnja Respublika – ZUNR). Die in der Stadt die Mehrheit besitzenden Polen stellten ein aus Verwundeten und Jugendlichen bestehendes Heer gegen die Ukrainer auf und hielten mit ihm drei Wochen lang einen Teil der Innenstadt. Die Juden Lembergs erklärten angesichts der antagonistischen Nationalismen von Polen und Ukrainern, die ihnen gleichgültig sein konnten, ihre Neutralität, die auch von den kriegführenden Parteien weitgehend akzeptiert wurde. Nach dem Entsatz der eingeschlossenen Polen durch reguläre Truppen kam es jedoch zu einem mehrere Tage andauernden Pogrom mit zahlreichen Todesopfern. Da ? Polen diesen Teil der Ukraine 1923 durch die Entente zugesprochen bekam, förderte dies das Bild, die Juden seien im polnisch-nationalen Sinne nicht zuverlässig und rechtfertigte spätere rechtliche Einschränkungen. Die Juden in Ostgalizien und Wolhynien teilten das Schicksal der Juden des übrigen ? Polen.
Nach dem Ribbentrop-Molotow-Pakt Abgesichert durch die Vereinbarungen mit dem nationalsozialistischen Deutschland vom 23. August und 28. September 1939 besetzte die ? Sowjetunion im September 1939 Ostgalizien und Wolhynien, im Sommer 1940 dann auch noch die nördliche Bukowina und Bessarabien, dessen Teile (Chotyn/Hotin und Bilhorod Dnistrovskyj/Cetatea Albǎ/ Akkerman) heute ebenfalls zur Ukraine gehören. Da der polnische Staat in den 1930er Jahren zunehmend judenfeindlich geworden war, begrüßten Teile der jüdischen Einwohner (vor allem Jugendliche und Anhänger linker Gruppen) die Sowjets. Tatsächlich hob die Sowjetmacht in den annektierten ukrainischen Gebieten alle gegen Juden gerichteten formalen Einschränkungen auf, und es kamen auch jüdischstämmige Repräsentanten der Sowjetmacht bei der Sowjetisierung des neu erworbenen Gebiets zum Einsatz. Jüdische Jugendliche traten, von den sowjetischen Versprechen angezogen, in die neu gebildeten Milizen ein und bestätigten damit scheinbar den durch das ältere Schlagwort von der Identität von „Juden“ und „Kommunisten“ (żydokomuna; Judenkommune) vorgetäuschten Eindruck. Dadurch konnte man übersehen, dass es auch zu gegen Juden gerichteten Handlungen der Sowjets kam, die die Kommunität stärker trafen: Die Wirtschaftstätigkeit der Juden wurde im Kampf gegen „Kapitalismus“ und Handel verboten bzw. stark
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eingeschränkt, den Religionsgemeinschaften – christlichen wie jüdischen – wurde der Kampf angesagt. Auch linke jüdische politische Strömungen wie der „Bund“ wurden verfolgt, ihre in die Sowjetunion geflohenen Führer umgebracht. Juden wie Polen wurden in hohen Zahlen zur Zwangsarbeit in die Ostukraine und nach Sibirien deportiert; verschiedene Berechnungen ergeben für das ganze ehemals polnische Gebiet eine Zahl zwischen 330.000 und 520.000. Dies traf insbesondere diejenigen, die zum Teil aus judenfeindlichen Motiven denunziert worden waren oder sich weigerten, die neue sowjetische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Letztere waren vor allem Flüchtlinge aus dem deutsch besetzten Teil Polens, die die Hoffnung hatten, irgendwann in ihre Heimatgemeinden zurückkehren zu können. Sie wurden im Juni 1940 deportiert. Um die 15 bis 20 Prozent der Deportierten waren Juden, was mehr als ihr Anteil an der örtlichen Bevölkerung ausmachte. Was zunächst als großes Unrecht aufgefasst wurde, rettete den Deportierten – von den Sowjets unbeabsichtigt – im Ergebnis das Leben, weil sie nicht den Deutschen in die Hände fielen, die am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfielen und die gesamte Ukraine bis Ende des Jahres besetzten. Nach dem zumeist überstürzten Rückzug der sowjetischen Truppen, vor der Ankunft der Deutschen und während der ersten Wochen der Okkupation, kam es in der Westukraine zu Pogromen der einheimischen ukrainischen Bevölkerung. In einigen Fällen handelten Ukrainer selbständig (Ternopil, Obertyn), in anderen (Lemberg) gaben die neuen Okkupanten gewisse Pogromzeiten frei. Die Kennzeichnungspflicht für Juden wurde auf dem gesamten deutsch besetzten Gebiet eingeführt, gleichzeitig wurde den Juden verboten, ihren früheren Beschäftigungen nachzugehen. Zum einen wurden sie zur Zwangsarbeit herangezogen, in Wolhynien und Ostgalizien wurde ihnen zeitweise eine Fortsetzung ihrer Tätigkeiten gestattet. Viele Ukrainer und Polen waren aufgrund ihrer subjektiven und falschen Identifizierung von Juden und Sowjets bereit, an den jüdischen Mitbewohnern grausam Rache für die Morde und Deportationen der Sowjets zu üben. Ihre Handlungen gingen nahtlos in die Mordorgien über, die die Einsatzgruppen C und D des Reichssicherheitshauptamtes begingen. Etwa sechs Wochen lang wurden vor allem Männer, tatsächliche oder angebliche Kommunisten, und die Spitzen der jüdischen Gemeinden ermordet. Die Deutschen übernahmen in der Ukraine einen Teil der 1941 aufgestellten nationalistischen Milizen in den eigenen Dienst und akzeptierten Ukrainer im Einzel- und im Bereitschaftsdienst als Hilfspolizei, die bald als „Schutzmannschaften“ bezeichnet wurde. Diese nahmen an den Judenerschießungen teil, sie bewachten Ghettos und Konzentrationslager. Vom August 1941 an, als der deutsche Vormarsch das altsowjetische Gebiet erreicht hatte, entwickelte sich das Töten zum Massenmord. Während 1941/42 in Ostgalizien und Wolhynien noch Ghettos eingerichtet wurden, in denen die überlebende jüdische Bevölkerung von den nicht-jüdischen Nachbarn isoliert wurde, bestanden Ghettos im altsowjetischen Gebiet der Ukraine nur wenige Wochen oder Monate, bis die Einsatzgruppen mit ihren einheimischen Helfern die Bewohner ausnahmslos durch Erschießen, in einigen Fällen auch mittels Gaswagen töteten. Die größte dieser einzelnen deutschen Erschießungsaktionen war das Massaker von Babij Jar (Babyn Jar) in Kiew am 29./30.
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September 1941, bei dem die 33.778 nach dem Abzug der Sowjets zurückgebliebenen Juden der ukrainischen Hauptstadt erschossen wurden. In den folgenden Monaten und Jahren wurde der Ort weiterhin als Exekutionsstätte für Juden, Roma, aber auch für ukrainische Nationalisten und sowjetische Kriegsgefangene benutzt. Weiter östlich gelang es mehr Juden, sich noch vor den vormarschierenden Deutschen in Sicherheit zu bringen. Alle diejenigen aber, die in die deutsche Gewalt gerieten, wurden sofort oder nach kurzer Zeit der Ghettoisierung ermordet. Für sie waren eine Deportation zur Zwangsarbeit nach Deutschland (als Nicht-Juden getarnt) oder das Leben mit falschen Papieren oder im Versteck bei einheimischen Rettern die einzigen Überlebensmöglichkeiten. Das moldauische und ukrainische Gebiet bis zum Südlichen Bug, ? Transnistrien genannt, wurde rumänisch verwaltet. Die Ghettos in Wolhynien und in dem an das Reichskommissariat Ukraine angeschlossenen Teil des heutigen ? Weißrussland (Brest, Pinsk, Homel) wurden im Herbst 1942 liquidiert und ihre Bewohner zumeist erschossen. Das Ghetto in Volodymyr Volynskyj (Wladimir-Wolynsk) bestand bis Ende 1943. Das Ergebnis des Zweiten Weltkriegs und der ihm folgenden „Repatriierungen“, also der nationalen Entmischungen von Polen und Ukrainern, war, dass das Gebiet der Ukraine ethnisch homogen wurde.
Nach dem Krieg in der Sowjetunion Das Schicksal der Juden in der sowjetischen Ukraine nach 1945 unterschied sich nicht von demjenigen in der übrigen ? Sowjetunion. In der Ukraine wurde eine Reihe von Hetzschriften gegen Juden publiziert, die nicht beim Antizionismus stehen blieben, sondern das Judentum insgesamt bekämpften. Zu den bekanntesten gehörte das von der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften in Kiew 1963 herausgegebene Buch „Iudaïsm bes prykras“ (Judaismus ohne Beschönigungen) von Trofim Kičko, das im Stil der bekannten rechten antisemitischen Literatur die zionistischen Tendenzen unmittelbar mit der Bibel und dem Talmud begründete. Da nirgendwo in der Sowjetunion der ermordeten Juden als solcher gedacht wurde, sondern bestenfalls als umgekommener Sowjetbürger, gab es zunächst auch in der Ukraine keine Gedenkstätten für die jüdischen Opfer des Zweiten Weltkriegs. Erst lange nachdem der russische nicht-jüdische Dichter Evgenij Evtušenko 1961 sein berühmtes Poem „Es gibt keine Denkmäler über dem Babij Jar“ (Nad Bab’im Jarom pamjatnikow net) geschrieben hatte (gedruckt wurde es in der UdSSR erst 1984) und Dmitri Schostakowitsch es 1962 in seiner 13. Symphonie umgesetzt hatte, fand sich die Sowjetukraine 1976 bereit, an der Exekutionsstätte ein Denkmal zu errichten, das unter anderem auch eine jiddischsprachige Inschrift erhielt, auch wenn nirgendwo erwähnt wurde, dass die Opfer des Massakers dort als Juden gestorben waren. Die beruflichen Einschränkungen für Juden galten in der Ukraine wie überall sonst in der UdSSR. Im Laufe der Zeit kehrte ein Teil der Juden, die im Zweiten Weltkrieg anderswo in der Sowjetunion untergekommen waren, in die Ukraine zurück. Zeitweise stieg die Zahl der Juden in der Ukraine auf etwa 700.000, wobei es sich dabei um „Passjuden“ handelte, die diesen Eintrag in ihrem Inlandspass hatten. Nur sehr wenige von ihnen hatten religiöse Beziehungen zu den wenigen, vor allem in den größeren Städten
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existierenden Gemeinden. Seit 1974 die USA im Jackson-Vanik Amendment die Handelsgenehmigungen für die Sowjetunion von der Ausreiseerlaubnis für Juden abhängig gemacht hatten, profitierten auch die ukrainischen Juden davon, und eine allmähliche Abwanderung nach Israel und in andere Staaten setzte ein.
In der unabhängigen Ukraine Als sich die Ukraine im August 1991 für unabhängig erklärte, gab es durchaus Befürchtungen, dass der Antisemitismus der rechten ukrainischen Nationalisten Auftrieb erhalten würde. Tatsächlich bemühten sich alle folgenden ukrainischen Regierungen, in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg eine neue Nationalidee aus sowohl den pro-sowjetischen als auch den pro-deutschen ukrainischen Formationen zusammenzustellen. So wurde in der Nähe von Solotschiw ein Ehrenmal und ein Friedhof für die 1943 von den Deutschen aufgestellte 14. Waffengrenadierdivision der SS Galizien, die sich in den letzten Kriegstagen zur Ukrainischen Nationalarmee erklärt hatte, eingerichtet und schrittweise band man nicht nur die sowjetischen Partisanen und Rotarmisten, sondern auch die Kämpfer der 1944 mit der Wehrmacht zusammenarbeitenden Ukrainischen Aufständischen Armee UPA in die ukrainische Tradition ein. Alle Regierungen legten allerdings größten Wert darauf, nicht des Antisemitismus geziehen zu werden. Antisemitische Vorfälle gibt es dennoch, vor allem in der West-Ukraine, wo die Tradition der antijüdischen Nationalisten besonders hochgehalten wird. Nach den 1990er Jahren nahmen sie jedoch ab. Alte Vorurteile erhielten neuen Auftrieb, als der jüdischstämmige Ministerpräsident Juchym Swjahilsskyj 1994 der Unterschlagung bezichtigt wurde und nach Israel floh. Er kam 1997 gegen das Versprechen der Straffreiheit in die Ukraine zurück und genießt seitdem als Abgeordneter Immunität. 2006 wurden die inzwischen errichteten kleinen zusätzlichen jüdischen Denkmäler am Babij Jar in Kiew geschändet. Im Bereich der Geschichtspolitik hat sich insofern eine relevante Entwicklung abgespielt, als die durch den Sowjetstaat 1932/33 initiierte Hungerkatastrophe (Holodomor) unter den ukrainischen Bauern, die sich der Zwangskollektivierung widersetzten, als ein Genozid aufgefasst und mit der Shoah der Juden parallelisiert wird. Allerdings war dieser indirekte Massenmord an Bauern nicht gegen die Ukrainer als ethnische Gruppe gerichtet und erfasste außer Ukrainern auch Bauern in Russland und dem Nordkaukasus und Nomaden in Kasachstan. Der ukrainische Staat anerkennt die Juden als „einheimisches Volk“ der Ukraine. Er fördert und unterstützt die jüdischen Gemeinden (in Kiew erhielt die jüdische Gemeinde etwa – wenngleich nach langem Zögern – die Brodskij-Synagoge zurück, in der in sowjetischer Zeit ein Puppentheater untergebracht worden war) und wendet sich gegen Antisemitismus. Etwa 250.000 Juden sollen heute nach offiziellen Angaben des „European Jewish Congress“ in der Ukraine leben. Der Zensus von 2000 ergab allerdings nur 103.500 Menschen, die sich als Juden deklarierten, von denen etwa 84 Prozent Russisch als ihre Muttersprache angaben. Weitere Juden können sich in der Zahl von 180.000 verbergen, die keine Angaben zu ihrer Nationalität gemacht haben. Die Zahl der Juden nahm jedenfalls gegenüber der Sowjetzeit stark ab, seit der Emigration nach Amerika,
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Westeuropa und Israel keine Hindernisse mehr in den Weg gestellt werden. Seit 1989 sollen etwa 200.000 Juden aus der Ukraine nach Israel eingewandert sein.
Frank Golczewski
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Ungarn Den historischen Überlieferungen zufolge erhielten Juden Mitte des 10. Jahrhunderts Aufnahme in Ungarn. Schutzbriefe der Folgezeit sicherten ihnen Niederlassungs-, Handels- und Religionsfreiheit zu und unterstellten sie königlichem Schutz. Bis Anfang des 13. Jahrhunderts gab es in Ungarn immer wieder gesetzliche Bestimmungen und ökonomische Restriktionen, die sich jedoch nicht explizit gegen Juden richteten, sondern vielmehr gegen nicht-christliche Gruppen, so auch gegen Bulgaren muslimischen Glaubens oder gegen persische Händler. Die in der Folgezeit phasenweise erlassenen Verordnungen sind nur regional und zeitlich begrenzt umgesetzt und immer wieder aufgehoben worden. Die ungarischen Herrscher haben die von der katholischen Kurie (Synode) auferlegten Judengesetze geschickt umgangen, indem sie auf die schwierige ökonomische und finanzielle Lage sowie auf die Notwendigkeit des Wiederaufbaus des Landes nach dem Tatarensturm (13. Jahrhundert) hinwiesen. Die im 14.-16. Jahrhundert verzeichneten antijüdischen Unruhen fanden nur in einigen Städten statt und standen im Zusammenhang mit dem aufkeimenden ökonomischen Konkurrenzkampf zwischen neu zugewanderten Minderheiten und jüdischen Stadtbürgern. Vor allem das deutsche städtische Kleinbürgertum, Handwerker und Kaufleute, befürchtete die Konkurrenz der Juden. Die Organisation des Zunftwesens erhielt eine zunehmend christliche Prägung, die das Hinausdrängen der jüdischen Wirtschaftskonkurrenten verfolgte und die Stadträte zur Herausgabe diesbezüglicher Erlasse beeinflusste. In Sopron verbot der Stadtrat den Juden, Schneidereien und Handel mit neuen Kleidern
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zu betreiben. 1368 wurden die Juden zwar auf Druck der Zünfte aus Sopron vertrieben, drei Jahre später jedoch wieder zurückgerufen, da sich ihre Wirtschaftskraft als unentbehrlich erwies. In diesem aufgeheizten antijüdischen Klima fand 1494 in Nagyszombat (vgl. Karte 2) die erste Ritualmordanklage statt, in deren Folge vierzehn Juden auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Die Niederlage der Ungarn gegen das osmanische Heer bei Mohács (1526) verschärfte die Situation in den nicht-besetzten Regionen, in denen katholische Könige aus dem Hause Habsburg regierten: Die Katastrophe von Mohács war als eine von Juden verschuldete Niederlage interpretiert worden. Königin Maria erlaubte deren Vertreibung aus den Städten Pozsony, Sopron und Nagyszombat, die Umsetzung des Erlasses erfolgte jedoch nur teilweise. Die 1529 erhobene Ritualmordanklage in Bazin (Bösing) führte zum Tod von 30 Juden auf dem Scheiterhaufen, der Rest der jüdischen Bevölkerung wurde aus der Stadt vertrieben. 1551 verordnete Ferdinand I., dass alle Juden ein gelbes Judenzeichen an ihrer Kleidung tragen sollten. Die auferlegte Steuerlast erhöhte sich zunehmend: Nach der Verdoppelung der Haussteuer folgte die Erhebung einer Kopfsteuer und einer Soldatensteuer. 1744 führte Kaiserin Maria Theresia die Duldungssteuer ein, die alle ungarischen Juden zu entrichten hatten. Eine gewisse Entspannung ist nach der Thronbesteigung Kaiser Joseph II. eingetreten. 1783 gab er den Toleranzerlass (Systematica Gentis Judaicae Regulatio) heraus, der den freien Gebrauch der hebräischen Sprache bei der Religionsausübung, die Möglichkeit zur Errichtung eigener Schulen, das Niederlassungsrecht (mit Ausnahme in den Bergbaustädten) und die Ausübung aller Berufe und Tätigkeiten gewährte. Bei der größten Einwanderung, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte und bis in die 1850er Jahre dauerte, handelte es sich um Juden aus Galizien und den polnischen Gebieten des Zarenreichs, die aus materieller Not und vor Verfolgung flohen. Der Großteil der Immigranten siedelte sich in den nördlichen Komitaten an (Ungvár, Bereg, Ugocsa und Zemplén). 1830 lebten 202.876 Juden in Ungarn, das entsprach etwa 2,4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Für die rechtliche Gleichstellung setzten sich verschiedene Abgeordnete und Parteien innerhalb der Nationalversammlung ein. 1832 brachte die Reformpartei unter Ferenc Deák einen Gesetzesvorschlag ein, der auf die Aufhebung der Duldungssteuer zielte. Der Vorschlag wurde zunächst abgelehnt und erst 1846 gegen eine Ablösesumme endgültig aufgehoben. 1840 verabschiedete die Nationalversammlung ein Gesetz, das die freie Niederlassung in Ungarn und ihren Teilgebieten festlegte sowie die Zustimmung zur Gründung von Fabriken und Betrieben als auch zum Landerwerb erteilte. Ein Gesetz gewährte 1867 die volle politische und bürgerliche Gleichstellung, 1895 folgte die gesetzliche Anerkennung des israelitischen Glaubens. Die sozio-ökonomischen Zugeständnisse und die politisch-bürgerliche Gleichstellung führten zu einer zunehmenden Verbindung des jüdischen Bürgertums und der Intelligenz mit der herrschenden ungarischen liberalen Klasse. Es entstand eine Art Symbiose, die nirgendwo so anzutreffen war wie in Ungarn. Von Seiten der Juden war keine nationale Konkurrenz zu befürchten, denn sie bekannten sich zum Magyarentum und hatten – im Gegensatz zu den übrigen Minderheiten – keine nationalen Aspirationen oder irredentistischen Ambitionen.
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Vehemente Gegner der jüdischen Emanzipation waren neben den deutschen städtischen Bürgerschichten auch Teile der unzufriedenen Kleinhandwerker und -händler, die zu Ausschreitungen aufhetzten. Im Februar und März 1848 kam es in Pozsony zu pogromartigen Ausschreitungen. Aufgebrachte Kleinhandwerker überfielen die Wohnungen der Juden, zerstörten ihr Hab und Gut und beschimpften sie. Ähnliche Ausschreitungen fanden auch in Pest, Nagyszombat, Szombathely und Székesfehérvár statt. Die Ursachen dieser Ausschreitungen und Hetzkampagnen lagen in der ökonomischen Interessenkollision zwischen dem deutschen, serbischen und dem jüdischen städtischen Bürgertum. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts führte die kapitalistische Entwicklung zu erheblichen sozialen Problemen und Konflikten: Die Masse der Agrarproletarier, die einen benachteiligten wirtschaftlichen und rechtlichen Status hatte, sowie die kleinen Landbesitzer, denen es an Kapital oder Motivation fehlte, waren für die Übernahme neuer ökonomischer Aufgaben noch nicht fähig. Der Landadel wiederum, geprägt vom traditionellen Habitus, war hierzu noch nicht bereit. Die vorherrschende gesellschaftliche Unzufriedenheit und Enttäuschung nutzten Politagitatoren aus und begannen ab 1875 im Abgeordnetenhaus die Aufmerksamkeit auf die „Judenfrage“ (zsidókérdés) zu lenken. Wortführer dieser Gruppierung war der Landtagsabgeordnete Győző Istóczy, dessen parlamentarische Auftritte jedoch ausgelacht und dessen antisemitische Vorschläge abgelehnt wurden. Ab 1878 gab er Wochenschriften und Pamphlete heraus, die aber auf wenig Resonanz in der Bevölkerung stießen. Dies änderte sich 1882 anlässlich der im Juli erhobenen Ritualmordanklage im Dorf Tiszaeszlár (vgl. Karte 5) erheblich. Die ersten anti-jüdischen Ausschreitungen erfolgten im September 1882 in Pozsony, in deren Verlauf der Innenminister das Standrecht über das gesamte Komitat verfügte. Am 3. August 1883 eskalierte die Gewalt, als das Gericht von Nyiregyháza alle jüdischen Angeklagten freisprach: In zahlreichen Komitaten brachen Unruhen aus, so in Pozsony, Zala, Somogy, Veszprém, Ung und Trencsén. Die Regierung entsandte Militär, das gegen die plündernde und prügelnde Menge vorging. Zehn Todesopfer waren zu beklagen. Gegen die verhafteten Personen wurden Strafverfahren eingeleitet und in vielen Fällen Urteile ausgesprochen. Die Drahtzieher dieser Ereignisse, die antisemitischen Politiker und Journalisten, gingen indes straffrei aus. Nachdem Győző Istóczy feststellte, dass der Antisemitismus keinen Einfluss auf die Regierungspolitik gewinnen konnte, gründete er zusammen mit Géza Ónódy, Iván Simonyi und György Széll im Oktober 1883 die „Országos Antiszemita Párt“ (Antisemiten Partei). Bei den Wahlen von 1884 gelangten zwar 17 antisemitische Abgeordnete ins Parlament, doch bereits ein Jahr später setzte die Auflösung der Partei ein. Der politische Antisemitismus konnte sich bis Anfang des 20. Jahrhunderts in Ungarn nicht etablieren. Ein Grund dafür war die auf Interessenkompensation beruhende Symbiose zwischen jüdischer Mittelschicht und den dominierenden ungarischen Klassen. Zudem fand der Antisemitismus in den etablierten Parteien keinen Rückhalt. Das Aufkeimen und die Verbreitung des politischen ungarischen Antisemitismus wurden sowohl durch das Scheitern der Räterepublik als auch durch die von Gebiets- und Bevölkerungsverlusten verursachte sozio-ökonomische Instabilität hervorgerufen. Die Rolle der Juden während der Räterepublik 1919 mag zwar bedeutend gewesen sein
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(viele Rätekommissare waren wie Béla Kún jüdischer Herkunft), doch die darauf beruhende antisemitische Agitation war vielmehr ein taktisches Vorgehen der konterrevolutionären Kräfte: Als Ablenkung von den sozialen Missständen im Land und zum Aufbau einer Sündenbock-Ideologie. Die Ursachen für die Ausbreitung des Antisemitismus sind in der ökonomischen und strukturellen Krise zu suchen, die Folge des Trianon-Vertrages war. Durch die Gebietsabtretungen schrumpfte Ungarn zum so genannten Kernland zusammen; zwei Drittel des ungarischen Gebietes wurden an die Nachbarstaaten angegliedert. In den lokalen Verwaltungseinheiten der abgetrennten Gebiete waren hauptsächlich Ungarn beschäftigt. Vorwiegend aus ihren Reihen kamen nach 1920 Hunderttausende Flüchtlinge ins Kernland und bildeten die Masse der arbeitslosen Beamtenschaft, die nicht untergebracht werden konnte und nach neuen Beschäftigungsmöglichkeiten suchte. Ein weiteres Problem bestand in der steigenden Zahl der Universitätsabsolventen im Kernland, die nicht auf dem Arbeitsmarkt unterkommen konnte. Bereits 1920 wurde ein „numerus clausus“ in den Universitäten eingeführt, wonach der jüdische Anteil an der Gesamtstudentenschaft fünf Prozent nicht übersteigen durfte. Die Unzufriedenheit weiter Schichten der ungarischen Bevölkerung, die noch immer keinen Platz in der Gesellschaft gefunden hatten, spitzte sich mit der Wirtschaftskrise 1929/30 zu. Faschistische Gruppierungen, deren Ziel u.a. durch den Slogan „Örségváltás!“ (Wachablösung) umschrieben war, entwickelten sich zum Sammelbecken der unzufriedenen unteren Mittelschicht, der arbeitslosen Akademiker und der Randexistenzen, die eine Neuverteilung der bestehenden gesellschaftlichen Positionen anstrebten. Demgegenüber war die von Großgrundbesitzern und Monarchisten dominierte Regierung weder bereit, den politischen und gesellschaftlichen Status quo – auch die Juden betreffend – zu verändern, noch wollten sie mit den faschistischen Gruppierungen und Parteien kooperieren. Nachdem die Regierung ab Mitte der 1930er Jahre erkannt hatte, dass die Pfeilkreuzlerbewegung eine immer größere Massenunterstützung errang, orientierte sie sich neu. Sie verabschiedete drei anti-jüdische Gesetze, die den Forderungen der ungarischen Mittelschichten nach Einschränkung der jüdischen Dominanz innerhalb bestimmter Berufskategorien entsprachen. Das erste antijüdische Gesetz (1938) beschränkte den Anteil der Juden im Presse- und Theaterbereich, im Rechtswesen und in der Medizin auf maximal 20 Prozent (das betraf 50.000 Personen). Das zweite Gesetz (1939) basierte auf einer rassistischen Definition, die auch 62.000 zum Christentum konvertierte Juden einbezog. Sie verbot den Juden, die ungarische Staatsbürgerschaft durch Einbürgerung oder durch Heirat zu erlangen und schränkte ihre gesellschaftlichen und politischen Rechte stark ein. Dieses Gesetz zielte auch auf ihre „Aussiedlung“. Die „Nationale Fremdenkontrollbehörde“ (Külföldiek Ellenörzö Országos Központi Hatóság, KEOKH) war mit der Erfassung staatenloser Juden betraut. Ende Juni 1941 verfügte der Ministerrat die Ausweisung und beauftragte die ungarische Gendarmerie, die Grenzpolizei und die lokalen Verwaltungen mit der Durchführung. Im August 1941 ist der Großteil der 23.600 Ausgewiesenen bei Kamenetz-Podolsk von SS-Einheiten, ungarischen Soldaten und Miliz ermordet worden. In den Jahren 1941 und 1942 hat der ungarische Staat zehntausende jüdische Männer zum militärischen Arbeitsdienst (munkaszolgálat) eingezogen: Sie begleiteten die regu-
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lären Einheiten bis an die Front und leisteten Dienst ohne Waffen. Ein Teil der militärischen Arbeitsdienstleistenden ist 1943/44 in die Ukraine und nach Serbien verschleppt worden. Nur wenige überlebten diese Einsätze. Das 1941 verabschiedete dritte antijüdische Gesetz entsprach in vielen Punkten den Nürnberger Gesetzen, das vierte Gesetz (1942) regelte die Enteignung des jüdischen Land- und Pachtbesitzes. Die ungarischen Regierungen, die zwar die antijüdischen Gesetze verabschiedet und in die Praxis umgesetzt hatten, wehrten sich – trotz heftigen Drucks von Seiten des verbündeten NS-Staates –, gegen die jüdische Bevölkerung im Sinne der „Endlösung“ vorzugehen. Erst nachdem Ungarn am 19. März 1944 von deutschen Truppen besetzt und drei Tage später die Kollaborationsregierung unter Döme Sztójay eingesetzt worden war, begannen die Vorbereitungen zur Deportation ungarischer Juden nach Auschwitz. Unter der Führung des SS-Sonderkommandos leitete die ungarische Polizei, Gendarmerie und Verwaltung die nötigen Schritte ein, die für die Deportationen erforderlich waren: Errichtung von Sammellagern, Ghettoisierung, Enteignung, Ausplünderung und Abtransport. Innerhalb von zwei Monaten, vom 15. Mai bis 9. Juli 1944, wurden 435.000 ungarische Juden – überwiegend aus den ländlichen Regionen – nach Auschwitz deportiert. Der Großteil der Deportierten ist unmittelbar nach ihrer Ankunft in Auschwitz als nicht arbeitsfähig selektiert und in den Gaskammern ermordet worden. Etwa 110.000 Menschen wurden zur Zwangsarbeit in Deutschland gezwungen. Erst Anfang Juli 1944 – als bereits der Großteil der Juden aus den ungarischen Provinzen deportiert war – verfügte Reichsverweser Miklos Horthy die Einstellung der Deportationen. Nachdem Ferenc Szálasi, der Führer der Pfeilkreuzler, am 15. Oktober 1944 von den Nationalsozialisten als Regierungschef eingesetzt worden war, kam es in Budapest erneut zu zahlreichen antijüdischen Aktionen, denen tausende Menschen zum Opfer fielen. Im Herbst 1944 veranlassten die ungarischen Behörden die Deportation von etwa 50.000 Budapester Juden, die größtenteils zu Fuß in Richtung österreichische Grenze erfolgte. Im November 1944 wurden die zwei Pester Ghettos errichtet. Interventionen internationaler Organisationen, neutraler Gesandtschaften und zionistischer Verbände bei den ungarischen Behörden und den deutschen SS-Führern ermöglichten das Überleben der dort festgehaltenen Juden. 1941 lebten in Ungarn etwa 825.000 Juden, den Holocaust überlebten nur 260.500. Die ungarische Nachkriegsregierung hob die antijüdischen Gesetze auf, wodurch der Antisemitismus zwar offiziell verdrängt, aber gesellschaftlich nicht beseitigt wurde. Dies zeigte sich bereits im Jahr 1946, als antijüdische Ausschreitungen im nördlichen Industriegebiet (Ózd, Miskolc-Diósgyör und Sajószentpéter) sowie Pogrome in kleineren Gemeinden (Kunmadaras und Tótkomlos) stattfanden. In den Industrieregionen lenkten kommunistische Politagitatoren die Unzufriedenheit der Arbeiter auf „Währungsspekulanten“, „Schwarzmarkthändler“ und „kapitalistische Kräfte“, die für die ökonomische Misere verantwortlich gemacht wurden. Die aufgehetzten Massen sind gezielt gegen jüdische Bürger vorgegangen. In der Gemeinde Kunmadaras löste die Vorladung eines ehemaligen faschistischen Kollaborateurs zum Volksgericht die Ausschreitungen aus. Lokale Honoratioren mobilisierten daraufhin hunderte Einwohner, die ihren Unmut gegenüber dem Volksgericht und der Verurteilung „christlicher Bürger“ durch Angriffe auf die lokale jüdische Bevölkerung kundtaten.
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Auf die sichtbaren gesellschaftlichen Abwehrmechanismen gegen das „Gefühl der Schuld und Mitverantwortung“ für den ungarischen Holocaust verwies István Bibó und hob die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Ereignissen hervor. Doch bereits nach 1948 wurde das Thema von offizieller Seite ad acta gelegt: Der Aufbau des Kommunismus wurde richtungsweisend und leitete die Phase des Schweigens und Verdrängens ein. Die offizielle Geschichtsschreibung externalisierte den Faschismus und die Verantwortung für den Holocaust: Während die deutschen Besatzer für den Holocaust und das faschistische Regime der Pfeilkreuzler verantwortlich waren, kam der ungarischen Bevölkerung die tragende Rolle im „antifaschistischen Kampf“ zu. All diese Entwicklungen verstärkten die Auswanderung der ungarischen Juden: Zwischen 1945 und 1956 verließen etwa 110.000 das Land, nach der Niederschlagung der Revolution 1956 sind weitere 20.000 emigriert. Schätzungen zufolge lebten 1990 etwa 100.000 Juden in Ungarn, die Mehrheit davon in Budapest. Nach 1990 gerieten nationale Selbstbilder und Mythen erneut in Bewegung und die historischen Ereignisse erfuhren eine Umdeutung: Der Kommunismus wurde nun als eine von „außen“, von „Fremden“ auferlegte Epoche interpretiert. An dessen Stelle war die Rückbesinnung auf einen Zeitabschnitt gefragt, der die nationale Einheit und Unabhängigkeit Ungarns hervorheben sollte. Politische Akteure wiesen den 1920er und 1930er Jahren sinnstiftende Bedeutung zu, was zur Mystifizierung der Zwischenkriegszeit sowie der Horthy-Ära beitrug. Nebst revidiertem Geschichtsbild orientierten sich rechtskonservative Politiker und Intellektuelle auf die Stärkung des nationalen Gemeinschaftsgefühls: Sei es durch die Erinnerung an die „schmerzlichen Verluste von Trianon“ und dem Wunsch nach „Zusammenführung des Magyarentums“, sei es durch Verschwörungs- und Sündenbocktheorien, die zur Erklärung aktueller wirtschaftlicher Missstände herangezogen wurden. In den Mittelpunkt dieser Identitätsbildung wurden die als christlich definierten und auf das Magyarentum beruhenden Werte positioniert, was unweigerlich zur Ausgrenzung der „Anderen“ führte. Der wiederbelebte Antisemitismus ist in diesem Kontext zu verorten. Die Speerspitze der antisemitischen Agitation stellt die 1993 von István Csurka gegründete rechtsextreme „Magyar Igazság és Élet Pártja“ (MIÉP, „Ungarische Gerechtigkeits-Partei“) dar. Die Partei spielt zwar politisch keine besondere Rolle: Lediglich bei den Wahlen 1998 fanden 14 Abgeordnete Einzug ins Parlament, 2002 blieb die Partei weit unter der Fünf-Prozent-Hürde. Aber in ihren Pamphleten und Hetzartikeln vereint sie die Funktionsstränge des Antisemitismus: Die Schuldzuweisung für den Kommunismus und für die sich verschärfende wirtschaftliche Lage an die Juden. Weitaus bedenklicher ist, dass diese ideellen Impulse von vielen konservativen Kräften aufgegriffen und in milderer Form übernommen werden. Kodierte, in Metaphern gehüllte oder offene antisemitische Äußerungen wechseln sich ab und prägen zeitweise die öffentlichen Diskurse in Ungarn, wie zuletzt im Jahr 2004: Infolge der heftigen Auseinandersetzungen und wegen der Weigerung des Vorstandes des ungarischen Schriftstellerverbandes, sich von den antisemitischen Äußerungen eines Vorstandsmitgliedes zu distanzieren, sind 200 Schriftsteller aus dem Verband ausgetreten.
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Literatur Nora Berend, At the Gate of Christendom. Jews, Muslims and „Pagans“ in medieval Hungary, c. 1000-c. 1300, Cambridge 2002. Rolf Fischer, Entwicklungsstufen des Antisemitismus in Ungarn 1867-1939, München 1988. András Gerö, László Varga, Mátyás Vince (Hrsg.), Antiszemita közbeszéd Magyarországon 2002-2003-ban [Antisemitischer Diskurs in Ungarn, 2002-2003], Budapest 2004. Victor Karády, István Kemény, Les juifs dans la structure des classes en Hongrie: Essai sur les antecedents historiques des crises d'antisemitisme du XX. siècle, in: Actes de la Recherche en Sciences Sociales, 22(1978), S.25-59. Brigitte Mihok (Hrsg.), Ungarn und der Holocaust. Kollaboration, Rettung und Trauma, Berlin 2005. Lajos Venetianer, A magyar zsidóság története [Die Geschichte der ungarischen Juden], Budapest 1986.
Uruguay Die Einbindung des heutigen Staatsgebietes von Uruguay in das spanische Kolonialreich brachte diese Region auch mit dem Antijudaismus des frühneuzeitlichen Europa in Berührung. Anlässlich der Gründung Montevideos erklärte der zuständige Gouverneur von Buenos Aires 1726, dass Muslime und Juden im Siedlungsbereich der Stadt unerwünscht seien. Bis zur Abschaffung der Inquisition in Lateinamerika 1813 kam es auf uruguayischem Territorium aber nicht mehr zur Einrichtung eines eigenen Inquisitionstribunals. Die Bevölkerung der 1828 gegründeten República Oriental de Uruguay bestand in den 1860er Jahren zu einem Drittel aus Einwanderern. Während des 19. Jahrhunderts gab es eine geringe jüdische Immigration, deren frühester Nachweis erst für 1898 erbracht werden kann. Um die Jahrhundertwende lebten insgesamt nicht mehr als ein paar hundert Juden in Uruguay, die Mehrheit davon in der Hauptstadt Montevideo. Antisemitische Propaganda fand jedoch schon seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Verbreitung. Veröffentlichungen deutscher Antisemiten wie Wilhelm Marr oder Heinrich von Treitschke tauchten auch im uruguayischen Pressespiegel auf. Mehrere katholische Zeitungen druckten Artikel aus der französischen und italienischen Presse nach, die gegen die Säkularisierungen in Europa polemisierten und den Konflikt zwischen Kirche und Staat antisemitisch interpretierten. In seiner ersten Regierungszeit als Präsident 1903-1907 begann José Pablo Torcuato Batlle y Ordóñez (1856–1929) die Trennung von Staat und Kirche auch in Uruguay durchzusetzen. In Reaktion darauf machte der 1897 zum ersten Erzbischof von Montevideo ernannte Mariano Soler (1846–1908) in einer 1906 vor seinem „Club Católico“ gehaltenen Protestrede eine weltweite jüdischfreimaurerische Verschwörung für diese politische Entwicklung verantwortlich. In derselben Zeit wurde die „Liga de Damas Católicas del Uruguay“ gegründet, deren Präsidentin der Kommission für Theaterzensur zwischen 1911 und 1916, Laura Carrera de Bastos, für ihren Antisemitismus bekannt war.
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In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stieg die jüdische Einwanderung nach Uruguay stark an. Zu einer Gesamtbevölkerung Uruguays von 1.880.600 in den 1930er Jahren steuerte die jüdische Gemeinde ihren Anteil von etwa 25.000 Mitgliedern bei. In diesem Jahrzehnt kam es zu massiven antisemitischen Kampagnen in der uruguayischen Presse. Besonders polemisch zeigte sich die Zeitung „La Tribuna Popular“, die Ende des 19. Jahrhunderts gegründet worden war und bis in die 1960er Jahre im Besitz der Familie Lapido blieb. Mehrere Zeitungen druckten judenfeindliche Artikel auch aus argentinischen und mexikanischen Periodika ab. Die Presse der deutschen Auswanderer in der Rio de la Plata Region, die bis 1942 publizierte „Deutsche Wacht“ und die „Deutsche La Plata Zeitung“ aus Argentinien, verbreiteten ebenfalls antisemitische Ideologie in Uruguay. Auch innerhalb der katholischen Kirche kursierten in den 1930er Jahren judenfeindliche Schriften. Sie fanden teilweise über kirchliche Bildungseinrichtungen wie etwa dem „Colegio Pío“ der Stadt Colón weitere Verbreitung. Die geistliche Hierarchie Uruguays distanzierte sich zwar von den antisemitischen Strömungen in Europa, kritisierte über ihre Medien die Nürnberger Gesetze von 1935 und verurteilte die Ereignisse der „Reichskristallnacht“ 1938. Von den Vorbehalten der katholischen Kirche gegen Juden vermochte sie sich aber nur selten zu lösen. Die Verfolgung der Juden wurde nach wie vor auf deren Unwilligkeit zur Anpassung an die Gastgesellschaften zurückgeführt und die Forderung nach einem Übertritt zum Katholizismus letztlich beibehalten. Seit 1931 gab es eine Zelle der NSDAP in Uruguay, die die deutsche Auswanderergemeinde und rechtsgerichtete Teile der Bevölkerung mit nationalsozialistischer Ideologie infiltrierte. Eine Verbindung zwischen dem Zweig der NSDAP und der politischen Elite Uruguays stellte der Intellektuelle Adolfo Agorio (1888-1965) her, dessen Organisation „Acción Nacional Revisionista“ (Revisionistisch-Nationale Aktion) gute Verbindungen zur Colorado-Partei unterhielt. Antisemitische Ideologie diente zudem der programmatischen Definition von weiteren politischen Gruppierungen wie der Jugendorganisation „Asociación de la Juventud Patriótica del Uruguay“ (Assoziation der Patriotischen Jugend Uruguays), die keinen Hehl aus ihrer Sympathie für Faschismus und Nationalsozialismus machte. Die Diktatur von General Gabriel Terra zwischen 1933 und 1938 brachte schließlich im Zuge antikommunistischer Maßnahmen eine Verschärfung der Immigrationsbestimmungen mit sich, von denen insbesondere die aus Europa und Russland flüchtenden Juden betroffen waren. Auch unter der Präsidentschaft des Generals Alfredo Baldomir (1938-1943) wurde die restriktive Einwanderungspolitik zunächst weitergeführt. Im Dezember 1938 entzog die Regierung Uruguays ihren Konsuln im Ausland das Recht, ohne vorherige Konsultation der Staatskanzlei Papiere für die Einreise nach Uruguay auszustellen. Die entsprechenden Rundschreiben präzisierten, dass insbesondere Touristen, von denen man wüsste, dass sie aus religiösen oder politischen Gründen nicht in ihre Herkunftsländer würden zurückkehren können, keine Einreisegenehmigung zu erteilen sei. Anfang 1939 wurde in der Folge dieser Politik den Passagieren des italienischen Dampfers „Conte Grande“ im Hafen von Montevideo die Einreise verweigert. Die Einreisepapiere der an Bord befindlichen jüdischen Flüchtlinge, die von einem Mitarbeiter des uruguayischen Konsulats in Paris ausgestellt worden waren, wurden für ungültig er-
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klärt und den Asylsuchenden untersagt, an Land zu gehen. Nachdem das Schiff vergeblich auch den Hafen von Buenos Aires und ein zweites Mal Montevideo angelaufen hatte, erklärte sich schließlich Chile bereit, die Flüchtlinge aufzunehmen. 1940 sprach sich die Regierung Uruguays dann aber als eine der ersten Regierungen Lateinamerikas offen gegen das Nazi-Regime aus. In Reaktion auf die Ereignisse und Strömungen der 1930er Jahre gründete sich im Dezember 1940 das „Comité Central Israelita del Uruguay“ (Israelitisches Zentralkomitee Uruguay, CCIU) als Dachorganisation der verschiedenen jüdischen Gemeinschaften Uruguays mit dem Ziel, Antisemitismus im In- und Ausland zu bekämpfen. Nach Bekanntwerden der Judenverfolgung kam es in Montevideo 1942 zu zahlreichen Protestkundgebungen der Bevölkerung. In den Jahren 1945-1946 ließ die Einwanderung die jüdische Gemeinde Uruguays auf 37.000 Mitglieder ansteigen. Bis Ende des 20. Jahrhunderts sank diese Zahl wieder auf die bis heute geschätzten 24.200. 1948 sorgte das Auftauchen der Schmähschrift „La Escoba“ (Der Besen) für ein Wiederaufflammen judenfeindlicher Stimmungen. Anfang der 1960er Jahre kam es im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozess zu tätlichen Übergriffen auf Angehörige der jüdischen Gemeinde. Der uruguayische Soziologe Carlos M. Rama machte es sich daraufhin in einem 1963 in der „Revista Mexicana de Sociologia“ veröffentlichten Artikel zur Aufgabe, die Häufigkeit von Antisemitismus innerhalb des Phänomens rassistischer Konflikte zu erklären. Darin kam er mit Bezug auf Uruguay u.a. zu dem Schluss, dass Unkenntnis der jüdischen Kultur diese Bevölkerungsgruppe zur Konstruktion eines Feindbildes besonders geeignet mache. Vereinzelte Übergriffe auf Juden wurden auch in der Folgezeit gemeldet und seit 1998 registriert das Stephen Roth Institute in Tel Aviv jährlich antisemitische Schmierereien und Drohungen gegen Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Die Existenz von Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart Uruguays wird aber von einer ganzen Reihe uruguayischer Experten, unter anderen durch den ehemaligen Präsidenten des CCIU, Nisso Acher, in Frage gestellt. Oft verweist man, wie Teresa Gnazzo, auf das Nachbarland Argentinien und befürchtet das Eindringen antisemitischer Ideologie von dieser Seite. Unter Hinweis auf die liberalen Traditionen des Landes und seiner Geschichte als Einwanderungsland wird die Unfruchtbarkeit des uruguayischen Bodens für antisemitische Ideologie konstatiert. Diese Argumentation stützt sich auch auf eine konzeptuelle Differenzierung, nach der es in Uruguay zwar einzelne Antisemiten und antisemitische Gruppierungen gegeben habe, aber keinen Antisemitismus. Die uruguayischen Historiker Miguel Feldman, Clara Aldrighi und andere bezweifeln hingegen dieses Konzept und liefern in ihren Arbeiten fundierte Darstellungen des Antisemitismus in Uruguay.
Lasse Hölck
Literatur Clara Aldrighi, Miguel Feldman, María Magdalena Camou, Gabriel Abend, Antisemitismo en Uruguay. Raíces, discursos, imágenes (1870-1940), Montevideo 2000. Graciela Ben-Dror, La Iglesia Católica ante el Holocausto. España y América Latina 19331945, Madrid 2003.
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Daniela Bouret, Alvaro Martínez, David Telias, Entre la Matzá y el Mate. La inmigración judía al Uruguay: Una historia en construcción, Montevideo 1997. Abel Bronstein, Vida y Muerte en comunidad. Ensayos sobre Judaismo en el Uruguay, Montevideo 1990. Gerardo Caetano, Teresa Gnazzo, Herbert Gatto, Reflexiones sobre el Nuevo Antisemitismo, Montevideo 2003. Carlos M. Rama, Enfoque Sociológico del Antisemitismo, in: Revista Mexicana de Sociologia, 25(1963), 2, S.705-720.
USA ? Vereinigte Staaten von Amerika
Vatikan (Kirchenstaat) Ohne die Tradition der christlichen Judenfeindschaft hätte sich der Antisemitismus als neue politische Bewegung und Ideologie im 19. Jahrhundert nicht herausbilden können, und der Vatikan, religiöser Mittelpunkt der katholischen Kirche und als Kirchenstaat zugleich weltliche Macht, war an der Entstehung dieses säkularen Antisemitismus unmittelbar beteiligt. In der Gegenwart als Residenz des Papstes und unter dem Namen Staat der Vatikanstadt (Stato della Cittá del Vaticano) auf eine Fläche von 44 km2 mit etwa 900 Einwohnern reduziert, war der Kirchenstaat bis 1870 ein ausgedehnter Territorialstaat in der Mitte der italienischen Halbinsel, der autokratisch vom Papst regiert wurde und in seiner Entstehung auf den Grundbesitz der Kirche von Rom (das Partrimonium Petri) am Ende des Römischen Reiches zurückging. Seit dem 4. Jahrhundert sind die kirchlichen Liegenschaften durch Schenkungen so stark angewachsen, dass der Papst schon im 6. Jahrhundert zum größten Grundbesitzer auf der Apenninenhalbinsel geworden war. Obgleich Papst Leo I. (440-461) von der Bosheit und Blindheit der Juden sprach, ist die Judenfeindschaft im Kirchenstaat zunächst weniger von den Päpsten als vielmehr vom niederen Klerus und von lokalen Geistlichen getragen worden. In Rom führten die antijüdischen Kampagnen Geistlicher dazu, dass im 4. Jahrhundert Unruhen ausbrachen und die Synagoge in Brand gesteckt wurde. Noch im 6. Jahrhundert sind die Juden von örtlichen Bischöfen verfolgt worden, während Papst Gregor I. (590-604) und seine Nachfolger sie in Schutz nahmen. Auch Papst Calixtus II. (1119-1124) bewahrte die Juden vor Erniedrigungen durch den niederen Klerus. In der Zeit, in der die Kirche von internen religiösen Konflikten bedroht war und gegen die als häretisch bekämpften Bewegungen wie der Katharer oder Waldenser mit Gewalt vorging, setzte auch von Seiten der Päpste eine Unduldsamkeit gegenüber den Juden ein. 1215 ordnete Papst Innozenz III. (1198-1216) an, dass Juden in der Öffentlichkeit ein gelbes Kennzeichen auf ihrer Kleidung tragen mussten, um sie von der christlichen Gesellschaft abzugrenzen. Auch wenn der Übertritt zum Christentum gemäß der religiösen Überlieferung hätte freiwillig erfolgen sollen, unterschied Innozenz III. zwischen absolutem und bedingtem Zwang und legitimierte damit Zwangstaufen. Die päpstliche Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung des Kirchenstaates schwankte seither
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Daniela Bouret, Alvaro Martínez, David Telias, Entre la Matzá y el Mate. La inmigración judía al Uruguay: Una historia en construcción, Montevideo 1997. Abel Bronstein, Vida y Muerte en comunidad. Ensayos sobre Judaismo en el Uruguay, Montevideo 1990. Gerardo Caetano, Teresa Gnazzo, Herbert Gatto, Reflexiones sobre el Nuevo Antisemitismo, Montevideo 2003. Carlos M. Rama, Enfoque Sociológico del Antisemitismo, in: Revista Mexicana de Sociologia, 25(1963), 2, S.705-720.
USA ? Vereinigte Staaten von Amerika
Vatikan (Kirchenstaat) Ohne die Tradition der christlichen Judenfeindschaft hätte sich der Antisemitismus als neue politische Bewegung und Ideologie im 19. Jahrhundert nicht herausbilden können, und der Vatikan, religiöser Mittelpunkt der katholischen Kirche und als Kirchenstaat zugleich weltliche Macht, war an der Entstehung dieses säkularen Antisemitismus unmittelbar beteiligt. In der Gegenwart als Residenz des Papstes und unter dem Namen Staat der Vatikanstadt (Stato della Cittá del Vaticano) auf eine Fläche von 44 km2 mit etwa 900 Einwohnern reduziert, war der Kirchenstaat bis 1870 ein ausgedehnter Territorialstaat in der Mitte der italienischen Halbinsel, der autokratisch vom Papst regiert wurde und in seiner Entstehung auf den Grundbesitz der Kirche von Rom (das Partrimonium Petri) am Ende des Römischen Reiches zurückging. Seit dem 4. Jahrhundert sind die kirchlichen Liegenschaften durch Schenkungen so stark angewachsen, dass der Papst schon im 6. Jahrhundert zum größten Grundbesitzer auf der Apenninenhalbinsel geworden war. Obgleich Papst Leo I. (440-461) von der Bosheit und Blindheit der Juden sprach, ist die Judenfeindschaft im Kirchenstaat zunächst weniger von den Päpsten als vielmehr vom niederen Klerus und von lokalen Geistlichen getragen worden. In Rom führten die antijüdischen Kampagnen Geistlicher dazu, dass im 4. Jahrhundert Unruhen ausbrachen und die Synagoge in Brand gesteckt wurde. Noch im 6. Jahrhundert sind die Juden von örtlichen Bischöfen verfolgt worden, während Papst Gregor I. (590-604) und seine Nachfolger sie in Schutz nahmen. Auch Papst Calixtus II. (1119-1124) bewahrte die Juden vor Erniedrigungen durch den niederen Klerus. In der Zeit, in der die Kirche von internen religiösen Konflikten bedroht war und gegen die als häretisch bekämpften Bewegungen wie der Katharer oder Waldenser mit Gewalt vorging, setzte auch von Seiten der Päpste eine Unduldsamkeit gegenüber den Juden ein. 1215 ordnete Papst Innozenz III. (1198-1216) an, dass Juden in der Öffentlichkeit ein gelbes Kennzeichen auf ihrer Kleidung tragen mussten, um sie von der christlichen Gesellschaft abzugrenzen. Auch wenn der Übertritt zum Christentum gemäß der religiösen Überlieferung hätte freiwillig erfolgen sollen, unterschied Innozenz III. zwischen absolutem und bedingtem Zwang und legitimierte damit Zwangstaufen. Die päpstliche Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung des Kirchenstaates schwankte seither
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zwischen Verfolgung, Drangsalierung und Ausgrenzung einerseits sowie Schutz und Billigung andererseits. In der Zeit der schweren Judenverfolgungen während der Pest trat Papst Clemens VI. (1342-1352) dem Vorwurf der Brunnenvergiftung entgegen. Wenig später änderte Papst Urban V. (1362-1370) die Schutzbestimmungen seiner Vorgänger und verbot Zwangstaufen. Nachdem unter Martin V. (1417-1431) Juden ebenfalls Schutz gefunden hatten und judenfeindliche Predigten verboten waren, setzte unter dessen Nachfolger Eugen IV. (1431-1447) eine neue Welle von Judenfeindschaft ein, indem er die Kleiderkennzeichnung einführte und das Studium des Talmud verbot. Eklatanten demütigenden Riten waren die Juden Roms während des Karnevals ausgesetzt, dessen Ablauf Papst Paul II. (1464-1471) festgelegt hatte. Beim Eröffnungsumzug wurden die Gemeindevorsteher und Rabbiner der Stadt verspottet und verhöhnt. An einem Wettlauf wurden Juden halb entblößt durch die Straßen Roms getrieben und von Schaulustigen erniedrigt und beleidigt. Bei einem weiteren Brauch wurde ein älterer Jude in eine Tonne gesteckt und einen Berg hinuntergerollt, nicht selten kamen die derart Misshandelten dabei zu Tode. Im Zeitalter der Renaissance hingegen erhielten die Juden eine bemerkenswerte Förderung von Seiten humanistisch gebildeter Päpste aus den Häusern Della Rovere und Medici. Wenig später drohte ihnen aufgrund der innerchristlichen Konflikte neues Unheil. 1543 richtete Paul III. (1534-1549) zur Bekehrung der Juden „Case dei Catecumeni“ ein, Häuser, in denen bekehrungswillige Juden beherbergt und religiös unterwiesen wurden und für deren Kosten die jüdischen Gemeinden aufkommen mussten. Die Härte, mit der die Kirche gegen die jüdische Tradition vorging, zeigte sich, als sie 1553 in Rom und in anderen Städten öffentliche Talmud-Verbrennungen inszenierte. Mit dem 1555 zum Papst gewählten Paul IV. (1555-1559) kam ein unermüdlicher Inquisitor zur Macht, der in einer seiner ersten Dekrete (Cum nimis absurdum) nicht nur die Ghettoisierung der Juden im Kirchenstaat anordnete, sondern darüber hinaus die Kennzeichnungspflicht erneuerte und alle sozialen Beziehungen von Juden und Christen jenseits der Arbeitswelt verbot. Einen Höhepunkt erreichte die Verfolgung der Juden unter Pius V. (1565-1572), der 1569 die Ausweisung der Juden mit Ausnahme der Städte Rom und Ancona anordnete. Für die in diesen Städten verbliebenen Juden führte Papst Gregor XIII. (1572-1585) die Verpflichtung ein, jeden Sonntag einer Bekehrungspredigt in einer Kirche beiwohnen zu müssen. Papst Clemens XIV. (1769-1774) milderte die judenfeindliche Politik zwar ab, schon sein Nachfolger Pius VI. (1775-1799) aber erließ 1775 ein Edikt (Editto sopra gli ebrei’), das der Historiker Abraham Berliner als das „schwärzeste Blatt in der Geschichte der Menschheit“ bezeichnete. In 24 Paragraphen wurden die Anordnungen der Ghettoisierung, die überlieferten Diskriminierungen, Drangsalierungen und Stigmatisierungen noch einmal in scharfer Form zusammengestellt und erneuert. Eine kurze Unterbrechung erfuhr die Unterdrückung der Juden im Kirchenstaat, als das französisch-republikanische Heer unter Napoleon 1798 die Stadt besetzte, die Römische Republik ausgerufen und die rechtliche Gleichstellung der Juden verfügt wurde. Nachdem Napoleon die italienische Halbinsel im Jahr darauf verlassen musste und Papst
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Pius VII. in Rom Einzug gehalten hatte, wurden die alten Restriktionen erneuert, bis Napoleon 1808, nunmehr als Kaiser der Franzosen, ein weiteres Mal in Italien einrückte, den Kirchenstaat in das französische Kaiserreich integrierte und den römischen Juden wiederum bürgerliche Freiheiten brachte. Nach dem Sturz Napoleons und der Wiederherstellung der päpstlichen Macht durch den Wiener Kongress kehrte mit den Päpsten die alte judenfeindliche Politik zurück. Papst Leo XII. (1823-1829) erneuerte das Edikt von 1775, ließ die Tore des Ghettos wieder versperren und führte erneut Zwangspredigten ein. Noch Gregor XVI. (1831-1846) hielt an der restriktiven und diskriminierenden Politik fest, bis mit dem liberalen Aufbruch der 1840er Jahre neue Hoffnungen aufkamen, und Papst Pius IX. unmittelbar nach seinem Amtsantritt 1846 die den Juden auferlegte Pflicht zum Besuch von Missionspredigten aufhob. Auch öffnete er die Ghettotore Roms und erlaubte Juden die Teilnahme an der Bürgerwehr. Diese Phase blieb jedoch ein sehr kurzer liberaler Auftakt zu der langen konservativen und rückwärtsgewandten Amtszeit von Pius IX. Nachdem Pius IX. während der Revolution von 1848/49 Rom verlassen hatte, konnte er noch im Jahr 1849 mit Hilfe der katholischen Staaten Österreich, Spanien und Neapel in den Kirchenstaat zurückkehren und seine Herrschaft wiederherstellen. In der Folgezeit schlug er eine scharfe antiliberale, antinationale und antijüdische Politik ein. Zum Sprachrohr des kirchlichen Antisemitismus wurde die 1850 gegründete Zeitschrift „Civiltà cattolica“, die eine Fülle antijüdischer Vorurteile verbreitete. Breite öffentliche Empörung erregte die katholische Kirche im Jahr 1858 durch die Entführung des jüdischen Kindes Edgardo Mortara in Bologna, den eine Hausangestellte heimlich getauft, die Kirche daraufhin als Christen betrachtet und seinen Eltern entzogen hatte. Dass diese Kindesentführung kein Einzelfall blieb, zeigt das Beispiel des neunjährigen Giuseppe Coen aus dem Ghetto von Rom, der im Jahre 1864 in die „Casa die Catecumeni“ aufgenommen und dessen Eltern jeder Kontakt zu ihrem Sohn verboten wurde. Nachdem der Kirchenstaat 1860 die Romagna, Umbrien und die Marken verloren hatte, und auf Latium, das in etwa dem Gebiet des einstigen Patrimonium Petri entsprach, beschränkt war, und darüber hinaus Frankreich aufgrund der Niederlage im Krieg gegen Deutschland als Schutzmacht des Papstes ausfiel, marschierten italienische Verbände 1870 in den Kirchenstaat ein. Nach einem Plebiszit wurde dieser dem Königreich Italien angeschlossen, und Rom wurde zum Regierungssitz des italienischen Nationalstaats. Dessen Regierung überließ dem Papst die Hoheit über den Vatikan, garantierte dessen Souveränität und sicherte ihm die Ausübung seines geistlichen Amtes zu. Mit dem Ende der päpstlichen Herrschaft über den Kirchenstaat verschärfte sich die unnachgiebige, gegen alle politischen Neuerungen gerichtete Haltung des Papstes noch einmal. Das politische Auftreten von Pius IX. richtete sich nicht mehr nur gegen den italienischen Nationalstaat und die politischen Strömungen der Zeit, mit besonderem Nachdruck wandte er sich auch gegen die Juden. 1872 hielt er vor der Kurie eine Predigt, in der er die Tätigkeit von Juden im Zeitungswesen angriff, und im folgenden Jahr verunglimpfte er die Juden in einer öffentlichen Predigt, sie würden sich allein der Liebe zum Geld hingeben. Damit hatte Pius IX. gleichsam einige der zentralen Motive der neuen antisemitischen Rhetorik formuliert, die von den katholischen Zeitschriften wie der
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„Civiltà cattolica“ aufgegriffen und propagiert wurden. Vor allem Giuseppe Oreglia di Santo Stefano tat sich darin durch seine Angriffe auf Juden hervor, indem er sie als „ewig unverschämte Kinder, starrsinnig und schmutzig“ diffamierte, die den gesellschaftlichen Reichtum in ihren Besitz bringen wollten und die alleinige Kontrolle über das Geld anstrebten. Als Pius IX. 1878 starb, vermied sein Nachfolger Leo XIII. zwar offene judenfeindliche Auftritte. In einem 1892 in der französischen Zeitung „Le Figaro“ veröffentlichten Interview wich er der explizit gestellten Frage nach seiner Stellungnahme zum Antisemitismus aus, bediente aber das in der antisemitischen Rhetorik zentrale Motiv der Herrschaft des Geldes. Auch verbreiteten in der Zeit seines Pontifikates die vatikanischen Zeitschriften im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre eine Vielzahl von Angriffen auf die Juden, besondere Aufmerksamkeit widmeten die katholischen Journalisten dabei dem Thema Ritualmord. Unter den kirchlichen Zeitungen tat sich vor allem die von Davide Albertario geleitete Mailänder Tageszeitung „L’Osservatore cattolico“ durch ihre antisemitische Propaganda hervor. Mit dem 1903 gewählten Pius X. (1903-1914) kam ein Papst an die Macht, der zwar durchaus persönliche Kontakte zu Juden pflegte und die Pogrome in Russland 1905 deutlich verurteilt hatte, auch gingen in seiner Amtszeit die intensiven antisemitischen Kampagnen der katholischen Zeitschriften zurück. Gleichwohl war er in seinem Kampf gegen den Liberalismus und die technisch-industrielle Welt nicht weniger unnachgiebig als seine Vorgänger. So unterstützte er beispielsweise auch die „Action Française“. Die Ambivalenz seiner Haltung zeigte sich etwa darin, dass er zwar bereit war, Theodor Herzl in einer Audienz zu empfangen, auf die Frage, welche Position die Kirche zu dem Projekt der Gründung eines jüdischen Staates in Palästina einnehmen würde, jedoch lediglich antwortete, dass die Juden Jesus nicht anerkannt hätten und die Kirche daher auch das Judentum nicht anerkennen könne. Erst in der kurzen Amtszeit von Benedikt XV. (1914-1922) begann sich in den Verlautbarungen der katholischen Kirche gegenüber den Juden ein neuer Ton anzubahnen. Die mit der antisemitischen Rhetorik eng verbundene Kampagne gegen die Freimaurer wurde beendet, und die dem Vatikan nahestehenden Zeitschriften mussten ihre antisemitischen Kampagnen einstellen. Auf einen Anfang 1916 eingegangenen Appell des „American Jewish Committee“, sich für die Verbesserung der Lage der Juden in Russland einzusetzen, ließ der Papst antworten, dass auch gegenüber den Juden Gerechtigkeit gewahrt werden müsse. Zu einer unmissverständlichen Verurteilung des Antisemitismus konnte sich jedoch auch Benedikt XV. nicht durchringen. Mag Benedikt XV. sich auch um eine weniger vorurteilsvolle Haltung bemüht haben, seine Entscheidungen in Personalfragen wiesen in eine andere Richtung. Um sich ein Bild von der Situation der katholische Kirche im neu gegründeten polnischen Staat zu machen, schickte Benedikt XV. im Oktober 1918 eine Kommission unter dem Bibliothekar des Vatikan, Achille Ratti, nach Polen, der in seinen Berichten die heftigen antisemitischen Anfeindungen seiner polnischen Gesprächspartner übernahm. In dem von Ermenegildo Pellegrinetti 1921 verfassten Abschlussbericht der Kommission sind noch einmal alle antisemitischen Vorurteile, die im polnischen Klerus verbreitet waren, kommentarlos zusammengetragen. Wie wenig sich Benedikt XV. mit seiner minder engstirnigen
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Haltung innerhalb des Vatikans durchsetzen konnte, zeigt sich auch daran, dass Umberto Benigni, Mitarbeiter im Staatssekretariat des Vatikans, 1920/21 hektographierte antisemitische Zeitschriften verbreitete und 1921 in Beilagen zur katholischen Zeitung „Glaube und Vernunft“ (Fede e Ragione) die erste italienische Ausgabe der „Protokolle der Weisen von Zion“ veröffentlichte. Im Februar 1922, kurz vor dem Beginn der faschistischen Herrschaft in Italien, wurde Achille Ratti zum Papst gewählt und nahm den Namen Pius XI. an. Nachdem Mussolini seine Herrschaft etabliert hatte, suchte er die Kirche nicht zuletzt wegen ihrer langen Tradition für sein Regime zu gewinnen, indem er dem Papst eine Lösung der noch immer ungeklärten Beziehungen zwischen dem italienischen Staat und dem Vatikan anbot. Mit den im Februar 1929 geschlossenen Lateranverträgen wurde der Vatikan als souveräner Staat mit dem Papst als Staatsoberhaupt diplomatisch anerkannt und die katholische Religion als Staatsreligion bestätigt. Unmittelbar nach Unterzeichnung der Verträge bezeichnete Papst Pius XI. den Duce als Mann, der von der Vorsehung geschickt sei; eine kirchliche Approbation, durch die das faschistische Regime nachhaltig an Prestige gewonnen hat. Aufgrund der als großen Erfolg betrachteten Verträge ging Pius XI. 1933 bereitwillig auf das Angebot Hitlers ein, auch zwischen Deutschland und dem Vatikan einen Staatsvertrag zu schließen. Schon im Juli 1933 unterzeichneten Pius XI. und Hitler das Reichskonkordat, in dem das nationalsozialistische Regime versprach, die Rechte und Institutionen der katholischen Kirche in Deutschland zu schützen, während umgekehrt den katholischen Geistlichen jegliche politische Tätigkeit verboten wurde. Bald zeigte sich jedoch, wie wenig Hitler bereit war, seine Verpflichtung einzuhalten. Schon im folgenden Jahr setzte der Kampf gegen den Katholizismus ein, indem Jugendorganisationen verboten, die katholische Presse gleichgeschaltet und Priester willkürlich angeklagt wurden. Derart von der politischen Unterdrückung betroffen, kritisierte Pius XI. im März 1937 in der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ die Weltanschauung und Kirchenpolitik des Dritten Reiches. Auf den Antisemitismus und die Verfolgung der Juden ist der Papst aber nicht eingegangen. Während die „Civiltà cattolica“ weiterhin über die angebliche Gefahr der Juden schrieb, begann Pius XI. sich von der Tradition der kirchlichen Judenfeindschaft zu lösen und gab im Juni 1938 einen Entwurf für eine Enzyklika in Auftrag, die kritisch zum Antisemitismus und der nationalsozialistischen Verfolgung der Juden Stellung nehmen sollte. Als im September 1938 auch in Italien die ersten Rassegesetze erlassen und jüdische Schüler, Lehrer und Dozenten von Schulen und Universitäten verwiesen worden waren, erklärte Pius XI. einer Gruppe von belgischen Pilgern, dass der Antisemitismus unannehmbar sei. Offiziell aber legte der Vatikan keinen Protest gegen den Erlass der Rassegesetze ein. Allein die Tatsache, dass auch zum Katholizismus konvertierte Juden von den Rassegesetzen betroffen waren, veranlasste den Papst, an den italienischen König zu appellieren. Die in Auftrag gegebene Enzyklika erreichte Pius XI. kurz vor seinem Tod. Auch wenn diese allein den rassistischen Antisemitismus verurteilte, an den christlichen Vorurteilen gegenüber den Juden aber festhielt, ließ dessen Nachfolger, Pius XII. (1939-1958), den Entwurf für diese Enzyklika nicht veröffentlichen.
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Zuvor war der im März 1939 zum Papst gewählte Eugenio Pacelli zwölf Jahre in München und Berlin als Nuntius tätig gewesen und somit über die Situation der Juden im Dritten Reich sehr genau im Bilde. Unmittelbar nach seiner Wahl zum Papst erklärte er, dass er es nicht zu einem Bruch mit der nationalsozialistischen Regierung kommen lassen werde. Und auch als ihm immer ausführlichere Informationen über die Verfolgungen und die einsetzende Ermordung der Juden zugingen, hielt er es nicht für nötig, öffentlich darauf zu reagieren. Allein in seiner Weihnachtsansprache des Jahres 1942 beklagte er, dass Hunderttausende – ohne Erwähnung, dass es sich um Juden handelte – schuldlos und nur aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit oder Abstammung dem Tod preisgegeben waren. Ein weiteres Mal ging Pius XII. vor dem Kardinalskollegium auf die Ermordung der europäischen Juden ein, wiederum ohne sie als solche zu nennen, wobei es ihm in dieser internen Ansprache vor allem darum ging, seine öffentliche Zurückhaltung zu legitimieren. Papst Pius XII. schwieg auch, nachdem die deutsche Wehrmacht in Italien einmarschiert war und vor seinen Fenstern mehr als tausend Juden der Stadt festgenommen und nach Auschwitz deportiert wurden. Dennoch leisteten verschiedene kirchliche Kreise auch Hilfe. Zahlreiche italienische Juden konnten durch Unterstützung von katholischer Seite überleben und nicht wenige hatten gar im Vatikan Zuflucht gefunden. Der Papst war jedoch an diesen Rettungsaktionen nicht beteiligt. Pius XII. starb 1958, ohne den kirchlichen Antisemitismus verurteilt oder zu Auschwitz Stellung genommen zu haben. Eine Wende in der Tradition der kirchlichen Judenfeindschaft und eine Verurteilung des Antisemitismus brachte erst das noch von Papst Johannes XXIII. (1958-1963) einberufene, aber erst 1965 unter Paul VI. (19631978) abgeschlossene Zweite Vatikanische Konzil. Nach harten innerkatholischen Auseinandersetzungen – gestrichen wurde etwa der in der Vorlage enthaltene Satz, dass das jüdische Volk nicht mehr als Volk der Gottesmörder bezeichnet werden könne – hat die katholische Kirche sich in der Deklaration „In unserer Zeit“ (Nostra Aetate), zu der Erklärung durchgerungen, dass sie aufgrund des gemeinsamen Erbes mit den Juden alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen von Antisemitismus beklage. Noch immer war aber in dieser Erklärung vom Mord an den europäischen Juden nicht die Rede. Erst Papst Johannes Paul II. (1978-2005) hat während seines Besuches in Israel im März 2000 von der „entsetzlichen Tragödie der Shoah“ gesprochen, auch erinnerte er in dieser Rede an seine ermordeten jüdischen Freunde und Nachbarn aus seiner polnischen Heimat. Trotz eines kurz zuvor in der Peterskirche abgelegten Schuldbekenntnisses ging auch Johannes Paul II. nicht auf die christlichen Wurzeln des im Holocaust kulminierenden Antisemitismus ein. Allein eine „gottlose Ideologie“, so der Papst, habe die „Auslöschung eines ganzen Volkes“ planen und ausführen können. Wie nachhaltig indes die Tradition der christlichen Judenfeindschaft noch immer in der katholischen Kirche präsent ist, zeigte sich unter dem 2005 zum Papst gewählten Benedikt XVI., der im März 2008 eine neue Formulierung für die Karfreitagsfürbitte herausgab, nach der die Christen dafür beten sollten, Gott möge die Juden erleuchten, damit sie Jesus als Messias anerkennen, eine Formulierung, die unmissverständlich an die Tradition der Judenmission und die überlieferten antijüdischen Vorurteile der christlichen Kirche anknüpft.
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Literatur Thomas Brechenmacher, Der Vatikan und die Juden. Geschichte einer unheiligen Beziehung, München 2005. Daniel J. Goldhagen, Die katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne, Berlin 2002. Aram Mattioli, Die verweigerte Emanzipation. Jüdisches Randdasein im Kirchenstaat 18231870, in: Gudrun Jäger, Liana Novelli-Glaab (Hrsg.), „ ... denn in Italien haben sich die Dinge anders abgespielt“. Judentum und Antisemitismus im modernen Italien, Berlin 2007, S.31-50. Saul Friedländer, Pius XII. und das Dritte Reich. Eine Dokumentation, Reinbek 1965. David I. Kertzer, Die Päpste und die Juden. Der Vatikan und die Entstehung des modernen Antisemitismus, Berlin, München 2001. Susan Zuccotti, Under his very windows. The Vatican and the Holocaust in Italy, New Haven, Conn. 2000.
Venezuela Die spanische Krone verwehrte Juden und zum Christentum konvertierten Juden den Zutritt zu ihren Kolonien und begründete ihre Politik mit dem Prinzip der „limpieza de sangre“ (Reinheit des Blutes). Trotzdem wanderten einige sephardische Juden und Neuchristen (Konvertiten und deren Nachkommen) aus Portugal, Italien und den Niederlanden in Venezuela ein. 1610 wurde in Cartagena de las Indias ein Inquisitionsgericht etabliert, ab 1624 ist die Verfolgung und Folter von Neuchristen durch das Gericht nachgewiesen. Zwischen 1642 und 1649 lebten mehrere Neuchristen in Caracas und Maracaibo. Von dort übersiedelten sie nach Neuspanien (Mexiko), wo sie der Inquisition in die Hände fielen. Andere jüdische Spuren finden sich in Tucacas, wo niederländische Juden Anfang des 18. Jahrhunderts eine kleine Kolonie gründeten und Handel sowie Schmuggel mit den niederländischen Antillen betrieben. 1710 und 1717 wurde die Gemeinde angegriffen und ihre Häuser zerstört, 1720 wurde sie gewaltsam aufgelöst und ihre Mitglieder vertrieben. Erst im Zuge der Unabhängigkeitsbestrebungen (seit 1810) änderte sich die Lage. Auf dem Kongress von Angostura 1819 wurde die Unabhängigkeit der Republik Kolumbien, zu der Venezuela damals gehörte, ausgerufen und gleichzeitig Religionsfreiheit für alle Juden proklamiert. 1821 wurde in Venezuela die Inquisition abgeschafft und nachdem das Land von Kolumbien unabhängig geworden war, wurde 1834 ein weiteres Gesetz zur Religionsfreiheit erlassen. Die ersten Juden des von Spanien unabhängigen Venezuelas kamen aus ? Curaçao, der benachbarten niederländischen Karibikinsel. Die meisten von ihnen waren Kaufleute und siedelten seit 1819 in Caracas, Maracaíbo, Puerto Cabello, Barcelona, Valencia und anderen Orten (vgl. Karte 1). Seit den 1820er Jahren wanderten jüdische Kaufleute aus Altona, heute ein Stadtteil von Hamburg, und Leipzig ein, wickelten Geschäfte ab und kooperierten eng mit britischen Unternehmen. Zwischen den karibisch-niederländischen und den Hamburger Juden bestanden vermutlich enge
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geschäftliche Kontakte, da sie sich bereits aus Europa kannten. Eine der ältesten jüdischen Gemeinden Lateinamerikas gründeten curaçolanische Juden in Coro, einer Hafenstadt an der westlichen Küste Venezuelas. Schon seit 1779 siedelten einzelne Juden in Coro, seit 1825 förderte die venezolanische Regierung aus wirtschaftlichen Gründen ihre Ansiedlung. Die Regierung schätzte die Juden wegen ihrer Geschäftstüchtigkeit. Die jüdische Einwanderung nach Venezuela blieb jedoch insgesamt gering. Im 19. Jahrhundert behinderten fortdauernde Bürgerkriege und Unruhen sowie die enge Verbindung von katholischer Kirche und Staat die jüdische Immigration. Der kirchliche Einfluss wird als Grund für die mangelnde Emanzipation der Juden angesehen. 1907 lebten nur 230 Juden im Land. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts immigrierten Sepharden aus den Gebieten des heutigen Marokko, Palästina, Syrien, Libanon und Iran sowie später zunehmend verarmte Aschkenasen aus Europa. 1926 lebten 882 Juden in Venezuela. Während der NS-Herrschaft flüchteten 600 europäische Juden dorthin, vor allem Facharbeiter und Intellektuelle. Seit Ende der 1930er Jahre kontrollierte und begrenzte die Regierung die jüdische Einwanderung, weshalb Flüchtlinge eine Ausnahmegenehmigung benötigten. Seit 1945 immigrierten Überlebende der Shoah sowie Juden aus Ägypten, Ungarn, Israel und verschiedenen lateinamerikanischen Ländern. 1950 lebten 6.000 Juden in Venezuela, 1970 waren es 10.000. Seit dem 19. Jahrhundert brachten die jüdischen Gemeinden mehrere bedeutende Persönlichkeiten hervor und trugen entscheidend zur ökonomischen, infrastrukturellen, sozialen, wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklung Venezuelas bei. Heute leben die meisten Juden in Caracas. Sie organisierten sich im 20. Jahrhundert in Verbänden, blieben aber weiterhin gespalten gemäß ihrer nationalen Herkunft. Das Interesse an der Religionsausübung ist stark zurückgegangen, was der Assimilierung Vorschub leistet. Die zweitgrößte jüdische Gemeinde besteht in Maracaíbo, wo auch die meisten venezolanisch-arabischen Muslime leben, was besonders in jüngster Zeit zu Spannungen führte. 1998 zählte man ca. 22.000 venezolanische Juden, 2006 nur noch 15.000 bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 26 Millionen Einwohnern. Viele Juden wanderten infolge des seit 1998 gewachsenen Antisemitismus und einer schweren Wirtschaftskrise aus. Im 19. Jahrhundert war ein latenter Antisemitismus zu beobachten, der bruchlos aus der Kolonialzeit übernommen wurde. Die Kaufleute von Coro lebten trotz der ihnen zugesicherten Freiheiten in einem unfreundlichen Umfeld. Als einer von ihnen 1831 zum Bürgermeister der Stadt ernannt wurde, protestierten die christlichen Bürger, drohten den Juden und forderten sie auf, die Stadt zu verlassen. In den Folgejahren spürten die erfolgreichen Kaufleute den Neid ihrer Nachbarn. Vertreter der katholischen Kirche und der staatlichen Verwaltung missachteten die Religionsfreiheit, behinderten die Kaufleute bei ihren Geschäften, inhaftierten sie und erpressten Auslöse oder forderten ungedeckte Kredite. Für die Juden intervenierten dann die niederländische Regierung und der Gouverneur von Curaçao. Während der Revolten von 1847/48 und 1854/55 wurden die 160 Juden von Coro angegriffen, weshalb sie nach Curaçao flüchteten. Nach Intervention der niederländischen Regierung und einer Entschädigungszahlung durch die venezolanische Regierung kehrten die meisten von ihnen 1858 in die Stadt zurück.
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Die Gemeinde von Coro löste sich ebenso wie andere frühe Gemeinden Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts wieder auf. Diese Auflösungen symbolisierten die weit verbreitete Assimilationstendenz der venezolanischen Juden. Gründe hierfür lagen in der geringen Zahl, der oft isolierten Lage der kleinen Gemeinden, der wenigen Möglichkeiten zur gemeinsamen Religionsausübung sowie der vielen Eheschließungen zwischen Juden und Nichtjuden. Neben diesen Faktoren spielte auch der Antisemitismus eine Rolle. Judith L. Elkin erkannte in Assimilierung und Antisemitismus zwei Seiten derselben Medaille. Antisemitismus identifizierte sie als Teil des generellen Problems des Rassismus, der die meisten lateinamerikanischen Gesellschaften tiefgreifend prägt. Den gesellschaftlichen Druck zur Assimilierung und Konversion sah sie durch antisemitische Vorurteile sowie Vorstellungen einer homogenen (christlichen) Nation motiviert. Rolf Italiaander, der die Juden von Caracas besuchte, notierte 1971, die Juden verspürten keine Diskriminierung. Ähnliches attestierten andere Autoren. Im Laufe der 1970er Jahre kam es jedoch infolge der Spannungen im Nahen Osten zu Auseinandersetzungen zwischen der venezolanisch-arabischen und der jüdischen Bevölkerung. Antisemitische Ausbrüche vergifteten die politische und mediale Öffentlichkeit sowie das Klima an den Hochschulen. In den 1990ern wurden vereinzelt Graffitis an den Synagogen von Caracas registriert, die Personen aus dem rechtsextremen Spektrum zugeordnet wurden. Als Mitglied der OPEC stand und steht Venezuela den arabischen Ölproduzenten nahe. Gleichzeitig stellt Israel seit den 1950ern einen wichtigen Handelspartner dar. Auf Grund der guten Beziehungen zu Israel und den arabischen Staaten pflegte Venezuela traditionell eine freundliche bis neutrale außenpolitische Haltung zu beiden Konfliktparteien und versuchte auch im Inneren Frieden zwischen arabischen und jüdischen Gruppen zu bewahren. Dieses Prinzip der Neutralität ist durch den Präsidenten Hugo Chávez Frías aufgebrochen worden – mit nachhaltig negativen Folgen für die venezolanischen Juden. Seit seiner Wahl 1998 wurde Antisemitismus in politisch links stehenden Kreisen, aus dem politischen Umfeld von Chávez sowie durch erstarkende venezolanisch-arabische Gruppen registriert. Die „al-Aqsa Intifada“ in Palästina stachelte arabische Gruppen zusätzlich auf und führte zu verschärften Spannungen. Die Welle des Antisemitismus wurde von Chávez und einigen seiner politischen Berater geschürt. Den venezolanischen Juden wurde vorgeworfen, Chávez’ politische Gegner unterstützt und sich zusammen mit den USA und Israel für den Sturz des Präsidenten engagiert zu haben. Chávez koppelte eine aggressive antiimperialistische Rhetorik mit antizionistischen Angriffen. Infolge seiner Allianzen mit Iran und Libyen verstärkte Chávez seine Kritik an der Politik Israels in den Palästinensergebieten und erhöhte den Druck auf die venezolanischen Juden. In den führenden Tageszeitungen erschienen Artikel, die eine Reihe antisemitischer Klischees wiederbelebten, den venezolanischen Juden fehlenden Patriotismus vorwarfen und ihre Zugehörigkeit zur venezolanischen Nation negierten. Chávez selbst verwendete antisemitische Stereotype in Reden und Publikationen. In Buchhandlungen wurde zunehmend antisemitische Literatur verkauft. 2004 kulminierten die Spannungen in einer Attacke gegen eine jüdische Schule, die von der Polizei durchsucht wurde. Die Schule wurde zu Unrecht verdächtigt, mit Attentätern zu paktieren und Waffen zu verstecken. Insgesamt ist festzustellen, dass die durch Politiker und Journalisten vollzogene Entta-
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buisierung des Antisemitismus diesen öffentlich hoffähig machte und ein für die Juden zunehmend gefährliches politisches und soziales Klima schuf.
Franka Bindernagel
Literatur Isidoro Aizenberg, La Comunidad Judía de Coro 1824-1900, Una Historia, Caracas 1995². Isidor Aizenberg, Coro, La primera comunidad judía de América Latina contemporánea, in: Sefardica, 2(1984), S.9-20. Antisemitism Worldwide, Annual Reports, hrsg. vom Stephen Roth Institute der Tel Aviv University, Tel Aviv 1997-2006. Jacob Carciente, Venezuela, in: Encyclopaedia Judaica, Bd. 20, Detroit 2007², S.493-498. Jacob Carciente, La Comunidad Judía de Venezuela, Caracas 1991. Judith Laikin Elkin, Colonial Origins of Contemporary Anti-Semitism in Latin America, in: David Sheinin, Lois Baer Barr (Hrsg.), The Jewish Diaspora in Latin America, New York, London 1996, S.127–141. Isaac S. Emmanuel, Suzanne A. Emmanuel, History of the Jews of the Netherlands Antilles, vol. 1-2, Cincinnati 1970. Rolf Italiaander, Juden in Lateinamerika, Tel Aviv 1971. Marco Tulio Mérida, Judíos en regiones y localidades de Venezuela, Caracas 2001. Regina Sharif, Latin America and the Arab-Israeli Conflict, in: Journal of Palestine Studies, 1(1977), S.98-122.
Vereinigte Staaten von Amerika Schon die ersten Siedler aus Europa an der Ostküste Nordamerikas in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und die Kolonisierung im 17. Jahrhundert brachten zusammen mit europäischer Kultur und christlicher Religion den Antijudaismus in die Neue Welt. Religiöse Spannungen führten zu neuen christlichen Glaubensrichtungen; in Kolonien wie in Rhode Island wurde die Trennung von Staat und Religion propagiert oder wie in Pennsylvania religiöse Toleranz vertreten. Mitte des 17. Jahrhunderts waren nur einzelne Juden unter den Siedlern, doch ihre Ausgrenzung setzte unmittelbar ein. Im Jahre 1654 wies der Gouverneur Peter Stuyvesant in Nieuw Amsterdam (New York) eine kleine Gruppe von 23 Juden ab, musste sie zwar auf Druck der niederländischen „West Indian Company“ (WIC) dulden, beschränkte jedoch ihren Handlungsspielraum durch eine Reihe von Verboten. Als die Briten zehn Jahre später Nieuw Amsterdam eroberten, hatten viele Juden aus Furcht vor Unterdrückung die Kolonie bereits verlassen, obwohl Cromwells Aufhebung des Judenbanns 1656 auch in den britischen Kolonien Geltung hatte. In den Siedlungsbewegungen der Juden auf dem nordamerikanischen Kontinent spiegelt sich die wechselvolle Geschichte der Kolonialkriege und der Haltungen der Imperialmächte gegenüber den Juden wider. Offene Judenfeindschaft brach gelegentlich hervor, schwelte jedoch immer unter der Oberfläche.
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Zur Zeit des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges 1775-1783 lebten 1.000 bis 2.000 Juden in den nordamerikanischen Kolonien. Mit der Gleichstellung von Juden im Staatswesen sicherte sich ihr Status. Die 1791 verabschiedete Verfassung gewährte allen amerikanischen Staatsbürgern die Religionsfreiheit und untersagte explizit die Bildung einer Staatsreligion. Dennoch bildete sich ein politischer Protestantismus heraus und viele US-Bürger sahen in Protestantismus, Freiheit und Patriotismus eine Art US-Trinität verwirklicht. Mitte des 19. Jahrhunderts zeigte sich, wie fragil die Situation war und wie leicht sie in offenen Antisemitismus kippen konnte, begünstigt durch einen erstarkenden Nativismus. Zunächst blieben Ressentiments eher verbal, doch bereits während des Bürgerkriegs eskalierten sie in den Südstaaten in lokalen Ausgrenzungen der Juden. Das bekannteste Ereignis war das pauschale Aufenthaltsverbot für Juden im Distrikt West-Tennessee durch General Ulysses S. Grants Befehl Ende 1862. Zuvor hatten sich Skandale um Schmuggelhandel aneinandergereiht, derer Juden beschuldigt wurden. Grants Generalbefehl stellte den Höhepunkt des kulminierenden Antisemitismus in der Armee dar. Präsident Abraham Lincoln annullierte den Befehl wenig später. In der Kontroverse um die Sklaverei unterstützten mehr Juden die Abschaffung der Sklaverei, als sich auf die Seite der Konföderierten (der Südstaaten) stellten. Während des Bürgerkriegs (1861-1865) warfen beide Bürgerkriegsparteien Juden vor, auf der gegnerischen Seite zu stehen, und erstmals erfüllten Juden eine politische Sündenbockfunktion in der Neuen Welt. Nach dem Bürgerkrieg bildeten sich verschiedene antisemitische Strömungen heraus. Die evangelische „Christian America“-Bewegung war offen antisemitisch; nativistische Autoren wie Henry Adams, der die aristokratisch-intellektuelle Schicht repräsentierte, propagierten antisemitische Stereotype. Als aristokratisches Forum gegen die Bedrohung der amerikanischen Werte und der angelsächsischen Population durch Juden und Immigranten gründeten 1894 Charles Warren, Robert Ward und Prescott Farnsworth Hall mit anderen Harvardabsolventen die „Immigration Restriction League“ (IRL). Protestantischer Fundamentalismus äußerte sich in Initiativen zur Konversion, zu denen Anhänger der Erweckungsbewegung wie Pfarrer Dwight L. Moody aufriefen, die in Kreuzzügen durchs Land ziehend den Mythos von den Juden als „Christusmörder“ predigten. Viele Freikirchen pflegten die Judenmission in über 30 Konfessionen und Verbänden um 1900. Es gab aber auch Gegenbewegungen: Im Jahre 1890 wandte sich eine nationale Konferenz von Juden und Christen gegen jede Form ungerechter Behandlung von Juden als „unamerikanisch“ und „unchristlich“. Zugleich begann in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Ausgrenzung von Juden aus Badeorten, Clubs und vielen Hotels, offen und diffamierend mit Schildaufschriften wie „No Dogs! No Jews!“ Im ersten Aufsehen erregenden Fall, der Abweisung des prominenten Bankiers Joseph Seligman im Jahre 1877, lautete die Begründung des Hoteliers Henry Hilton, die höchsten Kreise kämen nicht mehr, wenn Juden im Hause seien. Die Folge war eine Segregation und es entstanden jüdische Erholungsregionen. Ein rasseideologischer Antisemitismus und extremer Nationalismus entwickelte sich während der 1890er Jahre infolge der größten Einwanderungswelle osteuropäischer Ju-
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den. Zwischen 1880 und 1924 immigrierten zwischen zweieinhalb und drei Millionen Juden in die USA. Der jüdische Bevölkerungsanteil erreichte 1920 über drei Prozent, um 1940 betrug er etwa 3,7 Prozent. Der rassistische Antisemitismus entfaltete sich in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts weiter zu einem zentralen Element. Die Presse veröffentlichte Hetzartikel gegen jüdische Einwanderer aus Osteuropa. Wortführend trat hier Burton J. Hendrick mit Artikeln über „die große jüdische Invasion“ auf. Ängste und rassistischen Judenhass schürten auch Edward A. Ross, Soziologe an der Universität in Wisconsin und Autor des weitverbreiteten Buches „The Old World in the New“ (1914), in dem vor der Bedrohung des angelsächsischen Amerikanismus und der nordischen Rasse durch die Immigranten gewarnt wird, sowie der Rassist Madison Grant, Vizepräsident der IRL und Autor des rassistischen Traktats „The Passing of the Great Race“ (1916). Physische Übergriffe häuften sich Anfang des 20. Jahrhunderts. 1902 griffen irische Arbeiter in New York die Begräbnisprozession des Rabbiners Jacob Joseph an, sie bewarfen den Leichenwagen und die Trauernden mit Metallteilen und Steinen. Die Polizei stachelte den Mob mit Rufen wie „Kill those Sheenies!“ an und prügelte auf hunderte Juden ein. 1915 wurde bei Marietta/Georgia der jüdische Fabrikant Leo Frank unter falschem Mordverdacht an einer jungen Arbeiterin in Atlanta nach zweijähriger antisemitischer Pressekampagne gelyncht. Intensität und Akzeptanz von Antisemitismus stiegen in den 1920er und 1930er Jahren weiter an. Der Automobilmagnat Henry Ford führte eine regelrechte antisemitische Kampagne. Er verbreitete seit 1919 in seiner auflagenstarken Wochenzeitung „The Dearborn Independent“ rassistischen Antisemitismus, propagierte und reproduzierte die Verleumdungen der „Protokolle der Weisen von Zion“ und gab seine Artikel in vier Bänden unter dem Titel „The International Jew“ heraus. Als Ford angesichts breiten innenpolitischen Widerstands seine Kampagne 1927 abbrach, hatte er bereits erheblichen Schaden angerichtet. Der 1915 mit dem spektakulären Erfolg des Films „Die Geburt einer Nation“ wiederbelebte Ku-Klux-Klan (gegründet 1866), der einst in den Südstaaten brutale Terrorakte gegen Schwarze verübt hatte, zählte nun auch Juden zu seinen Feinden. Er hatte großen Zulauf und hatte 1924 vier Millionen Mitglieder. Viele, nicht nur fundamentalistische Protestanten, sahen in Übereinstimmung mit dem Klan die Unterdrückung von Schwarzen, Juden und Katholiken als Teil von „Gottes Plan“ an. Mit dem Klan gab es erstmals in den USA eine starke Massenbewegung, die Antisemitismus vertrat. In den 1920er Jahren sahen sich Juden durch die Ausgrenzung von höherer Bildung mit einer umfassenden Diskriminierung konfrontiert. 1922 führten viele renommierte Universitäten und private Colleges einen „numerus clausus“ für Juden ein; zudem wurden an vielen Hochschulen Stellen nicht mehr mit Juden besetzt. 1921 wurde die „Emergency Quota Act“ mit einer Einwanderungsquote von drei Prozent des entsprechenden US-Bevölkerungsanteils verabschiedet und 1924 die „Immigration Act“ mit einer extremen Verschärfung für Einwanderer aus Süd- und Osteuropa, die Juden besonders hart traf, da sie antisemitisch und fremdenfeindlich motiviert war. Mit der Großen Depression in den USA wuchs der Antisemitismus nicht sofort, doch als sich die ökonomische Krise verschärfte, 1933 Hitler in Deutschland an die Macht kam und Präsident Franklin D. Roosevelt den „New Deal“ einführte, wurde ein antise-
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mitischer Fanatismus entfacht, der vielfach die Anschuldigung von der „jüdischen Weltverschwörung“ reproduzierte. Zwischen 1933 und 1941 wurden über 100 antisemitische Organisationen gegründet, u.a. die nationalsozialistische Organisation „German-American Bund“, die „Silver Shirts“ von William Dudley Pelley, die „Defenders of the Christian Faith“ von Reverend Gerald Winrod und die „Christian Front“ des populären Radiodemagogen und katholischen Priesters Charles Coughlin. Coughlin publizierte die „Protokolle der Weisen von Zion“ in seinem Magazin „Social Justice“ und kommentierte sie selbst. 1938 initiierte er die Bildung einer vereinigten „Christian Front“, deren Zusammenkünfte unter dem Motto „liquidate the Jews in America“ standen. Judenfeindschaft hatte auch in höheren sozialen Kreisen und selbst im Congress um sich gegriffen und war salonfähig geworden. Viele vermieden hier öffentlich den Anschein eines groben Antisemitismus, förderten jedoch z.B. die „Liberty League“, die von Industrieführern eingerichtet worden war und ihrerseits offen antijüdische Organisationen unterstützte, wie beispielsweise die fanatisch antisemitischen, von einem Bankier gegründeten „Sentinels of the Republic“. 1936 organisierte der Antisemit und Agitator Gerald L. K. Smith das „Committee for Million“ zur Rettung Amerikas vor Juden, Kommunisten und dem „New Deal“ und auch er gewann einige Großindustrielle als Gönner. Isolationistische Positionen vertraten Organisationen wie das „America First Committee“ oder prominente Persönlichkeiten wie der Flieger Charles A. Lindbergh, ein Bewunderer des NS-Regimes, der die Juden beschuldigte, die USA in den Krieg gegen Deutschland zu zwingen. Veteranenorganisationen wie die „American Legion“, zu deren Mitgliedern 28 Senatoren und 150 Kongressabgeordnete zählten, forderten das Verbot jeglicher Immigration. Der jahrelang gehegte Antisemitismus brach während des Krieges auch in offener Aggression hervor, insbesondere in den Städten des Nordostens und vor allem in New York und Boston in den Jahren 1941 bis 1944. Jüdische Friedhöfe wurden geschändet, Synagogen beschädigt und mit Hakenkreuzen beschmiert, antisemitische Slogans waren an Hauswänden und jüdischen Läden zu sehen, antisemitische Literatur wurde offen verteilt und Teenagerbanden schlugen jüdische Schulkinder zusammen. 1942 warf der „Herlands Report“ (Untersuchungsbericht für New York) der Polizei in 70 Prozent der Fälle Laxheit und Inaktivität vor und stellte einen breiten antisemitischen Einfluss auf Jugendliche durch Schule, Elternhaus und Propaganda fest. Erst während des Zweiten Weltkriegs stellte die US-Regierung die faschistischen Extremisten Pelley, Winrod und Coughlin ruhig, Peley erhielt zudem eine 15-jährige Haftstrafe. Auch andere protestantische extremistische Führer mussten während des Krieges ihre Agitationen einschränken. Nun übernahm Gerald L. K. Smith die Rolle des prominenten antisemitischen Demagogen, widmete sich dem „antisemitischen Problem“ und gab mit Winrods Unterstützung 1942 die Zeitschrift „The Cross and the Flag“ heraus. Der Soziologe David Riesman beschrieb den amerikanischen Antisemitismus 1942 als gerade unter dem Siedepunkt. Die Intensität, Virulenz und rasante Steigerung des Antisemitismus, die Popularität von Hass predigenden Demagogen, die Eskalationen wüster Beschimpfungen und ernster physischer Angriffe besonders in Städten des Nordostens und Mittleren Westens ließ Juden in den USA erstmals befürchten, Antisemiten könnten entscheidenden politischen Einfluss erlangen und die Politik bestimmen. Nach
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Umfragen von 1938 empfanden mindestens 50 Prozent deutliche Geringschätzung gegenüber Juden, 77 Prozent waren gegen die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland in größerer Zahl. In den Kriegsjahren erreichte die negative Haltung Juden gegenüber mit über 50 Prozent ihren Höhepunkt. In den 1930er und frühen 1940er Jahren notierten afroamerikanische Zeitungen einen wachsenden Antisemitismus auch unter der schwarzen Bevölkerung, besonders in den Zentren Baltimore, Chicago, Detroit, New York und Philadelphia. Weder nach 1933 noch 1938 nach den Novemberpogromen in Deutschland oder 1939 nach Kriegsbeginn, als sich erst deutsche, dann europäische Juden auf der Flucht vor den Nationalsozialisten befanden und dringend um Visa baten, nahmen die USA Flüchtlinge in größerer Zahl auf. Die restriktive Einwanderungsgesetzgebung (Immigration Act) wurde beibehalten, die geringen Quoten blieben ohne Differenzierung der Verhältnisse in Europa an das Herkunftsland gebunden und bestimmten die Einwanderungspolitik auch während der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Auch die Einwanderung von Holocaust-Überlebenden war stark beschränkt. Die „Truman Directive“ Ende 1945, die die Einwanderung von „displaced persons“ erleichtern sollte, erwies sich als wenig hilfreich. 1948 verabschiedete der Kongress die „Displaced Persons Act“, die jedoch jüdische DPs benachteiligte, so dass diese erst nach einer Nachbesserung des Gesetzes 1950 in größerer Zahl in die USA kommen konnten. In den Nachkriegsjahren verlor der Antisemitismus an ideologischem Einfluss und beschränkte sich zunehmend auf Randgruppen. Soziale Ächtung und Ausgrenzung von Juden gingen zurück, antijüdische Diskriminierungen nahmen auch durch gesetzliche Eingriffe rapide ab. Fanatisch antisemitische Demagogen wurden an den politischen und gesellschaftlichen Rand gedrängt. Die Kommunistenverfolgung der McCarthy-Ära seit 1948 betraf nicht wenige Juden und korrelierte mit antisemitischen Feindbildern. Mit dem „Blacklisting“ gegen jüdische Künstler und Intellektuelle wurden viele Juden aus ihren Berufen gedrängt; das „Redlining“, ein Diskriminierungsinstrument vor allem gegen Farbige gerichtet, betraf auch Viertel mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil. Im Gefolge der antikommunistischen Stimmung wurden antisemitische Tendenzen reaktiviert und es gab Angriffe auf jüdische Einrichtungen. Der spektakuläre Fall des Ehepaars Rosenberg, unter der Anschuldigung des Landesverrats 1950 verurteilte jüdische Kommunisten, hatte entgegen befürchteter Auswirkungen aber keine nennenswerte Steigerung antisemitischer Einstellungen zur Folge. Seit den frühen 1960er Jahren hat der Antisemitismus laut Umfragen stetig abgenommen, besteht jedoch nach wie vor und klassische religiöse Stereotype werden weiterhin im christlichen Amerika überliefert. Fundamentalistische Protestanten und Sekten, Neonazis und eine sich radikalisierende Skinheadszene propagieren Judenhass und der KuKlux-Klan verbreitet weiterhin Hass und Rassismus. Der Antisemitismus radikalisierte sich parallel zur allgemeinen Abnahme in den USA bei den Extremisten. Die 1971 gegründete Neonazi-Organisation „National Socialist Movement“ ist bis heute ein Sammelbecken für Antisemiten. Die Auflage des antisemitischen Wochenmagazins „The Spotlight“ sank indes von 1981 bis 1987 um beinahe Zweidrittel.
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Nach Umfragen der 1960er bis 1990er Jahre lag der Antisemitismus bei Schwarzen deutlich höher als bei Weißen. In den 1960er Jahren gewannen junge schwarze Führer wie der 1965 ermordete Malcolm X, der sich mit Statements wie, die Juden hätten den Holocaust selbst verursacht, hervortat, enthusiastische Anhänger. Schwarze Bürgerrechtsorganisationen wie CORE (Congress of Racial Equality) und NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) wurden des Öfteren von Juden unterstützt und gefördert. Als 1966 jedoch auf einer Kundgebung in New York für die Aufhebung der Rassentrennung in Schulen ein Funktionär der Bürgerrechtsorganisation CORE, Clifford A. Brown, verärgert und schamlos verkündete, Hitler hätte einen Fehler begangen, als er nicht alle Juden tötete, schockierte dies jüdische Förderer, die daraufhin ihre Unterstützung zurückzogen. Mit der Ermordung von Martin Luther King, Jr., der gegen jeglichen Rassismus und auch gegen Antisemitismus eingetreten war, verlor die Community 1968 ihre wichtigste Integrationsfigur. Jesse Jackson, Bürgerrechtler und Baptistenpastor, fiel in den 1970er Jahren durch wiederholte Äußerungen aus dem Repertoire antisemitischer Verschwörungsszenarien und durch diffamierende Bemerkungen über Juden auf. Louis Farrakhan, afro-amerikanischer muslimischer Prediger und Führer der „Nation of Islam“, verbreitete antisemitische Verschwörungstheorien, zitierte und verherrlichte Hitler und ist seit 1994 wegen seines Antisemitismus in der breiten Öffentlichkeit umstritten. Auch Leonard Jeffries, Leiter der „African American Studies Department“ des City College of New York, vertrat u.a. antisemitische Verschwörungsthesen über die Beherrschung des Sklavenhandels durch Juden vor Jahrhunderten. Diesen Vorwurf publizierte 1991 die „Nation of Islam“ in ihrem Buch „The Secret Relationship between Blacks and Jews“. Der von Rechtsextremen verübte Bombenanschlag von Oklahoma City am 19. April 1995 hat in den USA das Bewusstsein für die starke Präsenz rechtsextremer Gruppen geschärft, die häufig fanatische Religiosität verbunden mit radikalem Antisemitismus vertreten und sich durch eine extreme Gewaltbereitschaft auszeichnen. Schätzungen gehen von 100.000 bis 250.000 Personen aus, die in mehr als 500 rechtsextremen Gruppen organisiert sind. Die vielfältige rechtsextreme Szene in den USA, die ein breites ideologisches Spektrum aufweist, unterscheidet sich allerdings insofern von solchen Gruppen in Europa als sie sich auf drei spezifische Weltanschauungsformen konzentriert: zum einen die religiös fundamentalistische „Christian Identity“-Ideologie sowie die anti-christliche „Creativity“-Ideologie und zum anderen die Vertreter einer nationalsozialistischen Renaissance, die mit Symbolen des NS-Regimes und rasseideologischen Inhalten einen Hitlerkult betreiben. Im gesamten Spektrum ist der Antisemitismus ein zentrales Ideologiemoment. Christlich sektiererische pseudo-religiöse Gruppen wie die „Church of Jesus ChristChristian/Aryan Nations“ (als erste „Christian-Identity Church“ 1946 gegründet) und der Ku-Klux-Klan haben ca. 50.000 bis 60.000 Anhänger, die glauben, dass die weißen „Arier“ direkte Nachfahren der biblischen Stämme Israels sind, also die Bibel ausschließlich der „weißen Rasse“ gehöre. Juden, die keinerlei Verbindungen zu diesen „weißen Israeliten“ hätten, hingegen seien Kinder des Satans. Verschwörungstheorien, insbesondere mit antisemitischen Inhalten, gehören deshalb zum ideologischen Rüstzeug der rechtsextremen „weißen“ Verfechter solcher Inhalte. Deshalb ist für sie die amerika-
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nische Regierung nichts weiter als ein „Zionist Occupied Government“ (ZOG), dem sie sich nicht verpflichtet fühlen. Für sie ist nur die Bibel Gesetz; Rassismus und Antisemitismus betrachten sie als göttlichen Willen. Zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen schrecken sie auch nicht vor Gewalt zurück. Für die anti-christliche „Creativity-Ideologie“ ist die „weiße Rasse“ Religionsersatz und der Antisemitismus zentraler Bestandteil ihrer pan-arischen Ideologie. Juden sind die erklärten Feinde, die ebenso wie alle Nicht-„Weißen“ im „Heiligen Rassenkrieg“ (Racial Holy War/RAHOWA) bekämpft werden müssen. An der Spitze dieser Bewegung steht die „World Church of the Creator“ (WCOTC), inzwischen in „Creativity Movement“ umbenannt. 1973 gegründet und eng mit der US-amerikanischen Skinheadszene verbunden, verzeichnete die WCOTC nach einem starken Rückgang seit Mitte der 1990er Jahre unter ihrem neuen Leiter Matt Hale einen deutlichen Aufschwung. Seit Hale 2005 zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt wurde und eine Reihe von Morden von Mitgliedern aus dem Kreis der „World Church of the Creator“ verübt wurden, ist die Anhängerschaft stark zurückgegangen. Der Rassismus der Bewegung richtet sich nicht nur gegen Juden, sondern auch gegen Afrikaner, Afro-Amerikaner und das Christentum, das sie als „Erfindung der Juden“ betrachtet. Die Gruppe verbreitet antisemitische Verschwörungstheorien und bezeichnet in ihrer Propaganda die Anschläge des 11. September 2001 als eine Manipulation „der Juden“. Als eine der christlichen Heilslehre vergleichbare Bewegung sieht der Führer der in Lincoln/Nebraska ansässigen „NSDAP-Auslandsorganisation“ (NSDAP-AO) Gary Rex Lauck (inzwischen Gary Lauck) seine „nationalsozialistische Wahrheitslehre“, die gegen das „Weltjudentum“ einen „politischen Krieg“ führen müsse, um die Vision einer revolutionären Bewegung aller „Arier“ zu verwirklichen. Bis Mitte der 1990er Jahre starteten vor allem Einzelpersonen wie Lauck, aber auch Organisationen, die sich der Holocaustleugnung verschrieben haben, wie das „Institute for Historical Review“ (IHR) und das „Committee for Open Debate on the Holocaust“ (CODOH) aus den USA immer wieder erfolgreich Versuche, die internationale rechtsextreme Szene via Internet mit einschlägigem Propagandamaterial zu versorgen und Vernetzungsstrukturen aufzubauen. Auch David Duke, der ehemalige Führer einer Fraktion des Ku-Klux-Klan nutzt inzwischen das Internet als Agitations- und Rekrutierungsplattform, bietet Links zum „Institute for Holocaust Review“ und zum „Stormfront“-Forum. Die „Stormfront-White Nationalist Ressource Page“ des Neonazis Don Black, die im März 1996 ans Netz ging, bezeichnet die US-Regierung mit der Kurzform „ZOG“ („Zionist Occupied Government). Duke verließ 1980 den Ku-Klux-Klan. Er engagierte sich in den folgenden Jahren in der Politik, in dem er vor allem auf die rassistische Karte setzte, und gewann 1989 einen Sitz im Repräsentantenhaus in Louisiana für die Republikaner. Duke, der sich 1992 und 1996 auch als Kandidat für die Präsidentenwahlen anbot, aber chancenlos blieb, ist Anhänger des Revisionismus, unterstützt den kanadischen Holocaustleugner Ernst Zündel, unterhält Verbindungen mit der „Stormfront“, trat als Redner bei der „National Alliance“ auf und gründete 2000 den Vorläufer seiner seit 2001 existierenden „European-American Unity and Rights Organization“, während er in der Ukraine und Russland lebte und auch dort seine antisemitischen Ideen verbreitete.
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Die „National Alliance“, die 1974 gegründet wurde und, bis zu seinem Tod 2002, von dem Rassisten (supremacist) William Pierce geleitet wurde, war lange Zeit die größte und aktivste Neo-Nazi-Organisation in den USA. Pierce machte mehr als eine Million Umsatz durch den Verkauf von White Power Musik über seinen „Resistance Record“Vertrieb, dem Marktführer unter den rechtsextremen Musikanbietern. Die „National Alliance“ gehört zu jenen rechtsextremen Gruppen, die antisemitische Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September 2001 verbreiten und die Juden bzw. Israel dafür verantwortlich machen. Pierce veröffentlichte unter Pseudonym 1978 die berüchtigten „Turner Diaries“, die als Handbuch des rechten Terrorismus gelten und die offensichtlich zur Lektüre des Täters des Bombenanschlages in Oklahoma City 1995 gehörten. Inzwischen hat die „National Alliance“ an Bedeutung verloren, vor allem seit die Justiz wegen Verletzung von Bürgerrechten gegen führende Mitglieder vorgegangen ist. Die USA, die sich häufig Ressentiments ausgesetzt sehen, weil die Regierungen bisher im Nahostkonflikt immer eine deutliche Position für Israel beziehen, hat in den letzten zwanzig Jahren eine Zunahme antisemitischer Vorurteile und Übergriffe erlebt, die eng mit der Radikalisierung des Nahostkonflikts zusammenhängen. Ähnlich wie in Europa zeigte sich auch in den USA, nach den Ereignissen in Israel (Dschenin und Bethlehem) im Frühjahr 2002, dass die kontinuierliche Abnahme antisemitischer Einstellungen seit 1992 einem entgegengesetzten Trend wich. Nach einer Umfrage der „Anti Defamation League“ im Frühjahr 2002 zeigten 17 Prozent der Amerikaner eine antisemitische Haltung, wobei sich 35 Prozent der Hispanics (44 Prozent der nicht in den USA geborenen und 20 Prozent der im Land geborenen), 35 Prozent der Afro-Amerikaner und 3 Prozent der Studenten an Colleges und Universitäten als latent antisemitisch erwiesen. Die Umfrage ergab, dass im Gegensatz zu 1998 weniger als die Hälfte der Amerikaner frei von antisemitischen Vorurteilen sind und, dass die klassischen antisemitischen Vorurteile, die bis dahin gegen jüdische Amerikaner verbreitet waren, durch das Stereotyp einer vermeintlichen „jüdischen Macht“ ersetzt wurden. Es zeigte sich auch, dass der Nahostkonflikt antisemitische Einstellungen unter den Amerikanern beförderte. Universitäten und Schulen schienen bis 2002 noch ein Terrain zu sein, auf dem antisemitische Einstellungen nur wenig verbreitet waren. 2002 stieg die Zahl der antisemitischen Übergriffe im Universitätsumfeld gegenüber 2001 um 24 Prozent; zumeist handelte es sich um verbale Beschimpfungen und NS-vergleichende Symbolik. Solche Übergriffe nahmen in den folgenden Jahren noch zu und wurden zunehmend gewalttätiger; Vandalismus gegen jüdisches Eigentum und Übergriffe auf Personen stiegen an. 2006 wurde erneut eine hohe Anzahl von antisemitischen Übergriffen in den Universitäten, aber auch in Mittelschulen und Highschools festgestellt. Möglicherweise ist dies auch das Ergebnis einer Akademisierung anti-israelischer Haltungen in den Universitäten. An mehreren Universitäten hatten sich Professoren, aber auch Studenten und wissenschaftliche Mitarbeiter einer Initiative angeschlossen, die dazu aufforderte, sich aus Firmen, die mit Israel geschäftliche Verbindungen pflegen, zurückzuziehen. Die Petition hat zu heftigen Diskussionen in der Universitätslandschaft geführt. Mehr als 5.800 Hochschulangehörige und Ehemalige unterzeichneten eine Gegen-Petition.
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Als schließlich im März 2006 ein Arbeitspapier der Politologen John Mearsheimer an der Universität Chicago und Stephen Walt von der Harvard Universität über den angeblichen Einfluss einer „jüdischen Lobby“ in den USA publik wurde, löste dies eine heftige Debatte über die pro-israelische Haltung der US-Regierung aus, die nicht ohne Wirkung in den Universitäten blieb und antisemitische Ressentiments schürte. Da das Arbeitspapier vor allem auch als ein Angriff auf die amerikanischen „Neocons“ zu sehen ist, die im Repertoire antisemitischer Stereotypen eine wichtige Rolle spielen, hat das Buch Einfluss auch auf jene, die vor einem weltverschwörerischen Hintergrund unterstellen, die Neokonservativen seien jüdisch dominiert. 2004 wurde mit 1.823 Fällen die höchste Zahl antisemitischer Vorfälle in den USA seit 1995 gemeldet. Vor allem waren die Fälle von antisemitischen Diffamierungen 2004 insgesamt um 27 Prozent, in New York alleine um 45 Prozent gestiegen. Demgegenüber ging die Zahl der gewalttätigen Übergriffe zurück, dies war vor allem auf die höheren Sicherheits- und Bewachungsmaßnahmen jüdischer Institutionen sowie auf eine intensivere Strafverfolgung zurückzuführen. Das Niveau von antisemitischem Vandalismus allerdings lag immer noch deutlich höher als 2001/2002. Auf der Einstellungsebene zeigte sich 2007 eine positive Entwicklung, der Prozentsatz antisemitischer Haltungen fiel gegenüber 2002 auf 15 Prozent. Afro-Amerikaner erwiesen sich erneut als Gruppe, die mit 32 Prozent eine mehr als doppelt so hohe negative Haltung gegen Juden zeigt wie der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Unter den Hispanics (Latinos) ging der Antisemitismus deutlich zurück, wobei immer noch Amerikaner mit lateinamerikanischem Migrationshintergrund mit 15 Prozent einen geringeren Wert aufwiesen als Hispanics, die nicht in den USA geboren wurden. Untersuchungen über die antisemitischen Einstellungen der Hispanics in den USA stehen noch aus, die Ursache der überdurchschnittlich hohen negativen Haltung von Afro-Amerikanern hingegen ist Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, auch in den Reihen der Community selbst. Ergebnisse dieser Untersuchungen sehen die Ursachen zum einen in einer Enttäuschung der Erwartungen, dass Juden eine höhere Moral als andere „Weiße“ haben müssten, zum anderen in der Konkurrenz zweier Minderheiten, deren eine – „die Juden“ – es vermeintlich „geschafft“ hätten, obwohl sie nur 2,2 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen. 2004 wurde im State Department eine Abteilung eingerichtet, deren Aufgabe die Beobachtung und Bekämpfung des Antisemitismus ist. Sie gibt jährlich einen Bericht mit den Ergebnissen ihrer Beobachtung heraus. Allerdings werden dort zwar die weltweiten Entwicklungen in Bezug auf Antisemitismus veröffentlicht, aber Angaben über antisemitische Tendenzen in den USA selbst fehlen. Obwohl das State Department für Außenangelegenheit und nicht für innenpolitische Fragen zuständig ist, vermittelt ein solches Vorgehen die Vorstellung, es gebe keinen Antisemitismus in den USA. Die Beobachtungen im Land werden nach wie vor jüdischen Organisationen wie der „Anti Defamation League“ überlassen, offizielle staatliche Zahlen existieren nur in Bezug auf „Hate Crimes“ und Vorfälle, die einen Straftatbestand erfüllen. Inzwischen haben 45 Bundesstaaten und der Distrikt von Columbia „Hate-Crime“-Gesetze eingeführt. Das First Amendment der US-amerikanischen Verfassung garantiert die Rede- und Versammlungsfreiheit und geht in seiner Liberalität weit über die Rechte in anderen de-
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mokratischen Staaten hinaus. Weil dies so ist, nutzen extreme Gruppen weltweit Server und Provider in den USA als Plattform, um ihre radikalen Webseiten zu platzieren. In ihren Ursprungsländern wären sie der Strafverfolgung ausgesetzt. Da das Internet ein weltweites Medium ist, in der einzelstaatliche Gesetzgebungen nur bedingt greifen, können sich Anbieter über den Umweg USA diesem Zugriff entziehen. Extremisten nutzen die Möglichkeiten, um immer ausgefeiltere multimedial in Szene gesetzte Seiten ins Netz zu stellen, die vor allem Jugendliche ansprechen sollen. Hunderte von antisemitischen Webseiten werden täglich aktualisiert und verbreiten Rassismus, Judenfeindschaft und Holocaustleugnung.
Monika Schmidt und Juliane Wetzel
Literatur Anti Defamation League, Webseite www.adl.org Leonard Dinnerstein, Antisemitism in America, New York, Oxford 1994. David A. Gerber (Hrsg.), Anti-Semitism in American History, Chicago, Urbana 1986. Benjamin Ginsberg, The Fatal Embrace. Jews and the State, Chicago, London 1993. Thomas Grumke, Rechtsextremismus in den USA, Opladen 2001. Michael Lerner, Cornel West, Jews and Blacks: A Dialogue on Race, Religion, and Culture in America, New York 1996. David S. Wyman, Das unerwünschte Volk. Amerika und die Vernichtung der europäischen Juden, Ismaning bei München 1986. David S. Wyman, Europe and America, in: Readings for Diversity and Social Justice. An Anthology on Racism, Sexism, Heterosexism, Ableism, and Classism, hrsg. u.a. von Maurianne Adams, London, New York 2000, S.163-169.
Weißrussland Weißrussland zählt zu den jungen Staaten Osteuropas. Die Gebiete, die die seit 1991 unabhängige Republik Belarus heute umfasst, waren über Jahrhunderte hinweg in größere Herrschaftsverbände, Staaten und Reiche eingebunden. Hervorgegangen aus der Kiewer Rus, gehörten sie seit dem Spätmittelalter zum Großfürstentum ? Litauen, zur polnisch-litauischen Adelsrepublik (rzeczpospolita) und bis 1917 zum russischen Zarenreich. In den 1920er Jahren fiel das östliche Weißrussland der neu gegründeten UdSSR zu, während die westlichen Gebiete bis zur sowjetischen Annexion 1939 unter polnischer Herrschaft standen. In den 1930er und 1940er Jahren wurde das Land Schauplatz stalinistischen Terrors und nationalsozialistischer Massenvernichtung. Damit ist Weißrussland in seiner Geschichte stets auch Gegenstand von kulturellen und politischen Vereinnahmungen sowie von Konfrontationen äußerer Mächte gewesen – oft mit dramatischen Folgen für die dort lebenden Menschen. Dies gilt insbesondere für die Juden, die seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert in Weißrussland siedelten und die Ende des 19. Jahrhunderts fast 14 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Freilich kann Antisemitismus in Weißrussland nicht allein als Element von außen einwirkender
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mokratischen Staaten hinaus. Weil dies so ist, nutzen extreme Gruppen weltweit Server und Provider in den USA als Plattform, um ihre radikalen Webseiten zu platzieren. In ihren Ursprungsländern wären sie der Strafverfolgung ausgesetzt. Da das Internet ein weltweites Medium ist, in der einzelstaatliche Gesetzgebungen nur bedingt greifen, können sich Anbieter über den Umweg USA diesem Zugriff entziehen. Extremisten nutzen die Möglichkeiten, um immer ausgefeiltere multimedial in Szene gesetzte Seiten ins Netz zu stellen, die vor allem Jugendliche ansprechen sollen. Hunderte von antisemitischen Webseiten werden täglich aktualisiert und verbreiten Rassismus, Judenfeindschaft und Holocaustleugnung.
Monika Schmidt und Juliane Wetzel
Literatur Anti Defamation League, Webseite www.adl.org Leonard Dinnerstein, Antisemitism in America, New York, Oxford 1994. David A. Gerber (Hrsg.), Anti-Semitism in American History, Chicago, Urbana 1986. Benjamin Ginsberg, The Fatal Embrace. Jews and the State, Chicago, London 1993. Thomas Grumke, Rechtsextremismus in den USA, Opladen 2001. Michael Lerner, Cornel West, Jews and Blacks: A Dialogue on Race, Religion, and Culture in America, New York 1996. David S. Wyman, Das unerwünschte Volk. Amerika und die Vernichtung der europäischen Juden, Ismaning bei München 1986. David S. Wyman, Europe and America, in: Readings for Diversity and Social Justice. An Anthology on Racism, Sexism, Heterosexism, Ableism, and Classism, hrsg. u.a. von Maurianne Adams, London, New York 2000, S.163-169.
Weißrussland Weißrussland zählt zu den jungen Staaten Osteuropas. Die Gebiete, die die seit 1991 unabhängige Republik Belarus heute umfasst, waren über Jahrhunderte hinweg in größere Herrschaftsverbände, Staaten und Reiche eingebunden. Hervorgegangen aus der Kiewer Rus, gehörten sie seit dem Spätmittelalter zum Großfürstentum ? Litauen, zur polnisch-litauischen Adelsrepublik (rzeczpospolita) und bis 1917 zum russischen Zarenreich. In den 1920er Jahren fiel das östliche Weißrussland der neu gegründeten UdSSR zu, während die westlichen Gebiete bis zur sowjetischen Annexion 1939 unter polnischer Herrschaft standen. In den 1930er und 1940er Jahren wurde das Land Schauplatz stalinistischen Terrors und nationalsozialistischer Massenvernichtung. Damit ist Weißrussland in seiner Geschichte stets auch Gegenstand von kulturellen und politischen Vereinnahmungen sowie von Konfrontationen äußerer Mächte gewesen – oft mit dramatischen Folgen für die dort lebenden Menschen. Dies gilt insbesondere für die Juden, die seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert in Weißrussland siedelten und die Ende des 19. Jahrhunderts fast 14 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Freilich kann Antisemitismus in Weißrussland nicht allein als Element von außen einwirkender
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Attacken, Herrschafts- und Religionskulturen begriffen, sondern muss auch in seiner Verankerung vor Ort wahrgenommen werden. Das Großfürstentum ? Litauen schloss sich 1386 mit dem polnischen Königreich in Personalunion zusammen. Ein Jahr darauf wurde das Christentum eingeführt; der neuen Staatsreligion fehlten jedoch zunächst die für Westeuropa charakteristischen antijüdischen Elemente. 1388/89 erließ Großfürst Vytautas Schutzbriefe für drei jüdische Gemeinden, die Juden Niederlassungsrechte, Handels- und Religionsfreiheit gewährten. Zwei dieser Gemeinden – Brest und Grodno – befanden sich in den weißrussischen Gebieten, die sich in der Folge auch zum Zentrum jüdischer Einwanderung vor allem aus dem deutschsprachigen Raum entwickelten. Juden traten seither als Kaufleute, Zöllner und Steuerpächter im Auftrag des Großfürsten sowie als Pächter von Landgütern des Adels in Erscheinung. Die Privilegien des Vytautas wurden 1393 allen Juden des Großfürstentums zugesprochen und 1529 in den Litauischen Statuten fixiert. Großfürst Alexander verfügte zwar 1495 die Ausweisung aller Juden aus dem Großfürstentum, 1503 wurden sie aber wieder zurückgerufen. Nachdem sich das Großfürstentum 1569 mit ? Polen zu einem gemeinsamen Staatsgefüge vereinigt hatte, breiteten sich vor allem unter der christlichen Stadtbevölkerung allmählich antijüdische Stimmungen aus. Juden sahen sich den in Westeuropa allseits bekannten Anschuldigungen von Hostienfrevel und Ritualmord ausgesetzt, so 1639 und 1692 in Mogiljow. Als Besonderheit antijüdischen Denkens im Großfürstentum kann die Vorstellung gelten, das Judentum könne sich für Christen als „ansteckend“ erweisen. Diese Vorstellung fand auch in Artikeln der Litauischen Statuten von 1566 und 1588 ein Echo, in denen die Verbreitung des Judentums unter Todesstrafe gestellt wurde. Im Zuge des wirtschaftlichen Niedergangs der von Kriegen mit Russland und Schweden geschwächten Adelsrepublik gewann das Stereotyp vom „reichen Juden“ an Bedeutung, der sein Vermögen auf Kosten von Christen erwirtschaftet habe und deren finanziellen Ruin anstrebe. Ein Mogiljower Chronist des 17. Jahrhunderts sah in der Tätigkeit jüdischer Kaufleute und Steuerpächter die alleinige Ursache für den wirtschaftlichen Verfall der Adelsrepublik. Weitaus größere Gefahr drohte den jüdischen Gemeinden des Großfürstentums jedoch von außen. Zu einer Katastrophe entwickelte sich zwischen 1648 und 1654 der von Moskau geförderte Aufstand des Kosaken-Hetmans Bogdan Chmelnitzki, der in den südlichen weißrussischen Gebieten mit einer bislang beispiellosen Welle von Pogromen und Zwangstaufen einherging. Während des Großen Nordischen Kriegs (1700-1721) zerstörten Schweden 1706 die jüdische Gemeinde von Pinsk; zwei Jahre darauf begingen russische Soldaten in Mszislau ein Pogrom. 1740 brach auf den königlichen Gütern um Kritschau ein Aufstand aus, dessen Anführer sich als „Großer Hetman“ und „Enkel von Bogdan Chmelnitzki“ ausgab. Er verkündete unumwunden, die Erhebung habe die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung und die Verteidigung des Christentums zum Ziel. Mit den Teilungen Polens von 1772, 1793 und 1795 wurden auch die weißrussischen Gebiete dem russischen Zarenreich einverleibt. Während Katharina II. (1762-1796) noch eine vergleichsweise moderate Politik gegenüber den neuen jüdischen Untertanen ver-
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folgt hatte, setzten ihre Nachfolger Alexander I. (1801-1825) und Nikolaus I. (18251855) auf die Reduktion der Rechte von Juden sowie auf eine Stärkung erzieherischer und kontrollierender Elemente. Im 1804 erlassenen „Statut über die Juden“ wurde ein Ansiedlungsrayon festgelegt, der die weißrussischen Gebiete – nunmehr die Gouvernements Mogiljow, Witebsk, Minsk, Wilna und Grodno (vgl. Karte 3 und 4) – gänzlich mit einschloss. Noch schwerwiegendere Folgen hatte die Bestimmung, dass alle Juden aus den ländlichen Gebieten auszusiedeln seien. In den weißrussischen Gouvernements trieben in der Folge Soldateneskorten, aber auch ortsansässige Bauern Juden in die Marktflecken und Städte und überließen sie dort ihrem Schicksal. Besonders rücksichtslos ging die Vertreibung der Juden aus den Dörfern des Gouvernements Witebsk vor sich. Begründet wurden die Zwangsmaßnahmen mit dem „moralischen Schutz“ der ostslawischen Bauern, über die Juden als Pächter und Verwalter in der Vergangenheit unziemliche Macht ausgeübt hätten. Im Zeichen der von Alexander II. (1855-1881) betriebenen „Großen Reformen“ deutete sich eine Liberalisierung der Politik gegenüber den Juden an, die jedoch Episode blieb. Die Ermordung des „Befreier-Zaren“ 1881 löste eine Welle von Pogromen in ? Russland aus, von denen die weißrussischen Gouvernements allerdings nicht betroffen waren. Unter Alexander III. (1881-1894) und Nikolaus II. (1894-1917) wurde Antisemitismus zum integralen Bestandteil einer russisch-nationalistischen und modernisierungs-feindlichen Regierungsideologie. Mit ihr korrespondierte die Vorstellung eines internationalen „Börsenjudentums“ und einer jüdischen Konspiration, die Russland auf den verderblichen Weg des Liberalismus und Kapitalismus bringen wolle. Die antisemitische Legende einer Verschwörung der Juden fand ihren deutlichsten Ausdruck in den „Protokollen der Weisen von Zion“, die die zaristische Geheimpolizei 1894 fabrizierte. Auf der anderen Seite prägten Reaktionäre das Stereotyp vom jüdischen Revolutionär, der als ebenso bedrohlich für die bestehende Ordnung angesehen wurde. Die Juden der weißrussischen Gouvernements reagierten hierauf einerseits mit Emigration. Andererseits gewannen die säkularen politischen Bewegungen unter den Juden des ausgehenden Zarenreiches – die im „Bund“ organisierten Sozialisten und die Zionisten – auch in den weißrussischen Gebieten einen bedeutenden Anhang. Wie sich der staatliche Antisemitismus des späten Zarenreiches auf die nichtjüdische Bevölkerung der weißrussischen Gouvernements auswirkte, ist kaum erforscht; Gleiches gilt für die sozialen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in dieser Region. Zu berücksichtigen ist hier die für die weißrussischen Gebiete typische soziale Schichtung nach ethnisch-religiösen Kriterien, ein Erbe der Adelsrepublik. Den Großteil der Bauernschaft auf dem Land stellten orthodoxe Weißrussen, während in den Städten katholische Polen, orthodoxe Russen und Juden siedelten. Nicht zuletzt aufgrund der von der zaristischen Regierung forcierten Zwangsverstädterung der Juden stellten sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Städten die Mehrheit der Einwohnerschaft. In einigen Marktflecken machten sie um die neunzig Prozent der Bevölkerung aus. Der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung betrug 1897 13,7 Prozent. Als harmonisch gelten gemeinhin ihre Beziehungen zur weißrussischen Bauernschaft, deren Volkskunst im 19. Jahrhundert kaum antisemitische Elemente aufwies. Religiös motivierte judenfeindliche Vorstellungen dagegen waren durchaus in der Volkskultur vorhanden. So ist für den Raum Mogil-
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jow die Legende vom „christlichen“ Vogel Schwalbe überliefert, dem der „jüdische“ Sperling gegenübergestellt wird. Während die Schwalbe den Mördern Christi Nägel gestohlen habe, habe der Sperling den Gekreuzigten verhöhnt und so seine Leiden vergrößert. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert war ebenfalls im Mogiljower Raum ein Kinderspiel sehr beliebt, dass auf Ritualmordphantasien Bezug nahm. Auch in der kleinen weißrussischen Nationalbewegung waren antijüdische Vorurteile vereinzelt präsent. So findet sich in einer national orientierten historischen Abhandlung die Bemerkung, dass die Juden den Nationalcharakter der Weißrussen gründlich studiert hätten und meisterhaft deren Schwächen zu nutzen wüssten. Im Zuge der Februarrevolution 1917 erhielten die Juden des untergegangenen Zarenreiches die bürgerliche Gleichberechtigung. Während des Bürgerkrieges und des russisch-polnischen Krieges zwischen 1918 und 1921 wurden allerdings auf weißrussischem Territorium 235 Pogrome begangen, die knapp 4.000 Opfer forderten. Die Pogrome wurden vor allem von Truppen der polnischen Armee, aber auch von Verbänden antibolschewistischer Kräfte verübt. Mit dem Friedensvertrag von Riga 1921 wurde das westliche Weißrussland dem wiedererstandenen ? Polen zugeschlagen, während der östliche Teil unter sowjetische Herrschaft geriet. Die Juden der neu gegründeten Weißrussischen Sowjetrepublik sahen sich massiven Angriffen auf ihre traditionelle Lebensweise ausgesetzt. Zwar verurteilten die Bolschewiki Antisemitismus als Element der Reaktion und stellten seine Verbreitung unter Strafe. Als gleichfalls „reaktionär“ galten ihnen freilich auch das religiöse Judentum und die zionistische Bewegung. Zwischen 1921 und 1922 wurden in Minsk, Gomel, Witebsk und Mogiljow Schauprozesse gegen Rabbiner inszeniert, die der antisowjetischen Agitation beschuldigt wurden. Bis 1923 wurden über 3.000 Anhänger der zionistischen Bewegung verhaftet. In Abgrenzung zu Zionismus und religiösem Judentum suchten die Bolschewiki in der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) der 1920er Jahre eine regimekonforme – vollkommen säkulare und proletarische – jüdische Kultur zu etablieren. In einer Atmosphäre repressiver Toleranz wurde ein staatliches Schul- und Ausbildungssystem in jiddischer Sprache geschaffen, und das jiddische Presse- und Publikationswesen erfuhr eine zuvor nie gekannte Blüte. In der Kommunistischen Partei der BSSR entstand eine „jüdische Sektion“ (Evsekcija), die die entsprechenden Bestrebungen unterstützte. Ab 1924 firmierte Jiddisch neben Weißrussisch, Russisch und Polnisch als eine der vier Staatssprachen der jungen BSSR. Mit dem Aufstieg Stalins fand das sowjetoffizielle jüdische Leben in der BSSR ein abruptes Ende. Stalin vertrat die Auffassung, dass die Förderung nicht-russischer Elemente die Einheit des Sowjetstaates untergrabe und propagierte stattdessen einen „Sowjetpatriotismus“ großrussischer Prägung. Bereits 1930 wurde die Evsekcija aufgelöst, nur wenig später kam die jiddischsprachige Publizistik fast vollständig zum Erliegen. Bis zum Ende der 1930er Jahre waren fast alle jiddischen Schulen in der BSSR geschlossen. Die stalinistischen Repressionen gipfelten Ende der 1930er Jahre in den „Großen Säuberungen“, denen in der BSSR zahlreiche sowjetjüdische Funktionäre (darunter viele ehemalige Aktivisten der Evsekcija) sowie Vertreter der jiddischsprachigen Bildungselite zum Opfer fielen.
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Nachdem die UdSSR 1939 infolge des Hitler-Stalin-Paktes die westlichen weißrussischen Gebiete annektiert hatte, nahmen sowjetische Behörden auch hier den Kampf gegen die jüdische Religion auf. Tausende Juden wurden als „reaktionäre Elemente“ hingerichtet oder in Straflager verschleppt. Diese Verfolgungsmaßnahmen waren noch im Gange, als am 22. Juni 1941 deutsche Truppen in die UdSSR einfielen und ganz Weißrussland binnen weniger Wochen besetzten. Die Juden gehörten zu den ersten Opfern der deutschen Okkupationsmacht. Sie sah in ihnen, gemäß dem Feindbild des „jüdischen Bolschewismus“, die Hauptträger des sowjetischen Systems und potenzielle Widersacher gegen die deutsche Herrschaft. Unmittelbar nach dem deutschen Einmarsch begannen Kommandos der Einsatzgruppe B des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), Juden aus kleineren Ortschaften in Massenexekutionen zu erschießen. Anders als im Baltikum gelang es jedoch nicht, unter der weißrussischen Bevölkerung die von RSHA-Chef Reinhard Heydrich eingeforderten „Selbstreinigungsbestrebungen“ (Pogrome) zu initiieren. Ab Sommer 1941 wurden in vielen Städten Ghettos errichtet, in denen Juden unter Hungerrationen zur Zwangsarbeit erpresst wurden. Das größte Ghetto Weißrusslands mit anfänglich rund 60.000 Inhaftierten bestand in der Hauptstadt Minsk. Die Ghettos waren von Beginn an eng mit der Politik des Genozids verknüpft. Die meisten Ghettos wurden zwischen Herbst 1941 und Ende 1942 ausgelöscht. Ingesamt forderte die deutsche Vernichtungspolitik unter den Juden Weißrusslands über eine halbe Million Opfer. Die Verfolgten ergaben sich jedoch nicht widerstandslos ihrem Schicksal. Einige Tausend Juden schlossen sich der prosowjetischen Partisanenbewegung an und kämpften in deren Reihen gegen die deutsche Besatzungsmacht. Mit den „Bielski-Partisanen“ und der „Einheit Nr. 106“ existierten zudem zwei rein jüdische Partisaneneinheiten. Sie stellten nicht nur Kämpfer, sondern boten auch Kindern, Frauen und Alten Schutz. Die Moskau unterstellte prosowjetische Partisanenbewegung spielte eine entscheidende Rolle für das Überleben von Juden in Weißrussland; gleichwohl war auch sie nicht frei von antisemitischen Tendenzen. Verbreitet war etwa der altbekannte Vorwurf der Illoyalität: Juden wurde unterstellt, als Agenten für die deutsche Besatzungsmacht tätig zu sein. Hinzu kam, dass die sowjetische Führung um Stalin wider besseren Wissens eine spezifische Verfolgung der Juden in den besetzten Gebieten der UdSSR abstritt. Der Massenmord an den Juden wurde einzig im Kontext deutscher Verbrechen gegen Zivilisten gesehen. Nach Kriegsende wurden die Juden der UdSSR – unter dem Deckmantel des Kampfes gegen „Kosmopolitismus“, „jüdischen Nationalismus“ und Zionismus – zum bevorzugten Ziel spätstalinistischer Propagandakampagnen, aber auch von „Säuberungsaktionen“. Mit Stalins Tod im März 1953 endete die direkte Verfolgung. Antisemitismus – nunmehr getarnt als Antizionismus – blieb gleichwohl eine ideologische Konstante sowjetischer Politik. Gleichsam als sozialistische Transformation des staatlichen Antisemitismus aus der späten Zarenzeit brachte der sowjetische Antizionismus insbesondere in der Breschnew-Ära (1964-1982) bizarre Weltverschwörungstheorien hervor. Ein weiteres Kontinuum war die Strategie des Schweigens über den Holocaust in der sowjetoffiziellen Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“. Unter Rekurs auf den „Großen Sieg“ wurde der Krieg seit den späten 1950er Jahren zur kollektiven Heldentat aller Sowjetbürger unter Führung der Kommunistischen Partei umgedeutet. In der
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BSSR, der „Partisanenrepublik“, etablierte sich mit dem Mythos eines ebenso sieg- wie opferreichen Widerstands des weißrussischen Volkes und seiner Partisanen ein quasi-nationaler Ableger des gesamtsowjetischen Heldenkultes. Der Mord an den weißrussischen Juden, aber auch die Widerstandsleistung jüdischer Partisanen hatten in dieser Deutung keinen Raum. Deutlicher Ausdruck der nivellierenden Erinnerungspolitik waren Gedenksteine, die an realen Stätten deutschen Massenmordes an Juden in der BSSR errichtet wurden. Sie trugen sämtlich die Aufschrift: „Hier ruhen friedliche Sowjetbürger“. Dass diese Politik beträchtliche Auswirkungen auf das Geschichtsbild der weißrussischen Bevölkerung hatte, belegt eine Umfrage von 1992: Ihr zufolge mochten 54 Prozent der Weißrussen nicht an die volle Realität des Holocaust glauben. Im Zuge des Verfallsprozesses der Sowjetunion erklärte sich die BSSR im Spätherbst 1991 als „Republik Belarus“ für unabhängig. Obgleich das Land insbesondere seit dem Amtsantritt von Präsident Alexander Lukaschenko 1994 vielfach als Sonderfall unter den osteuropäischen Transformationsstaaten beschrieben worden ist, bildet es im Hinblick auf die Renaissance offener Judenfeindschaft keine Ausnahme. In den Medien werden seit Mitte der 1990er Jahren längst vergessen geglaubte Motive christlicher Judenfeindschaft wie Ritualmordbeschuldigungen ebenso verbreitet wie modernes antisemitisches Gedankengut. So wurden etwa die „Protokolle der Weisen von Zion“ 1999 nicht nur in einer 500-seitigen Sammlung antisemitischen Materials mit angeblich „wissenschaftlichem Charakter“ in einer Auflage von 30.000 Exemplaren veröffentlicht, sie waren auch Gegenstand mehrerer Radiosendungen. Ebenso finden diffuse Unterwanderungsphantasien, denen zufolge etwa Betar-Truppen den Sturz des Präsidenten planten, in den Medien ihren Niederschlag. Zugleich haben Schändungen jüdischer Friedhöfe, aber auch neu errichteter Denkmale für die Opfer des Holocaust seit den späten 1990er Jahren landesweit ein bedrückendes Ausmaß erreicht. Allein der Gedenkort der „jama“ (Grube), der in der Hauptstadt Minsk an die über 3.000 Opfer einer deutschen Massenmordaktion im dortigen Ghetto erinnert, wurde zwischen 1992 und 2006 viermal geschändet. Die staatlichen Autoritäten in Weißrussland dulden diese Entwicklungen. Das Staatliche Pressekomitee rügte in den vergangenen Jahren zahlreiche Zeitungen lediglich wegen „Anstiftung zu ethnischer Zwietracht“, zugleich werden Presseorgane mit offen antisemitischen Inhalten in staatlichen Druckereien gedruckt. Friedhofs- und Denkmalsschändungen werden kaum strafrechtlich verfolgt. Im Gegenteil lässt sich bisweilen die aus sowjetischer Zeit übernommene Praxis „offizieller Schändungen“ jüdischer Friedhöfe und Gedenkorte beobachten. Auf der Gedenkstätte für einen Massenselbstmord von Juden in Mozyr 1941 beispielsweise, die erst 2001 unter Denkmalschutz gestellt worden war, wurde eine Gaspipeline verlegt. Die darauf folgenden Proteste jüdischer Organisationen veranlassten ein Parlamentsmitglied zu der Äußerung: „Sollen wir nur wegen der Juden die Stadt ohne Gas lassen?“ Er sei kein Antisemit, so der Abgeordnete weiter, aber die Weißrussen hätten im Krieg genauso gelitten wie die Juden. Die latente Weigerung, die spezifische Verfolgungsgeschichte der weißrussischen Juden anzuerkennen, charakterisiert auch die offizielle Gedenkkultur zur Kriegs- und Besatzungszeit. Sie orientiert sich weiterhin am sowjetisch geprägten Leitbild eines heroischen, opferreichen Volkskrieges der Weißrussen und ihrer Partisanen. Weißrusslands
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Juden reagieren in dieser bedrückenden Situation verstärkt mit Emigration; ihr Bevölkerungsanteil liegt mittlerweile bei unter einem Prozent.
Petra Rentrop
Literatur Dietrich Beyrau, Rainer Lindner (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Weißrußlands, Göttingen 2001. Bernhard Chiari, Das Schicksal der weißrussischen Juden im „Generalkommissariat Weißruthenien“. Eine Annäherung an das Unbegreifliche, in: Wolfgang Benz, Juliane Wetzel (Hrsg.), Solidarität und Hilfe für Juden während der NS-Zeit, Regionalstudien Band 3, Berlin 1999, S.271-309. Andreas Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München 1993. Aleksandr Litin (Hrsg.), Istorija mogilevskogo evrejstva. Dokumenty i ljudi [Die Geschichte des Mogiljower Judentums. Dokumente und Menschen], Minsk 2002. Petra Rentrop, Weißrussland. Antisemitismus im öffentlichen Raum, in: Ost-West-Gegeninformationen 17(2005), 3, S.35-38. Jurgita Šiaučiūnaite-Verbickiene, The Jews, in: Grigorijus Potašenko (Hrsg.), The Peoples of the Grand Duchy of Lithuania, Vilnius 2002, S.57-72.
Glossar
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Glossar Afrikaaner – Afrikaans sprechende Weiße in Südafrika. Aksum (Axum) – Hauptstadt des aksumitischen Reiches im Norden des äthiopischen Bundeslandes Tigray, das an Eritrea grenzt. Amhara – eines von neun Bundesländern im heutigen Staatsgebiet von Äthiopien. Die Hauptstadt ist Bahir Dar. Die Region wird mehrheitlich von Amharen bewohnt. Amharen – jahrhundertelang das staatstragende Volk im christlichen Hochland Äthiopiens. Die A. sind christlich-orthodox und nach den Oromo die größte Ethnie in Äthiopien. Aschkenasen (hebräisch „Aschkenasim“) – aus der Bibel (Gen. 10, 3; Jer. 51, 27) gewonnene Selbstbezeichnung der Juden des Mittelalters zunächst an Rhein und Donau, dann im gesamten nord- bis osteuropäischen Raum als Einheit mit spezifisch kultisch-kulturellen Prägungen. Autodafé (portugiesisch „auto de fé“, Glaubensakt) – öffentliche Verkündung und Vollstreckung eines Inquisitionsurteils durch Verbrennung eines Ketzers auf dem Scheiterhaufen bzw. Verbrennung ketzerischer Bücher und Gemälde. Ataman (türkisch „Otaman“) – militärischer Rang (Oberhaupt) der russischen ? Kosaken. Cheder (hebräisch, Stube, Zimmer) – traditionelle Grundschule im Ostjudentum. Devşirme (türkisch, sammeln) – im Osmanischen Reich praktizierte Knabenlese bzw. Rekrutierung männlicher, christlicher Jugendlicher. Nach der Zwangsislamisierung wurden die Knaben überwiegend in der osmanischen Armee (? Janitscharen) oder Verwaltung eingesetzt. Dhimma (arabisch) – Status vor allem der Christen und Juden im islamischen Recht. Als „Schriftbesitzer“ und Angehörige einer monotheistischen Religion erhielten sie Garantien für ihre körperliche und materielle Sicherheit. Die Ausübung der Religion stand den ? Dhimmi frei. Gleichzeitig unterlagen sie verschiedenen rechtlichen Einschränkungen und finanziellen Lasten, durch die sie gegenüber den Muslimen schlechter gestellt wurden. Dhimmi (arabisch) – im Plural „ahl al-dhimma“, Angehörige der ? Dhimma, der schutzbefohlenen Gemeinschaften. D. bezeichnet eine Person, die den traditionellen islamischen Schutz der ? Dhimma genießt. Dies ater (lateinisch) – schwarzer Tag, Unglückstag. Im Griechischen zumeist „apofrada imera“ [απoφράδα ημέρα], insbesondere der 29. Mai 1453, der Tag der Eroberung Konstantinopels. Geserah (hebräisch) – „böse Verordnung“, Erlass der Landesherrschaft als Auslöser einer Judenverfolgung, etwa Wien 1421 („Wiener Geserah“). Haham (hebräisch „Hakham“, Weiser) – erfahrener und anerkannter Gelehrter, auch Rabbiner.
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Glossar
Hahambaşı (hebräisch-türkisch) – Ober- oder Großrabbiner einer Stadt bes. Istanbuls. Seit dem 19. Jahrhundert Oberhaupt des jüdischen ? Millets. Hara (vom Arabischen „Harat“, Viertel) – Als H. bzw. als „Harat al-Yahud“ (Judenviertel) werden die jüdischen Stadtviertel in verschiedenen arabischen Ländern bezeichnet. Bekannte jüdische Viertel bestanden unter anderem in Tunis, Kairo und Damaskus. Siehe auch ? Mellah. Hetman – Feldherrntitel zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert in Polen-Litauen; auch militärischer Rang (Oberhaupt) der ukrainischen ? Kosaken. HICEM – Zusammenschluss der HIAS (Hebrew Sheltering and Immigrant Aid Society), der JCA (Jewish Colonization Association) und der Emigdirect. Interloper – nichtmonopolistische Händler, die mit afrikanischen Eliten Beziehungen unterhielten; auch ? Lançados genannt. Janitscharen (türkisch „yeni çeri“, neue Truppe) – stehendes Heer des osmanischen Sultans, das bis ins 17. Jahrhundert aus christlichen Konvertiten rekrutiert wurde. Diese wurden in jungen Jahren in der so genannten Knabenlese (? devşirme) in den osmanischen Dienst gezwungen. Kahal (hebräisch) – in Mittel- und Osteuropa gebräuchliche Bezeichnung für den Vorstand der jüdischen Gemeinde (? Kehilla) Karaiten – jüdische Religionsgemeinschaft, die sich nach der geschriebenen Thora (Fünf Bücher Moses) richtet und die rabbinisch-talmudische Tradition ablehnt. Kehilla, Kehillot (hebräisch) – verfasste jüdische Gemeinde mit einem Vorstand (? Kahal) und wesentlichen Gemeindeeinrichtungen. Korenizacija (russisch, Einwurzelung) – nicht zeitgenössisch gebrauchter Terminus für die Einbeziehung nicht-russischer Nationalitäten der Sowjetunion in die Partei- und Staatsstrukturen, um so die Basis der Sowjetmacht zu festigen. Im Zusammenhang damit Förderung nicht-russischer Kulturen durch die Schaffung und Kodifizierung von Schriftsprachen, Alphabetisierung, usw. Kosaken (tatarisch, freie Kämpfer) – Gemeinschaft freier Reiterverbände, die sich aus geflohenen, leibeigenen russischen und ukrainischen Bauern sowie desertierten Tataren zusammensetzten. Ab Ende des 18. Jahrhunderts wurden sie als Kavallerieverbände in die russische Armee eingegliedert. Lançados – nichtmonopolistische Händler, die mit afrikanischen Eliten Beziehungen aufnahmen; allgemein ? Interloper. Mamelucken (arabisch) – herrschende Schicht Ägyptens, die sich aus ehemaligen Militärsklaven türkischer oder kaukasischer Herkunft zusammensetzte. Sie blieben auch nach der osmanischen Eroberung 1517 tonangebend. Maroons – entlaufene ehemalige Sklaven im Karibikraum. Marranen (spanisch „marranos“, portugiesisch „marrãos“) – seit dem 16. Jahrhundert verbreitete, abwertende, vom spanischen Wort „marrana“, die Sau, abgeleitete Bezeichnung für die spanischen und portugiesischen Juden, die gezwungen waren, sich taufen zu lassen, mitunter aber verdeckt an ihren jüdischen Traditionen festhielten.
Glossar
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Mellah (vom Arabischen „Mallah“) – abgegrenzte jüdische Stadtviertel in Marokko, die seit dem 15. Jahrhundert (zuerst 1438 in Fes) errichtet wurden. Millet (arabisch „milla“, Religionsgemeinschaft, Volk, Nation) – im Osmanischen Reich rechtlich anerkannte und mit Privilegien ausgestattete ethnisch-religiöse Gemeinschaft, die zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Institutionalisierungsgrade aufweist. Klassischerweise bezogen auf die nichtmuslimischen Gemeinschaften, das griechisch-orthodoxe, das armenisch-gregorianische und das jüdische Millet. Mudejaren – Bezeichnung der Muslime unter iberischer christlicher Herrschaft; der Bedeutung nach „Gezähmte“, „Besiegte“ bzw. „mit Bleiberecht Ausgestattete“. Neuchristen – nach Verfolgungen (1391) und Vertreibungen (1492/1497) von Juden in Spanien/Portugal entstandene Bezeichnung für häufig zwangsweise Getaufte jüdischer Herkunft, wobei der Begriff anhaltende Zweifel der anderen Christen an der „Zuverlässigkeit“ ihrer neuen Glaubensbrüder erkennen lässt. Parnas (hebräisch) – vor allem in Westeuropa übliche Bezeichnung für Vorsteher einer jüdischen Gemeinde. Philoxenia (griechisch) – Gastfreundschaft, wobei xénos sowohl „Fremder“ wie auch „Gast“ bedeuten kann. Deren Schutzherr im Altertum war „Xénios Dias“, der Göttervater Zeus. Rabbaniten – Vertreter des rabbinischen Judentums, deren Tradition sich auf die hebräische Bibel („schriftliche Thora“) und Talmud samt weiterem Schrifttum („mündliche Thora“) gründet. Reconquista (spanisch und portugiesisch, Rückeroberung) – Bezeichnung für die Wiedererlangung der christlichen Vorherrschaft auf der iberischen Halbinsel; zugleich Verdrängung der muslimisch-arabischen Herrscher. Romanioten – im Gegensatz zu Aschkenasen und Sepharden seit dem Altertum gräzisierte Juden. Deren kontinuierliche Assimilation schlug sich in der Bezeichnung R. nieder – im Anklang an „Romioi“ ([Ost-]Römer), wie sich die Neu-Griechen seit der byzantinischen Periode auch nennen. Saramacca – eine bis heute existierende Gruppe afro-surinamesischer ? Maroons, die im Hinterland Surinams autonome Gemeinschaften gebildet hatten und der Kolonialregierung erbitterten Widerstand leisteten. Sepharden (hebräisch „Sephardim“) – mittelalterliche Selbstbezeichnung der Juden der iberischen Halbinsel, die nach ihrer Vertreibung im 15.-16. Jahrhundert überwiegend ins Osmanische Reich flohen, aber auch die Basis für die neuzeitlichen Gemeinden in Amsterdam, London und Hamburg bildeten. Sodalität – Personenvereinigung von Laien (Bruderschaften). Transsubstantiation – völlige Wandlung eines Gegenstandes dem Wesen nach (Substanz) bei unveränderter äußerer Erscheinung (Akkzidenz). Transsubstantiationslehre – Lehre von der Realpräsenz Christi im eucharistischen Opfer durch die völlige Wandlung von Brot und Wein zu Leib und Blut Christi entsprechend der katholischen, im 13. Jahrhundert sanktionierten Lehre.
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Glossar
Umma (arabisch, Plural Umam) – Gemeinschaft der Anhänger einer Religion, kann sich allerdings auch auf eine ethnische Gemeinschaft im Sinne von „Nation“ oder „Volk“ beziehen. Sowohl im arabisch-nationalistischen als auch islamischen Denken kommt der Orientierung an der Einheit der Umma eine wichtige Bedeutung zu.
Autorenverzeichnis
427
Autorenverzeichnis Álvarez Chillida, Gonzalo – Historiker, Universidad Complutense de Madrid, Facultad de Ciencias Políticas y Sociología, Madrid, Spanien Andersson, Lars M. – Historiker, Department of History, University of Uppsala, Schweden Bachner, Henrik – Historiker, Stockholm, Schweden Baram, Amatzia – Historiker für Neuere Geschichte des Nahen Ostens, Faculty of Humanities, Department of Middle Eastern History, University of Haifa, Israel Ben-Dror, Graciela – Historikerin, The Stephen Roth Institute, Tel Aviv University und Mordechai Anielevich Memorial (Moreshet) in Givat Haviva, Israel Benz, Wolfgang – Historiker, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Bergmann, Werner – Soziologe, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Bieber, León E. – Historiker und Politologe, Gastprofessor an der Universidad Católica Boliviana „San Pablo“, La Paz, Bolivien Bindernagel, Franka – Historikerin, Doktorandin am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin Bosemberg, Luis Eduardo – Historiker, Universidad de los Andes, Bogotá, Kolumbien Cwik, Christian – Historiker, Universität zu Köln, Historisches Seminar, Abteilung für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte, Köln Dillmann, Hans-Ulrich – Journalist, Berlin/Santo Domingo Dribins, Leo – Historiker, Institut für Philosophie und Soziologie an der Universität Lettlands, Riga, Lettland Dumitru, Diana – Historikerin, Universität „Ion Creangă“, Chişinău, Republik Moldova Elsemann, Nina – Historikerin, Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin Finger, Zuzana – Slawistin und Albanologin, Berlin Fleischer, Hagen – Historiker, Fachbereich Geschichte der Universität Athen, Griechenland Frankl, Michal – Historiker, Institut Theresienstädter Initiative Prag, Tschechische Republik Fürtig, Henner – Historiker, Deutsches Orient-Institut, Hamburg Fuhrmann, Malte – Historiker, Zentrum Moderner Orient, Berlin Gerson, Daniel – Historiker, Institut für Jüdische Studien der Universität Basel, Schweiz Goldstein, Ivo – Historiker, Historisches Institut der Universität Zagreb, Kroatien
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Autorenverzeichnis
Golczewski, Frank – Historiker, Universität Hamburg, Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften, Hamburg Hausleitner, Mariana – Historikerin, Privatdozentin am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin Hölck, Lasse – Historiker, Freie Universität Berlin Hoppe, Jens – Historiker, Conference on Jewish Material Claims Against Germany, Office for Germany, Frankfurt am Main Huhn, Sebastian – Historiker, German Institute of Global and Area Studies (GIGA), Institut für Lateinamerika-Studien, Hamburg Keogh, Dermot – Historiker, University College Cork, Irland Kessler, Clive S. – Soziologe, School of Social Sciences and International Studies, University of New South Wales, Sydney, Australien Ishida, Yuji – Historiker, Universität Tokyo, Japan Klier†, John D. – Historiker, University College London, Hebrew and Jewish Studies, Großbritannien Kraus, Daniela – Historikerin, Medienhaus Wien, Österreich Kreis, Georg – Historiker, Europainstitut der Universität Basel, Schweiz Kreuter, Marie-Luise – Historikerin, Landau i. d. Pfalz Kuparinen, Eero – Historiker, Institut für Geschichte, Universität von Turku, Finnland Kwiet, Konrad – Historiker, Faculty of Arts, Department of Hebrew, Biblical and Jewish Studies, University of Sydney, Australien Lerner Febres, Salomón – Philosoph, Pontificia Universidad Católica del Perú, Lima, Peru Lorenz, Einhart – Historiker, Department of Archaeologie, Conservation and History, University of Oslo, Norwegen Meckl, Markus – Historiker, Universität Akureyri, Island Mihok, Brigitte – Politikwissenschaftlerin, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Moraes, Luís Edmundo – Historiker, Universidade Federal Rural do Rio de Janeiro, Brasilien Nordbruch, Götz – Islamwissenschaftler, Institut de recherches et d'études sur le monde arabe et musulman (IREMAM), Aix-en-Provence, Frankreich Pickhan, Gertrud – Historikerin, Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin Picciotto, Liliana – Politikwissenschaftlerin, Fondazione Centro di Documentazione Ebraica Contemporanea, Mailand, Italien Pulzer, Peter – Historiker und Politikwissenschaftler, All Souls College, University of Oxford, Großbritannien
Autorenverzeichnis
429
Rentrop, Petra – Historikerin, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Riedemann, Andrea – Doktorandin der Geschichte, Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin Riedler, Florian – Historiker, Zentrum Moderner Orient, Berlin Rinke, Stefan – Historiker, Lateinamerika-Institut und Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin Ristović, Milan – Historiker, Philosophische Fakultät der Universität Belgrad, Serbien Rutland, Suzanne D. – Historikerin, Faculty of Arts, Department of Hebrew, Biblical ans Jewish Studies, University of Sydney, Australien Saerens, Lieven – Historiker, Center d' Études et de Documentation Guerre et Sociétés contemporaines / Studie- en Documentatiecentrum Oorlog en Hedendaagse Maatsschappij (CEGES/SOMA) , Brüssel, Belgien Schmidt, Monika – Politikwissenschaftlerin, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Schoentgen, Marc – Historiker und Lehrer, Diekirch, Luxemburg Shain, Milton – Historiker, Kaplan Center for Jewish Studies and Research, University of Cape Town, Kapstadt, Südafrika Small, Charles Asher – Historiker, Yale University Initiative for the Interdisciplinary Study of Antisemitism, Department of Political Science, Yale University, New Haven, USA Staliunas, Darius – Historiker, Lithuanian Institute of History, Vilnius, Litauen Starman, Hannah – Politikwissenschaftlerin, Court of Justice of the European Communities, Luxembourg, Luxemburg Studemund-Halévy, Michael – Linguist, Institut für die Geschichte der Juden, Hamburg Šumi, Irena – Anthropologin, Institute for Ethnic Studies, Ljubljana, Slowenien Sundhaussen, Holm – Historiker, Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin Szabó, Miloslav – Historiker, Doktorand am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Szejnmann, Claus-Christian W. – Historiker, University of Leicester, Großbritannien Tanja, Jaap – Publizist und Ausstellungsmacher, Anne Frank House Amsterdam, Niederlande Vetter, Matthias – Historiker, Frankfurt am Main Voigt, Johannes H. – Historiker, Historisches Institut der Universität Stuttgart Voit, Friedrich – Literaturwissenschaftler, University of Auckland, Neuseeland Wagner, Thorsten – Historiker, Institut für Geschichtswissenschaft und Kunstgeschichte, Technische Universität Berlin
430
Autorenverzeichnis
Webman, Esther – Historikerin, The Dayan Center and The Stephan Roth Institute, Tel Aviv University, Israel Weiss-Wendt, Anton – Historiker, Center for Studies of Holocaust and Religious Minorities, Oslo, Norwegen Wetzel, Juliane – Historikerin, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Wyrwa, Ulrich – Historiker, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Zeuske, Michael – Historiker, Universität zu Köln, Historisches Seminar, Abteilung für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte, Köln
Register der Orte und Regionen
431
Register der Orte und Regionen Arlon
A Acqui
222
Arronches
169
Addis Abeba 13, 18, 19
Arta
Adelaide
Asien
37
285
22 147, 157
Adrianopel (Edirne) 65, 290
Asunción 269
Afrika 43, 78, 157, 170, 202, 203, 215, 227
Athen
Agrinion 22
Atouguia 284
Akkerman (Bilhorod Dnistrovskyj, Cetatea Albă) 51, 384
Auckland 237
Aksum (Axum) 14, 423 Alba-Iulia
327
Aleppo 357, 360
Atlanta
123, 125 408
Auschwitz 37, 48, 84, 100, 101, 124, 179, 215, 281, 310, 319, 330, 335, 392, 402 Auschwitz-Birkenau 100, 335
Alessandria 335 Alexandria Algier
B
9
25, 26, 27, 230
Babij Jar (Babyn Jar)
343, 385, 386, 387
Al-Jufrah 215
Babylon 150, 151, 154
Almargo 266
Baden 88
Amasya 256
Badia al Pino 215
Amerika 80, 104, 196, 202, 203, 266, 267, 320, 387, 410
Bagdad 146, 151, 152, 253, 261
Amsterdam 43, 46, 77, 79, 104, 134, 139, 173, 240, 241, 242, 243, 244
Bahia
Ancona
168, 398
Andalusien Angostura
285 403
Ansiedlungsrayon 51, 109, 291, 300, 302,304, 305, 338, 363, 381, 382, 417 Antillen 42, 57, 80, 104, 140, 172, 174, 175, 403
Bagno a Ripoli 215 56
Bahir Dar
423
Balat 256 Balkan (Balkanraum) 72, 124, 181, 182, 256, 258, 290, 323, 324, 326 Bălţi
235, 236
Baltimore
410
Bamberg 94
Antwerpen 46, 47, 48, 49, 50
Banat
Arad 329, 330
Baracoa 203
Ardeal (Erdély)
327
327, 328, 329, 330
Barcelona
349, 403
Arequipa 273
Bari 166
Arezzo 168, 215
Barranquilla 196, 197
432
Register der Orte und Regionen
Bayern 88, 239 Bazin (Bösing)
Bizerte378 389
Bjelovar 199
Bazzano 215
Blois 117
Beira
Böhmen 247, 331, 364, 368
284
Beirut 261, 357, 358, 360, 361
Bogotá 196, 197
Beja 284
Bologna 215, 399
Belém do Pará Belfast
273
161, 163
Bombay? Mumbai Bordeaux 120
Belgrad 22, 181, 186, 257, 323, 324, 325, 326
Borşa 63, 329
Belmonte
Boston
Belżec
80, 288, 289
100
Bosnien 22, 181, 326 409
Bourges 117
Bender (Bendery, Tighina) 235, 236, 363
Brabant 46
Bendery? Bender
Bragança
Bengasi
Braşov (Brassó, Kronstadt) 327
Berat
213, 216
Brassó? Braşov
20, 22
Berbice
172, 285, 288
135, 140
Bratislava (Pozsony)
Bereg 389
Bremen 196
Bergen-Belsen 22, 131, 162, 215
Brescia
Berg Zion 154
Brest (Litowsk)
Berlin 42, 91, 96, 111, 151, 162, 165, 170, 181, 182, 210, 220, 261, 269, 292, 325, 326, 402
Bridgetown 43
Bern
Brown’s Town 173
319
331, 389, 390
166 217, 386, 416
British Columbia
194
Britisch-Indien 144
Berschad 363
Brüssel (Bruxelles)
Bessarabien 51, 52, 53, 235, 291, 293, 295, 296, 297, 363, 381, 384
Bucht von Benin
46, 47, 48, 50 202
Bethlehem 413
Bucureşti (Bukarest) 52, 62, 256, 257, 290, 291, 292, 296, 297
Białystok 280
Buda 256
Biberach
Budapest 181, 316, 392, 393
216
Bihor 330
Budweis (České Budĕjovice)
Biķernieki 211
Buenos Aires
Bilhorod Dnistrovskyj? Akkerman
Buerat el-Hsun 215
Birobidschan 342, 384
Bukarest? Bucureşti
178, 301, 332, 339, 340,
Bitburg 102 Bitola (Monastir) 323
365
29, 30, 272, 394, 396
Bukbuk 215 Bukowina 53, 60, 61, 62, 63, 247, 291, 293, 295, 296, 297, 363, 384
Register der Orte und Regionen
Burgas 65
Christchurch 239
Burgund 222
Christiania
Burrel
Civitella della Chiana
22
245
Civitella del Tronto
Byzanz 122, 298, 323, 379
433
215 215, 216
Cluj (Kolozsvár, Klausenburg) 329
C
Cochabamba 54, 55
Cacheu 203
Cochin (früher Chera) 146,
Cádiz
266, 347
Čakovec 336
Coimbra 286
Calgary 194
Colón
Cali
Constantine 25, 26
196, 197
141, 142, 145,
395
Camagüey 205
Cork 161
Cambridge 128
Coro 404, 405
Camugnano 215
Cosenza 215
Canberra 41, 42
Covilhão 288
Canterbury 239
Cranganore 141
Caracas 77, 403, 404, 405
Crişana (Körös, Kreisch) 327
Caransebeş
Cyrenaika 213, 215, 216
327
Czernowitz 61, 62, 63, 294, 296
Carpentras 121 Cartagena
196
Cartagena de Indias (Cartagena de las Indias) 267, 403 Casablanca
D 173, 265,
227, 231, 349
Castello Rodrigo
285
Dalmatien
335
Daman 143 Damaskus
Cayenne 43, 134, 135 Celendín (Cajamarca)
Dachau 185, 335
257, 261, 357, 358
Darfur 13 272
Darién
265
Cetatea Albǎ? Akkerman
Daugavpils (Dünaburg) 210, 211
Ceuta
Dayr al-Qamar
203, 348
Charkiv (Charkow) 381
Demerara 140
Chelmno 100
Den Haag
Cherson 383
Detroit
Chicago 410, 414
Deventer 240
Chiclayo 273
Diu
Chios 256
Djakovo 198
Chişinău (Kischinew) Chotyn? Hotin
51, 52, 382
357
240
410
143
Djerba
378
Dnipropetrovsk 381
434
Register der Orte und Regionen
381, 382, 394, 395, 404, 406, 410, 411, 413
Dobrudscha 296 Dolenjska 335 Doneck
381
Dorohoi 296 Drancy 48 Drenthe
243
Dschenin
413
Dubăsari (Dubosari) 235 Dublin 161, 162, 163 Dubrovnik 198, 323 Dupnica 65, 69 Durban 355 219
E Edinburgh 128 Edineţ 235 Ekbata (heute? Hamedan) El Alamein El Cobre
28, 30, 40, 106, 188, 189, 233
Évora 284, 286
F Falmouth 173 Faro 289 Fernost
178
Ferramonti
216
Ferramonti di Tarsia
335
Flandern 46, 48, 49 Florenz 168, 169, 215
Durrës Dusetos
Evian
376 203
Elbasan 20 Elisavetgrad (Jelisawetgrad, heute ? Kirovohrad)
Frankfurt am Main Fundão 288
G Gabès 376 Galaţi 292, 296 Galizien
60, 61, 247, 331, 387, 389
Gallien
116
Gaza-Streifen 262 Genua 168 Georgia 408
Elsass 85, 118, 121
Gharian
Elvas 284
Ghioroc 330
Elvira
Giado
284
216 216
Ernakulum 141
Glasgow 128, 131
Essequibo 135, 136, 140
Goa
Estremoz
Golta 364
284
Europa 9, 17, 25, 28, 29, 30, 32, 33, 35, 37, 39, 40, 42, 43, 45, 56, 58, 59, 64, 68, 71, 73, 74, 76, 100, 101, 106, 109, 118, 127, 128, 134, 143, 144, 156, 173, 175, 187, 188, 191, 193, 195, 202, 204, 215, 222, 234, 238, 239, 247, 250, 253, 267, 268, 269, 270, 272, 272, 276, 293, 311, 323, 334, 347, 349, 357, 361, 372,
111, 176
143
Gomel (Homel)
386, 418
Gondar 13, 16, 17 Gorna Džumaja Göteborg Gotland
69
313 311
Grīva 211 Grodno 416, 417
Register der Orte und Regionen
Groningen 241 Großalbanien21, 22
Istanbul 64, 253, 256, 257, 371, 372, 373, 424
Guadalajara
Isthmus 265, 267, 268
232, 234
Guane 203
Istrien
Guantánamo 205
Iquitos 273
Guayaquil
107
435
335
J
Guipúzcoa 347
Jalta 381
H
Jambol 65
Halyč 379
Janina 21, 22
Hamburg 425
Jasenovac 185
136, 173, 191, 196, 204, 403,
Java
146
Hamedan 154
Jedwabne 282, 283
Hamilton
Jelgava (Mitau)
239
209, 210
Jelisawetgrad (Elisavetgrad; heute ? Kirovohrad)
Harbin 176, 178 Haskovo 69 Hebron 260
Jerusalem 13, 77, 117, 122, 148, 150, 154, 157, 166, 213, 259, 260, 261, 284, 353, 362
Hellas
Jodensavanne 140, 141
Havanna 191, 202, 203, 204, 205, 206
Helsinki
122 113, 114, 115, 116
Johannesburg 354
Hispaniola 104, 105
Juč Bunar
Hobart 37
Judäa 20
Holešov (Holleschau) 367
Juzovka (heute ? Doneck)
68
Hongkong 146 Hotin (Chotyn) 385
K
Houn 215
Kärnten
Huancayo 273
Kairo 9, 10, 253, 255, 424
Huljaj-Polje 383
Kalifornien 179, 267
335
Kalinindorf
I
Kalisz
Iaşi 294, 296 173, 284
Iberoatlantik202 Interior
276, 380
Kalkutta 142, 143, 146
Iberische Halbinsel Idanha-a-Nova
383
288
206
Isfahan 154, 155, 159
Kamenetz-Podolsk (Kamenetsk-Podolsk) 391 Kana 153 Kapstadt 354, 355 Kapverde 173
436
Register der Orte und Regionen
Karibik (Karibikraum, karibischer Raum) 75, 79, 103, 104, 133, 173, 196, 202, 203, 204, 266, 424 Karpatho-Ukraine 380 Kasachstan Kastilien
Katerynoslav (heute ? Dnipropetrovsk) 111, 219
Kuala Lumpur 148 Kuban-Gebiet 309 Kunmadaras 392
22
Kazanlâk
Kronstadt? Braşov Krywyj Rih 383
202, 266, 284, 285
Kavaja
Krim 290, 300, 337, 339, 341, 379, 381 Kruja 22
387
Kaunas (Kovno)
Krems 248
Kurland 109, 207, 209
257
Kerala (Bhaskara Ravivarman)
Kwara 13 141
Kerč 379
L
Khuzestan 156
La Guardia
Kielce
La Paz 54, 55
282
Kiew 209, 379, 380, 381, 382, 385, 386, 387
346
Lasta 13
Kiewer Rus 379, 415
Lateinamerika 29, 30, 72, 74, 75, 268, 394, 396, 404
Kingston 174, 175
Latgallen
Kirovohrad 381
Latium 399
Kischinew (heute ? Chişinău)
Launcheston 37
Kjustendil
Lausanne 370
65
208
Klausenburg? Cluj
Łęczyca 278
Kleinasien
Leeds 128, 129
64, 123
Kleinspanien 104
Leipzig 92, 403
Klooga 111
Leiria 284
Kobe 178 Köln 85, 270
Lemberg (Lwów, L`viv) 60, 280, 384, 385
Kolozsvár? Cluj
Lendava 335, 336
Konitz
Leuven (Löwen) 46
92
Konstantinopol (Konstantinopel) 290, 291, 347, 423 Kopaigorod 363
122,
Lezha 20 Liepāja (Libau)
208, 211, 212
Kopenhagen 81, 164
Lima 71, 173, 265, 266, 267, 269, 272, 273, 274
Kosovo 21, 22, 326
Limerick
Kovno? Kaunas
Lincoln/Nebraska 412
Krain 335
Linstead 173
Krakau 277
Linz 250, 251
129, 161
Register der Orte und Regionen
Lipova 330
Manaus 273
Lipscani 235
Manchester 128, 131
Lissabon 202, 270, 284, 286, 287, 288, 289
Mandschuko 176, 177
Liverpool 67, 128, 131
Manizales 196
Livland
Mantua 167, 168
207
437
Manitoba 188
Livorno 134, 136, 138, 168, 169
Maracaibo 77, 403, 404
Ljubljana 335
Maramureş (Marmaros) 327, 329
Łódż 280
Marietta/Georgia 408
Löwen? Leuven
Marmaros? Maramureş
Lom 65
Marosvásárhely (heute? Târgu-Mureş)
Łomža 281
Marstrand 313
London 17, 37, 43, 74, 127, 128, 129, 131, 137, 140, 173, 174, 237, 238, 368 Loreto 273
276
Mauthausen 335
Lothringen 85, 118
Mazedonien? Makedonien
Louisiana 412
Melbourne 36, 38
284
Melgaço
Lublin 277, 280, 380
285
Melilla 349
Lucea 173
Memelland
Lucovia 173
Metz
Ludza 208
220
117, 118
Mexiko-Stadt 173, 232, 233, 234, 265
Lüttich 46 Luxemburg
Masowien Mati 20
Los Angeles 179
Loulé
Mashhad 155
101, 222, 223, 224
Miami 196 Minsk 417, 418, 419, 420
M
Miranda de Ebro
Madrid 12, 34, 228, 348, 349
Miskolc-Diósgyör 392
Macerata 215
Mitrovica 21
Madeira 136, 173, 290
Mitteleuropa 21, 38, 85, 87, 113, 114, 144, 205, 367, 380
Mähren
247, 331, 364, 365, 367, 368
349
Mailand 167, 168, 170, 400
Mittel- und Osteuropa 30, 424
Mainz 85
Modena 168, 169, 215
Majdanek 100
Moghilev-Podolsk 363
Makedonien (Mazedonien) 122, 124, 181, 323, 326
21, 68, 69,
Malabarküste 141, 142, 145
Mogiljow 416, 417, 418 Mohács 389 Moldau
51, 60, 257, 290, 291, 292
438
Register der Orte und Regionen
Monastir
64
Monsanto Argozelo 288
New York 12, 173, 196, 406, 408, 409, 410, 411, 414
Montego Bay 173
New South Wales
37, 39
Montenegro 22
Nieuw Amsterdam
406
Monterrey 234
Nikolaev (Nikolajew, Mykolaïv) 381
Montevideo 394, 395, 396
Nikolajew? Nikolaev
Montreal 187, 188, 189, 192, 193, 194
Nikopol 65, 257
Morant Bay 173
Nitra (Nyitra)
Mordwinien
Niš
Moroca
211
331, 332
323
Nombre de Dios 266
135
Moskau 23, 211, 298, 416, 419
Nördliche Niederlande 46, 240
Mosul 150
Nordafrika 9, 41, 69, 135, 154, 229, 230, 360, 375, 376
Mozyr 420 Mumbai (Bombay)
145
München 94, 95, 332, 364, 367, 402 Murska Sobota 335, 336 Mszislau
416
Mykolaïv? Nikolaev
Nordalbanien 20 Nordamerika 57, 70, 133, 175, 381, 406 Nord-Bukowina 63, 296, 297 Nordirland 163 Norditalien
171
Nordkaukasus 387
N
Nordlitauen 218
Nagasaki 175
Nordkosovo 21
Nagykanizsa 335
Nordostbrasilien 134, 267
Nagyszombat 389, 390
Nordportugal 288
Nagyvárad? Oradea
Nord-Siebenbürgen 296, 297, 327, 330,
Nahost 50, 74, 84, 102, 106, 125, 127, 132, 149, 156, 157, 193, 230, 234, 322, 337, 341, 355, 413,
Nord- und Südamerika 75, 272
Narva
Novgorod-Moskau 298
110
Norwich 127 Notranjska 335
Natá 265
Novi Sad 181
Navarra
Novozlatopol 383
Neapel
284 166, 167, 215, 285, 399
Nyitra? Nitra
Neiva 196 Neuenhoven 88
O
Neufrankreich 187
Obadovka 363
Neugranada
Oberkanada
264
187
Neuspanien 232, 267, 403,
Obertyn 385
Neustettin 91
Odessa 51, 363, 364, 381, 382
Register der Orte und Regionen
Oklahoma City
411, 413
Penang 146
Oran 25
Pennsylvania 406 Pernambuco 56, 57, 77, 78 Persepolis 154 Persien 154, 156
Orhei 235, 236
Pest
Orléans
Petersburg
Olivença
285
Ontario 188, 194 Oradea (Nagyvárad) 329
117
390, 392 52
Osijek 181
Philadelphia 410
Oslo 12, 245, 246, 263
Philippopolis
Osteuropa 29, 38, 47, 54, 57, 86, 107, 109, 161, 163, 188, 204, 205, 233, 245, 318, 351, 377, 408, 415
Piemont 169
Ostgalizien
Pleven
Ostindien
384, 385 187 208
65
Pinsk 386, 416 Pirot
68, 69
Plovdiv
Ostlettland (Latgallen)
65 65
Podolien (Balta) 381
Ost- und Ostmitteleuropa 278
Polen-Litauen 277, 424
Ostpolen 340
Pollenza 215
Ostukraine 382, 385
Polná 366
Oxford 128
Pomeroon 134, 135, 136, 138
Ózd
Portalegre 284
393
Port Antonio
P
439
173
Porto 288, 289
Padua 168
Portobelo 266
Palästina 9, 10, 11, 25, 26, 28, 52, 67, 125, 131, 143, 145, 156, 157, 176, 181, 199, 214, 228, 230, 258, 259, 271, 320, 334, 355, 358, 359, 364, 369, 371, 372, 379, 381, 400, 404, 405
Port Royal
Prag 198, 247, 248, 249, 270, 332, 334, 342, 365, 366, 367, 397, 398, 399
Palos
Prekmurje
103
173
Pozsony? Bratislava
335
Panamá 265
Pretoria 353, 354
Panama-Stadt 266
Preußen 39, 88, 218, 223, 249, 278
Paramaribo 139, 140
Preveza 21, 22
Paris 50, 62, 93, 98, 105, 117, 118, 121, 176, 270, 294, 325, 357, 395
Prienai
Parma 167
Provence 117
Parma-Piacenza
168
218
Prishtina 22 Przemyśl 276
Pauroma 136
Puerto Cabello
Penamacor
Pulkau 248
288
403
440
Register der Orte und Regionen
Q
Salaspils 111
Quebec 187, 188, 189, 190, 192, 193, 194, 195
Salford 131
Quito 107
Saloniki 20, 65, 122, 123, 124, 181, 253, 256, 257, 258
R
Salvador 56
Radna 330
Salzburg 332
Rangun 146
Sandomierz 278
Ravensbrück 335
San José 75
Recife
Santa Clara
43, 137
Salò
215
204
Reichenau 215, 216
Santa Marta 196
Rémire
134
Santarém
284
Rennes 119
Santiago
72, 73
Reykjavik 164
Santiago de Cacém
Reval? Tallinn
Santiago de Cuba
Rēzekne 211
Santo Domingo
Riga 208, 209, 210, 211, 212, 271, 418
São Tomé 173, 202, 203, 285
Rinn 248
Saranda 20
Rio de la Plata 395 Riohacha
77, 196
Rio Grande do Sul 57 Rîbniţa 235, 236 Rîşcani
235
Rhode Island
406
Rom 162, 166, 167, 168, 169, 170, 216, 217, 346 Romagna 399 Rotterdam 240
Sarajevo
284 203
104, 106
181, 256
Sardinien 169 Satu Mare 329 Savanna-La-Mar 173 Savanne 137, 139 Savoyen 168, 256 Schargorod 363 Schiraz
154, 155, 159
Schlesien 247
Rouen 117
Schottland 128
Rumbula 211
Schwarzmeerküste 51, 379
Rusçuk (Russe) 257
Semlin (Zemun) 324 Sepúlveda 346
S
Serpa 284
Šabac 325
Setúbal
Sabra 354
Sevilla 203, 266, 284, 345, 349
Safed 260
Shanghai 177, 178
Sajószentpéter 392
Shatila 354
284
Register der Orte und Regionen
Shijak 22
Südamerika 31, 72, 75, 269, 272
Shkodra 22
Südargentinien 34
Šibenik 183
Südbrasilien 57, 60
Sibirien 53, 63, 176, 385
Südfrankreich 117
Sibiu (Szeben, Hermannstadt) 327
Süd-Kurland 207
Sidi Azaz
Süditalien
215
Siebenbürgen (Transilvania) 293, 295, 327
53, 60,
166, 167, 168
Südlibanon 153 Südliche Niederlande
Siena 168
Südmontenegro 21
Silves
Südostasien 146, 147
284
46, 47
Simien-Berge 13, 15
Süd-Siebenbürgen 327, 330
Sinai
Südslowakei 332
12
Singapur 146
Südstaaten 203, 407, 408
Sizilien 166, 167, 168
Süd-Transnistrien
Šķēde 211
Südwestfrankreich 117
Skopje 323
Südwestpersien
Slawonien 181
Šumen 69
Smyrna
Susa 154
255
364 154
Sofia 65, 68, 69, 257
Svištov 65, 257
Sobibór 100
Swansea
Solotschiw 387
Sydney 37, 38
Somogy 390
Syrte 215
Sopron 388, 389
Székesfehérvár 390
Soroca 235, 236
Szombathely
Sosúa
128
390
106
T
Soweto 353 Spanisch-Amerika
203
Tacna 275
Spanish Town 173
Tallinn (Reval) 111, 115
Speightstown 43
Tana-See 13, 16
Speyer 85
Târgu-Mureş (Marosvásárhely)
Split 183, 198
Tarnopol (Ternopil, Ternopol) 385
Stalindorf
Tartu 110
383
328
Stara Zagora 257
Tatar Pazardžik 65
Stockholm 314
Tavira 284
Subotica
Teheran 153, 155, 156, 157, 160
181
Südalbanien 20
Tejo 284
441
442
Register der Orte und Regionen
Tel Aviv 77, 214, 396
Triest 336
Teleneţi 235
Tripolis
Temesvár? Timişoara
Tripolitanien 213
Tempelberg 259
Trujillo 273
Teramo 215
Tschenstochau 282
Teufelsinsel
213, 214, 215, 216, 361
Tubal 284
119, 135
Theresienstadt 111
Tunis 374, 376, 377, 378, 424
Thessaloniki 124, 368
Tucacas 403
Thesprotia 21
Turku 114
Thorarica
137, 138
U
Thrakien 68, 69, 371
Ugocsa 389
Tienen 47
Umbrien 399
Tighina? Bender
Ungvár 389
Tigray 13, 423 Timişoara (Temesvár)
329
Tirana 22, 23 Tirol 248
335
Uppsala 311, 312 Utrecht
Tiraspol 235, 236 Tiszaeszlár
Untersteiermark 240
V 390
Vaivara
111
Tobruk 215
Valencia
Tokat 256
Valmiera (Wolmar) 210
Toledo 284, 345, 346, 347
Van Diemen Land 37
Tomar
Varaždin 199
284, 289
403
Topolčany (Tapolca) 333
Varna
Tordesillas 266
Venedig 167, 168, 170, 181, 328
Toronto 192, 193
Ventspils (Windau) 210
Toskana 168, 169
Veracruz 232, 233
Tótkomlos 392
Verria
Trancoso 284
Veszprém 390
Trani 166
Viborg 113
Trás-os-Montes 284
Vidin 65, 256, 257
Treblinka 100
Vilijampolė 219
Trenčin (Trencsén)
331
65
20
Villarica 271
Trencsén? Trenčin
Vilnius? Wilna
Trient 167, 248
Visby 311
Trier
Vizcaya 347
85
443
Vlora 20, 22, 23 Volodymyr Volynskyi (Wladimir-Wolynsk) Vraca
Wojwodina 181, 182, 183, 184, 323, 326, 386
65
Worms 85 Württemberg
W Waikato Wales
Wolhynien 379, 384, 385, 386
Würzburg
239 128, 129
Walachei
Warschau 34, 270, 279, 280, 283 Washington 140
Yazd
Westgalizien
280
Westhavanna
205 262
Westmakedonien 21 West-Tennessee West-Ukraine
154
Yokohama
88
Westjordanland
Xanten 92
Y
237
Westerbork 243 Westfalen
88
X
257, 290, 291, 292
Wellington
88
407 387
175
York 127
Z Zagreb 181, 185, 186, 198, 199 Zala
390
Zaporižžja 383
Wien 181, 247, 248, 249, 250, 251, 423,
Zemplén 389
Willemstad
Zemun? Semlin
79, 80
Wilna (Vilnius)
111, 219, 280, 417
Zentralkuba
Wisconsin 408
Zürich 318
Witebsk 417, 418
Zwolle
240
205